Urteil vom Verwaltungsgericht Freiburg - A 4 K 3548/19

Tenor

Die Beklagte wird verpflichtet, festzustellen, dass beim Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Nigeria vorliegt. Ziffer 2 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 13.08.2019 wird aufgehoben.

Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Tatbestand

 
Der Kläger begehrt die Feststellung eines Abschiebungsverbots hinsichtlich Nigeria.
Der Kläger ist nigerianischer Staatsangehöriger. Eigenen Angaben zufolge verließ er sein Heimatland am 26.05.2017 mit dem Flugzeug und reiste über Ägypten und Griechenland zwei Tage später in die Bundesrepublik Deutschland ein. In den Akten befindet sich die Kopie eines am 12.05.2017 von der griechischen Botschaft in X auf den Namen des Klägers ausgestellten und bis zum 10.06.2017 gültigen Visums, das für einen Kurzaufenthalt von 15 Tagen im Schengen-Raum berechtigte.
Am 12.07.2017 stellt der Kläger beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) einen Asylantrag und gab dabei zu seiner Person an: Er sei am X.1982 in X (Edo State) geboren, christlichen Glaubens und ledig.
Mit Bescheid vom 06.12.2017 (Az. 7149960-232) lehnte das Bundesamt den Asylantrag in der Sache ab, da es die Angaben des Klägers zu seinem behaupteten Verfolgungsschicksal für unglaubhaft hielt. Bei seiner Anhörung am 18.07.2017 hatte dieser zur Begründung seines Asylantrags im Wesentlichen vorgetragen, dass sein Jugendfreund, den er im Jahr 2016 anlässlich eines Besuch seines Cousins in X wiedergetroffen habe, beim gemeinsamen Ballspiel im Fluss ertrunken und er anschließend von der Dorfgemeinschaft für dessen Tod verantwortlich gemacht worden sei. Er habe mithilfe seines Cousins nach X fliehen können. Am 14.04.2017 sei sein Bruder getötet worden. Er selbst sei danach mit dem Tode bedroht worden. Aus Angst um sein Leben habe er sich ein Visum besorgt und sei ausgereist.
Die hiergegen erhobene Klage wies das Verwaltungsgericht X mit Urteil vom „13.03.2018“ (richtig: 13.03.2019) als unbegründet ab (A 4 K 16909/17). In der mündlichen Verhandlung hatte der Kläger erstmals vorgetragen, mit seinem verstorbenen Freund aus X, den er seit ihrer gemeinsamen Studienzeit in X kenne, wo er an der Universität Bauingenieurwesen studiert habe, eine Liebesbeziehung geführt zu haben und wegen seiner Homosexualität in Nigeria Verfolgung zu fürchten. Das Verwaltungsgericht X hielt (auch) dieses Vorbringen für unglaubhaft. Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung beim Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hatte keinen Erfolg (Beschluss vom 07.05.2019, A 9 S 1139/19).
Am 16.07.2019 stellte der Kläger beim Bundesamt persönlich einen weiteren Asylantrag (Folgeantrag). Er gab an, dass er neue Beweismittel und Dokumente vorlegen könne, die belegten, dass ihm in seinem Herkunftsland Gefahren drohten. Er bezog sich hierbei auf ein „Bestätigungsschreiben“ des Vereins „X“, der u.a. homosexuelle Personen berät und unterstützt, die Stellungnahme einer psychologischen Psychotherapeutin beim X vom 26.06.2019 und einen Entlassbrief des Zentrums für Psychiatrie X (fortan: ZfP) vom 28.06.2019. Aus diesem geht hervor, dass sich der Kläger vom 02.06. bis 28.06.2019 „aufgrund akuter Suizidalität bei psychischem Ausnahmezustand“ erstmals im ZfP in stationärer Behandlung befand. Unter „Aufnahmeanlass“ heißt es, der Kläger habe einen Abschiedsbrief geschrieben und sich versucht, das Leben zu nehmen. Ein Freund habe dies gesehen und Polizei sowie Notarzt alarmiert. Im Rahmen des Anamnesegesprächs gab er an, in den letzten drei Monaten bedrohliche Stimmen zu hören, die ihn zum Suizid aufforderten und an Schlafstörungen sowie einer depressiven Stimmungslage zu leiden. Im weiteren Verlauf der Behandlung berichtete er von existenziellen Ängsten: Er fürchte, dass jemand nach seinem Leben trachte und z.B. durch ein Fenster einsteigen und ihn umbringen könnte. Diagnostiziert wurde eine Posttraumatische Belastungsstörung und der „Verdacht“ auf eine schizoaffektive Störung geäußert.
Mit Bescheid vom 13.08.2019 (Az. 7877668-232), zugestellt am 15.08.2019, lehnte das Bundesamt den Folgeantrag des Klägers gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 5 i.V.m. § 71 AsylG als unzulässig ab (Ziff. 1) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziff. 2).
Zur Begründung führte es aus: Die Voraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens lägen nicht vor. Das Bestätigungsschreiben des Vereins „X“, das den Ausführungen des Verwaltungsgerichts X im rechtskräftigen Urteil vom 13.03.2019 zu homosexuellen Sexualpraktiken entgegentrete und die vom Kläger geltend gemachte Homosexualität als glaubhaft bewerte, sei kein neues Beweismittel im Sinne von § 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG. Es sei nicht möglich, über das Instrument eines Folgeantrags einen rechtskräftig entschiedenen Sachverhalt erneut zu prüfen und so gegebenenfalls eine abweichende günstigere Entscheidung herbeizuführen. Auch ein Abschiebungsverbot aus gesundheitlichen Gründen liege nicht vor. Die vorgelegten Berichte des ZfP und des X erfüllten nicht die vom Bundesverwaltungsgericht aufgestellten Mindestanforderungen hinsichtlich der substantiierten Darlegung einer psychischen Erkrankung. Außerdem habe der Kläger im Rahmen seiner Anhörung am 18.07.2017 im Asylerstverfahren noch angegeben, er sei gesund. Dies schließe ein zeitlich späteres Hervortreten einer psychischen Erkrankung, wie einer Posttraumatischen Belastungsstörung, zwar nicht grundsätzlich aus, sei aber als weiteres Indiz dafür zu werten, dass ein solches Krankheitsbild jedenfalls nicht Folge von Erlebnissen des Klägers in seinem Herkunftsland sei.
Der Kläger hat am 21.08.2019 Klage erhoben und zur Begründung vorgetragen: Sein psychischer Gesundheitszustand stehe einer Abschiebung nach Nigeria entgegen. Er leide an einer schweren Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Die vorgelegten Berichte des ZfP und seiner behandelnden Psychotherapeutin erfüllten die Anforderungen an eine qualifizierte Bescheinigung. In der psychotherapeutischen Stellungnahme vom 26.06.2019 werde eingehend erläutert, auf welche tatsächlichen Umständen die Diagnose beruhe, der Schweregrad der diagnostizierten Belastungsstörung genannt und die voraussichtlichen Folgen eines Behandlungsabbruchs beschrieben. Seine Psychotherapeutin habe nachvollziehbar erläutert, dass eine Abschiebung im Hinblick auf seine psychische Erkrankung zu einer ernstzunehmenden Suizidalität führen könne; die Gefahr der Selbsttötung habe sie als hoch eingeschätzt. Ihre Diagnose werde durch den Bericht des ZfP bestätigt. Eine ausreichende psychiatrische Versorgung in Nigeria sei nicht gewährleistet. Es gebe dort zwar private Anbieter psychosozialer Dienste, diese seien aber mit hohen Kosten verbunden. Psychotherapie werde kaum angeboten. Da psychisch Kranke erst in einem sehr fortgeschrittenen Zustand ihrer Erkrankung in psychiatrische Einrichtungen eingewiesen würden, gestalte sich ihre Behandlung zusätzlich schwierig; zudem verletze sie häufig deren Integrität. Aus Berichten von Ärztinnen und Ärzten vor Ort wisse man, dass die Behandlungsmöglichkeiten im psychiatrischen Bereich unzureichend und qualitativ schlecht seien. Es fehle an Fachpersonal und Expertise. Eine psychotherapeutische Sitzung zur Behandlung einer PTBS koste ungefähr 70 US-Dollar. Psychisch Kranke würden in Nigeria gesellschaftlich stigmatisiert. Das Krankheitsbild der PTBS sei nicht allgemein anerkannt. Eine psychische Erkrankung gehe daher häufig mit dem Verlust des Arbeitsplatzes und persönlichen Beziehungen einher. Viele Familien schämten sich, erkrankte Angehörige behandeln zu lassen. Diese würden zu ihrem Schutz und dem Schutz des Umfeldes daher häufig „ruhig gestellt“, zum Teil angekettet und geschlagen. Nur etwa 10 % der psychisch Kranken erhielten in Nigeria überhaupt eine Behandlung.
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Der Kläger legte im Laufe des Klageverfahrens weitere ärztliche Atteste vor, unter anderem den „endgültigen Entlassbrief“ des ZfP vom 04.07.2019, indem von einer „diagnostischen Unsicherheit bezüglich der endgültigen Einordnung der Symptome“ die Rede ist, und einen undatierten „vorläufigen Entlassbrief“ des ZfP, in dem über eine zweite stationäre Aufnahme des Klägers vom 23.09. bis 05.10.2019 berichtet wird. Diesbezüglich heißt es: Der Kläger sei in der psychiatrischen Institutsambulanz vorstellig und wegen „zunehmender halluzinatorischer Symptomatik“ stationär aufgenommen worden. Im Anamnesegespräch beim ZfP berichtete er, dass er letzte Woche auf der Arbeit die Stimmen seiner Kollegen gehört habe. Diese hätten auf Nachfrage jedoch verneint, ihn angesprochen zu haben. In den Tagen darauf habe er in seiner Wohnung immer wieder Schatten gesehen und Menschen mit Messern. Das sei so schlimm geworden, dass er sich nicht mehr getraut habe, alleine in seiner Wohnung zu bleiben, weshalb er bei einem Nachbarn übernachtet habe. In den letzten Nächten habe er überhaupt nicht mehr geschlafen. Am Samstag habe er Suizidgedanken gehabt. Dann sei er zu dem Schluss gekommen, dass er nun wieder in die Klinik müsse.
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Des Weiteren liegen dem Gericht mehrere Kurzberichte und ausführliche Stellungnahmen eines Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie, Dr. med. X, vom 23.11.2019, 01.02.2021, 21.02.2021, 19.03.2021 und 06.08.2021 vor. Dieser behandelt den Kläger eigenen Angaben zufolge seit November 2019 etwa halbjährlich im Rahmen seiner Sprechstunde beim X sowie anlässlich von „akuten psychischen Krisen“, wobei er eine Posttraumatische Belastungsstörung (F 43.1) und eine schwere Depression mit psychotischen Symptomen (F 32.3) diagnostiziert hat und dem Kläger regelmäßig Psychopharmaka verschreibt (zuletzt: Escitalopram 20 mg, Mirtazapin 30 mg und Olanzapin 5 mg, jeweils zur täglichen Einnahme).
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Mit Beschluss vom 15.02.2021 (A 4 K 3548/19) hat das Gericht den Antrag des Klägers auf die Gewährung von Prozesskostenhilfe abgelehnt und zur Begründung u.a. ausgeführt, dass es aufgrund der bislang vorgelegten ärztlichen Atteste und psychotherapeutischen Stellungnahmen nicht von einer behandlungsbedürftigen PTBS ausgehen könne, da es insbesondere an der nachvollziehbaren Darlegung eines Traumas fehle.
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In der mündlichen Verhandlung am 05.03.2021 hat das Gericht den Kläger angehört. Wegen des Ergebnisses der Anhörung wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.
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Mit Beschluss vom 22.03.2021 (A 4 K 3548/19) hat das Gericht die mündliche Verhandlung wiedereröffnet und Beweis erhoben durch Einholung eines ärztlichen Gutachtens von Prof. Dr. X, Leiter der Sektion Forensische Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums X. Angefragt wurde unter anderem, ob sich beim Kläger eine psychische Erkrankung, insbesondere eine schwere Depression mit psychotischen Symptomen, eine Posttraumatische Belastungsstörung oder eine schizoaffektive Störung feststellen lasse; ob und ggf. welcher Behandlung diese Erkrankung bedürfe (medikamentös und/oder psychotherapeutisch) und mit welchen gesundheitlichen Folgen bei einem Behandlungsabbruch bzw. einer Unterbrechung der Behandlung über einen relevanten Zeitraum voraussichtlich zu rechnen wäre.
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In seinem fachärztlichen Gutachten vom 10.05.2021 führte der Sachverständige im Wesentlichen aus: Der Kläger habe bei dem Untersuchungstermin am 30.04.2021 angegeben, dass er derzeit 10 mg Olanzapin (ein Antipsychotikum), 10 mg Citalopram (ein Antidepressivum) und 15 g Mirtazapin zum Schlafen einnehme. Alkohol- und Drogenkonsum sowie Nerven- und Suchterkrankungen in der Familie habe er verneint. Er sei in Nigeria fünf Jahre zur Schule gegangen, habe dort als Bauingenieur gearbeitet, sei im Jahr 2017 nach Deutschland gekommen und arbeite hier als Altenpfleger. Er lebe in einem Heim und führe keine Beziehung. Unter „Spezielle Anamnese“ heißt es: Der Kläger sei im Rahmen eines semistrukturierten Interviews, dass an das AMDP-System, ein System zur Erhebung eines psychopathologischen Befunds, angelehnt sei, zu allen psychischen Störungen befragt worden. Er habe angegeben, Stimmen zu hören, ohne dass jemand anwesend sein. Es seien mehrere männliche Stimmen, aber immer die gleichen. Sie sagten z.B. „You will die“ und „Kill yourself“. Seiner Erinnerung nach höre er diese Stimmen seit 2018 ein- bis zweimal wöchentlich bis zu eine Stunde lang, früher auch häufiger. Es komme vor, dass er etwas tun wolle, ihn aber jemand davon abhalte. Er könne sich dann nicht bewegen, seine Handbewegung nicht steuern. Er werde von jemandem gelähmt. Er höre auch seine eigene Stimme im Kopf, ohne seinen Mund zu bewegen. Dies trete mehrfach wöchentlich und lange anhaltend auf. Er habe auf der Straße und wenn er alleine sei Angst, attackiert zu werden. Er sei sich sicher, dass andere ihn töten wollten. Er schlafe nur schwer ein und nicht durch. Auch nachts habe er Angst, z.B. getötet zu werden. Seine Stimmung sei gedrückt. Er habe beim Hören von Stimmen, die ihn an seinen Bruder erinnerten, Gedanken, sich etwas anzutun. Fragen nach Flashbacks und Pseudohalluzinationen, in denen er sich Erlebnisse oder Traumata aus der Vergangenheit vorstellen müsse oder an diese erinnert werde, habe der Kläger verneint. Er habe angegeben, einmal monatlich bei Dr. Schaefer in Behandlung zu sein. Ohne die Medikamente, vor allem ohne Olanzapin, sei es ihm viel schlechter gegangen. Die Stimmen und Ängste seien unter der Medikation weniger geworden.
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Unter „Zusammenfassung und Beurteilung“ führte der Sachverständige aus: Beim Kläger sei mehrfach eine PTBS diagnostiziert worden, ohne dass die entsprechenden Symptome bei ihm beschrieben worden seien. In den Akten seien vielmehr typische schizophrene Symptome beschrieben. Bei der Begutachtung habe der Kläger akustische Halluzinationen einschließlich Gedankenlautwerden, Wahneinfälle mit davon abgeleiteten Ängsten, Wahnwahrnehmungen und Störungen des Icherlebens mit Willensbeeinflussung, Automatosephänomenen, Anspannungszuständen und dem Gefühl des Gemachten geschildert. Durch das Antipsychotikum Olanzapin sei eine Besserung eingetreten, was sich mit den Arztberichten decke. Auf Syndromebene leide der Kläger unter einem paranoid-halluzinatorischen Syndrom. Dieses sei gekennzeichnet durch die Störungen der Wahrnehmung (akustische Halluzinationen), des Denkens (wahnähnliche sekundäre Befürchtungen, Wahneinfälle und -wahrnehmungen) und des Icherlebens (Willens- und Handlungsbeeinflussung). Zusätzlich komme ein depressives Syndrom in Betracht; dieses könne aber auch als Bestandteil des paranoid-halluzinatorischen Syndroms gewertet werden. Syndromdiagnosen seien noch keine psychiatrischen Diagnosen im eigentlichen Sinn. Sie beschrieben eine typische Verbindung von Symptomen, keine Krankheitsursachen oder -entitäten. Unter der Annahme, dass beim Kläger keine organische Erkrankung (Hirntumor, entzündliche Hirnerkrankung oder ähnliche Erkrankung, die die Hirnfunktion beeinflusse) vorliege, müsse nach der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen der WHO, ICD-10, eine paranoide Schizophrenie (ICD-10: F 20.0) diagnostiziert werden.
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Nachfolgend stellte der Gutachter die Symptomatik der Schizophrenie dar und stellte fest, dass beim Kläger die Kriterien für die Diagnose einer Schizophrenie nach ICD-10 vorlägen. Er weise folgende Symptome aus der Gruppe 1 bis 4 auf: Kommentierende Stimmen, Gedankenlautwerden, Störungen des Icherlebens, wahrscheinlich auch Wahnwahrnehmungen. Eines der Symptome aus der Gruppe 1 bis 4 reiche aus, um die Diagnose zu stellen. Diese Symptome seien beim Kläger auch nicht auf eine kurze Phase begrenzt, sondern würden seit Jahren in den Akten beschrieben und hätten – vermutlich unverändert seit Wochen oder Monaten – auch bei der aktuellen Untersuchung bestanden. Bei der Diagnose einer Schizophrenie nach ICD 10 handele es sich nicht um eine Kann-Diagnose. Vielmehr müsse bei Vorliegen der Symptome die Diagnose gestellt werden. Die beim Kläger festgestellten Symptome könnten auch nicht durch z.B. eine PTBS oder eine depressive Episode mit psychotischen Symptomen hervorgerufen werden. Eine PTBS zeige keine Halluzinationen, keinen Wahn und keine Störungen des Icherlebens. Bei einer depressiven Episode mit psychotischen Symptomen dürften die festgestellten schizophrenen Symptome nicht länger anhaltend bestehen. Sie dürften nur auf dem Höhepunkt der depressiven Episode für kurze Zeit und ableitbar aus dem depressiven Affekt auftreten. Eine schizoaffektive Psychose könne (nur) diagnostiziert werden, wenn parallel zu den schizophrenen Symptomen die Symptome der depressiven Episode ausgeprägt vorhanden seien; dies sei beim Kläger aber nicht der Fall. Er zeige zurzeit leichte Deprimiertheit und Schlafstörungen, jedoch keine Antriebshemmung und nicht das Vollbild einer depressiven Episode. Falls dies im Verlauf der Fall gewesen sein sollte, komme in der Differentialtypologie theoretisch auch eine schizoaffektive Störung (F 25) in Betracht. Auch bei dieser handele es sich allerdings um eine Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis. Die schizoaffektive Psychose habe die bessere, die Schizophrenie die schlechtere Prognose. Es müsse daher mit Sicherheit eine Diagnose aus dem schizophrenen Formenkreis, am wahrscheinlichsten eine paranoide Schizophrenie, diagnostiziert werden. Diese habe beim Kläger im Vergleich mit ähnlich erkrankten Patienten einen durchschnittlichen Ausprägungsgrad. Eine PTBS könne nicht diagnostiziert werden. Denn bei dieser Erkrankung träten Flashbacks (Wiedererlebnisse eines realen Traumas) auf; dieses Phänomen sei beim Kläger nie typisch beschrieben worden. Auch aktuell verneine er Flashbacks. Die Diagnose einer PTBS sei nur möglich, wenn das Trauma gesichert sei. Aus der Symptomatik könne nicht auf die Existenz eines Traumas geschlossen werden. Etwaige Wiedererlebnisse von Verfolgung und Bedrohung könnten auch Bestandteil der schizophrenen Wahnsymptomatik sein.
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Zu den Beweisfragen bezüglich der benötigten Behandlung und den Folgen eines Behandlungsabbruchs nahm der Gutachter zusammengefasst wie folgt Stellung: Wesentlich sei die Pharmakotherapie, die im Idealfall mit einer Psychotherapie oder ärztlichen Gesprächen im Rahmen der Pharmakotherapie kombiniert werde. Bei einem Abbruch der Behandlung sei mit einer Verschlimmerung der schizophrenen Symptomatik zu rechnen (Zunahme von akustischen Halluzinationen, Ichstörungen, Wahn und Ängsten, Veränderung der Affektivität). In der Folge könnten z.B. Suizidgedanken auftreten, der Kläger könnte die Fähigkeit zur eigenständigen Lebensführung verlieren, seine Erwerbsfähigkeit könnte gemindert sein. Psychosoziale Belastungen (Stressoren) hätten negative Auswirkungen auf den Verlauf der Schizophrenie. Eine Abschiebung wäre wahrscheinlich ein solcher Stressor, zumal diese Vorstellung beim Kläger negativ besetzt sei. Die Folgen der Abschiebung könnten durch eine psychiatrische Behandlung im Zielstaat (Pharmakotherapie + Psycho- bzw. Gesprächstherapie) vermieden werden. Im Idealfall sollte eine psychosoziale Begleitung erfolgen.
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Mit Hinweisverfügung vom 19.05.2021 hat das Gericht seine vorläufige Rechtsauffassung dargelegt und den Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Das Bundesamt hat hierauf zunächst nicht reagiert. Mit Schreiben vom 20.07.2021 hat es einer Entscheidung ohne weitere mündliche Verhandlung zugestimmt, ohne sich inhaltlich zu dem Gutachten und den Ausführungen des Gerichts einzulassen. Die Prozessbevollmächtigte des Klägers hatte sich bereits in der Sitzung am 05.03.2021 mit einer Entscheidung ohne weitere mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
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Der Kläger beantragt,
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die Beklagte zu verpflichten, festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Nigeria vorliegt, und den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 13.08.2019 aufzuheben, soweit er dieser Verpflichtung entgegensteht.
22 
Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
24 
Sie verweist zur Begründung auf den angegriffenen Bescheid.
25 
Dem Gericht liegt ein pdf-Auszug der elektronischen Bundesamtsakten zum Asylerstverfahren (Az. 7149960-232, 243 Seiten) und zum Folgeverfahren (Az. 7877668-232, 95 Seiten) des Klägers vor. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt dieser Akten und die Gerichtsakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

 
26 
Die Entscheidung ergeht durch die Berichterstatterin anstelle der Kammer und ohne weitere mündliche Verhandlung, da sich die Beteiligten hiermit einverstanden erklärt haben (vgl. § 87a Abs. 2 und 3, § 101 Abs. 2 VwGO).
27 
I. Die Klage auf Zuerkennung eines Abschiebungsverbots ist als Verpflichtungsklage statthaft (vgl. § 42 Abs. 1 Alt. 2 VwGO) und auch sonst zulässig. Insbesondere wurde sie fristgerecht erhoben. Nach § 71 Abs. 4 i.V.m. § 36 Abs. 3 Satz 1 und § 74 Abs. 1 Halbs. 2 AsylG beträgt die Klagefrist in dem – hier vorliegenden – Fall der Ablehnung eines Asylantrags als unzulässiger Folgeantrag nur eine Woche. Die dem angegriffenen Bescheid beigefügte Rechtsbehelfsbelehrung ist insoweit unrichtig (dort genannte Klagefrist: zwei Wochen), mit der Folge, dass die Jahresfrist des § 58 Abs. 2 VwGO gilt. Diese ist zweifellos gewahrt, denn der Kläger hat gegen den am 15.08.2019 zugestellten Bescheid bereits sechs Tage später, am 21.08.2019, Klage erhoben.
28 
II. Die Klage ist auch begründet.
29 
Der Bescheid des Bundesamts vom 13.08.2019 ist – soweit er angefochten wurde – rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Denn der Kläger hat in dem für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG, der seinem Sinn und Zweck nach auch auf den hier vorliegenden Fall anwendbar ist, dass eine Entscheidung ohne weitere mündliche Verhandlung ergeht) einen Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bezüglich Nigeria (vgl. § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Daher war die gegenteilige Feststellung des Bundesamts in Ziffer 2 des Bescheids aufzuheben (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Im Einzelnen:
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1. Der Kläger hat einen Anspruch auf die begehrte Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bezüglich Nigeria.
31 
1.1. Dahinstehen kann, ob das Bundesamt im Rahmen eines Asylfolgeverfahrens über den Antrag auf Feststellung eines Abschiebungsverbots unabhängig von den Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG (Wiederaufgreifen im engen Sinn) oder des § 51 Abs. 5 i.V.m. § 48 Abs. 1 Satz 1 und § 49 Abs. 1 VwVfG (Wiederaufgreifen im weiten Sinn) zu entscheiden hat (einerseits Sächs. OVG, Urt. v. 21.06.2017 - 5 A 109/15.A -, juris Rn. 26; VG Würzburg, Beschl. v. 25.02.2019 - W 8 S 19.30348 -, juris Rn. 17; Bergmann, in: ders./Dienelt, AuslR, 13. Aufl. 2020, § 31 AsylG, Rn. 3; andererseits VG Sigmaringen, Urt. v. 10.03.2017, - A 3 K 3493/15 -, juris Rn. 40; VG Karlsruhe, Urt. v. 22.03.2019 - A 2 K 7843/17 -, juris Rn. 23; VG Hamburg, Beschl. v. 16.03.2020 - 17 AE 1084/20 -, juris Rn. 26 ff.). Denn hier liegen selbst die strengeren Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG für ein Wiederaufgreifen vor.
32 
Gemäß § 51 Abs. 1 VwVfG besteht ein Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens, wenn sich die dem Verwaltungsakt zugrundeliegende Sach- oder Rechtslage nachträglich zugunsten des Betroffenen geändert hat (Nr. 1), wenn neue Beweismittel vorliegen, die eine dem Betroffenen günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würden (Nr. 2) oder wenn Wiederaufnahmegründe entsprechend § 580 ZPO gegeben sind (Nr. 3). Dabei genügt schon die Möglichkeit einer günstigeren Entscheidung aufgrund der geltend gemachten Wiederaufnahmegründe (dazu BVerfG, Beschl. v. 03.03.2000 - 2 BvR 39/98 -, juris Rn. 32 m.w.N.). Voraussetzung ist gemäß § 51 Abs. 2 VwVfG aber auch, dass der Betroffene ohne grobes Verschulden außerstande war, den Grund für das Wiederaufgreifen in dem früheren Verfahren, insbesondere durch Rechtsbehelf, geltend zu machen. Nach § 51 Abs. 3 VwVfG können zudem nur solche Wiederaufgreifensgründe Berücksichtigung finden, die der Kläger innerhalb von drei Monaten ab Kenntniserlangung geltend macht (vgl. BVerwG, Urt. v. 09.12.2010 - 10 C 13.09 -, juris Rn. 28, VGH Bad.-Württ., Urt. v. 29.10.2019 - A 11 S 1203/19 -, juris Rn. 21). Die Frist beginnt frühestens nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung des früheren Asylantrags sowie erst mit der positiven Kenntnis der maßgeblichen Tatsachen; Kennenmüssen steht der Kenntnis nicht gleich (Bergmann, in: ders./ Dienelt, AuslR, 13. Aufl. 2020, § 71 Rn. 21; Funke-Kaiser, in: GK-AsylG, 124. Lfg., Stand: 01.12.2019, § 71 Rn. 287 f.). Wird – wie hier – ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG geltend gemacht, weil eine zielstaatsbezogene erhebliche Erkrankung vorliege, wird man vor einer endgültigen bzw. zuverlässigen Diagnosestellung in der Regel nicht von einem Beginn des Fristlaufs ausgehen und insoweit nicht allein auf den Ausbruch der Krankheit abstellen können, wobei es allerdings stets auf den Einzelfall und die Art und Schwere der Erkrankung ankommt. Denn die genaue Kenntnis von der wirklichen Dimension der Erkrankung ist in der Regel unerlässlich, um eine sachgerechte Prüfung der Verhältnisse im Herkunftsland vornehmen zu können (vgl. zum Ganzen Funke-Kaiser, in: GK-AsylG, a.a.O., § 71 Rn. 292 m.w.N.).
33 
Die Voraussetzungen des § § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens hinsichtlich des Vorliegens von Abschiebungsverboten sind hier erfüllt. Die gesundheitlichen Gründe, die der Kläger bei der Folgeantragsstellung am 16.07.2019 angeführt hat – Vorliegen einer psychischen Erkrankung in Form einer PTBS –, stellen eine Sachlagenänderung im Sinne von § 51 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1 VwVfG dar. Zwar litt der Kläger aller Voraussicht nach bereits während seines Asylerstverfahrens, das mit der Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs Baden -Württemberg vom 07.05.2019 rechtskräftig abgeschlossen war, an entsprechenden Symptomen, da er bereits bei seiner erstmaligen stationären Aufnahme im ZfP am 02.06.2019 angegeben hatte, „die letzten drei Monate“ imperative, bedrohliche Stimmen zu hören, die ihn zum Suizid aufforderten. Soweit ersichtlich, spitzte sich die Symptomatik aber erst Anfang Juni 2019 derart zu, dass es zu einem Suizidversuch und in Folge dessen zur stationären Behandlung sowie der (Erst-)Diagnose einer PTBS, u.a. durch das ZfP, kam. Da sich der Kläger bereits Mitte Juli 2019 an das Bundesamt wandte und die ihm dann vorliegenden Atteste einreichte, ist die Dreimonatsfrist des § 51 Abs. 3 VwVfG gewahrt.
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Daher kann hier offenbleiben, ob die im Asylfolgeverfahren über § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG für entsprechend anwendbar erklärte Dreimonatsfrist des § 51 Abs. 3 VwVfG als unionsrechtswidrig zu bewerten ist und daher ohnehin unangewendet bleiben muss, wofür mit Blick auf die jüngste Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu Folgeanträgen (siehe Urt. v. 09.09.2021, C-18/20, ECLI:EU:C:2021:710, abrufbar bei InfoCuria, dort Rn. 54 ff. und insb. Rn. 58 a.E) Einiges spricht.
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1.2. Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG für ein Abschiebungsverbot aus gesundheitlichen Gründen nach dieser Vorschrift liegen vor.
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Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für ihn eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen ist nach § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen anzunehmen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Nach Satz 4 der Vorschrift ist es nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist.
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Die Gefahr, dass sich eine Erkrankung des betroffenen Ausländers, die dieser nicht mit einer Vielzahl seiner Landsleute teilt, so dass kein Bedürfnis für eine ausländerpolitische Leitentscheidung gemäß § 60a Abs. 1 AufenthG besteht und die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG nicht greift, aufgrund der Verhältnisse im Zielstaat verschlimmert, ist als individuelle Gefahr einzustufen, die am Maßstab von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in direkter Anwendung zu prüfen ist. Hinsichtlich der befürchteten individuellen Gesundheitsgefahr gilt damit der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit in diesem Sinne ist anzunehmen, wenn bei der gebotenen qualifizierenden Betrachtungsweise des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für den Eintritt der Gesundheitsgefahr sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deswegen gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Die Gesundheitsgefahr ist hinreichend „konkret“, wenn die Verschlechterung des Gesundheitszustands alsbald, d.h. zeitnah nach der Rückkehr des Betroffenen, einträte. Dabei sind sämtliche zielstaatsbezogenen Umstände, die zu einer Verschlimmerung der Erkrankung führen können, in die Beurteilung miteinzubeziehen. Eine krankheitsbedingte zielstaatsbezogene Gesundheitsgefahr kann sich dementsprechend auch daraus ergeben, dass die notwendige medizinische Behandlung oder Medikation im Zielstaat der Abschiebung zwar allgemein zur Verfügung steht, sie dem Betroffenen im Einzelfall jedoch aus finanziellen oder sonstigen Gründen nicht zugänglich ist (vgl. zum Ganzen zusammenfassend BVerwG, Urt. v. 22.03.2012 - 1 C 3.11 -, juris Rn. 34; vgl. auch BVerwG, Urt. v. 29.10.2002 - 1 C 1.02 -, juris Ls. und Urt. v. 17.10.2006 - 1 C 18.05 -, juris Ls. sowie VGH-Bad.-Württ., Urt. v. 11.04.2018 - A 11 S 1729/17 -, juris Rn. 368 ff., m.w.N.). Die mögliche Unterstützung durch Angehörige ist ebenfalls in die gerichtliche Prognose miteinzubeziehen, ob eine wesentliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht (vgl. BVerwG, Urt. v. 29.10.2002 - 1 C 1.02 -, juris Rn. 10).
38 
Krankheitsbedingte Gefahren, die sich allein als Folge des Abschiebungsvorgangs bzw. wegen des Verlassens des Bundesgebiets, nicht aber wegen der spezifischen Verhältnisse im Zielstaat der Abschiebung ergeben können, begründen hingegen kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG und sind deshalb nicht vom Bundesamt im Asylverfahren, sondern als inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse von der zuständigen Ausländerbehörde zu prüfen (vgl. BVerwG, Urt. v. 11.11.1997 - 9 C 13.96 -, juris Ls. 2; VGH Bad.-Württ., Urt. v. 07.11.2002 - A 12 S 907/00 -, juris Rn. 61).
39 
1.2.1. Die tatsächlichen Verhältnisse in Nigeria stellen sich nach Durchsicht der Erkenntnismittel derzeit wie folgt dar: Die allgemeine wirtschaftliche und soziale Lage für die Mehrheit der nigerianischen Bevölkerung ist schwierig. Etwa 70% der Bevölkerung leben am Existenzminimum, wobei etwa 87 Millionen Nigerianer (ca. 40% der Bevölkerung) in extremer Armut leben, d.h. sie haben weniger als einen US-Dollar am Tag zur Verfügung. Frauen sind überdurchschnittlich stark von Armut betroffen. Der größte Teil der Bevölkerung lebt im Wesentlichen als Bauern, Landarbeiter oder Tagelöhner vom informellen Handel sowie (Subsistenz-)Landwirtschaft; die Arbeitslosigkeit ist groß. Viele Menschen haben keinen Zugang zu Wasser und Strom (siehe zum Ganzen: Auswärtiges Amt, Lagebericht Nigeria vom 05.12.2020, Stand: September 2020, insb. S. 23; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Nigeria vom 23.11.2020, Version 2, insb. S. 69 ff. und S. 74; UK Home Office, Country Background Note Nigeria, Version 2.0, Januar 2020, S. 7 f.; EASO, Country of Origin Information Report, Nigeria: Key socio-economic indicators, November 2018, S. 30 f.).
40 
Die medizinische Versorgung in den größeren Städten hat sich in den letzten Jahren deutlich verbessert, jedoch hauptsächlich für Privatzahler. Auch in staatlichen Krankenhäusern müssen Behandlungen selbst bezahlt werden. Die allgemeine Kranken- und Rentenversicherung gilt nur für Beschäftigte im formellen Sektor (etwa 10 % der Bevölkerung). Auch hinsichtlich der Versorgung mit Medikamenten kommt es letztendlich darauf an, ob sich der Patient diese leisten kann. Die staatliche Gesundheitsversorgung gewährleistet keine kostenfreie Medikamentenversorgung. Auf dem freien Markt sind zwar günstige Generika erhältlich, teilweise allerdings mit zweifelhafter Qualität (zum Ganzen: Auswärtiges Amt, Lagebericht Nigeria, a.a.O., S. 24 f.; BFA, Länderinformationsblatt zu Nigeria, a.a.O., S. S. 73 ff.; EASO, Country of Origin Report, a.a.O., S. 46 ff.; UK Home Office, Country Policy and Information Note Nigeria: Medical and healthcare issues, Version 3.0, Januar 2020, insb. S. 6 ff. und S. 10 f.).
41 
Ein staatlich organisiertes Hilfsnetz für Mittellose existiert nicht. Die Bedeutung der erweiterten Verwandtschaft ist daher nach wie vor groß. Es kann mit erheblichen wirtschaftlichen und sozialen Problemen verbunden sein, wenn sich Einzelpersonen an einen Ort begeben, in dem keine Mitglieder ihrer Familie bzw. erweiterten Verwandtschaft leben. Angesichts der anhaltend schwierigen Wirtschaftslage, ethnischem Ressentiment und der Bedeutung groß-familiärer Bindungen in der nigerianischen Gesellschaft ist es für viele Menschen schwer, an Orten ohne ein bestehendes soziales Netz erfolgreich Fuß zu fassen (Auswärtiges Amt, Lagebericht Nigeria, a.a.O., S. 17).
42 
Diese ohnehin schwierigen Lebensumstände haben sich durch die Corona-Pandemie weiter verschlechtert. Die Wirtschaft Nigerias, die hochgradig vom Ölexport abhängig ist, leidet erheblich unter den seit dem Ausbruch der Pandemie drastisch gesunkenen Rohölpreisen. Die nigerianische Regierung hat allerdings eine Reihe von Gegen- und Hilfsmaßnahmen ergriffen, um die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Pandemie abzufedern, etwa frühzeitig Soforthilfen in Form von Krediten beim Internationalen Währungsfond beantragt, Konjunkturpakte zur Stärkung der nigerianischen Wirtschaft beschlossen, Hilfskredite der nigerianischen Zentralbank für die von der Pandemie am stärksten betroffenen Haushalte bewilligt und ein Hilfsprogramm zur Versorgung der armen Bevölkerung mit Nahrungsmitteln aufgesetzt. Zugleich gibt es von Seiten Privater, der Kirchen und von NGOs zahlreiche Hilfs- und Unterstützungsangebote, die auf besonders Bedürftige, insbesondere Familien und alleinstehende Frauen, abzielen. Mit der Unterstützung durch im Land tätige Hilfsorganisationen konnte die nigerianische Regierung selbst in der Phase des strengen Lockdowns (zwischen März und Mai 2020) in allen Bundesstaaten eine Hungersnot durch die Ausgabe von Nahrungsmittel an besonders Bedürftige verhindern. Auch die in manchen Bundesstaaten verhängten Ausgangssperren und ähnliche Eindämmungsmaßnahmen, welche die Erwerbsmöglichkeiten im informellen Sektor, in dem die große Mehrheit der Nigerianer tätig ist, zeitweise stark eingeschränkt hatten, wurden seit Anfang Mai 2020 zunehmend wieder gelockert oder gänzlich aufgehoben (siehe zum Ganzen: iMMAP, COVID-19 Situation Analysis, Bericht vom 01.12.2020; Friedrich-Ebert-Stiftung, COVID-19 and the informal economy, Bericht vom August 2020, S. 10 f.; National Bureau of Statistics, Selected Food Prices Watch, Juni 2021; Auswärtiges Amt; Lagerbericht Nigeria vom 05.12.2020, Stand: September 2020, S. 23; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Nigeria vom 23.11.2020, Version 2, S. 5 f.; BFA, Kurzinformation der Staatendokumentation zu Afrika, Covid-19 – aktuelle Lage, Stand: 09.07.2020, S. 12 ff.; UNHCR, Assessing the Socioeconomic Impact of COVID-19 on Forcibly Displaced Population, Bericht vom Juni 2021). Belastbare Anhaltspunkte dafür, dass die Existenzsicherung oder der Zugang zu einer medizinischen (Basis-)Behandlung in Nigeria durch die Corona-Pandemie derzeit grundsätzlich in Frage gestellt wäre, liegen damit zwar nicht vor. Gerade für vulnerable Schutzsuchende – wie den Kläger – sind die Auswirkungen der Pandemie auf die Wirtschaft und den nigerianischen Arbeitsmarkt aber ein weiterer, in den Blick zu nehmender Risikofaktor.
43 
1.2.2. Unter Berücksichtigung dieser rechtlichen Maßstäbe und tatsächlichen Erkenntnisse sowie dem Ergebnis der Beweiserhebung hat das Gericht die Überzeugung gewonnen, dass dem Kläger im Falle einer Abschiebung nach Nigeria mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in absehbarer Zeit eine wesentliche Verschlechterung seines Gesundheitszustands droht. Denn bei Berücksichtigung seiner persönlichen Verhältnisse steht nicht zu erwarten, dass er sich die benötigte medizinische Behandlung seiner schweren psychischen Erkrankung auf Dauer wird leisten können.
44 
Für das Gericht steht aufgrund des fachärztlichen Gutachtens vom 10.05.2021 fest, dass der Kläger an einer behandlungsbedürftigen psychischen Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis, wahrscheinlich einer paranoiden Schizophrenie (F 20.0), leidet. Die Ausführungen des Gutachters zur Befunderhebung und Diagnosestellung sind nachvollziehbar, passen zu dem bereits im Jahr 2019 geäußerten Verdacht des ZfP in X hinsichtlich einer schizoaffektiven Störung (siehe den endgültigen Entlassbrief vom 04.07.2019, Seite 4) und dem persönlichen Eindruck, den das Gericht in der mündlichen Verhandlung von dem Kläger gewinnen konnte.
45 
Der Gutachter hat weiter überzeugend dargelegt, dass der Kläger einer dauerhaften medikamentösen Behandlung mit Psychopharmaka und regelmäßiger Psycho- und Gesprächstherapie bedarf. Andernfalls sei mit einer Verschlimmerung der schizophrenen Symptomatik zu rechnen, die u.a. einen Verlust der Fähigkeit zur eigenständigen Lebensführung bis hin zur Selbsttötung zur Folge haben könne. Diese Einschätzung ist vor allem mit Blick auf die Schilderungen in den Berichten des ZfP über die stationären Aufnahmen des Klägers im Juni und September 2019, die im Nachgang zu einem Suizidversuch bzw. Suizidgedanken erfolgten, sehr gut nachvollziehbar.
46 
Zwar geht die erkennende Kammer mit Blick auf die einschlägigen Erkenntnismittel (vgl. vor allem: Auswärtiges Amt, Lagebericht Nigeria vom 15.12.2020, Stand: September 2020, S. 24 f.; Immigration and Refugee Board of Canada [IRB], Nigeria: Mental health services available, 10.11.2020, S. 1 ff.; ACCORD, Anfragebeantwortung zu Nigeria: Lage von Personen mit psychischen Erkrankungen, 30.04.2020, S. 2 f.; UK Home Office, Country Policy and Information Note, Nigeria: Medical and healthcare issues, Version 3.0, Januar 2020, S. 16 ff.; Schweizerische Flüchtlingshilfe [SFH], Nigeria: Behandlung von psychischen Erkrankungen, 10.11.2017, S. 8 ff.; SFH, Nigeria: Psychiatrische Versorgung, 22.01.2014, S. 3 ff.) davon aus, dass psychische Erkrankungen in Nigeria grundsätzlich behandelbar sind. Insbesondere sind die Medikamente Olanzapin, Escitalopram und Mirtazapin, die der Kläger nach dem jüngsten Arztbericht vom 06.08.2021 derzeit einnimmt, dort grundsätzlich verfügbar (vgl. UK Home Office, a.a.O., S. 27 ff.; SFH, Nigeria: Behandlung von psychischen Erkrankungen, a.a.O., S. 11: zur Verfügbarkeit und den Kosten spezifischer Psychopharmaka).
47 
Der Kläger ist allerdings, wie aus dem Gutachten deutlich hervorgeht, auch auf eine regelmäßige Psycho-/Gesprächstherapie und mithin eine verlässliche ärztliche bzw. psychotherapeutische Anbindung angewiesen. Bestätigt wird diese Einschätzung durch den bisherigen, in den vorgelegten Arztberichten dokumentierten Krankheitsverlauf und die Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung. Dieser hat dort eindrücklich seinen Leidensdruck durch Schlafstörungen, Ängste und Suizidgedanken infolge von regelmäßig wiederkehrenden akustischen Halluzinationen und Verfolgungswahnvorstellungen geschildert. Seine Einlassung in der mündlichen Verhandlung wirkte insbesondere im Hinblick darauf, dass sie sich durchweg mit den vorliegenden Arztberichten in Einklang bringen ließ und er auch Relativierendes nicht verschwieg, glaubhaft. Beispielsweise gab er auf Nachfrage des Gerichts an, sich nicht daran erinnern zu können, vor seiner ersten stationären Aufnahme im ZfP im Juni 2019 einen Abschiedsbrief geschrieben zu haben, obwohl ein solcher im Entlassbericht vom 04.07.2019 erwähnt wird. Erläuternd fügte er hinzu, dass ihm diese Phase seines Lebens nur noch „verschwommen“ erinnerlich sei und er auch nur aus Erzählungen, vor allem seines Zimmernachbarn, der damals den Notarzt und die Polizei verständigt habe, von seinem Versuch, aus dem Fenster zu springen, und der Notfalleinlieferung ins ZfP wisse. Auch zur weiteren Entwicklung und seiner aktuellen Behandlung machte der Kläger in der mündlichen Verhandlung detaillierte und glaubhafte Angaben. Er trug unter anderem vor, in unregelmäßigen Abständen zu seinem Psychiater Dr. Xzu gehen und mit ihm telefonisch in Kontakt zu stehen. Dieser empfehle Medikamente, die sein Hausarzt dann verschreibe. Zuletzt sei er im Januar 2021 bei Dr. X gewesen, den nächsten Termin habe er im März 2021. Einmal wöchentlich habe er außerdem Gesprächstherapie bei einer psychologischen Psychotherapeutin in X. Die Sitzungen dauerten etwa 90 Minuten. Er erlerne dort verschiedene Techniken, damit er besser mit den Stimmen und Gedanken in seinem Kopf umgehen und nachts besser schlafen könne. Außerdem sprächen sie viel über seine Gefühle. Diese Therapie helfe ihm sehr.
48 
Nach der Erkenntnismittellage und den individuellen Verhältnissen des Klägers steht nicht zu erwarten, dass er die benötigte medizinische Behandlung in Form einer Pharmakotherapie und einer regelmäßigen Gesprächstherapie bei einem Facharzt oder Psychotherapeuten in Nigeria verlässlich erhielte und auf Dauer finanzieren könnte.
49 
Das nigerianische Gesundheitssystem ist hinsichtlich der Versorgung psychisch Kranker unzureichend. Nach einem von der nigerianischen Regierung veröffentlichten Bericht vom September 2018 erhielten in den dem Bericht vorangegangenen zwölf Monaten nur 20 Prozent der an einer ernsten psychischen Erkrankung leidenden Nigerianer eine Behandlung (IRB, Nigeria: Mental health services available, a.a.O., S. 1). Es besteht ein eklatanter Mangel an Fachpersonal (berichtet wird z.B. von weniger als 300 Psychiatern für etwa 200 Millionen Menschen) und an verfügbaren Plätzen in psychiatrischen Einrichtungen. Letztere gewährleisten zudem häufig keine menschenrechtskonforme Behandlung von psychisch Kranken, da es sich meist um bloße „Verwahreinrichtungen“ handelt und darüber hinaus teilweise von äußerst fragwürdigen bis hin zu grausamen Behandlungsmethoden (jahrelanges Anketten, Schläge) berichtet wird. Auch im ambulanten Bereich sind qualifizierte Psychiater und Psychotherapeuten kaum vorhanden und verlangen für Termine hohe Summen, die sich nur wohlhabende Bürger leisten können. Psychopharmaka seien häufig nicht erhältlich (vgl. zum Ganzen: Auswärtiges Amt, Lagebericht Nigeria vom 15.12.2020, a.a.O., S. 24 f.; IRB, Nigeria: Mental health services available, a.a.O., S. 1 ff.; ACCORD, Anfragebeantwortung zu Nigeria: Lage von Personen mit psychischen Erkrankungen, a.a.O., S. 2 f.; UK Home Office, Country Policy and Information Note, Nigeria: Medical and healthcare issues, a.a.O., S. 16 ff; SFH, Nigeria: Behandlung von psychischen Erkrankungen, a.a.O., S. 8 ff.; SFH, Nigeria: Psychiatrische Versorgung, a.a.O., S. 3 ff.).
50 
Dass der Kläger vor seiner Ausreise aus Nigeria zum wohlhabenden Teil der nigerianischen Gesellschaft gehörte, ist nicht ersichtlich. Zwar hat er eigenen Angaben zufolge ein abgeschlossenes Studium vorzuweisen und bei der Firma seines Bruders als Bauingenieur gearbeitet. Er besitzt folglich im Vergleich zur Mehrheitsbevölkerung in Nigeria eine überdurchschnittliche Bildung und entsprechende Berufserfahrung. Allerdings spricht Überwiegendes dagegen, dass es ihm im Falle einer Rückkehr gelänge, an diese Berufserfahrung anzuknüpfen. Denn der Bruder, dem die Baufirma gehörte, ist nach Angaben des Klägers seit Jahren tot. Da er dies bereits in seinem Asylerstverfahren vorgetragen und dort auch eine Sterbeurkunde (ausgestellt auf X, geboren am X.1980, verstorben am 14.04.2017 im Krankenhaus von Abuja, Todesursache: Multiple Frakturen; totales Organversagen) vorgelegt hatte, besteht kein Anlass, an dieser Angabe zu zweifeln. In der mündlichen Verhandlung gab der Kläger des Weiteren an, dass sein verstorbener Bruder für die Gründung der Baufirma einen Kredit aufgenommen habe und er nicht wisse, ob es die Firma mittlerweile noch gebe. Er schloss es auf Nachfrage zwar nicht aus, im Falle einer Rückkehr bei einer anderen Firma eine Anstellung als Bauingenieur zu finden, schätze seine Chancen, auf dem umkämpften nigerianischen Arbeitsmarkt (als Bauingenieur oder in einem anderen verhältnismäßig gut bezahlten Beruf) wieder Fuß fassen zu können, aber insbesondere wegen seiner psychischen Erkrankung als schlecht ein. Dieser Einschätzung schließt sich das Gericht an, zumal sich die wirtschaftliche Lage des Landes und vor allem die Erwerbsmöglichkeiten im informellen Sektor – wie oben dargelegt – infolge der Corona-Pandemie noch weiter verschlechtert haben.
51 
Auch von Seiten seiner Familie kann der Kläger nach seinen glaubhaften Angaben in der mündlichen Verhandlung aller Voraussicht nach keine substanzielle finanzielle Unterstützung erwarten. Denn seine Eltern sind bereits Anfang 60 bzw. Ende 70 und verdienen ihren Lebensunterhalt durch die Zucht von Hühnern; eine staatliche Rente erhalten sie nicht. Eine noch in Nigeria lebende ältere Schwester des Klägers ist verheiratet und Mutter zweier Kinder, für deren Unterhalt sie mit ihrem Ehemann bereits aufkommen muss. Selbst wenn die Familie des Klägers bereit wäre, ihn bei sich aufzunehmen und zu unterstützen, ist somit nicht ersichtlich, dass sie in der Lage wäre, seinen Lebensunterhalt und die hohen Behandlungskosten auf Dauer zu tragen.
52 
2. Ob auch die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG erfüllt sind, bedarf keiner Prüfung mehr, da es sich beim national begründeten Abschiebungsschutz um einen einheitlichen, nicht weiter teilbaren Streitgegenstand handelt (vgl. BVerwG, Urt. vom 08.09.2011 - 10 C 14.10 -, juris Ls. 1 und Rn. 16).
53 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei.

Gründe

 
26 
Die Entscheidung ergeht durch die Berichterstatterin anstelle der Kammer und ohne weitere mündliche Verhandlung, da sich die Beteiligten hiermit einverstanden erklärt haben (vgl. § 87a Abs. 2 und 3, § 101 Abs. 2 VwGO).
27 
I. Die Klage auf Zuerkennung eines Abschiebungsverbots ist als Verpflichtungsklage statthaft (vgl. § 42 Abs. 1 Alt. 2 VwGO) und auch sonst zulässig. Insbesondere wurde sie fristgerecht erhoben. Nach § 71 Abs. 4 i.V.m. § 36 Abs. 3 Satz 1 und § 74 Abs. 1 Halbs. 2 AsylG beträgt die Klagefrist in dem – hier vorliegenden – Fall der Ablehnung eines Asylantrags als unzulässiger Folgeantrag nur eine Woche. Die dem angegriffenen Bescheid beigefügte Rechtsbehelfsbelehrung ist insoweit unrichtig (dort genannte Klagefrist: zwei Wochen), mit der Folge, dass die Jahresfrist des § 58 Abs. 2 VwGO gilt. Diese ist zweifellos gewahrt, denn der Kläger hat gegen den am 15.08.2019 zugestellten Bescheid bereits sechs Tage später, am 21.08.2019, Klage erhoben.
28 
II. Die Klage ist auch begründet.
29 
Der Bescheid des Bundesamts vom 13.08.2019 ist – soweit er angefochten wurde – rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Denn der Kläger hat in dem für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG, der seinem Sinn und Zweck nach auch auf den hier vorliegenden Fall anwendbar ist, dass eine Entscheidung ohne weitere mündliche Verhandlung ergeht) einen Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bezüglich Nigeria (vgl. § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Daher war die gegenteilige Feststellung des Bundesamts in Ziffer 2 des Bescheids aufzuheben (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Im Einzelnen:
30 
1. Der Kläger hat einen Anspruch auf die begehrte Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bezüglich Nigeria.
31 
1.1. Dahinstehen kann, ob das Bundesamt im Rahmen eines Asylfolgeverfahrens über den Antrag auf Feststellung eines Abschiebungsverbots unabhängig von den Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG (Wiederaufgreifen im engen Sinn) oder des § 51 Abs. 5 i.V.m. § 48 Abs. 1 Satz 1 und § 49 Abs. 1 VwVfG (Wiederaufgreifen im weiten Sinn) zu entscheiden hat (einerseits Sächs. OVG, Urt. v. 21.06.2017 - 5 A 109/15.A -, juris Rn. 26; VG Würzburg, Beschl. v. 25.02.2019 - W 8 S 19.30348 -, juris Rn. 17; Bergmann, in: ders./Dienelt, AuslR, 13. Aufl. 2020, § 31 AsylG, Rn. 3; andererseits VG Sigmaringen, Urt. v. 10.03.2017, - A 3 K 3493/15 -, juris Rn. 40; VG Karlsruhe, Urt. v. 22.03.2019 - A 2 K 7843/17 -, juris Rn. 23; VG Hamburg, Beschl. v. 16.03.2020 - 17 AE 1084/20 -, juris Rn. 26 ff.). Denn hier liegen selbst die strengeren Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG für ein Wiederaufgreifen vor.
32 
Gemäß § 51 Abs. 1 VwVfG besteht ein Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens, wenn sich die dem Verwaltungsakt zugrundeliegende Sach- oder Rechtslage nachträglich zugunsten des Betroffenen geändert hat (Nr. 1), wenn neue Beweismittel vorliegen, die eine dem Betroffenen günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würden (Nr. 2) oder wenn Wiederaufnahmegründe entsprechend § 580 ZPO gegeben sind (Nr. 3). Dabei genügt schon die Möglichkeit einer günstigeren Entscheidung aufgrund der geltend gemachten Wiederaufnahmegründe (dazu BVerfG, Beschl. v. 03.03.2000 - 2 BvR 39/98 -, juris Rn. 32 m.w.N.). Voraussetzung ist gemäß § 51 Abs. 2 VwVfG aber auch, dass der Betroffene ohne grobes Verschulden außerstande war, den Grund für das Wiederaufgreifen in dem früheren Verfahren, insbesondere durch Rechtsbehelf, geltend zu machen. Nach § 51 Abs. 3 VwVfG können zudem nur solche Wiederaufgreifensgründe Berücksichtigung finden, die der Kläger innerhalb von drei Monaten ab Kenntniserlangung geltend macht (vgl. BVerwG, Urt. v. 09.12.2010 - 10 C 13.09 -, juris Rn. 28, VGH Bad.-Württ., Urt. v. 29.10.2019 - A 11 S 1203/19 -, juris Rn. 21). Die Frist beginnt frühestens nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung des früheren Asylantrags sowie erst mit der positiven Kenntnis der maßgeblichen Tatsachen; Kennenmüssen steht der Kenntnis nicht gleich (Bergmann, in: ders./ Dienelt, AuslR, 13. Aufl. 2020, § 71 Rn. 21; Funke-Kaiser, in: GK-AsylG, 124. Lfg., Stand: 01.12.2019, § 71 Rn. 287 f.). Wird – wie hier – ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG geltend gemacht, weil eine zielstaatsbezogene erhebliche Erkrankung vorliege, wird man vor einer endgültigen bzw. zuverlässigen Diagnosestellung in der Regel nicht von einem Beginn des Fristlaufs ausgehen und insoweit nicht allein auf den Ausbruch der Krankheit abstellen können, wobei es allerdings stets auf den Einzelfall und die Art und Schwere der Erkrankung ankommt. Denn die genaue Kenntnis von der wirklichen Dimension der Erkrankung ist in der Regel unerlässlich, um eine sachgerechte Prüfung der Verhältnisse im Herkunftsland vornehmen zu können (vgl. zum Ganzen Funke-Kaiser, in: GK-AsylG, a.a.O., § 71 Rn. 292 m.w.N.).
33 
Die Voraussetzungen des § § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens hinsichtlich des Vorliegens von Abschiebungsverboten sind hier erfüllt. Die gesundheitlichen Gründe, die der Kläger bei der Folgeantragsstellung am 16.07.2019 angeführt hat – Vorliegen einer psychischen Erkrankung in Form einer PTBS –, stellen eine Sachlagenänderung im Sinne von § 51 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1 VwVfG dar. Zwar litt der Kläger aller Voraussicht nach bereits während seines Asylerstverfahrens, das mit der Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs Baden -Württemberg vom 07.05.2019 rechtskräftig abgeschlossen war, an entsprechenden Symptomen, da er bereits bei seiner erstmaligen stationären Aufnahme im ZfP am 02.06.2019 angegeben hatte, „die letzten drei Monate“ imperative, bedrohliche Stimmen zu hören, die ihn zum Suizid aufforderten. Soweit ersichtlich, spitzte sich die Symptomatik aber erst Anfang Juni 2019 derart zu, dass es zu einem Suizidversuch und in Folge dessen zur stationären Behandlung sowie der (Erst-)Diagnose einer PTBS, u.a. durch das ZfP, kam. Da sich der Kläger bereits Mitte Juli 2019 an das Bundesamt wandte und die ihm dann vorliegenden Atteste einreichte, ist die Dreimonatsfrist des § 51 Abs. 3 VwVfG gewahrt.
34 
Daher kann hier offenbleiben, ob die im Asylfolgeverfahren über § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG für entsprechend anwendbar erklärte Dreimonatsfrist des § 51 Abs. 3 VwVfG als unionsrechtswidrig zu bewerten ist und daher ohnehin unangewendet bleiben muss, wofür mit Blick auf die jüngste Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu Folgeanträgen (siehe Urt. v. 09.09.2021, C-18/20, ECLI:EU:C:2021:710, abrufbar bei InfoCuria, dort Rn. 54 ff. und insb. Rn. 58 a.E) Einiges spricht.
35 
1.2. Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG für ein Abschiebungsverbot aus gesundheitlichen Gründen nach dieser Vorschrift liegen vor.
36 
Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für ihn eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen ist nach § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen anzunehmen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Nach Satz 4 der Vorschrift ist es nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist.
37 
Die Gefahr, dass sich eine Erkrankung des betroffenen Ausländers, die dieser nicht mit einer Vielzahl seiner Landsleute teilt, so dass kein Bedürfnis für eine ausländerpolitische Leitentscheidung gemäß § 60a Abs. 1 AufenthG besteht und die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG nicht greift, aufgrund der Verhältnisse im Zielstaat verschlimmert, ist als individuelle Gefahr einzustufen, die am Maßstab von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in direkter Anwendung zu prüfen ist. Hinsichtlich der befürchteten individuellen Gesundheitsgefahr gilt damit der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit in diesem Sinne ist anzunehmen, wenn bei der gebotenen qualifizierenden Betrachtungsweise des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für den Eintritt der Gesundheitsgefahr sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deswegen gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Die Gesundheitsgefahr ist hinreichend „konkret“, wenn die Verschlechterung des Gesundheitszustands alsbald, d.h. zeitnah nach der Rückkehr des Betroffenen, einträte. Dabei sind sämtliche zielstaatsbezogenen Umstände, die zu einer Verschlimmerung der Erkrankung führen können, in die Beurteilung miteinzubeziehen. Eine krankheitsbedingte zielstaatsbezogene Gesundheitsgefahr kann sich dementsprechend auch daraus ergeben, dass die notwendige medizinische Behandlung oder Medikation im Zielstaat der Abschiebung zwar allgemein zur Verfügung steht, sie dem Betroffenen im Einzelfall jedoch aus finanziellen oder sonstigen Gründen nicht zugänglich ist (vgl. zum Ganzen zusammenfassend BVerwG, Urt. v. 22.03.2012 - 1 C 3.11 -, juris Rn. 34; vgl. auch BVerwG, Urt. v. 29.10.2002 - 1 C 1.02 -, juris Ls. und Urt. v. 17.10.2006 - 1 C 18.05 -, juris Ls. sowie VGH-Bad.-Württ., Urt. v. 11.04.2018 - A 11 S 1729/17 -, juris Rn. 368 ff., m.w.N.). Die mögliche Unterstützung durch Angehörige ist ebenfalls in die gerichtliche Prognose miteinzubeziehen, ob eine wesentliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht (vgl. BVerwG, Urt. v. 29.10.2002 - 1 C 1.02 -, juris Rn. 10).
38 
Krankheitsbedingte Gefahren, die sich allein als Folge des Abschiebungsvorgangs bzw. wegen des Verlassens des Bundesgebiets, nicht aber wegen der spezifischen Verhältnisse im Zielstaat der Abschiebung ergeben können, begründen hingegen kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG und sind deshalb nicht vom Bundesamt im Asylverfahren, sondern als inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse von der zuständigen Ausländerbehörde zu prüfen (vgl. BVerwG, Urt. v. 11.11.1997 - 9 C 13.96 -, juris Ls. 2; VGH Bad.-Württ., Urt. v. 07.11.2002 - A 12 S 907/00 -, juris Rn. 61).
39 
1.2.1. Die tatsächlichen Verhältnisse in Nigeria stellen sich nach Durchsicht der Erkenntnismittel derzeit wie folgt dar: Die allgemeine wirtschaftliche und soziale Lage für die Mehrheit der nigerianischen Bevölkerung ist schwierig. Etwa 70% der Bevölkerung leben am Existenzminimum, wobei etwa 87 Millionen Nigerianer (ca. 40% der Bevölkerung) in extremer Armut leben, d.h. sie haben weniger als einen US-Dollar am Tag zur Verfügung. Frauen sind überdurchschnittlich stark von Armut betroffen. Der größte Teil der Bevölkerung lebt im Wesentlichen als Bauern, Landarbeiter oder Tagelöhner vom informellen Handel sowie (Subsistenz-)Landwirtschaft; die Arbeitslosigkeit ist groß. Viele Menschen haben keinen Zugang zu Wasser und Strom (siehe zum Ganzen: Auswärtiges Amt, Lagebericht Nigeria vom 05.12.2020, Stand: September 2020, insb. S. 23; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Nigeria vom 23.11.2020, Version 2, insb. S. 69 ff. und S. 74; UK Home Office, Country Background Note Nigeria, Version 2.0, Januar 2020, S. 7 f.; EASO, Country of Origin Information Report, Nigeria: Key socio-economic indicators, November 2018, S. 30 f.).
40 
Die medizinische Versorgung in den größeren Städten hat sich in den letzten Jahren deutlich verbessert, jedoch hauptsächlich für Privatzahler. Auch in staatlichen Krankenhäusern müssen Behandlungen selbst bezahlt werden. Die allgemeine Kranken- und Rentenversicherung gilt nur für Beschäftigte im formellen Sektor (etwa 10 % der Bevölkerung). Auch hinsichtlich der Versorgung mit Medikamenten kommt es letztendlich darauf an, ob sich der Patient diese leisten kann. Die staatliche Gesundheitsversorgung gewährleistet keine kostenfreie Medikamentenversorgung. Auf dem freien Markt sind zwar günstige Generika erhältlich, teilweise allerdings mit zweifelhafter Qualität (zum Ganzen: Auswärtiges Amt, Lagebericht Nigeria, a.a.O., S. 24 f.; BFA, Länderinformationsblatt zu Nigeria, a.a.O., S. S. 73 ff.; EASO, Country of Origin Report, a.a.O., S. 46 ff.; UK Home Office, Country Policy and Information Note Nigeria: Medical and healthcare issues, Version 3.0, Januar 2020, insb. S. 6 ff. und S. 10 f.).
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Ein staatlich organisiertes Hilfsnetz für Mittellose existiert nicht. Die Bedeutung der erweiterten Verwandtschaft ist daher nach wie vor groß. Es kann mit erheblichen wirtschaftlichen und sozialen Problemen verbunden sein, wenn sich Einzelpersonen an einen Ort begeben, in dem keine Mitglieder ihrer Familie bzw. erweiterten Verwandtschaft leben. Angesichts der anhaltend schwierigen Wirtschaftslage, ethnischem Ressentiment und der Bedeutung groß-familiärer Bindungen in der nigerianischen Gesellschaft ist es für viele Menschen schwer, an Orten ohne ein bestehendes soziales Netz erfolgreich Fuß zu fassen (Auswärtiges Amt, Lagebericht Nigeria, a.a.O., S. 17).
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Diese ohnehin schwierigen Lebensumstände haben sich durch die Corona-Pandemie weiter verschlechtert. Die Wirtschaft Nigerias, die hochgradig vom Ölexport abhängig ist, leidet erheblich unter den seit dem Ausbruch der Pandemie drastisch gesunkenen Rohölpreisen. Die nigerianische Regierung hat allerdings eine Reihe von Gegen- und Hilfsmaßnahmen ergriffen, um die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Pandemie abzufedern, etwa frühzeitig Soforthilfen in Form von Krediten beim Internationalen Währungsfond beantragt, Konjunkturpakte zur Stärkung der nigerianischen Wirtschaft beschlossen, Hilfskredite der nigerianischen Zentralbank für die von der Pandemie am stärksten betroffenen Haushalte bewilligt und ein Hilfsprogramm zur Versorgung der armen Bevölkerung mit Nahrungsmitteln aufgesetzt. Zugleich gibt es von Seiten Privater, der Kirchen und von NGOs zahlreiche Hilfs- und Unterstützungsangebote, die auf besonders Bedürftige, insbesondere Familien und alleinstehende Frauen, abzielen. Mit der Unterstützung durch im Land tätige Hilfsorganisationen konnte die nigerianische Regierung selbst in der Phase des strengen Lockdowns (zwischen März und Mai 2020) in allen Bundesstaaten eine Hungersnot durch die Ausgabe von Nahrungsmittel an besonders Bedürftige verhindern. Auch die in manchen Bundesstaaten verhängten Ausgangssperren und ähnliche Eindämmungsmaßnahmen, welche die Erwerbsmöglichkeiten im informellen Sektor, in dem die große Mehrheit der Nigerianer tätig ist, zeitweise stark eingeschränkt hatten, wurden seit Anfang Mai 2020 zunehmend wieder gelockert oder gänzlich aufgehoben (siehe zum Ganzen: iMMAP, COVID-19 Situation Analysis, Bericht vom 01.12.2020; Friedrich-Ebert-Stiftung, COVID-19 and the informal economy, Bericht vom August 2020, S. 10 f.; National Bureau of Statistics, Selected Food Prices Watch, Juni 2021; Auswärtiges Amt; Lagerbericht Nigeria vom 05.12.2020, Stand: September 2020, S. 23; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Nigeria vom 23.11.2020, Version 2, S. 5 f.; BFA, Kurzinformation der Staatendokumentation zu Afrika, Covid-19 – aktuelle Lage, Stand: 09.07.2020, S. 12 ff.; UNHCR, Assessing the Socioeconomic Impact of COVID-19 on Forcibly Displaced Population, Bericht vom Juni 2021). Belastbare Anhaltspunkte dafür, dass die Existenzsicherung oder der Zugang zu einer medizinischen (Basis-)Behandlung in Nigeria durch die Corona-Pandemie derzeit grundsätzlich in Frage gestellt wäre, liegen damit zwar nicht vor. Gerade für vulnerable Schutzsuchende – wie den Kläger – sind die Auswirkungen der Pandemie auf die Wirtschaft und den nigerianischen Arbeitsmarkt aber ein weiterer, in den Blick zu nehmender Risikofaktor.
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1.2.2. Unter Berücksichtigung dieser rechtlichen Maßstäbe und tatsächlichen Erkenntnisse sowie dem Ergebnis der Beweiserhebung hat das Gericht die Überzeugung gewonnen, dass dem Kläger im Falle einer Abschiebung nach Nigeria mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in absehbarer Zeit eine wesentliche Verschlechterung seines Gesundheitszustands droht. Denn bei Berücksichtigung seiner persönlichen Verhältnisse steht nicht zu erwarten, dass er sich die benötigte medizinische Behandlung seiner schweren psychischen Erkrankung auf Dauer wird leisten können.
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Für das Gericht steht aufgrund des fachärztlichen Gutachtens vom 10.05.2021 fest, dass der Kläger an einer behandlungsbedürftigen psychischen Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis, wahrscheinlich einer paranoiden Schizophrenie (F 20.0), leidet. Die Ausführungen des Gutachters zur Befunderhebung und Diagnosestellung sind nachvollziehbar, passen zu dem bereits im Jahr 2019 geäußerten Verdacht des ZfP in X hinsichtlich einer schizoaffektiven Störung (siehe den endgültigen Entlassbrief vom 04.07.2019, Seite 4) und dem persönlichen Eindruck, den das Gericht in der mündlichen Verhandlung von dem Kläger gewinnen konnte.
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Der Gutachter hat weiter überzeugend dargelegt, dass der Kläger einer dauerhaften medikamentösen Behandlung mit Psychopharmaka und regelmäßiger Psycho- und Gesprächstherapie bedarf. Andernfalls sei mit einer Verschlimmerung der schizophrenen Symptomatik zu rechnen, die u.a. einen Verlust der Fähigkeit zur eigenständigen Lebensführung bis hin zur Selbsttötung zur Folge haben könne. Diese Einschätzung ist vor allem mit Blick auf die Schilderungen in den Berichten des ZfP über die stationären Aufnahmen des Klägers im Juni und September 2019, die im Nachgang zu einem Suizidversuch bzw. Suizidgedanken erfolgten, sehr gut nachvollziehbar.
46 
Zwar geht die erkennende Kammer mit Blick auf die einschlägigen Erkenntnismittel (vgl. vor allem: Auswärtiges Amt, Lagebericht Nigeria vom 15.12.2020, Stand: September 2020, S. 24 f.; Immigration and Refugee Board of Canada [IRB], Nigeria: Mental health services available, 10.11.2020, S. 1 ff.; ACCORD, Anfragebeantwortung zu Nigeria: Lage von Personen mit psychischen Erkrankungen, 30.04.2020, S. 2 f.; UK Home Office, Country Policy and Information Note, Nigeria: Medical and healthcare issues, Version 3.0, Januar 2020, S. 16 ff.; Schweizerische Flüchtlingshilfe [SFH], Nigeria: Behandlung von psychischen Erkrankungen, 10.11.2017, S. 8 ff.; SFH, Nigeria: Psychiatrische Versorgung, 22.01.2014, S. 3 ff.) davon aus, dass psychische Erkrankungen in Nigeria grundsätzlich behandelbar sind. Insbesondere sind die Medikamente Olanzapin, Escitalopram und Mirtazapin, die der Kläger nach dem jüngsten Arztbericht vom 06.08.2021 derzeit einnimmt, dort grundsätzlich verfügbar (vgl. UK Home Office, a.a.O., S. 27 ff.; SFH, Nigeria: Behandlung von psychischen Erkrankungen, a.a.O., S. 11: zur Verfügbarkeit und den Kosten spezifischer Psychopharmaka).
47 
Der Kläger ist allerdings, wie aus dem Gutachten deutlich hervorgeht, auch auf eine regelmäßige Psycho-/Gesprächstherapie und mithin eine verlässliche ärztliche bzw. psychotherapeutische Anbindung angewiesen. Bestätigt wird diese Einschätzung durch den bisherigen, in den vorgelegten Arztberichten dokumentierten Krankheitsverlauf und die Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung. Dieser hat dort eindrücklich seinen Leidensdruck durch Schlafstörungen, Ängste und Suizidgedanken infolge von regelmäßig wiederkehrenden akustischen Halluzinationen und Verfolgungswahnvorstellungen geschildert. Seine Einlassung in der mündlichen Verhandlung wirkte insbesondere im Hinblick darauf, dass sie sich durchweg mit den vorliegenden Arztberichten in Einklang bringen ließ und er auch Relativierendes nicht verschwieg, glaubhaft. Beispielsweise gab er auf Nachfrage des Gerichts an, sich nicht daran erinnern zu können, vor seiner ersten stationären Aufnahme im ZfP im Juni 2019 einen Abschiedsbrief geschrieben zu haben, obwohl ein solcher im Entlassbericht vom 04.07.2019 erwähnt wird. Erläuternd fügte er hinzu, dass ihm diese Phase seines Lebens nur noch „verschwommen“ erinnerlich sei und er auch nur aus Erzählungen, vor allem seines Zimmernachbarn, der damals den Notarzt und die Polizei verständigt habe, von seinem Versuch, aus dem Fenster zu springen, und der Notfalleinlieferung ins ZfP wisse. Auch zur weiteren Entwicklung und seiner aktuellen Behandlung machte der Kläger in der mündlichen Verhandlung detaillierte und glaubhafte Angaben. Er trug unter anderem vor, in unregelmäßigen Abständen zu seinem Psychiater Dr. Xzu gehen und mit ihm telefonisch in Kontakt zu stehen. Dieser empfehle Medikamente, die sein Hausarzt dann verschreibe. Zuletzt sei er im Januar 2021 bei Dr. X gewesen, den nächsten Termin habe er im März 2021. Einmal wöchentlich habe er außerdem Gesprächstherapie bei einer psychologischen Psychotherapeutin in X. Die Sitzungen dauerten etwa 90 Minuten. Er erlerne dort verschiedene Techniken, damit er besser mit den Stimmen und Gedanken in seinem Kopf umgehen und nachts besser schlafen könne. Außerdem sprächen sie viel über seine Gefühle. Diese Therapie helfe ihm sehr.
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Nach der Erkenntnismittellage und den individuellen Verhältnissen des Klägers steht nicht zu erwarten, dass er die benötigte medizinische Behandlung in Form einer Pharmakotherapie und einer regelmäßigen Gesprächstherapie bei einem Facharzt oder Psychotherapeuten in Nigeria verlässlich erhielte und auf Dauer finanzieren könnte.
49 
Das nigerianische Gesundheitssystem ist hinsichtlich der Versorgung psychisch Kranker unzureichend. Nach einem von der nigerianischen Regierung veröffentlichten Bericht vom September 2018 erhielten in den dem Bericht vorangegangenen zwölf Monaten nur 20 Prozent der an einer ernsten psychischen Erkrankung leidenden Nigerianer eine Behandlung (IRB, Nigeria: Mental health services available, a.a.O., S. 1). Es besteht ein eklatanter Mangel an Fachpersonal (berichtet wird z.B. von weniger als 300 Psychiatern für etwa 200 Millionen Menschen) und an verfügbaren Plätzen in psychiatrischen Einrichtungen. Letztere gewährleisten zudem häufig keine menschenrechtskonforme Behandlung von psychisch Kranken, da es sich meist um bloße „Verwahreinrichtungen“ handelt und darüber hinaus teilweise von äußerst fragwürdigen bis hin zu grausamen Behandlungsmethoden (jahrelanges Anketten, Schläge) berichtet wird. Auch im ambulanten Bereich sind qualifizierte Psychiater und Psychotherapeuten kaum vorhanden und verlangen für Termine hohe Summen, die sich nur wohlhabende Bürger leisten können. Psychopharmaka seien häufig nicht erhältlich (vgl. zum Ganzen: Auswärtiges Amt, Lagebericht Nigeria vom 15.12.2020, a.a.O., S. 24 f.; IRB, Nigeria: Mental health services available, a.a.O., S. 1 ff.; ACCORD, Anfragebeantwortung zu Nigeria: Lage von Personen mit psychischen Erkrankungen, a.a.O., S. 2 f.; UK Home Office, Country Policy and Information Note, Nigeria: Medical and healthcare issues, a.a.O., S. 16 ff; SFH, Nigeria: Behandlung von psychischen Erkrankungen, a.a.O., S. 8 ff.; SFH, Nigeria: Psychiatrische Versorgung, a.a.O., S. 3 ff.).
50 
Dass der Kläger vor seiner Ausreise aus Nigeria zum wohlhabenden Teil der nigerianischen Gesellschaft gehörte, ist nicht ersichtlich. Zwar hat er eigenen Angaben zufolge ein abgeschlossenes Studium vorzuweisen und bei der Firma seines Bruders als Bauingenieur gearbeitet. Er besitzt folglich im Vergleich zur Mehrheitsbevölkerung in Nigeria eine überdurchschnittliche Bildung und entsprechende Berufserfahrung. Allerdings spricht Überwiegendes dagegen, dass es ihm im Falle einer Rückkehr gelänge, an diese Berufserfahrung anzuknüpfen. Denn der Bruder, dem die Baufirma gehörte, ist nach Angaben des Klägers seit Jahren tot. Da er dies bereits in seinem Asylerstverfahren vorgetragen und dort auch eine Sterbeurkunde (ausgestellt auf X, geboren am X.1980, verstorben am 14.04.2017 im Krankenhaus von Abuja, Todesursache: Multiple Frakturen; totales Organversagen) vorgelegt hatte, besteht kein Anlass, an dieser Angabe zu zweifeln. In der mündlichen Verhandlung gab der Kläger des Weiteren an, dass sein verstorbener Bruder für die Gründung der Baufirma einen Kredit aufgenommen habe und er nicht wisse, ob es die Firma mittlerweile noch gebe. Er schloss es auf Nachfrage zwar nicht aus, im Falle einer Rückkehr bei einer anderen Firma eine Anstellung als Bauingenieur zu finden, schätze seine Chancen, auf dem umkämpften nigerianischen Arbeitsmarkt (als Bauingenieur oder in einem anderen verhältnismäßig gut bezahlten Beruf) wieder Fuß fassen zu können, aber insbesondere wegen seiner psychischen Erkrankung als schlecht ein. Dieser Einschätzung schließt sich das Gericht an, zumal sich die wirtschaftliche Lage des Landes und vor allem die Erwerbsmöglichkeiten im informellen Sektor – wie oben dargelegt – infolge der Corona-Pandemie noch weiter verschlechtert haben.
51 
Auch von Seiten seiner Familie kann der Kläger nach seinen glaubhaften Angaben in der mündlichen Verhandlung aller Voraussicht nach keine substanzielle finanzielle Unterstützung erwarten. Denn seine Eltern sind bereits Anfang 60 bzw. Ende 70 und verdienen ihren Lebensunterhalt durch die Zucht von Hühnern; eine staatliche Rente erhalten sie nicht. Eine noch in Nigeria lebende ältere Schwester des Klägers ist verheiratet und Mutter zweier Kinder, für deren Unterhalt sie mit ihrem Ehemann bereits aufkommen muss. Selbst wenn die Familie des Klägers bereit wäre, ihn bei sich aufzunehmen und zu unterstützen, ist somit nicht ersichtlich, dass sie in der Lage wäre, seinen Lebensunterhalt und die hohen Behandlungskosten auf Dauer zu tragen.
52 
2. Ob auch die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG erfüllt sind, bedarf keiner Prüfung mehr, da es sich beim national begründeten Abschiebungsschutz um einen einheitlichen, nicht weiter teilbaren Streitgegenstand handelt (vgl. BVerwG, Urt. vom 08.09.2011 - 10 C 14.10 -, juris Ls. 1 und Rn. 16).
53 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei.

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