Urteil vom Verwaltungsgericht Hamburg (17. Kammer) - 17 A 7520/16

Tenor

Soweit die Klage zurückgenommen worden ist, wird das Verfahren eingestellt.

Der Bescheid der Beklagten vom 30. November 2016 zum Az. … wird in den Nummern 3 bis 6 aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, den Klägern den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen.

Gerichtskosten werden nicht erhoben. Die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens tragen die Beklagte zu 2/3 und die Kläger zu 1/3.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der festzusetzenden Kosten abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des zu vollstreckenden Betrags leistet.

Tatbestand

1

Die Kläger begehren die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus und hilfsweise die Feststellung von nationalen Abschiebungsverboten.

2

Die im Jahr … geborene Klägerin zu 1) ist russische Staatsangehörige tschetschenischer Volkszugehörigkeit. Sie war bis zum Jahr 2016 verheiratet mit dem … im Jahr … geborenen Herrn A, der ebenfalls russischer Staatsangehöriger tschetschenischer Volkszugehörigkeit ist. Mit diesem hat sie drei Kinder, nämlich die in den Jahren …, … und … geborenen Kläger zu 2) bis 4).

3

Herr A reiste … in das Bundesgebiet ein und stellte dort am … … 2013 einen Asylantrag. Diesen begründete er im Wesentlichen damit, dass er in Tschetschenien Probleme mit den dortigen Behörden habe. …

4

Nach eigenen Angaben reisten die Kläger am ... in das Bundesgebiet ein. Am … … 2015 stellten sie Asylanträge.

5

In ihrer persönlichen Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am … gab die Klägerin zu 1) an: Ihr Ehemann habe in Tschetschenien Ärger mit bestimmten Leuten gehabt. Ihr Ehemann habe viele schlechte Angewohnheiten gehabt sowie sie und ihre Kinder auch geschlagen. Sie habe Angst gehabt, mit ihren Kindern das Haus zu verlassen und habe ihrem Ehemann nahe gelegt, zu fliehen. Als ihr Ehemann dann geflohen sei, habe sie ihn überlistet. Sie habe ihm erzählt, dass sie ihm folgen werde. Dies habe sie aber nicht getan, in der Hoffnung, dass sich die Probleme von alleine mit seiner Flucht lösen würden. Ihr eigener Bruder habe sie dann aber vor die Wahl gestellt: Entweder sie folge mit den Kindern ihrem Ehemann oder aber die Kinder würden zu der Familie ihres Ehemanns gehen, während sie zu ihrer Familie zurückkehren müsse. Sie habe eigentlich nicht fliehen wollen, sie habe ihre Kinder aber nicht verlieren wollen. Ihr Schwiegervater und ihr Bruder hätten ihr dann die Ausreise ermöglicht. Sie sei dann zu ihrem Ehemann nach Deutschland gekommen. Dort habe sie festgestellt, dass dieser mittlerweile eine neue Frau habe, mit der er auch ein Kind gezeugt habe. Sie habe große Angst, dass ihr bei einer Rückkehr nach Tschetschenien die Kinder weggenommen würden. …

6

Mit Bescheid vom 17. Mai 2016 lehnte das Bundesamt den Antrag des Herrn A auf Asylanerkennung ab, erkannte die Flüchtlingseigenschaft und den subsidiären Schutzstatus nicht zu und stellte zugleich fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen. Zur Begründung trug das Bundesamt vor, dass eine eigene individuelle Verfolgung nicht glaubhaft gemacht worden sei und zudem eine inländische Fluchtalternative bestehe. Eine gegen diesen Bescheid erhobene Klage ist noch beim erkennenden Gericht anhängig.

7

Mit Bescheid vom 30. November 2016 lehnte das Bundesamt die Anträge der Kläger auf Asylanerkennung ab, erkannte die Flüchtlingseigenschaft und den subsidiären Schutzstatus nicht zu und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen. Die Kläger wurden unter Fristsetzung aufgefordert, das Bundesgebiet zu verlassen; für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise wurde ihnen die Abschiebung in die Russische Föderation angedroht. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. Zur Begründung führte das Bundesamt im Wesentlichen aus: Die Befürchtung der Klägerin zu 1), ihr könnten die Kinder weggenommen werden, sei lediglich eine Vermutung der Klägerin zu 1) und könne nicht nachvollzogen werden. Ihr Ehemann habe sich mittlerweile eine neue Beziehung aufgebaut. Damit sei nicht zu erwarten, dass die Eltern ihres Ehemanns die Kinder herausverlangen würden. Seitens der Familie der Klägerin zu 1) sei hingegen eine positive Reaktion zu erwarten. Im Übrigen bestünde für die Klägerin zu 1) interner Schutz innerhalb der Russischen Föderation. Sie sei gut ausgebildet und habe die Möglichkeit, in anderen Regionen der Russischen Föderation den Lebensunterhalt für sich und ihre Kinder zu sichern. Wegen der weiteren Einzelheiten der Begründung wird auf den Bescheid vom 30. November 2016 verwiesen.

8

Am 8. Dezember 2016 haben die Kläger Klage erhoben. In Bezug auf die Angaben ihres Ehemanns in seiner persönlichen Anhörung beim Bundesamt trägt die Klägerin zu 1) vor: Die Behauptung ihres Ehemanns, ihr Bruder …, sei nicht richtig. Ihr Bruder …. Sie habe Angst vor ihm und davor, dass er ihr, wie er bereits angedroht habe, die Kinder wegnehmen und diese der Familie ihres Ehemanns übergeben werde.

9

Nachdem die Kläger in der mündlichen Verhandlung ihre Klage in Bezug auf die ursprünglich begehrte Anerkennung als Asylberechtigte und Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zurückgenommen haben, beantragen sie,

10

den Bescheid vom 30. November 2016 zum Az. … aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, festzustellen, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus vorliegen, hilfsweise festzustellen, dass für sie die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG vorliegen.

11

Die Beklagte hat schriftsätzlich angekündigt, zu beantragen,

12

die Klage abzuweisen.

13

Zur Begründung bezieht sie sich auf die angefochtene Entscheidung.

14

Das Gericht hat die Asylakten der Kläger und des Herrn A beigezogen und diese sowie die in der Ladung zur mündlichen Verhandlung genannten Erkenntnisquellen zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht. In der mündlichen Verhandlung hat das Gericht die Klägerin zu 1) persönlich angehört und Herrn A als Zeugen vernommen. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung verwiesen.

Entscheidungsgründe

I.

15

Die Entscheidung ergeht im Einverständnis der Beteiligten durch den Berichterstatter anstelle der Kammer (§ 87a Abs. 2 und 3 VwGO). Sie konnte trotz des Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten in der mündlichen Verhandlung ergehen, da die Beteiligten ordnungsgemäß geladen und in der Ladung auf diese Folge hingewiesen worden ist (§ 102 Abs. 2 VwGO).

II.

1.

16

Soweit die Kläger ihre Klage zurückgenommen haben, war das Verfahren gemäß § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen.

2.

17

Soweit die Klage nicht zurückgenommen worden ist, ist sie zulässig und begründet. Die Kläger haben einen Anspruch auf die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus (hierzu a)). Der angefochtene Bescheid erweist sich daher insoweit als rechtswidrig und war in dem ausgesprochenen Umfang aufzuheben (hierzu b)).

a)

18

Die Kläger haben einen Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes.

19

Gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gelten dabei nach § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3). Nach § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG gelten dabei die §§ 3c - e AsylG entsprechend. Bei der Prüfung, ob dem Ausländer ein ernsthafter Schaden droht, ist – wie bei der Beurteilung der Flüchtlingseigenschaft – der asylrechtliche Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit anzulegen (BVerwG, Urt. v. 27. April 2010, 10 C 5/09, juris, Rn. 20 ff.).

20

Die Voraussetzungen von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG liegen für die Kläger vor. Es besteht die beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass diese nach einer Wiedereinreise in die Russische Föderation einer unmenschlichen Behandlung im Sinne dieser Vorschrift ausgesetzt sind. Nach dem glaubhaften Vortrag der Klägerin zu 1) und dem jedenfalls insoweit glaubhaften Vortrag des als Zeugen vernommenen ehemaligen Ehemanns der Klägerin zu 1) sowie unter Berücksichtigung der herangezogenen Erkenntnisquellen ist mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen, dass die Klägerin zu 1) bei einer Rückkehr nach Tschetschenien von ihren Kindern, den Klägern zu 2) bis 4), dauerhaft getrennt wird (hierzu aa)). Dies stellt sowohl für die Klägerin zu 1) als auch für die Kläger zu 2) bis 4) eine unmenschliche Behandlung i.S.v. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG dar (hierzu bb)). Diese Behandlung ist auch einem Akteur im Sinne von § 4 Abs. 3 S. 1, § 3c AsylG zuzurechnen (hierzu cc)). Für die Kläger besteht schließlich kein interner Schutz im Sinne von § 3e AsylG (hierzu dd)).

aa)

21

Es ist mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen, dass die Klägerin zu 1) bei einer Rückkehr nach Tschetschenien von ihren Kindern, den Klägern zu 2) bis 4), dauerhaft getrennt wird.

22

Die Klägerin zu 1) und der Zeuge A haben übereinstimmend vorgetragen, dass die Kinder der Klägerin zu 1), die Kläger zu 2) bis 4), bei einer Rückkehr der Kläger nach Tschetschenien beim Schwiegervater der Klägerin zu 1) leben würden bzw. müssten, während die Klägerin zu 1) zu ihrem Bruder ziehen müsste. Diesen Vortrag hält das Gericht für glaubhaft. Die Klägerin zu 1) hat sich im Jahr 2016 im Bundesgebiet vom Vater ihrer Kinder, dem Zeugen A, scheiden lassen. Nach dem tschetschenischen Gewohnheitsrecht, dem sog. Adat, sind Kinder das „Eigentum“ des Vaters und seiner Familie und sollen bei der Familie des Vaters leben. Dementsprechend ist nach einer Scheidung traditionsgemäß der Mann bzw. dessen Familie für die tägliche Betreuung der Kinder zuständig und leben die Kinder im Falle der Scheidung bei der Familie des Mannes (European Asylum Support Office [EASO], Tschetschenien: Frauen, Heirat, Scheidung und Sorgerecht für Kinder, September 2014, S. 29, Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation [ACCORD], Tschetschenien: Situation von alleinstehenden Frauen mit unehelichen Kindern (Unterstützung durch Familie nach Rückkehr; Verstoßung, Diskriminierung oder Tötung wegen des unehelichen Kindes; Sorgerecht für Kinder, auch von anderen Männern, für die Familie des Ex-Mannes). Von der Frau wird erwartet, dass sie sich (wieder) in die Obhut ihres Vaters bzw. ihres ältesten Bruders begibt (ACCORD, aaO).

23

Aufgrund der Beweisaufnahme steht für das Gericht zwar fest, dass weder der Zeuge A noch sein Vater, d.h. der Schwiegervater der Klägerin zu 1), Einwände dagegen haben, dass die Kläger zu 2) bis 4) im Falle einer Rückkehr der Kläger nach Tschetschenien bei der Klägerin zu 1) leben. Während nämlich die Klägerin zu 1) glaubhaft vorgetragen hat, dass ihr von seiner Ehefrau getrennt und unweit von Tschetschenien in … lebender Schwiegervater ihr vor ihrer Ausreise gesagt habe, dass er keine Einwände dagegen habe, dass sie mit ihren Kindern weiterhin allein in … lebe, hat der Zeuge A – insoweit glaubhaft – vorgetragen, dass er ebenfalls keine Einwände dagegen habe, dass seine Kinder bei der Klägerin zu 1) lebten. Auch nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnisquellen gibt es (vereinzelt) Fälle, in denen die Familie des Mannes erlaubt, dass die Kinder nach der Scheidung bei der Mutter leben (EASO, aaO, S. 29). Entscheidend ist vorliegend indes, dass die Klägerin zu 1) und der Zeuge A glaubhaft vorgetragen haben, dass der Bruder der Klägerin zu 1) bei einer Rückkehr der Kläger nach Tschetschenien verlangen wird, dass die Kläger zu 2) bis 4) beim Schwiegervater der Klägerin zu 1) leben. Ein solches Verlangen entspricht den tatsächlichen Gegebenheiten in Tschetschenien. In Tschetschenien gelten die Kinder der Söhne als leibliche Kinder der Familie, die Kinder der Töchter hingegen als fremde Kinder (ACCORD, aaO). Dementsprechend muss eine geschiedene Frau in Tschetschenien, wenn sie – was in vielen Fällen die einzige Möglichkeit für sie darstellt – zu ihrer Familie zurückkehrt, ihre Kinder häufig beim Mann bzw. dessen Familie zurücklassen, weil die eigenen Eltern oder Brüder keine „fremden“ Kinder im Haus haben wollen (ACCORD, aaO). Mithin kann es ohne weiteres vorkommen, dass die Familie des Mannes der Frau erlaubt, die Kinder mitzunehmen, die eigenen Eltern oder Brüder dies aber ablehnen (ACCORD, aaO). Vor diesem Hintergrund ist es nicht abwegig, sondern vielmehr wahrscheinlich, dass der Bruder der Klägerin zu 1) verlangen wird, dass die Kinder der Klägerin zu 1) zum Schwiegervater der Klägerin zu 1) ziehen. Dies gilt zumal vor dem Hintergrund, dass der Bruder der Klägerin zu 1) nach deren glaubhaften Vortrag bereits angekündigt hat, dass die Klägerin zu 1), da sie noch jung sei, erneut heiraten müsse (vgl. insoweit auch ACCORD, aaO, wonach Frauen im Falle einer Scheidung von ihrer Familie unter Druck gesetzt werden, erneut zu heiraten, und zwar auch dann, wenn sie bereits Kinder haben). Heiratet eine geschiedene Frau erneut, dann darf sie ihre Kinder nach Adatrecht jedoch keinesfalls in die neue Ehe mitnehmen (ACCORD, aaO). Die Zahl der Fälle, in denen Frauen ihre Kinder in eine neue Ehe mitnehmen können, ist sehr gering. Dagegen stellen sich sowohl die Familie des Mannes als auch die der Frau (ACCORD, aaO).

24

Das Gericht ist auch überzeugt davon, dass der Schwiegervater der Klägerin zu 1) es nicht ablehnen kann, die Kläger zu 2) bis 4) bei sich aufzunehmen, wenn der Bruder der Klägerin zu 1) dies verlangt. Nach dem Adatrecht sind die Kläger zu 2) bis 4) das „Eigentum“ seiner Familie. Seine Familie und damit faktisch er als nächster in der Russischen Föderation lebender männlicher Verwandter trägt die Hauptverantwortung für die Kläger zu 2) bis 4) (EASO, aaO, S. 29). Im vorliegenden Fall kommt hinzu, dass der Bruder der Klägerin zu 1) nach dem übereinstimmenden und glaubhaften Vortrag der Klägerin zu 1) und des Zeugen A …. Das Gericht ist davon überzeugt, dass der Schwiegervater der Klägerin zu 1) es vor diesem Hintergrund nicht wagen wird, dem Bruder der Klägerin zu 1) zu widersprechen. ...

25

Der vorliegenden, durch das Gericht vorgenommenen Bewertung kann nicht entgegengehalten werden, dass auch in Tschetschenien das russische föderale Recht gilt, welches formell gesehen Vorrang vor dem Adatrecht hat und Frauen im Falle einer Scheidung einklagbare Sorge- und Umgangsrechte einräumt (vgl. EASO, aaO, S. 9). Faktisch ist nämlich das Adatrecht (ebenso wie die Scharia) in Tschetschenien genauso wichtig wie die russischen föderalen Rechtsvorschriften. Die Menschen richten sich faktisch nach dem Adatrecht, das vorschreibt, dass Kinder bei ihrem Vater und dessen Familie leben sollen (EASO, S. 29; ACCORD, aaO). Es kann von der Klägerin zu 1) auch nicht erwartet werden, vor Gericht unter Berufung auf das russische föderale Recht ein Sorge- und Umgangsrecht einzuklagen. Unabhängig davon, ob ein solches Vorgehen überhaupt Aussicht auf Erfolg hätte, gilt dies schon deshalb, weil das Gericht davon überzeugt ist, dass der Bruder der Klägerin zu 1) dies nicht zulassen wird. Als engster männlicher Verwandter wird dieser seine Vorstellungen gegenüber der Klägerin zu 1) – notfalls unter Zuhilfenahme von Gewalt und Zwang – durchsetzen können. Denn die tschetschenische Gesellschaft ist stark patriarchalisch, die Ungleichbehandlung und Unterdrückung von Frauen ist massiv und sozial legitimiert (Gesellschaft für bedrohte Völker, Die aktuelle Menschenrechtslage in Tschetschenien, 23. Mai 2016, S. 5; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Tschetschenien: Aktuelle Menschenrechtslage, 13. Mai 2016, S. 13). Gewalt gegen weibliche Familienangehörige ist umgeben von einer Kultur des Schweigens und der Straflosigkeit (Gesellschaft für bedrohte Völker, aaO). Von der Klägerin zu 1) kann daher vernünftigerweise schon nicht erwartet werden, sich ihrem Bruder zu widersetzen. Sie würde dann nämlich nicht nur trotzdem ihre Kinder verlieren, sondern zugleich auch noch damit rechnen müssen, für ihren Widerstand von ihrem Bruder körperlich misshandelt bzw. „gezüchtigt“ zu werden.

bb)

26

Werden die Kläger bei einer Rückkehr nach Tschetschenien gegen ihren Willen voneinander getrennt, stellt dies eine unmenschliche Behandlung im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG dar.

27

Wann eine „unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung“ vorliegt, hängt nach der insoweit vor allem maßgeblichen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom Einzelfall ab. Eine Schlechtbehandlung muss jedenfalls ein Minimum an Schwere erreichen, um in den mit § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG insoweit identischen Schutzbereich von Art. 3 EMRK zu fallen. Abstrakt formuliert sind unter einer menschenrechtswidrigen Schlechtbehandlung Maßnahmen zu verstehen, mit denen unter Missachtung der Menschenwürde absichtlich schwere psychische oder physische Leiden zugefügt werden und mit denen nach Art und Ausmaß besonders schwer und krass gegen Menschenrechte verstoßen wird (Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Aufl. 2016, § 4 Rn. 10 m.w.N.). Eine solche Schlechtbehandlung liegt hier vor. Die zwangsweise Trennung der Kläger voneinander stellt einen schwerwiegenden Eingriff in ihr grundlegendes Menschenrecht auf Achtung des Privat- und Familienlebens aus Art. 8 EMRK dar. Dieses garantiert nämlich das Recht, mit seinen Kindern bzw. seinen Eltern zusammenzuleben. In dieses Recht wird besonders schwerwiegend eingegriffen, indem die Klägerin zu 1) auf der einen und die Kläger zu 2) bis 4) auf der anderen Seite gegen ihren Willen und ohne Berücksichtigung ihrer Belange und Interessen voneinander getrennt werden. Sowohl die Klägerin zu 1) als auch die Kläger zu 2) bis 4) werden letztlich zum bloßen Objekt herabgewürdigt und somit einer unmenschlichen, ihrer Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) widersprechenden Behandlung unterzogen (vgl. auch VG Karlsruhe, Urt. v. 23. März 2016, A 2 K 5534/15, juris, Rn. 20).

cc)

28

Die drohende Trennung der Klägerin zu 1) von den Klägern zu 2) bis 4) ist auch einem Akteur im Sinne von § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3c AsylG zuzurechnen. Es kann dabei offen bleiben, ob das Adatrecht als faktischer Bestandteil der tschetschenischen Rechtsordnung angesehen und aus diesem Grund dem russischen Staat im Sinne von 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3c Nr. 1 AsylG zugerechnet werden muss. Denn jedenfalls ist der Bruder der Klägerin zu 1) ein Akteur im Sinne von § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3c Nr. 3 AsylG. Nach § 4 Abs. 3 i.V.m. § 3c Nr. 3 AsylG kann die Gefahr eines ernsthaften Schadens auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, wenn der Staat erwiesenermaßen nicht willens oder in der Lage ist, Schutz zu gewähren. Dies ist vorliegend der Fall. Der Bruder der Klägerin zu 1) ist, soweit er als nächster männlicher Verwandter der Klägerin zu 1) verlangt, dass diese sich in seine Obhut begibt und ihre Kinder, die Kläger zu 2) bis 4), an ihren Schwiegervater abgibt, ein nichtstaatlicher Akteur (vgl. Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Aufl. 2016, § 3c Rn. 4). Die Staatsgewalt in Tschetschenien bzw. der Russischen Föderation ist zudem nicht willens, den Klägern Schutz zu gewähren. Diesbezüglich kann auf die Ausführungen unter aa) zur Bedeutung des Adatrechts in Tschetschenien verwiesen werden.

dd)

29

Für die Kläger besteht schließlich auch kein interner Schutz i.S.v. § 3e Abs. 1 AsylG i.V.m. § 3 Abs. 3 Sätze 1 und 2 AsylG. Nach diesen Vorschriften wird einem Ausländer subsidiärer Schutz nicht zuerkannt, wenn ihm in einem Teil seines Herkunftslandes kein ernsthafter Schaden droht oder er dort Zugang zu Schutz vor einem ernsthaften Schaden nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.

30

Die genannten Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt. ….

b)

31

Nach alledem war der Klage auf Zuerkennung des subsidiären Schutzes und Aufhebung der entgegenstehenden Nummer 3 der angefochtenen Entscheidung stattzugeben. Die Verpflichtung der Beklagten zur Zuerkennung des subsidiären Schutzes lässt die negative Feststellung des Bundesamts in der Nummer 4 (Abschiebungsverbote) der angefochtenen Entscheidung angesichts des Eventualverhältnisses (vgl. BVerwG, Urt. v. 15.04.1997, 9 C 19/96, juris, Rn. 11) gegenstandslos werden, so dass der ablehnende Bescheid auch insoweit aufzuheben ist. Entsprechendes gilt im Hinblick auf die Ausreiseaufforderung und die Abschiebungsandrohung (Ziffer 5) sowie die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots (Ziffer 6).

III.

32

Die Kostenentscheidung beruht auf § 83b AsylG, §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 2 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 1 und 2 VwGO, §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

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