Urteil vom Sozialgericht Halle (13. Kammer) - S 13 R 602/13

Tenor

Der Widerspruchsbescheid vom 18.06.2013 wird aufgehoben.

Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.

Der Streitwert wird endgültig auf 60.875,87 EUR festgesetzt.

Tatbestand

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Die Klägerin wendet sich gegen eine Beitragsnachforderung.

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Die Beklagte führte eine Betriebsprüfung nach § 28 p Abs. 1 SGB IV für das Unternehmen ... und ..., ..., ... mit dem Prüfzeitraum vom 01.01.2008 bis 31.05.2011 durch. Mit Schreiben vom 09.01.2012 wurde die Klägerin bezüglich der Feststellungen und dem beabsichtigten Beitragsnachforderung gemäß § 24 Abs. 1 SGB X angehört und auf die beanstandeten Sachverhalte hingewiesen.

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Mit Bescheid vom 25.01.2012 wurde festgestellt, dass

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der allgemeine Beitragssatz zur ... im Zeitraum von Januar bis März 2008 mit 13,9 % statt mit 14,8 % berücksichtigt wurde,

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keine Beiträge zur gesetzlichen Pflegeversicherung für Frau ... nachgewiesen wurden,

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Verpflegungsmehraufwendungen und Übernachtungskostenpauschalen an die Arbeitnehmer gezahlt wurden, ohne dass hier Nachweise für die Beitragsfreiheit durch den Arbeitgeber vorgelegt wurden

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an einige Arbeitnehmer nicht der gemäß Arbeitsvertrag zustehende Lohn gezahlt wurde,

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an den Arbeitnehmer ... im Februar 2011 Kilometergeld ohne den entsprechenden Nachweis ausgezahlt wurde,

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die Überstunden für 3 Arbeitnehmer kumuliert ausgezahlt wurden, ohne dass die Aufteilung auf die entsprechenden Zeiträume (Monate) erfolgte.

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Die daraus resultierenden Sozialversicherungsbeiträge seien nach berechnet worden. Die Beitragsnachforderungsbetrag sei 60.875,87 EUR.

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Gegen diesen Bescheid erhob die Klägerin durch ihren Bevollmächtigten am 27.02.2012 Widerspruch und erklärte sich mit dem Bescheid in seiner Gänze nicht einverstanden.

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Am 12.07.2012 wurde der Beklagten mitgeteilt, dass das Amtsgericht Halle mit Beschluss vom 28.06.2012 das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Klägerin eröffnet und Herrn Rechtsanwalt zum Insolvenzverwalter bestellt habe. Der Schuldnerin wird die Verfügung über ihr gegenwärtiges und zukünftiges Vermögen für die Dauer des Insolvenzverfahrens verboten und den Insolvenzverwalter übertragen. Daraufhin wurde der Insolvenzverwalter mit Schreiben vom 19.07.2012 um Mitteilung gebeten, ob er sich den Widerspruch zu eigen mache. Im Zuge dessen teilte der Insolvenzverwalter mit Schreiben vom 27.07.2012 mit, dass er in seiner Eigenschaft als Insolvenzverwalter das Widerspruchsverfahren nicht wiederaufnehmen bzw. weiterführen werde. Er habe die Schuldnerin diesbezüglich bereits unterrichtet. Anschließend wurde der Klägerin im Schreiben vom 17.10.2012 mitgeteilt, dass sich das Widerspruchsverfahren mit der Erklärung des Insolvenzverwalters erledigt habe. Im weiteren Verlauf erklärte sich die Klägerin mit der Erledigung des Widerspruchs nicht einverstanden. Hierzu legte sie ein Schreiben des Insolvenzverwalters vom 24.10.2012 vor, in dem dieser bestätigte, dass das Widerspruchsverfahren gegen die Beklagte nicht durch die Insolvenzmasse fortgeführt werde. Selbstverständlich stehe es der Klägerin offen, den Rechtstreit auf eigene Verantwortung und Kosten fortzuführen. Mit Widerspruchsbescheid vom 18.06.2013 wies die Beklagte den Widerspruch als unzulässig ab. Gemäß § 80 Insolvenzordnung (InsO) habe die Klägerin als Insolvenzschuldnerin die Verfügungsmacht über ihr Vermögen (hier über den gegen sie gerichteten Anspruch auf Gesamtsozialversicherungsbeiträge) mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens verloren. Ungeachtet der Eröffnung des Insolvenzverfahrens bleibe sie als Insolvenzschuldnerin zwar rechtsfähig, geschäftsfähig, parteifähig und prozessfähig. Mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens in anhängigen Widerspruchs- bzw. Klageverfahren werde jedoch der vom Amtsgericht bestellte Insolvenzverwalter Partei kraft Amtes. Die Prozessführungsbefugnis der Insolvenzschuldnerin falle weg. Mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens mit Beschluss des Amtsgerichts Halle vom 28.06.2012 und der gleichzeitigen Bestellung des Insolvenzverwalters, Herrn Rechtsanwalt, sei die Prozessbefugnis der Klägerin weggefallen. Sie sei also nicht mehr befugt, das Widerspruchsverfahren als richtige Beteiligte im eigenen Namen oder durch ihren Bevollmächtigten weiterzuführen. An ihre Stelle sei der Insolvenzverwalter getreten. Der Insolvenzverwalter erklärte, dass er das Widerspruchsverfahren nicht wiederaufnehmen bzw. weiterführen werde. Er allein sei dazu befugt, Erklärungen im vorliegenden Widerspruchsverfahren abzugeben. Damit sei das Widerspruchsverfahren erledigt. Der von der Klägerin aufrechterhaltende Widerspruch sei daher aufgrund fehlender Prozessführungsbefugnis als unzulässig abzuweisen.

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Hiergegen erhob die Klägerin am 19.07.2013 Klage vor dem Sozialgericht. Die Klägerin ist der Ansicht, dass die Beklagte nicht befugt gewesen sei, einen Widerspruchsbescheid zu erlassen. Aufgrund der Eröffnung des Insolvenzverfahrens gelte das Widerspruchsverfahren gemäß § 240 ZPO, der über § 202 SGG auch im Widerspruchsverfahren Geltung beanspruche, als unterbrochen bis es nach den für das Insolvenzverfahren geltenden Vorschriften aufgenommen oder das Insolvenzverfahren beendet werde. Da der Insolvenzverwalter erklärt habe, das Verfahren nicht aufzunehmen, hätte dies nicht die "Erledigung des Widerspruchsverfahrens" zur Folge, sondern lediglich, dass das Verfahren bis zur Beendigung des Insolvenzverfahrens als unterbrochen gelte. Soweit man aber der Auffassung folge, dass der Insolvenzverwalter mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens Partei kraft Amtes sei, hätte die Bekanntgabe des Widerspruchsbescheides zwingend dem Insolvenzverwalter gegenüber und nicht gegenüber der Klägerin erfolgen müssen. Schließlich stehe der Befugnis der Beklagten zum Erlass des Widerspruchsbescheides auch der Grundsatz des Vorrangs des Insolvenzrechtes entgegen. Denn nach § 87 InsO können Insolvenzgläubiger ihre Forderungen nur nach den Vorschriften über das Insolvenzverfahren verfolgen. Bei den streitgegenständlichen Gesamtsozialversicherungsbeiträgen handele es sich um Insolvenzforderungen im Sinne des § 38 InsO. Bei dem streitgegenständlichen Widerspruchsbescheid handele es sich um einen Leistungsbescheid, für den die Beklagte entsprechend den vorgenannten Grundsätzen die Befugnis zum Erlass fehle. Denn der Widerspruchsbescheid regele die Feststellung, dass der Beitragsbescheid rechtmäßig sei. Wäre die Beklagte berechtigt, einen Widerspruchsbescheid zu erlassen, würde sie sich hierdurch entgegen der Vorschriften des Insolvenzrechts einen Vollstreckungstitel verschaffen können. Dies würde zu einer unberechtigten Besserstellung der Beklagten im Verhältnis zu den übrigen Insolvenzgläubigern führen. Ferner sei der Widerspruchsbescheid bereits deshalb rechtswidrig, weil die Klägerin weiterhin prozessführungsbefugt sei und der Widerspruch daher nicht als unzulässig abgewiesen werden durfte. Nach Auffassung des Insolvenzverwalters sei § 80 InsO nicht einschlägig, weil die Insolvenzmasse durch den Gegenstand des Widerspruchsverfahrens nicht tangiert werde, so dass die Verfügungs- und Prozessführungsbefugnis insoweit nicht auf den Insolvenzverwalter übergegangen sei. Jedenfalls sei die Verfügungsbefugnis aber infolge der Erklärung des Insolvenzverwalters vom 24.10.2012 dann wieder auf die Klägerin übergegangen. Dies entweder, weil man diese Erklärung als Freigabe der streitgegenständlichen Forderung aus dem Insolvenzbeschlag werte oder hierin die Ermächtigung der Klägerin, das Recht im eigenen Namen durchzusetzen, liege. Eine gewillkürte Prozessstandschaft sei zulässig, soweit ein eigenes schutzwürdiges Interesse des Schuldners an der Prozessführung bestehe (BGH NJW 2002, 1038). Ein solches Interesse sei hier gegeben, weil sich diese schon aus der möglichen Nachhaftung nach § 201 InsO ergebe.

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Die Klägerin beantragt,

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den Widerspruchsbescheid vom 18.06.2013 aufzuheben.

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Die Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Die Beklagte ist der Ansicht, sie sei berechtigt gewesen, den Widerspruchsbescheid gegenüber der Klägerin zu erlassen. Sie trägt vor, § 240 ZPO gelte nicht für das Verwaltungsverfahren. Daraus folgern sei die herrschende Meinung in der Literatur der Auffassung, dass das Verwaltungsverfahren wie auch das Widerspruchsverfahren nicht durch § 240 ZPO unterbrochen werde. Es liege auch keine fehlerhafte Bekanntgabe des Widerspruchsbescheides vor. Der Insolvenzverwalter hatte gegenüber der Beklagten erklärt, dass er das Widerspruchsverfahren nicht weiter aufrecht erhalte bzw. fortführe. Damit sei das Widerspruchsverfahren an sich erledigt gewesen. Lediglich aus dem Grund, dass die Klägerin auf dem Erlass eines Widerspruchsbescheides bestanden habe, sei der Widerspruchsbescheid in der vorliegenden Form erlassen worden. Der Widerspruchsbescheid wurde der Klägerin über ihren Bevollmächtigten bekannt gegeben. Eine fehlerhafte Adressierung des Widerspruchsbescheides sei nicht erkennbar.

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Die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Beklagten haben vorgelegen und waren Gegenstand der Entscheidungsfindung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Sachvortrages der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte ergänzend verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage ist begründet.

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Die Klägerin ist durch den Widerspruchsbescheid vom 18.06.2013 im Sinne von § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG beschwert. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig.

22

Die Beklagte war nicht berechtigt, den Widerspruchsbescheid als unzulässig zurückzuweisen. Nach § 80 Abs. 1 InsO geht durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens das Recht des Schuldners, das zur Insolvenzmasse gehörende Vermögen zu verwalten und über es zu verfügen, auf den Insolvenzverwalter über. Jedoch wird in der Vorschrift des § 85 InsO ausdrücklich die Aufnahme von Aktivprozessen gesondert geregelt. Nach § 85 Abs. 1 InsO können Rechtsstreitigkeiten über das zur Insolvenzmasse gehörende Vermögen, die zur Zeit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens für den Schuldner anhängig sind, in der Lage, in der sie sich befinden, vom Insolvenzverwalter aufgenommen werden. Nach § 85 Abs. 2 InsO können sowohl der Schuldner als auch der Gegner den Rechtsstreit aufnehmen, wenn der Verwalter die Aufnahme des Rechtsstreites ablehnt. Mit dem Schreiben vom 27.07.2012 hat der Insolvenzverwalter im Sinne des § 85 InsO die Aufnahme des Widerspruchsverfahrens hinsichtlich der Gesamtsozialversicherungsbeiträge abgelehnt mit der Folge, dass die Klägerin als Schuldnerin gemäß § 85 Abs. 2 InsO den Rechtsstreit aufnehmen kann. Mit der Erklärung, dass sie sich gegen die Erledigung des Widerspruchsverfahrens wende und dementsprechend den Erlass eines Widerspruchsbescheides begehre, hat sie das Widerspruchsverfahren aufgenommen. Somit war die Klägerin parteifähig und im Widerspruchsverfahren auch prozessführungsberechtigt. Folglich war die Beklagte nicht berechtigt, den Widerspruch als unzulässig zurückzuweisen. Entweder hätte die Beklagte entsprechend § 240 ZPO das Widerspruchsverfahren als unterbrochen anzusehen oder eine sachliche Entscheidung treffen müssen.

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Die Kostenentscheidung beruht auf § 197 a SGG in Verbindung in § 154 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung. Die Beklagte hat als unterlegener Teil die notwendigen Verfahrenskosten zu tragen.

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Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf § 63 des Gerichtskostengesetzes.


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