Urteil vom Verwaltungsgericht Düsseldorf - 7 K 3435/15
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht zuvor die Beklagte Sicherheit in gleicher Höhe geleistet hat.
1
Tatbestand:
2Der am 00.00.1986 in E. geborene Kläger ist libanesischer Staatsangehöriger. Er wuchs mit drei Geschwistern bei seinen Eltern auf, die als Bürgerkriegsflüchtlinge ins Bundesgebiet gekommen waren. Er beendete seine Schulausbildung mit einem Abschluss aus der Hauptschule nach der zehnten Klasse. Eine Berufsausbildung hat er nicht genossen. Seit dem 14. November 2008 ist der Kläger mit der deutschen Staatsangehörigen S. X. verheiratet, mit der er drei gemeinsame Kinder, ebenfalls deutscher Staatsangehörigkeit, hat.
3Seit dem Juli 1991 wurden dem Kläger Aufenthaltserlaubnisse (damals in Gestalt der Aufenthaltsbefugnis) erteilt, zuletzt am 10. Januar 2011 mit einer Gültigkeit bis zum 9. Januar 2014, nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG. Am 8. Mai 2014 beantragte die Ehefrau des Klägers bei der Ausländerbehörde der Beklagten die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis. Seit dem 9. Mai 2014 wurden ihm Duldungsbescheinigungen erteilt.
4Als Jugendlicher und Heranwachsender ist der Kläger mehrfach strafrechtlich in Erscheinung getreten, wofür er von der Ausländerbehörde der Beklagten unter dem 5. Mai 2009 ausländerrechtlich verwarnt wurde. Ein aktueller im Rahmen des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens angeforderter Auszug aus dem Bundeszentralregister weist noch folgende Verurteilungen auf:
5- 6
Urteil des Amtsgerichts E. -S1. vom 26. August 2010 zu 60 Tagessätzen zu je zehn Euro wegen unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln in drei Fällen,
- 7
Urteil des Landgerichts N. vom 18. Juli 2011 zu drei Jahren und sechs Monaten Freiheitsstrafe wegen unerlaubtem Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in drei Fällen, teilweise gemeinschaftlich handelnd.
Nach den Feststellungen des Urteils der letzten Verurteilung durch das Landgericht N. hatte der Kläger im Winter 2010/11 bei drei Verkäufen von Marihuana (in Mengen jeweils um die 4,5 Kg) als Fahrer und durch zur Verfügungstellen seines Anwesens (nicht einsehbarer Hinterhof) als Übergabeort beim Ankauf mitgewirkt. Den Mittätern war er durch langjährige Bekanntschaft verbunden. Die Verurteilung ist seit dem 12. Juli 2012 rechtskräftig.
9Der Kläger befand sich vom 25. Januar 2011 bis 18. Juli 2011 in Untersuchungshaft.
10Nach einer Stellungnahme des Leiters der Justizvollzugsanstalt D. -S2. vom 6. Oktober 2014 hatte sich der Kläger am 1. Februar 2013 in der JVA C. T. zum Strafantritt gestellt und wurde am 7. Februar 2014 verlegt. Der Kläger sei erstmals inhaftiert gewesen und habe sich in die bestehende Hausgemeinschaft eingefügt. Zu seinen Mitgefangenen unterhalte er ein freundliches Verhältnis, näheren Kontakt pflege er nur zu einzelnen Gefangenen. Bediensteten gegenüber trete er höflich und korrekt auf. Er trage seine Anliegen angemessen vor und vermöge auch negative Entscheidungen zu akzeptieren. Das vollzugliche Verhalten sei bis auf einen am 1. August 2013 erteilten Verweis wegen des Besitzes eines Mobiltelefons durchgehend beanstandungsfrei. Durchgeführte Drogenscreenings seien ohne Befund geblieben. Er sei während des gesamten Haftverlaufs fast durchgängig seiner Arbeitspflicht nachgekommen. Seit Mai 2014 befinde er sich in einer Qualifizierungsmaßnahme zum Fachlageristen bei der E1. Akademie in E2. . Der Aufenthalt sei bereits in der Voranstalt stufenweise gelockert worden und er habe auch weiterhin regelmäßige Lockerungen in Form von Ausgängen und Urlauben erhalten. Alle gewährten Lockerungen sein beanstandungsfrei verlaufen. Soziale Kontakte pflege der Kläger zu seiner Ehefrau und den gemeinsamen (2010 und 2012 geborenen) Kindern. Auch den Kontakt zu seinen Eltern und Geschwistern beschreibe er als sehr gut.Die erstmalige Inhaftierung habe bei dem Gefangenen einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen, das soziale Umfeld sei ebenfalls gefestigt. Zudem biete sich dem Kläger nach erfolgreicher Absolvierung der Umschulungsmaßnahme eine gute berufliche Perspektive.
11Aus dem zu Zwecken der Strafvollstreckung durch das Amtsgericht D. -S2. eingeholten nervenärztlichen Gutachten der Dr. G. L. - Ärztin für Neurologie und Psychiatrie/Psychotherapie - aus H. vom 1. Dezember 2014 ergibt sich, dass in diagnostischer Hinsicht bei der Untersuchung keine psychiatrische Erkrankungen im engeren Sinne, keine gravierenden psychischen Auffälligkeiten, insbesondere auch keine Suchtmittelproblematik festgestellt werden konnte, ebenso wenig aggressive oder dissoziale Neigungen. In der aktuellen Bewertung seiner straffälligen Entwicklung lasse sich erkennen, dass es sich im Zeitraum der Inhaftierung kritisch mit seinem Vorleben auseinandergesetzt und Einsicht in sein Fehlverhalten gezeigt habe. Durch seine zielstrebige Verfolgung einer beruflichen Integration zeige er seinen Willen, seine Position als verantwortungsbewusster Familienvater zu festigen. Im Hinblick auf den erkennbaren Hafteindruck, seine realistische Zukunftsplanung und dem aktuellen psychischen Befund werde im Einklang mit den Feststellungen in der Stellungnahme der JVA D. -S2. keine Gefahr gesehen, dass seine durch die Tat zu Tage getretene Gefährlichkeit weiterhin gegeben sei.
12Der Kläger ist am 9. Dezember 2014 aus der JVA D. -S2. entlassen worden.
13Mit Schreiben vom 28. Januar 2015 hörte ihn die Ausländerbehörde der Beklagten zur beabsichtigten - allein generalpräventiven - Ausweisung aus dem Bundesgebiet unter Verzicht auf den Erlass einer Abschiebungsandrohung an.
14Mit anwaltlichem Schriftsatz vom 13. Februar 2015 machte der Kläger gemeinsam mit seiner Ehefrau und zugleich für die gemeinsamen minderjährigen Kinder hierzu geltend, dass zwischen den Eheleuten eine sehr innige vertrauensvolle Beziehung bestehe, die sich mit Geburt der Kinder deutlich verfestigt habe und auch während der Inhaftierung des Klägers nicht beeinträchtigt worden sei. Seit der Haftentlassung lebe der Kläger wieder bei seiner Familie und es bestehe ein sehr herzliches Verhältnis unter allen Familienmitgliedern. Die Ehefrau des Klägers erwarte ihr drittes Kind in der Mitte des Jahres 2015. Für die Zeit der Schwangerschaft und auch nach der Geburt sei sie auf den Beistand und die Mithilfe des Klägers angewiesen, insbesondere bei der Betreuung und Versorgung der gemeinsamen Kinder. Die Ehefrau verfüge über keine Verwandten in E. und in der näheren Umgebung, die ihr behilflich sein könnten. Die Familie des Klägers sei durch die Pflege des schwer kranken Vaters bereits vollständig ausgelastet. Eine Abschiebung des Ehemannes würde schwer und nachhaltig in die familiäre Situation eingreifen und die übrigen Familienmitglieder in ihrem Grundrecht auf Schutz der Familie in nicht zumutbarer Weise beeinträchtigen.In Bezug auf das Anhörungsverfahren nehme der Kläger wie folgt Stellung: Besonders hervorzuheben sei nach seiner Auffassung der Umstand, dass er in einer für ihn sehr schwierigen Lebens- und Familiensituation noch als Heranwachsender kurzzeitig mit Drogen in Berührung gekommen sei. Trotz eines qualifizierten Schulabschlusses habe er wegen der ungeklärten aufenthaltsrechtlichen Situation nicht mit einer Berufsausbildung beginnen können und habe deshalb die Pflege seines Vaters übernommen, eine Aufgabe die einen Heranwachsenden in der Regel überfordere. Aus dieser Situation heraus habe er völlig unreflektiert die Straftaten begangen, derentwegen er zu einer Freiheitstrafe verurteilt worden sei. Aufgrund der positiven Sozialprognose sei nicht davon auszugehen dass der Kläger erneut straffällig werde, so dass aus spezialpräventiven Gründen Abschiebung nicht angezeigt sei. Was generalpräventive Gründe angehe, sei ausdrücklich drauf hinzuweisen, dass der Kläger mit der Entwicklung, die er während der Inhaftierung genommen habe, als Beispiel für eine gelungene Rehabilitation einer straffällig gewordenen Person gelten könne, der es nach der Haftentlassung nicht verwehrt werden solle, mit seiner intakten Familie zusammenzuleben und die begonnene berufliche Qualifizierung fortzusetzen, um eine Lebensgrundlage für sich und die Familienangehörigen zu schaffen. Die von der Ausländerbehörde in Betracht gezogen Erteilung einer Duldung würde jedoch der Systematik des Aufenthaltsgesetzes nicht gerecht. Zwar stehe die Straffälligkeit dem unstreitigen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen grundsätzlich entgegen, wenn jedoch die Abwägung mit den familiären Interessen unter Berücksichtigung der Grundrechte anderer Familienangehöriger ergebe, dass die familiären Belange überwögen, könne keine Duldung erteilt werden, sondern müsse eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden. In diesem Zusammenhang sei darauf hinzuweisen, dass die Duldung für den Kläger sowohl finanziell, als auch hinsichtlich seiner weiteren beruflichen Qualifikation mit erheblichen Nachteilen verbunden sei. Die Duldung berechtige nur zur Inanspruchnahme von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, die ihm jedoch mit der Begründung, dass er sich seit seiner Geburt ausschließlich in dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten habe, verwehrt würden. Leistungen nach dem SGB II könne er mit seinem bisherigen Status nicht geltend machen. Umgekehrt habe sein Einzug in die Ehewohnung jedoch zur Folge, dass die Unterkunftskosten der Familie nur noch kopfanteilig für die Ehefrau und die beiden gemeinsamen Kinder übernommen würden. Der auf den Kläger entfallende Kostenanteil sei ungedeckt. Auch eine weitere berufliche Qualifizierung könne ohne Kostenträger nicht verwirklicht werden.
15Mit Ordnungsverfügung vom 24. März 2015 wurde der Kläger aus dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen (1.), sein Antrag vom 8. Mai 2014 auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis abgelehnt (2.), die Wirkungen der Ausweisung auf einen Zeitpunkt von fünf Jahren und drei Monaten nach Bekanntgabe der Ordnungsverfügung befristet (3.) und Gebühren i.H.v. 140 Euro festgesetzt (5.). In der Begründung wird ausgeführt, dass der Kläger nach § 53 Nr. 1 und 2 AufenthG (a.F.) zwingende Ausweisungsgründe verwirklicht habe, er jedoch wegen der familiären Lebensgemeinschaft mit Ehefrau und Kindern, die die deutsche Staatsangehörigkeit besäßen, besonderen Ausweisungsschutz genieße. Seine Ausweisung könne deshalb im Regelfall nur aus schwer wiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung erfolgen. Unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sei zudem wegen der Betroffenheit seiner Belange aus Art. 8 EMRK die Ausweisung nur als Ermessensausweisung möglich. Das der Behörde damit zustehende Ermessen werde unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles zu seinen Lasten ausgeübt. Die Ausweisung sei erforderlich um andere Ausländer davon abzuhalten ebenfalls schwerwiegende Straftaten zu begehen. Ein hinreichend schwerer Ausweisungsanlass sei durch die strafrechtliche Verurteilung nach § 29a BtmG auch gegeben.Der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen nach § 28 AufenthG stehe das Vorliegen eines Ausweisungsgrundes und die aus der verfügten Ausweisung folgende Titelerteilungssperre entgegen.Durch den Verzicht auf Erlass einer Abschiebungsandrohung und damit zum jetzigen Zeitpunkt auch auf eine Aufenthaltsbeendigung werde in die familiäre Lebensgemeinschaft des Klägers auch nicht unverhältnismäßig eingegriffen.Die verfügte Befristung der Wirkungen der Ausweisung berücksichtige die Umstände des Einzelfalls und werde auf fünf Jahre und drei Monate festgesetzt und beginne mit der Ausreise.Ausweislich des Empfangsbekenntnisses in den Verwaltungsvorgängen der Beklagten wurde die Ordnungsverfügung per Telefax am 24. März 2015 der Prozessbevollmächtigten des Klägers zugestellt.
16Mit Ordnungsverfügung vom 30. März 2015 änderte die Ausländerbehörde der Beklagten die Begründung zu dem Tenorpunkt 3 der Ordnungsverfügung vom 24. März 2015 dahingehend ab, dass der Lauf der Befristung der Wirkungen der Ausweisung mit Bekanntgabe der Ordnungsverfügung in Gang gesetzt werde.
17Der Kläger hat am 5. Mai 2015 Klage erhoben. Er macht geltend, die Klage sei mit Schriftsatz vom 15. April 2015 gefertigt und am gleichen Tag auf den Postweg gegeben worden, wo sie in Verlust geraten sei. Die Kanzleiangestellte der Prozessbevollmächtigten, Frau B. X1. habe die Klageschrift am 15. April 2015 geschrieben und nebst Anlagen in den Briefkasten an der S3.--------straße in E. I. eingeworfen, was sie eidesstattlich versichere. Nur auf schriftsätzliche Nachfrage vom 5. Mai 2015 habe die Prozessbevollmächtigte vom Verlust der Klagschrift Kenntnis erlangt. Hinsichtlich der Versäumung der Klagefrist werde Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt.
18Zur Begründung der Klage wird auf die vorgerichtliche Korrespondenz Bezug genommen. Ergänzend wird geltend gemacht, dass durch die angefochtene Entscheidung eine vollständige Rehabilitierung des Klägers dauerhaft ausgeschlossen wäre. Der Kläger habe infolge des zeitlich befristeten Einreiseverbotes, dass erst mit der Ausreise zu laufen beginne, auch nach langjährigem Zuwarten nicht die Aussicht, seinen Aufenthalt zu legitimieren, sofern er Deutschland und seine hier lebende Familie nicht verlasse. Indem die Beklagte, wie durch den Verzicht auf den Erlass einer Abschiebungsandrohung deutlich gemacht, dem Kläger grundsätzlich ein Recht auf Zusammenleben mit der Familie in Deutschland zugestehe, so müsse die Beklagte sich der durch das Aufenthaltsgesetz vorgegebenen Möglichkeiten bedienen. Eine Duldung, die naturgemäß nur von kurzer Dauer sei, entspreche nicht dem Aufenthaltszweck.
19Ein zwischenzeitlich gegen ihn geführtes Ermittlungsverfahren sei eingestellt worden.
20Er sei mittlerweile vollschichtig als Verkäufer berufstätig und stelle den Lebensunterhalt für sich und seine Familie sicher. Das Jobcenter habe seine Leistungen eingestellt.
21Mit Schriftsatz vom 14. Oktober 2016 ergänzt die Beklagte ihre Ordnungsverfügung vom 24. März 2015 dahingehend, dass die Wirkungen der verfügten Ausweisung im Ermessenswege auf drei Jahre und zehn Monate ab der Zustellung der ursprünglichen Ordnungsverfügung befristet werden.
22Der Kläger beantragt,
23die Beklagte unter Aufhebung der Ordnungsverfügung vom 24. März 2015 in Gestalt der Änderung vom 30. März 2015 und der Ergänzung vom 14. Oktober 2016 zu verpflichten, ihm eine Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG zu erteilen,
24hilfsweise,
25über den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis unter Beachtung der Rechtserfassung des Gerichts neu zu entscheiden.
26Die Beklagte beantragt,
27die Klage abzuweisen,
28und bezieht sich auf die Gründe der angefochtenen Ordnungsverfügung. Sie rügt die Nichteinhaltung der Klagefrist und verweist auf ein weiteres strafrechtliches Ermittlungsverfahren gegen den Kläger.
29Die Kammer hat mit Beschluss vom 8. Dezember 2015 den Rechtsstreit dem Vorsitzenden als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.
30Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie den der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten und den der ferner beigezogenen Strafakten der Staatsanwaltschaft E. - 152 Js 627/09 -, der Staatsanwaltschaft N. - 3331 Js 1865/11 - und der Gefangenenpersonalakte der JVA D. -S2. Bezug genommen.
31Entscheidungsgründe:
32Die Klage hat keinen Erfolg.
33Allerdings bestehen gegen die Zulässigkeit der Klage im Ergebnis keine durchgreifenden Zweifel. Zwar konnte die Erhebung der Anfechtungs- und Verpflichtungsklage am 5. Mai 2015 (Eingang bei Gericht) die Klagefrist des § 74 Abs. 1 und 2 VwGO von einem Monat auf die am 24. März 2015 erfolgte Zustellung der Ordnungsverfügung nicht wahren, weil die Klagefrist am 24. April 2015 endete.Dem Kläger ist jedoch nach § 60 Abs. 1 VwGO Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, weil er ohne Verschulden nicht in der Lage war, die Klagefrist einzuhalten. Er hat glaubhaft gemacht, dass die am 15. April 2015 von der Kanzleiangestellten B. X1. gefertigte Klageschrift am gleichen Tage auf den Postweg gebracht wurde und - einen ungestörten Ablauf unterstellt - fristgerecht bei Gericht eingegangen wäre und die Klagefrist gewahrt hätte. Nach allgemeiner Lebenserfahrung muss die Klageschrift auf dem Postweg verloren gegangen sein, ohne dass den Kläger ein ihm zurechenbares Verschulden träfe. Der Antrag auf Wiedereinsetzung ist § 60 Abs. 2 Satz 1 VwGO entsprechend auch fristgerecht – innerhalb zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses - gestellt worden.
34Die Klage ist jedoch nicht begründet.
35Die Ordnungsverfügung der Ausländerbehörde der Beklagten vom 24. März 2015, in Gestalt der Änderung vom 30. März 2015 und der Ergänzung vom 14. Oktober 2016 mit der der Kläger ausgewiesen wird (I.), die Wirkungen der Ausweisung auf drei Jahre und zehn Monate ab Bekanntgabe der Ordnungsverfügung befristet werden (II.) ist nicht rechtswidrig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 VwGO. Zu einer Reduzierung der Fristlänge oder Neubescheidung der Befristung ist die Beklagte nicht verpflichtet (II.).Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf die Verpflichtung der Beklagten zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen oder auch nur auf eine Neubescheidung dieses Begehrens (III.).
36I. Die in Ziffer 1 des streitgegenständlichen Bescheides verfügte Ausweisung des Klägers begegnet keinen rechtlichen Bedenken.
37Die Ausweisung, für deren Überprüfung auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung abzustellen ist,
38vgl. BVerwG, Urteil vom 15. November 2007, - 1 C 45.06 -, juris Rz. 12;
39findet nach Inkrafttreten der neuen Vorschriften zum Ausweisungsrecht,
40Gesetz zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung vom 27. Juli 2015 (BGBl. I S. 1386) zum 1. Januar 2016, zuletzt geändert durch Art. 2 Abs. 1 G v. 17. Februar 2016 (BGBl. I 203),
41an denen sie zu messen ist, ihre Rechtsgrundlage in § 53 Abs. 1 AufenthG.
42Nach dieser Vorschrift wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt.Hierbei sind insbesondere die Dauer seines Aufenthalts, seine persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat oder in einem anderen zur Aufnahme bereiten Staat sowie die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner sowie die Tatsache, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat, zu berücksichtigen (§ 53 Abs. 2 AufenthG). Für die Abwägung hat der Gesetzgeber vorgegeben, unter welchen Voraussetzungen das öffentliche Ausweisungsinteresse (§ 54 AufenthG) und unter welchen Voraussetzungen das Bleibeinteresse des Ausländers (§ 55 AufenthG) schwer bzw. besonders schwer zu gewichten ist.Abweichend von diesen Grundsätzen bestehen für bestimmte Personengruppen wie Asylberechtigte, anerkannte Flüchtlinge und Asylbewerber ein besonderer Ausweisungsschutz, vgl. § 53 Abs. 3 und 4 AufenthG.
43Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben gilt hier Folgendes:
44Dem Kläger kommt ein besonderer Ausweisungsschutz nach § 53 Abs. 3 AufenthG nicht zu (a). Es besteht ein besonders schwer wiegendes Ausweisungsinteresse nach §§ 54 Abs. 1 Nr. 1, AufenthG (b) und eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit nach § 53 Abs. 1 AufenthG (c), dem ein besonders schwer wiegendes Bleibeinteresse nach § 55 AufenthG gegenübersteht (d). Bei der danach geforderten Interessenabwägung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls gemäß 53 Abs. 1 und 2 AufenthG sowie den Boultif/Üner-Kriterien des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte überwiegt das Ausweisungsinteresse (e).
45(a) Der Kläger gehört keiner der in § 53 Abs. 3 AufenthG genannten Personengruppen an, deren Ausweisung nur unter einem modifizierten Ausweisungsmaßstab zulässig ist.
46Der Kläger hat weder einen Asylantrag gestellt noch ist er als Asylberechtigter anerkannt oder genießt die Rechtsstellung eines ausländischen Flüchtlings. Ihm steht auch nicht nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei ein Aufenthaltsrecht zu und er ist im Zeitpunkt des Erlasses der Ordnungsverfügung auch nicht im Besitz einer Erlaubnis zum Daueraufenthalt – EU.
47b) Es besteht im Fall des Klägers ein besonders schwer wiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG. Nach dieser Vorschrift besteht ein besonders schwer wiegendes Ausweisungsinteresse, wenn der Ausländer wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt worden ist oder bei der letzten rechtskräftigen Verurteilung Sicherungsverwahrung angeordnet worden ist.
48Die Verurteilung des Klägers vom 18. Juli 2011 wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten ist seit dem 12. Juli 2012 rechtskräftig und übertrifft im Strafmaß das in der Vorschrift genannte Mindeststrafmaß erheblich.
49Anhaltspunkte dafür, dass das Ausweisungsinteresse im Einzelfall entgegen der gesetzgeberischen Typisierung nicht besonders schwerwiegend wäre,
50soweit dies hier auf Tatbestandsebene schon korrigierbar sein kann (so wohl Neidhardt, HTK-AuslR / § 54 AufenthG / Abs. 2 01/2016 Nr. .Anm. 1)
51sind nicht ersichtlich. Es handelt sich bei den abgeurteilten Taten nach § 29a Abs. 1 BtmG um Verbrechen (§ 12 Abs. 1 StGB), die der Kläger auch nicht nur einmalig, sondern in drei Fällen begangen hat. Nach den Feststellungen des strafgerichtlichen Urteils war der Kläger „in jedem der Einzelfälle von Anfang an unverzichtbar in die jeweilige Tathandlung eingebunden“ und hatte dort „wichtige, mit einer Tatherrschaft einhergehende Funktionen inne“. Er tat dies, um „eine Gewinnbeteiligung aus den Rauschgiftgeschäften zu erzielen“. Er hatte ein erhebliches Risiko, das er bereit war für die Entlohnung auf sich zu nehmen, auch wenn die Höhe der Entlohnung noch unbestimmt war. Nur weil das Landgericht den Nachweis für eine – angeklagte – Bandenabrede nicht geführt sah, erhöhte sich das Mindeststrafmaß nicht gem. § 30a Abs. 1 BtmG auf fünf Jahre.
52c) Der weitere Aufenthalt des Klägers im Bundesgebiet gefährdet auch die öffentliche Sicherheit.§ 53 Abs. 1 AufenthG setzt weiter voraus, dass der Aufenthalt des Ausländers die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitlich demokratische Grundordnung oder sonstige Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet. Hierbei kann schon offenbleiben, ob vom Kläger eine Wiederholungsgefahr von weiteren künftigen Straftaten ähnlichen Gewichts ausgeht, weil die Gefahr vorliegend generalpräventiv durch die Gefahr von weiteren Straftaten ähnlichen Gewichts durch andere Ausländer begründet ist.
53Das Gericht hätte sich anderenfalls nicht gehindert gesehen, die Frage einer Wiederholungsgefahr durch den Kläger weiter aufzuklären und - so sie sich erweisen würde - auch entgegen der Ansicht der Beklagten tragend die Ausweisung hierauf zu stützen. Die positiven Stellungnahmen der JVA und der Gutachterin gründen sich hinsichtlich der Frage, warum der Kläger überhaupt begann Betäubungsmittelstraftaten zu begehen, auf seine dem Landgericht gegenüber hierzu abgegebene Erklärung. Er sei wegen der „ungeklärten aufenthaltsrechtlichen Situation“ von einer Berufsausbildung abgehalten worden und habe sich ganz der Pflege des schwer erkrankten Vaters gewidmet. Hieraus sei eine Überforderung des Heranwachsenden entstanden, die ihn zu Betaübungsmitteln habe greifen lassen.Abgesehen davon, dass sich hieraus kein schlüssiger Erklärungsansatz für die abgeurteilten Straftaten ergibt, lässt sich den Akten für den Tatzeitraum weder eine ungeklärte aufenthaltsrechtliche Situation noch die schwere Erkrankung des Vaters (Entzug des Schwerbehindertenausweises mit Bescheiden vom 5.9.1995 und 20.2.2002) entnehmen. Diesen Fragen braucht indes nicht weiter nachgegangen werden.
54Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung kann die Ausländerbehörde durch die Ausweisung des strafgerichtlich verurteilten Ausländers darauf hinwirken, dass andere im Bundesgebiet lebende Ausländer keine Straftaten begehen. Voraussetzung ist, dass die Ausweisung insoweit ein geeignetes und erforderliches Mittel zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung darstellt. Von ihr muss eine angemessene Wirkung der generalpräventiven Absicht zu erwarten sein. Das ist der Fall, wenn nach der Lebenserfahrung damit gerechnet werden kann, dass sich andere Ausländer mit Rücksicht auf eine kontinuierliche Ausweisungspraxis ordnungsgemäß verhalten.
55BVerwG, Urteil vom 13. November 1979, - 1 C 100.76 -, juris Rz. 9;
56Die Eignung einer Ausweisung zur Verwirklichung ihres generalpräventiven Zwecks der Verhaltenssteuerung anderer Ausländer setzt nicht voraus, dass sie in enger zeitlicher Nähe zu der Straftat steht.
57OVG NRW, Beschluss vom 27. Oktober 2006, - 18 B 70/06 -, NRWE Leitsatz 2.
58In Fällen der Beteiligung am illegalen Rauschgifthandel kommt beispielsweise der Generalprävention besonderes Gewicht zu. Sie kann selbst dann Vorrang beanspruchen, wenn der Ausländer mit einem deutschen Staatsangehörigen verheiratet ist,
59BVerfG, Beschluss vom 18. Juli 1979, - 1 BvR 650/77 -, juris
60Obwohl das Schutzgebot des Art. 6 Abs. 1 GG grundsätzlich ausschließt, einen Ausländer mit deutschem Ehegatten allein aus generalpräventiven Gründen auszuweisen.
61BVerwG, Urteil vom 13. November 1979, - 1 C 100.76 -, juris Rz. 12;
62Dies gilt grundsätzlich auch bei in Deutschland verwurzelten Ausländern.
63BVerwG, Urteil vom 14. Februar 2012, - 1 C 7 /11 -, juris Rz. 16ff.
64Der Gesetzgeber wollte diese Möglichkeit der Ausweisung aus generalpräventiven Gründen auch für das reformierte Ausweisungsrecht mit dem Gesetz zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung (vom 27. Juli 2015, BGBl. I S. 1386) beibehalten.
65Vgl. hierzu ausdrücklich die Gesetzesbegründung, BT-Drs. 18/4097, S. 34; Bauer in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Aufl. 2016, zu § 53 AufenthG, Rz. 53; Bauer/Beichel-Benedetti: Das neue Ausweisungsrecht, NVwZ 2016, 416, 419; dagegen: Cziersky-Reis, in Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. § 53 AufenthG Rz. 24f; Kießling, Fremdenpolizeirecht im Rechtsstaat (?), ZAR 2016, 45, 51.
66Vor diesem Hintergrund begegnet die vorliegend aus generalpräventiven Gründen verfügte Ausweisung des Klägers der Gefahr der Begehung von Straftaten nach dem Betäubungsmittelgesetz durch andere Ausländer. Sie ist damit Teil der von der Ausländerbehörde der Beklagten verfolgten konsequenten Ausweisungspraxis gegenüber ausländischen Straftätern einschlägiger Delikte, wie sie dem Gericht seit Jahren bekannt ist. Der Kammer lagen in der Vergangenheit und liegen auch derzeit etliche Rechtstreite vor, die die Ausweisung von Straftätern aus dem Bereich des Rauschgifthandels durch die Beklagte zum Gegenstand haben. Die Kammer, die für ausländerrechtliche Verfahren aus dem Bezirk der Beklagten exklusiv zuständig ist, geht davon aus, dass die Anzahl der verfügten Ausweisungen die der im verwaltungsgerichtlichen Verfahren angefochtenen Ausweisungen noch weit übersteigt. Vor diesem Hintergrund steht die Geeignetheit und Erforderlichkeit dieser Maßnahmen nicht im Zweifel. Dies gilt auch, soweit mit der Ausweisung – wie vorliegend – nicht die Aufenthaltsbeendigung, sondern zuvörderst die Wirksamkeit der Aufenthaltstitelerteilungssperre des § 11 Abs. 1 Satz 1, 2. Hs AufenthG beabsichtigt ist, solange keine weiteren Straftaten durch den Ausgewiesenen begangen werden. Nach der Lebenserfahrung kann davon ausgegangen werden, dass für den Bereich der Rauschmittelstraftaten die szenetypische Verbundenheit der Mittäter dazu führt, dass weitere ausländerrechtliche Konsequenzen aus solchen Straftaten anderen Ausländern bekannt werden und vor der Begehung weiterer Straftaten abschrecken können. So zeigen gerade auch die Feststellungen des Landgerichts N. im Urteil des Klägers, dass verwandtschaftliche und teils langjährige freundschaftliche Beziehungen der Mittäter für den Zusammenschluss der Mittäter prägend waren und auch generell anzunehmen sind. Dass die faktischen und rechtlichen Wirkungen der Ausweisung des Klägers, nachdem die Ausländerbehörde der Beklagten ausdrücklich auf eine derzeitige Aufenthaltsbeendigung verzichtet und mithin das Einreise- und Aufenthaltsverbot nicht vollstreckt, auf die Wirksamkeit der Titelerteilungssperre beschränkt sind, steht ihrer Geeignetheit nicht entgegen, wenn diese Wirkungen nach Außen erkennbar werden (siehe hierzu die Erwägungen zur Länge der Befristung dieser Wirkungen unten).
67d) Der Kläger verfügt über ein in § 55 Abs. 1 AufenthG als besonders schwerwiegend vertyptes Bleibeinteresse.Nach § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG wiegt das Bleibeinteresse besonders schwer, wenn der Ausländer mit einem deutschen Familienangehörigen in familiärer Lebensgemeinschaft lebt, sein Personensorgerecht für einen minderjährigen ledigen Deutschen ausübt. Diese Voraussetzungen liegen beim Kläger vor, der mit seiner deutschen Ehefrau seit der Haftentlassung wieder zusammenlebt und für die drei gemeinsamen minderjährigen Kinder sein Personensorgerecht ausübt.
68Ein darüber hinausgehendes – den in § 55 Abs. 2 AufenthG genannten vertypten Bleibeinteressen an Gewicht und Bedeutung gleichkommendes – Bleibeinteresse, das in der nicht abschließenden Aufzählung der Vorschrift
69Vgl hierzu die Gesetzesbegründung, BT-Drs. 18/4097, S. 39, 3. Absatz,
70nicht genannt ist, ist vorliegend weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Darüber hinaus gehen die vom Kläger noch verwirklichten schwer wiegenden Bleibeinteressen der Vorschrift, insbesondere Nr. 3 und 5, in den genannten besonders schwer wiegenden Bleibeinteressen auf.
71e) Das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt das Interesse des Klägers am Verbleib im Bundesgebiet.
72§ 53 Abs. 1 AufenthG verlangt ein Überwiegen des Interesses an der Ausreise, das unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles im Rahmen einer umfassenden Verhältnismäßigkeitsprüfung festzustellen ist, wobei in die hierbei vorzunehmende Abwägung des Interesses an der Ausreise mit dem Bleibeinteresse die in § 53 Abs. 2 AufenthG niedergelegten Umstände in wertender Gesamtbetrachtung einzubeziehen sind. Diese sind nach den Umständen des Einzelfalles insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Ausländers, seine persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat oder in einem anderen zur Aufnahme bereiten Staat sowie die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner. Dabei sind die in Absatz 2 aufgezählten Umstände weder abschließend zu verstehen, noch müssen sie nur zu Gunsten des Ausländers ausfallen. Zudem sind stets die grund- und konventionsrechtliche Stellung des Ausländers und seiner Familie und die sich daraus ergebenden Gewichtungen in den Blick zu nehmen. Umstände im Sinne des § 53 Abs. 2 AufenthG prägen den Einzelfall insoweit, als sie über die den vertypten Interessen zugrunde liegenden Wertungen hinausgehen oder diesen entgegenstehen. Insbesondere ist an dieser Stelle der Frage nachzugehen, ob und in welchem Maße die konkreten Umstände des Einzelfalles von vertypten gesetzlichen Wertungen abweichen. Sind im konkreten Fall keine Gründe - etwa auch solche rechtlicher Art - ersichtlich, die den gesetzlichen Wertungen der §§ 54, 55 AufenthG entgegenstehen, wird regelmäßig kein Anlass bestehen, diese Wertungen einzelfallbezogen zu korrigieren.Eine schematische und alleine den gesetzlichen Typisierungen und Gewichtungen verhaftete Betrachtungsweise, die einer umfassenden Bewertung der den Fall prägenden Umstände, jeweils entsprechend deren konkreten Gewicht, zuwiderlaufen würde, verbietet sich ebenso (BVerfG, Beschluss vom 10.05.2007 - 2 BvR 304/07 -, NVwZ 2007, 946) wie eine „mathematische“ Abwägung im Sinne eines bloßen Abzählens von Umständen, die das Ausweisungsinteresse einerseits und das Bleibeinteresse andererseits begründen.
73Vgl. hierzu VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 13. Januar 2016, - 11 S 889/15 -, juris Rz. 141ff; OVG NRW, Urteil vom 10. Mai 2016, - 18 A 610/14 -, juris Rz. 79.
74Insbesondere sollen in die Abwägung die Kriterien mit einbezogen werden, die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) insoweit zu Art. 8 EMRK entwickelt worden sind: Art und Schwere der Straftat, Dauer des Aufenthalts im Gastland, seit der Tatzeit verstrichene Zeitspanne und Verhalten des Ausländers in dieser Zeit, Staatsangehörigkeit der betroffenen, familiäre Situation und Dauer einer etwaigen Ehe, etwaige Kenntnis des Ehegatten von der Straftat bei Aufnahme der Beziehung, etwaige aus der Ehe hervorgegangene Kinder, ihr Alter und das Maß an Schwierigkeiten, denen der Ehegatte und/oder die Kinder im Abschiebezielland begegnen können, sowie die Festigkeit der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland und zum Abschiebezielland.
75Vgl. Gesetzesbegründung, BT-Drs 18/4097, S. 49; ferner: EGMR, Urteil vom 12. Januar 2010, - 47486/06,
Davon ausgehend erweist sich die Ausweisung des Klägers als verhältnismäßig, da hier das Ausweisungsinteresse sein Bleibeinteresse unter Berücksichtigung sämtlicher den Fall prägenden Umstände überwiegt.
77Zunächst ist festzustellen, dass ausgehend von den im Fall des Klägers festgestellten und in den §§ 54, 55 AufenthG vom Gesetzgeber vertypten Bleibe- und Ausweisungsinteressen ein Gleichklang als jeweils „besonders schwerwiegend“ anzunehmen ist. Bei der alle Umstände des Einzelfalles in eine Gesamtabwägung einstellende Betrachtung überwiegt indes das Ausweisungsinteresse. Dies ergibt sich aus folgendem:Den besonders schwer wiegenden Bleibeinteressen steht zur Seite, dass der Kläger im Bundesgebiet geboren ist und sich seither hier ununterbrochen – überwiegend auch legal mit Aufenthaltstiteln – aufgehalten hat. Seine Eltern und Geschwister, mit denen er regen Kontakt pflegt, leben räumlich auch in unmittelbarer Nähe zu ihm in E. . Fortbestehende Bindungen an das Land seiner Staatsangehörigkeit sind nicht bekannt. Er hat seine gesamte Bildungsbiographie im Inland verbracht, wenngleich eine abgeschlossene Berufsausbildung ihm bislang versagt blieb. Die ersten in der Zeit der Strafhaft erlangten Qualifizierungsmaßnahmen konnten noch nicht ausgebaut und er selbst noch keiner festen Stellung im Arbeitsmarkt zugeführt werden. Allerdings ist der Kläger seit dem 15. Mai 2016 in einem Beschäftigungsverhältnis, das die Sicherstellung des Lebensunterhalts seiner Familie maßgeblich unterstützt, ohne dass dieser Umstand - als erstmaliger Berufstätigkeit – bereits eine gelungene Integration in den Arbeitsmarkt entnommen werden könnte. Mit seiner Ehefrau und den gemeinsamen Kindern, die außer ihm alle die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, lebt er nach der Unterbrechung durch die Strafhaft wieder in familiärer Lebensgemeinschaft. Das älteste Kind besucht auch schon eine öffentliche Schule.Diesen gegen die Ausweisung streitenden Interessen steht das aus der Begehung der Straftat folgende besonders schwer wiegende Ausweisungsinteresse (siehe hierzu im Einzelnen oben unter b)) gegenüber. Zu berücksichtigen ist hierbei maßgeblich, dass es sich bei den Straftaten um solche aus dem Bereich des Betäubungsmittelhandels handelt, die mehrfach deutlich nicht geringe Mengen von Marihuana zum Gegenstand hatten. Als solche sind schon die einzelnen Straftaten als besonders schwer wiegende Gründe, die für eine Ausweisung sprechen, zu bewerten. Sie gehören zu dem Bereich der besonders schwer wiegenden Kriminalität, dem auch die Europäische Union in Art. 83 Abs. 1 AEUV besondere Aufmerksamkeit widmet. Eine konsequente Bekämpfung dieser für die Aufnahmegesellschaft besonders folgenreichen und schadensträchtigen Kriminalität in Bezug auf höchste Rechtsgüter (Leib und Leben) verlangt neben der strafrechtlichen Ahndung auch nach aufenthaltsrechtlichen Konsequenzen.Bei der Abwägung dieser widerstreitenden Interessen schlägt im vorliegenden Einzelfall besonders durch, dass die mit der Ausweisung des Klägers verbundenen Eingriffe in das Familienleben und die Verwurzelung des Klägers in Deutschland bei weiterer strafrechtlicher Abstinenz nur von geringer Qualität und Eingriffstiefe sein werden. Denn eine Trennung von seiner Kernfamilie und auch den weiteren Familienmitgliedern (Eltern und Geschwister) ist weder beabsichtigt noch regelmäßige Folge dieser Ausweisung, obwohl diese familiären Bindungen ihn nicht von der Begehung der hier im Fokus stehenden Delikte abgehalten haben. Die Ausländerbehörde der Beklagten hat auf den Erlass einer Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung bewusst verzichtet und dem Kläger die weitere Duldung seines Aufenthalts im Bundesgebiet nicht nur in Aussicht gestellt, sondern übt diese Verwaltungspraxis bereits seit Mitte 2014 kontinuierlich. Auch die negativen Folgen für seine Integration auf dem Arbeitsmarkt haben sich bislang als überwindlich herausgestellt, als es ihm gelungen ist, ein Beschäftigungsverhältnis einzugehen und weiter auszuüben.Vor diesem Hintergrund erweist sich die verfügte Ausweisung des Klägers als verhältnismäßig. Im Übrigen wird zur Begründung auf die zutreffenden Gründe der Ordnungsverfügung, die nach altem Recht die Ausweisung im Wege der Ermessensentscheidung verfügte, Bezug genommen.
78II. Der Kläger hat auch – soweit er dies überhaupt zum Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens gemacht hat - keinen Anspruch auf eine kürzere Befristung des auf die Ausweisung von Gesetzes wegen entstehenden Einreise- und Aufenthaltsverbots einschließlich der Titelerteilungssperre nach § 11 Abs. 1 AufenthG, das die Ausländerbehörde der Beklagten mit der angefochtenen Ordnungsverfügung vom 23. März 2015 in Gestalt der Änderungsverfügung vom 30. März 2015 und der Ergänzung vom 14. Oktober 2016 (nunmehr im Ermessenswege) auf drei Jahre und 10 Monate befristete. Ebenso wenig besteht ein Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten zur Neubescheidung, da die Festsetzung nicht rechtswidrig ist und den Kläger nicht in seinen Rechten verletzt, § 113 Abs. 5 VwGO.
79Nach § 11 Abs. 2 S. 1 bis 3 AufenthG ist das Einreise- und Aufenthaltsverbot von Amts wegen zu befristen, wobei die Frist mit der Ausreise beginnt und im Fall der Ausweisung mit der Ausweisungsverfügung festzusetzen ist. Gemäß § 11 Abs. 3 S. 1 AufenthG wird über die Länge der Frist nach Ermessen entschieden. § 11 Abs. 3 S. 2 AufenthG sieht vor, dass die Frist fünf Jahre nur überschreiten darf, wenn der Ausländer aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht. Nach § 11 Abs. 3 S. 3 AufenthG soll diese Frist zehn Jahre nicht überschreiten.
80Entsprechend der höchstrichterlichen Rechtsprechung zur früheren Regelung der Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes in § 11 Abs. 1 S. 3 und 4 AufenthG a.F. hat die Ausländerbehörde auch bei der Bemessung der Frist nach § 11 Abs. 2 und 3 AufenthG n.F. zum einen das Gewicht des Ausweisungsinteresses und den mit der Ausweisung verfolgten Zweck zu berücksichtigen. Dabei bedarf es insbesondere der prognostischen Einschätzung im jeweiligen Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen, das der zu generalpräventiven Zwecken verfügten Ausweisung zugrundeliegt, das öffentliche Interesse an der generalpräventiven Gefahrenabwehr zu tragen vermag. Zum anderen muss sich die Frist aber an höherrangigem Recht, das heißt verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen (Art. 2 Abs. 1, Art. 6 GG) sowie den Vorgaben aus Art. 7 GRCh und Art. 8 EMRK, messen lassen. Insoweit sind insbesondere auch die in § 55 Abs. 3 Nr. 1 und 2 AufenthG a.F., § 53 Abs. 2 AufenthG n.F. genannten schutzwürdigen Belange des Ausländers in den Blick zu nehmen. Die Abwägung ist nach Maßgabe des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auf der Grundlage der Umstände des Einzelfalls vorzunehmen.
81Vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 13. Dezember 2012 – 1 C 14.12 –, juris (Rn. 14 f.), zuletzt auch, Urteil vom 25. März 2015 – 1 C 18/14 –, juris (zur Befristung nach § 7 Abs. 2 S. 6 FreizügG/EU).
82Die Ausländerbehörde der Beklagten hat diese Vorgaben beachtet, das ihr hinsichtlich der Länge der Frist eingeräumte – nicht auf eine kürzere Befristung reduzierte – Ermessen erkannt und bei seiner Ausübung weder die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten noch von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht (vgl. § 114 S. 1 VwGO).
83Die Beklagte hat mit der Befristung auf drei Jahre und zehn Monate die in § 11 Abs. 3 S. 2 und 3 AufenthG gezogenen zeitlichen Grenzen nicht überschritten. Auch lässt die erstmalige Ermessensentscheidung der Beklagten zur Befristung, die erst im Laufe des Klageverfahrens zum 1. August 2015 durch die Neufassung des § 11 Abs. 3 S. 1 AufenthG eingeräumt worden ist und deshalb mit Schriftsatz vom 14. Oktober 2016 in zulässiger Weise nachgeschoben werden durfte,
84vgl. zur entsprechenden Konstellation infolge der Verlagerung des maßgeblichen Zeitpunkts für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Ausweisung: BVerwG, Urteil vom 13. Dezember 2011 – 1 C 14.10 –, juris (Rn. 8 ff.),
85keine Ermessensfehler erkennen. Die Beklagte hat in ihrer Ermessensentscheidung zur Länge der Befristung alle wesentlichen Gesichtspunkte berücksichtigt und angemessen gewichtet. Sie hat alle persönlichen Belange des Klägers – insbesondere seinen langen Aufenthalt in Deutschland, seine (noch) fehlende feste wirtschaftliche Integration, sowie seine geschützten privaten Bindungen - einbezogen und gewichtet. Dem gegenübergestellt hat sie die öffentlichen Interessen an der Dauer der Wirkungen der Ausweisung und dabei hervorgehoben, dass das Gewicht des Ausweisungsinteresses und der bedrohten Rechtsgüter schwer wiege. Ihre auf der Grundlage der in der (ergänzten) Ausweisungsverfügung dargestellten Aufenthaltsbiographie vorgenommene Einschätzung unter maßgeblicher Berücksichtigung der hier verübten Straftaten einer jedenfalls für die nächsten drei Jahre und zehn Monate bestehende Gefährdung ist nicht zu beanstanden, wie sich aus obigen Ausführungen zur Ausweisung ergibt. Dabei spricht die im Falle des Klägers allein aus generalpräventiven Gründen verfügte Ausweisung eher für eine längere Dauer der allein bezweckten Titelerteilungssperre. Denn beim Verzicht auf eine Aufenthaltsbeendigung des Klägers und damit dem fehlenden Vollzug des Einreise- und Aufenthaltsverbots, als auch der in seinem Fall ins Leere gehende Wirkung nach § 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG, kann allein die Titelerteilungssperre die abschreckende – generalpräventive – Wirkung der Ausweisung bewirken. Sie muss daher – ausgerichtet an diesem Zweck – um abschreckend zu wirken auch nach Außen erkennbar werden. Dies ist letztlich nur über eine spürbare Dauer dieser Wirkung zu erreichen. Dies gilt insbesondere auch deswegen, weil die nachfolgende Legalisierung des Aufenthalts nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 3 AufenthG – gleichbleibende Verhältnisse unterstellt - hinsichtlich der Perspektive auf ein Daueraufenthaltsrecht in die besondere Privilegierung des § 28 Abs. 2 AufenthG führen wird, wonach ihm nach drei Jahren Besitz einer Aufenthaltserlaubnis die Niederlassungserlaubnis erteilt werden kann. Es handelt sich insoweit zwar nicht um einen Automatismus, weil der Anspruch nach § 28 Abs. 2 AufenthG nur im Regelfall gilt. Ob und wie lange im Hinblick auf die dann in der Vergangenheit verfügte Ausweisung, nach Ablauf der Befristung ihrer Wirkungen und anschließendem legalen Aufenthalt, von einem Ausnahmefall ausgegangen werden kann, erscheint zumindest fraglich.Den Interessen des Klägers wird die verfügte Befristung jedenfalls auch deswegen ausreichend gerecht, weil die Beklagte den Beginn des Laufs der Frist nicht an die Ausreise anknüpft, sondern bereits mit Bekanntgabe der Ordnungsverfügung in Lauf gesetzt hat. Von einer unverhältnismäßigen Belastung des Klägers auf unbestimmte Dauer kann somit keine Rede sein.
86Danach fehlt es hinsichtlich des Klägers derzeit – wie die Beklagte abschließend feststellt – an einem belastbaren Kriterium für eine Unterschreitung der Frist von drei Jahren und zehn Monaten.
87Diesem Ergebnis steht auch nicht die Regelung des § 11 Abs. 4 S. 2 AufenthG entgegen. Der Kläger macht insoweit geltend, dass die Beklagte bei der Annahme von Duldungsgründen – wie in seinem Fall offensichtlich - gezwungen ist, seinen Aufenthalt entsprechend der Systematik des Aufenthaltsgesetzes auch zu legalisieren. In der Tat gewährt die genannte Vorschrift ihrem Wortlaut nach einen regelmäßigen Anspruch auf Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots, wenn die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach Kapitel 2 Abschnitt 5 vorliegen. Nimmt man also wie die Beklagte an, der Aufenthalt des Klägers sei trotz der wirksamen Ausweisung zu dulden, müsste nach dem Normverständnis des Klägers, das Einreise- und Aufenthaltsverbot aufgehoben werden.Die Regelung des § 11 Abs. 4 S. 2 AufenthG ist jedoch im Streit um die Rechtmäßigkeit einer Befristungsentscheidung nicht anwendbar,
88so auch OVG Lüneburg, Beschluss vom 30. Juni 2016, - 11 LA 261/15 -, juris Rz. 14; möglicherweise anders OVG NRW, Urteil vom 10. Mai 2016, - 18 A 610/14 -, juris Rz. 84
89denn die mit § 11 Abs. 4 AufenthG geregelte Möglichkeit von Korrekturmaßnahmen setzt die Wirksamkeit eines Einreise- und Aufenthaltsverbots, sowie eine bestandskräftige Entscheidung über dessen Befristung voraus. Dies legt zum Einen schon der Wortlaut nahe, wenn in Satz 1 der Vorschrift die Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots erlaubt wird, wenn sein Zweck ein weiteres Bestehen des Verbots nicht mehr erfordert. Denn es dürfte sinnentleert sein, eine Ausweisung zu verfügen und gleichzeitig ihre Wirkungen aufzuheben oder zu verkürzen. Zum Anderen sprechen auch systematische Gründe für dieses Verständnis. Denn es bedarf keiner Ermächtigungsgrundlage, um im Verwaltungsrechtsstreit um die Rechtmäßigkeit einer Befristungsentscheidung – gegebenenfalls auf gerichtlichen Hinweis – die Länge der im Ermessen festzusetzenden Frist, jedenfalls zu Gunsten des Ausländers, zu korrigieren. Und es dürfte auch der Systematik des neuen Ausweisungsrechts entsprechen, dass das Vorliegen der Voraussetzungen eines Anspruchs auf einen Aufenthaltstitel aus humanitären Gründen (Satz 2) in die Entscheidung über die Maßnahme (Ausweisung und Befristung) vollständig Eingang findet und umfassend gewürdigt wird. Eine Regelung zur Korrektur bedarf es insoweit nicht.Schließlich entspricht dieses Verständnis auch dem Willen des Gesetzgebers, der in der Begründung zum Gesetzentwurf (BTDrs. 18/4097 S. 17 unten) ausgeführt hat:
90„Durch den neuen Absatz 4 wird eine spezielle Rechtsgrundlage zur nachträglichen Verlängerung oder Verkürzung der Frist, sowie zur Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots geschaffen. Damit wird für Änderungen der Frist der Rückgriff auf die allgemeinen Regelungen der Verwaltungsverfahrensgesetze der Länder überflüssig und das Verfahren vereinfacht.“
91Es geht mithin nach dem gesetzgeberischen Willen nur um nachträgliche Änderungen, die ab der Bestandskraft der Ursprungsentscheidung zur Grundlage abändernder Entscheidungen werden können. Ziel war es, eine einheitliche spezialgesetzliche Regelung zu schaffen, die den Rückgriff auf die §§ 49ff VwVfGe der Länder überflüssig machen sollte.
92Zur Lückenhaftigkeit dieser Neuregelung: Urteil der Kammer vom 10. August 2016, - 7 K 348/16 -, n.v. Urteilsabdruck S. 5.
93Letztlich wird dieses Verständnis der Norm auch durch die gleichzeitig mit der Einführung des § 11 Abs. 4 AufenthG geänderte Fassung des § 25 Abs. 4a, 4b und 5 AufenthG gestützt, in denen die Worte „abweichend von § 11 Abs. 1“ gestrichen wurde. Damit wollte der Gesetzgeber zum Einen Legalisierungsmöglichkeiten entgegen einer wirksamen Titelerteilungssperre abschaffen, um gleichzeitig den Bestand der Titelerteilungssperre an das Fehlen der Erteilungsvoraussetzungen eines humanitären Aufenthaltstitels zu koppeln. Auch dieses Instrumentarium spricht für die alleinige Berücksichtigungsfähigkeit nachträglich entstandener Umstände.
94Nach alledem ist die Vorschrift des § 11 Abs. 4 AufenthG im verwaltungsgerichtlichen Verfahren über die Rechtmäßigkeit der Ausweisungs- und Befristungsentscheidung nicht anwendbar.Da das Begehren des Klägers hinsichtlich der Verkürzung der verfügten Länge der Frist nach § 11 Abs. 3 AufenthG auch zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung zu beurteilen ist, handelt es sich bei der von ihm aufgenommenen Beschäftigung schon nicht um eine nachträgliche Änderung im vorgenannten Sinne.
95III. Die mit dem Verpflichtungsantrag begehrte Verpflichtung der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 3 AufenthG kann vor dem Hintergrund der rechtmäßigen Ausweisung, die nach § 11 Abs. 1, 2. Hs AufenthG zum Verbot der Erteilung eines Aufenthaltstitels führt, keinen Erfolg haben. Insoweit kann auch offenbleiben, ob – wie die Ausländerbehörde der Beklagten meint – der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis – selbständig tragend – auch das Vorliegen eines Ausweisungsinteresses im Sinne von § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG entgegensteht. Zwar besteht mit der Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten für im Winter 2010/11 begangene Rauschgiftstraftaten ein noch hinreichend aktuelles Ausweisungsinteresse. Zweifel könnten aber insoweit aufkommen, als das Nichtbestehen einer Wiederholungsgefahr für weitere Straftaten ähnlichen Gewichts durch den Kläger geeignet sein könnte einen Ausnahmefall zu begründen, der der Aufenthaltserlaubniserteilung nicht entgegenstünde.
96Der Hilfsantrag, gerichtet auf eine Verpflichtung der Beklagen zur Neubescheidung des Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 3 AufenthG, kann schon keinen Erfolg haben, weil der Grundtatbestand keinen Ermessensspielraum einräumt, den die Behörde verletzt haben könnte, weshalb noch ein unerfüllter Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung bestünde.
97Die Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung hinsichtlich der vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO, §§ 708, 711 ZPO.
98Beschluss:
99Der Streitwert wird auf 10.000,- Euro festgesetzt.
100Gründe:
101Die Festsetzung des Streitwertes ist nach § 52 Abs. 2 GKG erfolgt und berücksichtigt den Auffangstreitwert jeweils für die verfügte Ausweisung und die Versagung der Aufenthaltserlaubnis. Die Regelungen der Vollziehung und Befristung der Wirkungen der Ausweisung fallen nicht streitwerterhöhend ins Gewicht.
Verwandte Urteile
Keine verwandten Inhalte vorhanden.
Referenzen
- § 53 Abs. 3 und 4 AufenthG 1x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 60 2x
- § 11 Abs. 3 S. 3 AufenthG 1x (nicht zugeordnet)
- 11 S 889/15 1x (nicht zugeordnet)
- § 11 Abs. 4 AufenthG 3x (nicht zugeordnet)
- § 55 Abs. 1 AufenthG 1x (nicht zugeordnet)
- StGB § 12 Verbrechen und Vergehen 1x
- 152 Js 627/09 1x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 113 2x
- VwGO § 167 1x
- Beschluss vom Verwaltungsgericht Karlsruhe - 7 K 348/16 1x
- 2 BvR 304/07 1x (nicht zugeordnet)
- § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG 1x (nicht zugeordnet)
- § 11 Abs. 3 AufenthG 1x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 114 1x
- § 11 Abs. 3 S. 1 AufenthG 2x (nicht zugeordnet)
- § 30a Abs. 1 BtmG 1x (nicht zugeordnet)
- § 53 Nr. 1 und 2 AufenthG 1x (nicht zugeordnet)
- § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 3 AufenthG 3x (nicht zugeordnet)
- 7 K 3592/14 1x (nicht zugeordnet)
- § 11 Abs. 1 S. 3 und 4 AufenthG 1x (nicht zugeordnet)
- § 11 Abs. 2 S. 1 bis 3 AufenthG 1x (nicht zugeordnet)
- § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG 1x (nicht zugeordnet)
- § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG 1x (nicht zugeordnet)
- §§ 54, 55 AufenthG 4x (nicht zugeordnet)
- § 53 Abs. 1 AufenthG 4x (nicht zugeordnet)
- § 53 AufenthG 2x (nicht zugeordnet)
- § 11 Abs. 3 S. 2 AufenthG 1x (nicht zugeordnet)
- 1 BvR 650/77 1x (nicht zugeordnet)
- 18 A 610/14 2x (nicht zugeordnet)
- § 11 Abs. 3 S. 2 und 3 AufenthG 1x (nicht zugeordnet)
- § 29a BtmG 1x (nicht zugeordnet)
- § 53 Abs. 2 AufenthG 4x (nicht zugeordnet)
- 18 A 951/09 1x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 154 1x
- § 55 Abs. 2 AufenthG 1x (nicht zugeordnet)
- 11 LA 261/15 1x (nicht zugeordnet)
- § 55 Abs. 3 Nr. 1 und 2 AufenthG 1x (nicht zugeordnet)
- § 11 Abs. 4 S. 2 AufenthG 2x (nicht zugeordnet)
- § 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG 1x (nicht zugeordnet)
- § 28 Abs. 2 AufenthG 2x (nicht zugeordnet)
- § 28 AufenthG 1x (nicht zugeordnet)
- § 55 AufenthG 2x (nicht zugeordnet)
- § 53 Abs. 3 AufenthG 2x (nicht zugeordnet)
- § 54 AufenthG 2x (nicht zugeordnet)
- § 29a Abs. 1 BtmG 1x (nicht zugeordnet)
- 3331 Js 1865/11 1x (nicht zugeordnet)
- § 11 Abs. 2 und 3 AufenthG 1x (nicht zugeordnet)
- § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG 2x (nicht zugeordnet)
- § 25 Abs. 4a, 4b und 5 AufenthG 1x (nicht zugeordnet)
- 18 B 70/06 1x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 74 1x
- 1 C 18/14 1x (nicht zugeordnet)