Beschluss vom Schleswig Holsteinisches Oberverwaltungsgericht (4. Senat) - 4 MB 50/21

Tenor

Die Beschwerde gegen den Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts - 11. Kammer - vom 3. August 2021 wird zurückgewiesen.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 5.000,- Euro festgesetzt.

Gründe

I.

1

Der Antragsteller ist ukrainischer Staatsangehöriger. Im Dezember 1995 (im Alter von 13 Jahren) reiste er gemeinsam mit seiner Familie erstmals in die Bundesrepublik Deutschland ein. Seit Oktober 1998 ist er im Besitz einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis (heute Niederlassungserlaubnis nach § 23 Abs. 2 AufenthG, § 101 Abs. 1 Satz 2 AufenthG).

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In der Zeit vom 27. November 2019 bis zum 19. August 2021 verbüßte er in der JVA Kiel eine Haftstrafe. Dem zugrunde lag ein Urteil des Amtsgerichts Lübeck vom 16. April 2019 – 68 Ds 711 Js 24871/18 (301/18) –, mit welchem er zunächst „wegen Diebstahls in drei Fällen unter Einbeziehung der Strafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Lübeck vom 01.06.2018 – 64 Ds 711 Js 11688/18 (212/18) – zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr und 2 Monaten verurteilt“ worden war. „Ferner“ wurde er „wegen Diebstahls in 7 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 7 Monaten verurteilt“. Ausweislich der Urteilsgründe (S. 11) handelte es sich in allen 10 Fällen um einen besonders schweren Fall des Diebstahls. Der Antragsteller war zu diesem Zeitpunkt bereits einschlägig vorbestraft.

3

Mit Ordnungsverfügung vom 3. März 2020 wies die Antragsgegnerin den Antragsteller aus der Bundesrepublik Deutschland aus (Ziffer 1), erließ ein auf sieben Jahre befristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot (Ziffer 2) und drohte ihm die Abschiebung in die Ukraine oder in einen anderen Staat, in den er einreisen darf oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet ist, an (Ziffer 3). Ferner wurde angekündigt, dass die Abschiebung direkt aus der Haft erfolgen wird und dass er, sofern er vor der Abschiebung entlassen werde, verpflichtet ist, das Bundesgebiet innerhalb von sieben Tagen zu verlassen (Ziffer 4). Für den Fall der Entlassung aus der Haft wurde der Aufenthalt nach Ablauf der Ausreisefrist räumlich auf den Bereich der Hansestadt Lübeck beschränkt (Ziffer 5). Über die dagegen erhobene Klage
11 A 272/20 – hat das Verwaltungsgericht noch nicht entschieden. Das gegen den Vollzug der Ziffern 3 bis 5 gerichtete Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes blieb in beiden Instanzen – 11 B 111/20 und 4 MB 17/21 – ohne Erfolg.

4

Am 15. April 2021 ordnete die Antragsgegnerin die sofortige Vollziehung (§ 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO) der Ausweisung (Ziffer 1) an. Im Hauptsacheverfahren teilte sie Anfang Juni 2021 mit, dass eine Abschiebung nicht – wie geplant – aus der Haft heraus, sondern erst am voraussichtlichen Haftende am 20. August 2021 erfolgen könne.

5

Den daraufhin gestellten Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO hat das Verwaltungsgericht durch Beschluss vom 3. August 2021 in Bezug auf die Ziffern 1 und 2 der Ordnungsverfügung vom 3. März 2020 als unbegründet und in Bezug auf die Ziffern 3 bis 5 als unzulässig abgelehnt. Dagegen hat er Antragsteller rechtzeitig Beschwerde eingelegt.

6

Auf den zeitgleich gestellten Antrag beim Verwaltungsgericht hat dieses der Antragsgegnerin durch Beschluss vom 19. August 2021 im Wege einer einstweiligen Anordnung untersagt, den Antragsteller vor einer Entscheidung im Beschwerdeverfahren abzuschieben (11 B 79/21).

II.

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Die Beschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 3. August 2021 ist zwar zulässig, aber unbegründet. Die zu ihrer Begründung dargelegten und an § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO zu messenden Gründe, die allein Gegenstand der Prüfung durch den Senat sind (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), stellen das Ergebnis des angefochtenen Beschlusses nicht in Frage.

8

Der Antragsteller beschränkt sich in seiner Beschwerde auf die Frage der vom Verwaltungsgericht angenommenen offensichtlichen Rechtmäßigkeit der Ausweisung gemäß § 53 Abs. 1 AufenthG (Ziffer 1 der Ordnungsverfügung vom 3. März 2020).

9

1. Angriffspunkt ist zunächst die Bestätigung, dass der Antragsteller durch drei besonders angeführte strafrechtliche Verurteilungen zu Freiheitsstrafen von mindestens einem Jahr den gesetzlich geregelten Fall eines besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresses gemäß § 54 Abs. 1 Nr. 1a lit. d AufenthG verwirklicht habe.

10

a. In Bezug auf die angeführten Strafurteile vom 19. Januar 2009 (besonders schwerer Fall des Diebstahls; Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten) und vom 4. April 2013 (u.a. schwerer räuberischer Diebstahl; Freiheitsstrafe von einem Jahr und fünf Monaten) hatte sich das Verwaltungsgericht bereits mit der Frage befasst, ob diese Verurteilungen aufgrund der verstrichenen Zeit von mehr als zwölf bzw. acht Jahren und im Hinblick auf das Ausweisungsinteresse verbraucht seien, diese Frage aber verneint. Für den Verbrauch eines Ausweisungsgrundes bedürfe es aufseiten der Behörde der Schaffung eines Vertrauenstatbestandes, den sie durch die Ausweisungsverfügung verletzt haben könnte. Ein schutzwürdiges Vertrauen darauf, dass dem Antragsteller das Verbleiben im Bundesgebiet trotz der Vorstrafen erlaubt werde, habe die Antragsgegnerin – etwa durch eine vorbehaltlose Erteilung oder Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis – jedoch nicht geschaffen. Der Aufenthalt sei bereits im Oktober 1998 unbefristet erteilt worden. Im August 2005 sei der Antragsteller ausdrücklich verwarnt und darauf hingewiesen worden, dass er bei weiterer Straffälligkeit aus dem Bundesgebiet ausgewiesen werden würde. Auch wenn die Ausweisung selbst erst im März 2020 erfolgt sei, lägen keine weiteren Umstände vor, die einen Schluss auf die Tolerierung des Verhaltens des Antragstellers erlaubten.

11

Dieses Ergebnis wird durch das Beschwerdevorbringen nicht in Frage gestellt. Es setzt sich mit der Argumentation des Verwaltungsgerichts nicht auseinander, sondern beschränkt sich erneut auf die Behauptung, dass der Antragsteller nach mehr als sieben Jahren seit der Verwarnung und den vorgenannten Verurteilungen darauf habe vertrauen dürfen, dass die Strafurteile verbraucht seien. Dass für den in Anspruch genommenen Verbrauch ein reiner Zeitablauf ausreicht, hat das Verwaltungsgericht jedoch gerade verneint. Auf die darüberhinausgehende Erforderlichkeit eines Tatbestandes, der die Erwartung eines Verbleibs trotz der Vorstrafen rechtfertigen könnte, geht die Beschwerde nicht ein. Insbesondere wird nicht vorgebracht, dass die Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts unzutreffend sein könnte. Sie entspricht im Übrigen der des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Urt. v. 22.02.2017 - 1 C 3/16 -, BVerwGE 157, 325 ff., juris Rn. 39). Ebenso wenig wird ein anderweit geschaffener Vertrauenstatbestand bezeichnet.

12

b. Weiter hat das Verwaltungsgericht die im Strafurteil vom 16. April 2019 ausgesprochene Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten berücksichtigt. Das Mindestmaß von einem Jahr Freiheitsstrafe könne auch durch eine nachträgliche Bildung der Gesamtstrafe erreicht werden, wenn sich die Teilstrafen auf Taten bezögen, die von § 54 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG erfasst würden. So verhalte es sich mit der einbezogenen Freiheitsstrafe von vier Monaten aus dem Urteil des Amtsgerichts Lübeck vom 1. Juni 2018; sie beziehe sich auf einen Diebstahl mit Waffen gemäß § 244 Abs. 1 Nr. 1a StGB und erfülle den Tatbestand des § 54 Abs. 1 Nr. 1a lit. d AufenthG. Der dagegen erhobene Einwand des Antragstellers, dass die einbezogene Straftat an der Gesamtstrafe einen Anteil von mindestens einem Jahr haben müsse und dieser Anteil nicht erreicht werde, stellt die Richtigkeit der Entscheidung nicht in Frage. Der Einwand beruht auf einem Missverständnis des zitierten Urteils des VG München (Urt. v. 25.10.2018 - M 12 K 18.36 -, juris Rn. 57 m.w.N.).

13

Nach dem ausdrücklichen Wortlaut des § 54 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG erfordert die Annahme eines besonders schweren Ausweisungsinteresses eine rechtskräftige Verurteilung zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten. Ebenso wie bei § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG kann das Mindestmaß auch durch die nachträgliche Bildung einer Gesamtstrafe erreicht werden, solange es sich um eine einzige Strafe handeln. Eine solche Verurteilung liegt auch bei einer Verurteilung in Tatmehrheit i.S.d. § 53 StGB oder bei einer nachträglichen Gesamtstrafe nach § 55 StGB vor (Bauer in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, AufenthG § 54 Rn. 16, 13; Fleuß in: (BeckOK AuslR, 30. Ed. 01.07.2021, AufenthG § 54 Rn. 40). So liegt es hier. Der Antragsteller wurde einerseits wegen mehrerer vorsätzlicher Straftaten (§ 53 StGB) – und zwar des Diebstahls in drei Fällen und dies jeweils in einem besonders schweren Fall (einmal § 243 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und dreimal § 243 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StGB) – verurteilt. Die Einzelstrafen betrugen sechs, sechs und vier Monate. In das Urteil einbezogen wurde andererseits gemäß § 55 StGB die Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Lübeck vom 1. Juni 2018 von vier Monaten. Aus diesen mehreren Straftaten hat das Amtsgericht eine Gesamtstrafe von einem Jahr und zwei Monaten gebildet, so dass das Mindestmaß des § 54 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG erfüllt ist.

14

Soweit das VG München (a.a.O.) ausführt, dass die einbezogene Straftat an der Gesamtstrafe einen Anteil von mindestens einem Jahr haben müsse, bezieht es sich auf den – hier nicht gegebenen – Fall, in dem die Verurteilung nicht nur wegen Taten erfolgt, die von § 54 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG erfasst sind, sondern zugleich auch wegen anderweitiger Taten. Dabei verweist es auf den Kommentar von Bergmann/Dienelt (Ausländerrecht, 12. Aufl., § 54 AufenthG Rn. 10 i.V.m. Rn. 9). Dieser führt in seiner aktuellen 13. Auflage vergleichbar zu § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG aus, dass für den Fall, dass die Verurteilung wegen in Tateinheit (§ 52 StGB) oder Tatmehrheit (§ 53 StGB) begangener Vorsatz- und (anderweitiger) Fahrlässigkeitstaten erfolge, die einbezogene Vorsatzstraftat an der Gesamtstrafe einen Anteil von mindestens zwei Jahren (hier: von mindestens einem Jahr) haben müsse (Bauer in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, AufenthG § 54 Rn. 16, 14). Dies erklärt sich daraus, dass Fahrlässigkeitstaten von § 54 Abs. 1 Nr. 1 bzw. 1a AufenthG von vornherein nicht erfasst sind. Dahinter steht die nachvollziehbare Überlegung, dass nur auf diese Weise zweifelsfrei darauf geschlossen werden kann, dass die von § 54 Abs. 1 Nr. 1 bzw. 1a AufenthG erfassten Taten das Mindeststrafmaß erfüllen (VG München und Bauer a.a.O.).

15

Diese Überlegung wird jedoch nicht relevant, wenn die Gesamtstrafe durchgehend für vorsätzliche Straftaten gebildet wird, die von § 54 Abs. 1 Nr. 1 bzw. 1a AufenthG erfasst werden. Hiervon ist vorliegend nicht nur in Bezug auf die Vorsatztaten, sondern auch sonst auszugehen. Weder macht die Beschwerde Gegenteiliges geltend noch drängt sich eine andere Betrachtung auf. Straftaten gegen das Eigentum, für die das Gesetz „eine im Mindestmaß erhöhte Freiheitsstrafe vorsieht“ (§ 54 Abs. 1 Nr. 1a lit d Alt. 1 AufenthG), dürften vielmehr schon dann vorliegen, wenn das Gesetz für die Tat eine Freiheitsstrafe vorsieht, deren Mindestmaß über das allgemein nach § 38 Abs. 2 StGB vorgesehene Mindestmaß von einem Monat hinausgeht. So ist etwa auch die für das Absehen von der Strafverfolgung gezogene Grenze in § 153 Abs. 1 Satz 2 StPO zu verstehen (vgl. Bergmann/Putzar-Sattler in: Huber/ Mantel, AufenthG, 3. Aufl. 2021, § 54 Rn. 3; Fleuß in: BeckOK AuslR, 30. Ed. 01.07.2021, AufenthG § 54 Rn. 35; kritisch jedoch Bauer in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, AufenthG § 54 Rn. 18). Offen bleiben kann deshalb, ob eine serienmäßige Begehung i.S.d. § 54 Abs. 1 Nr. 1a lit d Alt. 2 AufenthG vorliegt.

16

Die im Strafurteil vom 16. April 2019 zugleich ausgesprochene zweite Strafe wegen Diebstahls in sieben Fällen mit einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Monaten erreicht demgegenüber schon nicht das nach § 54 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG erforderliche Mindeststrafmaß von einem Jahr; hierauf kommt es aber nach den vorangehenden Feststellungen auch nicht an.

17

2. Für die nach § 53 Abs. 1 AufenthG anzustellende Gefahrenprognose hat das Verwaltungsgericht aus dem Vorleben des Antragstellers, den Ausführungen des Amtsgerichts Lübeck in seinem Urteil vom 16. April 2019 zur Frage einer Strafaussetzung zur Bewährung (S. 13) sowie aus der letzten Stellungnahme der JVA Kiel vom 9. April 2021 auf eine Wiederholungsgefahr geschlossen. Vor dem Hintergrund seiner Betäubungsmittelabhängigkeit erscheine ein Rückfall des Antragstellers in vorherige Verhaltensweisen wahrscheinlich. Die JVA Kiel habe zu bedenken gegeben, dass er seine Pläne, nach der Haftentlassung nach Berlin zu ziehen und dort eine Therapie zu absolvieren, aufgegeben habe. Stattdessen habe er noch keine Pläne für den Zeitraum nach seiner Haftentlassung und wolle sich spontan etwas einfallen lassen. Insofern sei zu bezweifeln, dass der Antragsteller ernsthaft auf der Suche nach einem Therapieplatz sei. Dass er aufgrund gesundheitlicher Probleme keiner Erwerbstätigkeit nachgehen könne, steigere die Rückfallgefahr noch, da er dann über kein Einkommen verfügen werde, das seine Drogensucht finanziell decken könnte.

18

Demgegenüber weist der Antragsteller in seiner Beschwerde darauf hin, dass die herangezogene Einschätzung des Amtsgerichts Lübeck mittlerweile mehr als zwei Jahre alt sei, führt aber nicht aus, was daraus folgen soll, ob bzw. inwieweit sie deshalb etwa nicht verwertbar oder unrichtig geworden sein soll. Im Übrigen lässt der Antragsteller vortragen, dass er am 19. August 2021 habe abgeschoben werden sollen, einen Tag später jedoch Aufnahme bei „Rettungsarche e.V.“ gefunden habe. Mit der beigefügten Stellungnahme der Rettungsarche vom 2. September 2021 sei die Behauptung widerlegt, dass er keine Therapie durchführen werde und die Drogensucht nicht überwunden werden könne. Ausreichende Anhaltspunkte dafür, dass sich aus der unmittelbar nach der Haftentlassung aufgenommenen Therapie die Bereitschaft des Antragstellers ergebe, sich von seiner Abhängigkeit zu befreien, so dass in Zukunft nicht mehr mit der Begehung von Straftaten zu rechnen sei, ergeben sich daraus für den Senat allerdings noch nicht. Denn ein anderer plausibler Grund als der, dass er sich dort erst unter dem Druck der bei Haftentlassung zu erwartenden bzw. am 19. August 2021 schon eingeleiteten Abschiebung um Aufnahme bemüht hat, ist nicht erkennbar.

19

Der Einschätzung der JVA Kiel von April 2021, wonach zu bezweifeln sei, dass er ernsthaft einen Therapieplatz suche, hat er erstinstanzlich lediglich die Behauptung entgegengesetzt, dass ein Kontakt zur Drogenberatung wegen der Corona-Pandemie nicht möglich gewesen sei, er aber erneut auf der Suche nach einem Therapieplatz sei. Dies hat schon das Verwaltungsgericht nicht überzeugt. Wann sich der Antragsteller für eine Therapie bei dem Verein Rettungsarche e.V., einer Selbsthilfeeinrichtung für Suchtkranke im hessischen Ebsdorfergrund, entschieden hat und worauf die entsprechende Einsicht nunmehr beruht, wird auch im Beschwerdeverfahren nicht dargelegt. Ein Vortrag zu diesem Entschluss und zu entsprechenden Aufnahmebemühungen, die bereits vor der Haftentlassung am 19. August 2021 und auch vor dem Beschluss des Verwaltungsgerichts am 3. August 2021 stattgefunden haben müssten, findet sich nicht. Noch im erstinstanzlichen Schriftsatz vom 27. Juli 2021 – drei Wochen vor der Entlassung – wird lediglich behauptet, dass sich der Antragsteller um eine Therapieaufnahme nach seiner Entlassung bemühe. Selbst der an das Verwaltungsgericht adressierte Antrag vom 18. August 2021 erwähnt eine unmittelbar bevorstehende Therapie nicht, sondern beschränkt sich auf den Hinweis, dass er sich schon während der Haft substituiert habe und mittlerweile auch die Substitutmittel habe absetzen können.

20

Zur Darlegung eines ernstzunehmenden Therapiewillens, der schon jetzt darauf schließen lassen soll, dass in Zukunft nicht mehr mit der Begehung von Straftaten zu rechnen sei, hätte ein schlüssiger Vortrag zur Motivation des Antragstellers auch durch einen Vortrag zum organisatorischen Vorlauf für die Aufnahme in der Selbsthilfeeinrichtung ergänzt werden können. Offen bleibt jedoch, wie eine derart spontane Aufnahme möglich gewesen ist und wie sich die Übersiedlung nach Hessen im Übrigen zu der vollziehbaren räumlichen Beschränkung des Aufenthalts auf den Bereich der Hansestadt Lübeck aus Ziffer 5 der Ordnungsverfügung vom 3. März 2020 verhält. Dass insoweit Absprachen mit der Antragsgegnerin getroffen worden wären, ist ebenfalls nicht ersichtlich.

21

In Anbetracht der Vorgeschichte des heute fast 40 Jahre alten Antragstellers überzeugt im Übrigen auch der Inhalt der vorgelegten Stellungnahme der Einrichtung nicht. Nach den Feststellungen des Amtsgerichts Lübeck im Urteil vom 16. April 2019 begann der Antragsteller bereits als Jugendlicher, Drogen zu nehmen. Nach einer Therapie im Jahre 2013 erfolgte im Jahre 2016 ein Rückfall. Seitdem absolvierte der Antragsteller 17 Entgiftungen, ohne dass diese eine nachhaltige Wirkung entfaltet hätten. Er wolle zwar in Kassel eine erneute Rehabilitationstherapie machen, doch habe er hierfür keine konkreten Veranlassungen getroffen. Zu der im Widerspruchsverfahren angekündigten Therapie bei der ADV notka in Berlin ist es offensichtlich nicht gekommen. Im April 2021 gab es nicht einmal mehr entsprechende Absichtserklärungen. Die diesbezüglichen Bekundungen im verwaltungsgerichtlichen Verfahren blieben bis zuletzt äußerst vage. Demgegenüber meint die Leiterin der Rettungsarche e.V. am 2. September 2021 bereits erkannt zu haben, dass sich der Charakter des Antragstellers, insbesondere seine Einstellung zu Suchtmitteln spürbar zu verändern beginne. Durch regelmäßige Gruppen- und Einzeltherapiegespräche habe man „eine Neuausrichtung in seinem Leben formen und herbeiführen“ können. Eine solche Annahme erscheint in Anbetracht der jahrzehntelangen Vorgeschichte, die von vergeblichen Versuchen geprägt war, sich von der Suchtproblematik zu lösen, und der Tatsache, dass sich der Antragsteller bei Abfassung der Stellungnahme noch nicht einmal zwei Wochen in der Einrichtung befand, wenig überzeugend. Dabei dürfte auch der Tatsache, dass der Antragsteller dort freiwillig einen kalten Entzug gemacht haben soll, keine entscheidende Bedeutung zukommen, nachdem er derartige Entgiftungen seit 2016 schon 17 mal durchgeführt hat, ohne dass dies im Anschluss zu einer erfolgreichen Therapie geführt hätte. Im Übrigen passt dies nicht zu der Aussage im Antrag vom 18. August 2021, wonach er sich schon während der Haft substituiert habe und nunmehr auch die Substitutmittel abgesetzt habe.

22

Selbst wenn man trotz der o.g. Bedenken annehmen wollte, dass dem Entschluss des Antragstellers zur Aufnahme der einjährigen Therapie der ernstzunehmende Wille zugrunde gelegen hat, sich von seiner Abhängigkeit zu befreien, kann auf der Grundlage der derzeitigen Erkenntnisse noch nicht davon ausgegangen werden, dass es entgegen der Annahme der Antragsgegnerin und des Verwaltungsgerichts deshalb künftig nicht mehr zur Begehung von Straftaten im Rahmen der Beschaffungskriminalität kommen wird. Nachvollziehbar geht die Antragsgegnerin davon aus, dass es hierzu einer vollständigen Überwindung der Betäubungsmittelabhängigkeit bedarf. Dies ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht überzeugend dargelegt.

23

3. Mit der Antragsgegnerin hat das Verwaltungsgericht ein besonders schweres Bleibeinteresse gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG angenommen und erkannt, dass daneben auch die persönlichen Bindungen des Antragstellers im Bundesgebiet sowie die Bindungen zu seinem Herkunftsland im Rahmen der anzustellenden Abwägung zu berücksichtigen sind, § 53 Abs. 1 und 2 AufenthG. Insoweit hat es festgestellt, dass im Bundesgebiet auch die Mutter und der Bruder des Antragstellers lebten, er zu ihnen aber keine besondere Beziehung habe. Auch die Bindungen des Antragstellers zu seiner Verlobten seien zu berücksichtigen. Bindungen zu seinem Herkunftsland habe er nach eigenem Vortrag keine; er sei das letzte Mal im Mai 2012 in der Ukraine gewesen. Dies berücksichtigend ist das Verwaltungsgericht ebenso wie die Antragsgegnerin dennoch zu dem Schluss gekommen, dass das Ausweisungsinteresse bei einer vorzunehmenden Abwägung gemäß § 53 Abs. 1 AufenthG überwiege. Hierzu macht der Antragsteller geltend, dass seine grundrechtlichen Belange sowie sein Recht aus Art. 8 EMRK im Rahmen der Folgenabwägung zu berücksichtigen seien; in diese werde unverhältnismäßig eingegriffen. Durch die Ausweisung käme es zu nicht abwendbaren Nachteilen, die durch eine positive Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden könnten. Auch dieses Vorbringen stellt die Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Feststellungen und der darauf basierenden Abwägung nicht in Frage. Bereits in ihrer Ordnungsverfügung vom 3. März 2020 und in ihrem Widerspruchsbescheid vom 11. November 2020 musste die Antragsgegnerin feststellen, dass der Antragsteller zu seinen sozialen Bindungen nichts Nennenswertes vorgetragen hatte. Gleiches gilt für die gerichtlichen Verfahren, insbesondere das Beschwerdevorbringen. Wie sich der Kontakt zu seiner Mutter, seinem Bruder und seiner Verlobten gestaltet und ob insoweit eine schützenswerte Beziehung besteht, ergibt sich nicht. Schließlich tritt die Beschwerde auch der Annahme des Verwaltungsgerichts nicht entgegen, dass er trotz fehlender Bindungen zu seinem Herkunftsland Ukraine jedenfalls die ukrainische Sprache noch beherrscht und sich dort auch zurechtfinden wird, nachdem er erst im Alter von 13 Jahren in die Bundesrepublik Deutschland übergesiedelt ist.

24

Auf der Grundlage des allein maßgeblichen Beschwerdevorbringens bleibt es nach alledem dabei, dass sich die angegriffene Ausweisung im Bescheid vom 3. März 2020 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 11. November 2020 als offensichtlich rechtmäßig darstellt und ein besonderes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung angenommen werden kann.

25

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2, § 52 Abs. 2 GKG.

26

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5, § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).


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