Beschluss vom Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht (11. Kammer) - 11 B 66/21

Tenor

Der Antrag wird abgelehnt.

Die Antragsteller tragen die Kosten des Verfahrens.

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.

Der Streitwert wird auf 60.000,00 € festgesetzt.

Gründe

I.

1

Die Antragsteller begehren einstweiligen Rechtsschutz gegen eine ihnen drohende Abschiebung.

2

Sie sind armenische Staatsangehörige. Der Antragsteller zu 1 reiste am 27.12.2005 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 06.01.2006 einen Asylantrag, der durch Bescheid abgelehnt wurde. Die gegen die Entscheidung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge erhobene Klage blieb erfolglos. Die Antragstellerin zu 2 reiste am 13.02.2007 in das Bundesgebiet ein und stellte am 16.02.2007 einen Asylantrag, der ebenfalls durch bestandskräftigen Bescheid abgelehnt wurde. Die Antragsteller zu 3 bis 6 sind die Kinder der Antragsteller zu 1 und der Antragstellerin zu 2.

3

Es wurden in den nächsten Jahren mehrere Versuche des Antragsgegners unternommen, einen Passersatz für die Antragsteller zu beschaffen. Diese schlugen jedoch stets fehl, da die Antragsteller nicht bei den jeweiligen Konsulaten (Russland, Armenien) registriert waren.

4

Am 26.06.2014 offenbarten die Antragsteller dann ihre Identitäten. Sie waren zuvor unter anderen Namen und unter einer anderen Staatsangehörigkeit (Russland) aufgetreten.

5

Am 21.10.2015 beantragten die Antragsteller zu 1 bis 5 eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG.

6

Diese Anträge wurden durch Bescheid vom 08.11.2016 abgelehnt. Der Lebensunterhalt der Antragsteller sei nicht überwiegend selbst gesichert. Außerdem sei kein erfolgreicher Integrationskurs absolviert worden und für die schulpflichtigen Kinder sei kein Schulbesuch nachgewiesen worden.

7

Daraufhin reichten die Antragsteller eine Schulbescheinigung der Antragsteller zu 3 und 4 ein, sowie eine Anmeldebestätigung der Antragsteller zu 1 und der Antragstellerin zu 2 für eine Sprachprüfung (A2).

8

Der gegen den Bescheid eingelegte Widerspruch vom 30.11.2016 wurde durch Widerspruchsbescheid vom 18.11.2020 zurückgewiesen. Der Antragsgegner begründete diesen damit, dass die Antragsteller über ihre wahren Identitäten getäuscht hätten und darüber hinaus auch die Passpflicht nicht erfüllt sei. Weiterhin bestehe bezüglich des Antragstellers zu 1 wegen dessen rechtskräftigen strafrechtlichen Verurteilungen ein Ausweisungsinteresse.

9

Ein Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25b AufenthG des Antragstellers zu 6 vom 02.03.2017 ist durch den Antragsgegner noch nicht beschieden.

10

Die Antragsteller erhoben am 22.12.2020 Klage, welche noch unter dem Aktenzeichen 11 A 278/20 anhängig ist.

11

Am 14.07.2021 haben die Antragsteller um Eilrechtsschutz nachgesucht. Der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz wird damit begründet, dass der Antragsteller zu 1 nicht reisefähig sei. Er sei psychisch schwer erkrankt. Darüber hinaus hätten sie – alle Antragsteller – einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25b AufenthG.

12

Sie beantragen,

13

1. den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung gemäß § 123 VwGO zu verpflichten, bis zur Entscheidung über die Klage auf Erteilung einer humanitären Aufenthaltserlaubnis keine aufenthaltsbeendenden Maßnahmen gegen sie zu ergreifen;

14

2. hilfsweise den Antragsgegner zu verpflichten, vor Durchführung der Abschiebung eine persönliche amtsärztliche Untersuchung durch einen Facharzt des Antragstellers zu 1 auf Feststellung der Reisefähigkeit durchzuführen.

15

Der Antragsgegner beantragt,

16

den Antrag abzulehnen.

17

Zur Begründung führt er aus, dass die Antragsteller ihren Lebensunterhalt nicht überwiegend sichern könnten. Darüber hinaus sei die Reisefähigkeit des Antragstellers zu 1 amtsärztlich attestiert worden. Bei einer Abschiebung würde ein Amtsarzt mit den notwendigen Medikamenten die Antragsteller während der gesamten Maßnahme begleiten und deren Gesundheitszustand überwachen. Die Empfangnahme im Zielstaat werde regelmäßig durch fachärztliches Personal gewährleistet. Zusätzlich reicht er eine amtsärztliche Bescheinigung vom 06.07.2021 ein, die attestiert, dass bezüglich der Antragsteller zu 1 und zu 2 keine Bedenken gegen eine geplante Abschiebung auf dem Luftweg bestünden, solange diese durch einen Arzt begleitet würden.

18

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte dieses Verfahrens sowie der Hauptsache (Az.: 11 A 278/20) und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge verwiesen.

II.

19

Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ist zulässig aber unbegründet.

20

Der Antrag ist als Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 123 Abs. 1 VwGO statthaft. Eine solche Anordnung entspricht dem Rechtsschutzziel der Antragsteller, von Abschiebemaßnahmen vorerst verschont zu bleiben. Ein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO kommt hingegen nicht in Betracht, da Widerspruch und Klage unbeschadet ihrer aufschiebenden Wirkung die Wirksamkeit der Beendigung des Aufenthalts unberührt lassen. Auch eine eventuelle anzuordnende aufschiebende Wirkung würde eine eventuelle Fiktionswirkung des § 81 Abs. 3 AufenthG nicht (wieder) aufleben lassen, denn die behördliche Ablehnung der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis ist ein Verwaltungsakt im Sinne des § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG, der nach der Konzeption des Gesetzgebers unbeschadet einer gerichtlich angeordneten aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Klage die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts des Ausländers beendet (OVG Magdeburg, Beschluss vom 22. Januar 2007 – 2 M 318/06 –, juris Rn. 4 m.w.N.; VG Schleswig, Beschluss vom 26. November 2018 – 1 B 115/18 –, juris Rn. 21). Zwar würde die Einstellung des Vollzugs nach § 241 Abs. 1 Nr. 3 LVwG erreicht werden können, sodass der beantragte Rechtsbehelf nicht nutzlos wäre. Deshalb kann § 80 Abs. 5 VwGO der zutreffende Rechtsbehelf sein, wenn eine Fiktionswirkung besteht (so auch OVG Schleswig, Beschluss vom 25. Juli 2011 – 4 MB 40/11 –, n.v. S. 4 der Beschlussausfertigung; VG Schleswig, Beschluss vom 09. Januar 2019 – 1 B 137/18 –, juris Rn. 6). Dies ist vorliegend aber nicht der Fall, da sich die Antragsteller im Zeitpunkt der Beantragung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhielten (§ 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG). Sie wurden während der Antragstellung bei dem Antragsgegner geduldet gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG, was aber für einen rechtmäßigen Aufenthalt im Sinne des § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG nicht ausreicht.

21

Der Antrag ist jedoch unbegründet. Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung des Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. § 123 Abs. 1 VwGO setzt daher sowohl ein Bedürfnis für die Inanspruchnahme vorläufigen Rechtsschutzes (Anordnungsgrund) als auch einen sicherungsfähigen Anspruch (Anordnungsanspruch) voraus. Die tatsächlichen Voraussetzungen für die besondere Eilbedürftigkeit (Anordnungsgrund) und das Bestehen eines zu sichernden Rechts (Anordnungsanspruch) sind glaubhaft zu machen, § 123 Abs. 3 VwGO i.V. mit § 920 Abs. 2 ZPO.

22

Die Antragsteller haben keinen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht.

23

Ein Anspruch auf vorübergehende Aussetzung der Abschiebung bis zur Entscheidung über die Klage ist nicht gegeben. Als sicherungsfähiger Anspruch kommt insoweit zunächst § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG in Bezug auf die Antragsteller zu 1 und 2 in Betracht. Gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist die Abschiebung eines Ausländers auszusetzen, solange die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. Eine rechtliche oder tatsächliche Unmöglichkeit der Abschiebung in diesem Sinne ist nicht anzunehmen. Insoweit ist nicht hinreichend glaubhaft gemacht, dass insbesondere aus der geltend gemachten psychischen Erkrankung eine Reiseunfähigkeit des Antragstellers zu 1 resultiert.

24

Ein Anspruch auf Aussetzung der Abschiebung wegen rechtlicher Unmöglichkeit der Abschiebung gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ist unter anderem dann gegeben, wenn die konkrete Gefahr besteht, dass sich der Gesundheitszustand des Ausländers durch die Abschiebung wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtert, und wenn diese Gefahr nicht durch bestimmte Vorkehrungen ausgeschlossen oder gemindert werden kann. Diese Voraussetzungen können nicht nur erfüllt sein, wenn und solange der Ausländer ohne Gefährdung seiner Gesundheit nicht transportfähig ist (Reiseunfähigkeit im engeren Sinn), sondern auch, wenn die Abschiebung als solche – außerhalb des Transportvorgangs – eine erhebliche konkrete Gesundheitsgefahr für den Ausländer bewirkt (Reiseunfähigkeit im weiteren Sinn).

25

Das im Rahmen der Reiseunfähigkeit im weiteren Sinn in den Blick zu nehmende Geschehen beginnt regelmäßig bereits mit der Mitteilung einer beabsichtigten Abschiebung gegenüber dem Ausländer. Besondere Bedeutung kommt sodann denjenigen Verfahrensabschnitten zu, in denen der Ausländer dem tatsächlichen Zugriff und damit auch der Obhut staatlicher deutscher Stellen unterliegt. Hierzu gehören das Aufsuchen und Abholen in der Wohnung, das Verbringen zum Abschiebeort sowie eine etwaige Abschiebungshaft ebenso wie der Zeitraum nach Ankunft am Zielort bis zur Übergabe des Ausländers an die Behörden des Zielstaats. In dem genannten Zeitraum haben die zuständigen deutschen Behörden von Amts wegen in jedem Stadium der Abschiebung etwaige Gesundheitsgefahren zu beachten. Diese Gefahren müssen sie entweder durch ein (vorübergehendes) Absehen von der Abschiebung mittels einer Duldung oder aber durch eine entsprechende tatsächliche Gestaltung des Vollstreckungsverfahrens mittels der notwendigen Vorkehrungen abwehren. Die der zuständigen Behörde obliegende Pflicht, gegebenenfalls durch eine entsprechende Gestaltung der Abschiebung die notwendigen Vorkehrungen zu treffen, damit eine Abschiebung verantwortet werden kann, kann es in Einzelfällen gebieten, dass erforderliche Hilfen rechtzeitig nach der Ankunft im Zielstaat zur Verfügung stehen, wobei der Ausländer regelmäßig auf den dort allgemein üblichen Standard zu verweisen ist (siehe zu alldem: BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 17. September 2014 – 2 BvR 1795/14 –, juris Rn. 11 m.w.N.).

26

Von einer Reiseunfähigkeit in o. g. Sinne kann bei psychischen Erkrankungen insbesondere dann ausgegangen werden, wenn im Rahmen der Abschiebung die ernsthafte Gefahr einer Selbsttötung droht, der darüber hinaus auch nicht durch ärztliche Hilfen oder in sonstiger Weise – etwa durch vorbeugende Maßnahmen nach dem Gesetz zur Hilfe und Unterbringung psychisch kranker Menschen (PsychKG SH) – begegnet werden kann oder wenn dem Ausländer unmittelbar durch die Abschiebung oder als unmittelbare Folge davon sonst konkret eine im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erhebliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes droht, die allerdings – in Abgrenzung zu zielstaatsbezogenen Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG – nicht wesentlich (erst) durch die Konfrontation des Betroffenen mit den spezifischen Verhältnissen im Zielstaat bewirkt werden darf (VG Schleswig, Beschluss vom 10.02.2017 – 1 B 11/17 –, juris Rn. 8, m.w.N.).

27

Nach der Regelung in § 60a Abs. 2c AufenthG wird vermutet, dass der Abschiebung gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen. Der Ausländer muss eine Erkrankung, die die Abschiebung beeinträchtigen kann, durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft machen. Nach § 60a Abs. 2d AufenthG ist der Ausländer weiter verpflichtet, der zuständigen Behörde die ärztliche Bescheinigung unverzüglich vorzulegen.

28

Nach diesen Maßstäben hat der Antragsteller zu 1 die gesetzliche Vermutung seiner Reisefähigkeit nach § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG nicht widerlegt. Das insoweit vorlegte Attest lässt keine ausreichenden Rückschlüsse auf ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis in Form einer Reiseunfähigkeit zu. Der Hinweis des behandelnden Arztes, dass die psychiatrische Behandlung in Armenien abbrechen würde und die Corona-Einschränkungen sich negativ auswirken würden, ist im Rahmen der Prüfung der Reisefähigkeit unbeachtlich. Zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse wurden bereits durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge geprüft und der Antragsgegner ist an diese Entscheidung gebunden, § 42 Satz 1 AsylG.

29

Die durch das Attest geltend gemachte psychische Erkrankung stellt darüber hinaus auch kein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis dar. Die ärztliche Stellungnahme diagnostiziert rezidiv. depressive Störungen mit anhaltender Trauerstörung und komplexer PTBS. Der Antragsteller zu 1 habe Suizidgedanken und bereits mehrere Suizidversuche hinter sich. Im Zusammenhang mit einer möglichen Suizidgefahr kann im Einzelfall ein rechtliches Abschiebungshindernis vorliegen, sofern schlüssig und nachvollziehbar glaubhaft gemacht worden ist, dass die Suiziddrohungen Krankheitswert aufweisen und dass hinreichend gewichtige und konkrete Anhaltspunkte dafür dargelegt und festgestellt sind, es werde krankheitsbedingt mit Rücksicht auf die angekündigte Abschiebung oder während derselben zu einem Suizidversuch kommen können. Nur dann gebietet die aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG resultierende Schutzpflicht des Staates von der Abschiebung abzusehen. Wenn lediglich ein Suizidversuch noch nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden kann, führt dies nicht zwangsläufig zu einer Unzulässigkeit der Abschiebung (vgl. zum Ganzen: Haedicke in: HTK-AuslR / § 60a AufenthG / zu Abs. 2 Satz 1 - Krankheit, Stand: 08.10.2020, Rn. 27 ff.). Im Hinblick auf die Beachtung der in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG geschützten Rechtsgüter ist es darüber hinaus nicht zu beanstanden, kumulativ zum Vorliegen einer solchen konkreten Gefahr der wesentlichen oder gar lebensbedrohlichen Verschlechterung des Gesundheitszustands zu verlangen, dass diese Gefahr nicht durch bestimmte Vorkehrungen ausgeschlossen oder effektiv gemindert werden kann (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 17. September 2014 – 2 BvR 1795/14 –, juris Rn. 11). Sofern im konkreten Einzelfall eine entsprechende tatsächliche Gestaltung der Abschiebung möglich ist, sind die notwendigen Vorkehrungen zu treffen (BVerfG, Kammerbeschluss vom 26. Februar 1998 – 2 BvR 185/98 –, juris Rn. 4). Gerade weil es sich bei psychischen Erkrankungen, in deren Zusammenhang eine Suizidgefahr nicht auszuschließen ist, regelmäßig um nur vorübergehend hindernde Umstände handelt (OVG Schleswig, Beschluss vom 26. März 2018 – 4 MB 24/18 –, juris Rn. 5; Beschluss vom 27.04.2018 – 4 MB 41/18 –, n.v.), liegt nicht zwangsläufig ein krankheitsbedingtes Abschiebungshindernis vor, wenn die Abschiebung – also der gesamte Abschiebungsvorgang, einschließlich der Ankunft im Zielstaat und einer etwaigen Empfangnahme – von der Ausländerbehörde so gestaltet werden kann, dass der Suizidgefahr wirksam begegnet werden kann (Bayr. VGH, Beschluss vom 5. Juli 2017 – 19 CE 17.657 –, juris Rn. 29; OVG Saarlouis, Beschluss vom 14. Februar 2018 – 2 B 21/18 –, juris Rn. 14). Ob dies hinreichend sichergestellt ist, kann allerdings nicht abstrakt, sondern nur unter Würdigung der Einzelfallumstände beantwortet werden (OVG Magdeburg, Beschluss vom 06.09.2017 – 2 M 83/17 –, juris Rn. 3; OVG Schleswig, Beschluss vom 26. März 2018 – 4 MB 24/18 –, juris Rn. 5).

30

Der Antragsgegner trägt – unter Vorlage einer amtsärztlichen Bescheinigung – vor, dass bei einer Abschiebung ein Amtsarzt stets gegenwärtig wäre. Dieser verfüge auch über die notwendigen Medikamente, auf die sowohl der Antragsteller zu 1 als auch die Antragstellerin zu 2 angewiesen sind. Außerdem würde die ausländische Behörde, die die Empfangnahme der Antragsteller organisiert, regelmäßig fachärztliches Personal zur Verfügung stellen, um über weitere Maßnahmen der Behandlung zu entscheiden.

31

Unter diesen Voraussetzungen ist eine Reisefähigkeit des Antragstellers zu 1 gegeben. Zwar ist der Gesundheitszustand des Antragstellers zu 1 bedenklich. Sein letzter stationärer Aufenthalt war jedoch im Jahr 2018, er ist momentan arbeitsfähig und treibt Sport. Es ist daher davon auszugehen, dass ihm eine Reise in Begleitung eines Arztes zugemutet werden kann. Das Gericht folgt dabei den Empfehlungen der Amtsärztin Dr. med. P., die ausweislich der ärztlichen Bescheinigung vom 06.07.2021 urteilt: „Aus ärztlicher Sicht bestehen keine Bedenken bei der geplanten Rückführungsmaßnahme auf dem Luftweg mit Begleitung durch einen Arzt“ (mit weiteren Erläuterungen).

32

Das gleiche gilt auch für die Antragstellerin zu 2. Auch für diese empfiehlt die Amtsärztin Dr. med. P. eine ärztliche Begleitung und eine Verabreichung der notwendigen Medikamente, welche durch den Antragsgegner zur Verfügung gestellt werden.

33

Die Antragsteller haben auch keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG glaubhaft gemacht, der einer Abschiebung entgegenstehen würde. Zwar ist ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis grundsätzlich nicht sicherungsfähig im Rahmen einer einstweiligen Anordnung gemäß § 123 Abs. 1 VwGO. Dem steht bereits entgegen, dass der erstrebte vorläufige Rechtszustand auf eine Duldung, d.h. eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung im Sinne von § 60a AufenthG hinausliefe. Damit erhielte die Duldung die Funktion eines vorbereitenden oder ersatzweise gewährten Aufenthaltsrechts. Das entspräche jedoch nicht der Systematik des Aufenthaltsgesetzes. Voraussetzungen und Reichweite des verfahrensabhängigen Bleiberechts hat der Gesetzgeber im Einzelnen und im Grundsatz abschließend in § 81 Abs. 3 und 4 AufenthG geregelt. Die dort geregelte Fiktionswirkung – wie dargestellt wurde – kommt den Antragstellern nicht zu Gute. Tritt jedoch keine Fiktionswirkung ein, so besteht grundsätzlich kein verfahrensabhängiges Bleiberecht, d. h. der Betroffene hat das Verfahren auf Erteilung des Aufenthaltstitels von seinem Heimatland aus zu betreiben (vgl. OVG Schleswig, Beschluss vom 11. September 2018 – 4 MB 94/18 –, juris Rn. 2 und Beschluss vom 02. März 2020 – 4 MB 5/20 –, juris Rn. 10; OVG Münster, Beschluss vom 15. April 2005 – 18 B 492/05 –, juris Rn. 3 ff.; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 28. Februar 2006 – OVG 7 S 65.05 –, juris Rn. 5; OVG Magdeburg, Beschluss vom 22. Juni 2009 – 2 M 86/09 –, juris Rn. 13; OVG Bremen, Beschluss vom 27. Oktober 2009 – 1 B 224/09 –, juris Rn. 16). Der geltend gemachte Anspruch aus § 25b AufenthG ist hiervon jedoch ausgenommen, da er zum einen einen geduldeten Ausländer und zum anderen einen mindestens achtjährigen bzw. sechsjährigen ununterbrochenen Aufenthalt im Bundesgebiet bedingt. Zeitlicher Bezugspunkt des Aufenthalts ist hierbei der Zeitpunkt der Erteilung, im gerichtlichen Verfahren der allgemein maßgebliche Zeitpunkt (Zühlcke in HTK-AuslR / § 25b AufenthG / zu Abs. 1, Stand: 21.08.2020, Rn. 83). Insoweit ist zur Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) von dem genannten Grundsatz eine Ausnahme zu machen, wenn nur so sichergestellt werden kann, dass eine ausländerrechtliche Regelung, die einen Aufenthalt im Bundesgebiet voraussetzt, einem möglicherweise Begünstigten zugutekommt (OVG Schleswig, Beschluss vom 02. März 2020 – 4 MB 5/20 –, juris Rn. 11; OVG Münster, Beschluss vom 04. Mai 2017 – 18 B 504/17 –, juris Rn. 2 und Beschluss vom 11. Januar 2016 – 17 B 890/15 –, juris Rn. 9 ff.).

34

Gemäß § 25b Abs. 1 Satz 1 AufenthG soll einem geduldeten Ausländer abweichend von § 5 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn er sich nachhaltig in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland integriert hat. Als Soll-Regelung begründet die Norm eine intendierte Ermessensentscheidung, lässt aber bei Vorliegen eines atypischen Falles eine Entscheidung nach pflichtgemäßen Ermessen zu.

35

Die Antragsteller zu 1 und 2 haben schon nicht glaubhaft gemacht, dass sie über hinreichende mündliche Deutschkenntnisse im Sinne des Niveaus A2 verfügen (§ 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AufenthG). Sie reichten im Verwaltungsverfahren einen bestandenen Einbürgerungstest ein. Dieser dient jedoch nicht dazu, deutsche Sprachkenntnisse nachzuweisen, sondern weist Grundkenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland nach (§ 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AufenthG). Eine bloße Anmeldebestätigung für eine Sprachprüfung, die durch die Antragsteller eingereicht wurde, ist ebenfalls nicht ausreichend. Es bedarf vielmehr einer Bescheinigung über eine bestandene Sprachprüfung, durch die die entsprechenden Sprachkenntnisse nachgewiesen werden.

36

Weiterhin ist die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zu versagen, wenn der Ausländer die Aufenthaltsbeendigung durch vorsätzlich falsche Angaben, durch Täuschung über die Identität oder Staatsangehörigkeit verhindert oder verzögert (§ 25b Abs. 2 Nr. 1 AufenthG). Zwar gehen die Antragsteller zu Recht davon aus, dass der eindeutige Wortlaut der Vorschrift sich nur auf gegenwärtiges Fehlverhalten bezieht (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.12.2019 – 1 C 34.18 –, juris Rn. 56). Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind sowohl die Identität als auch die Staatsangehörigkeit der Antragsteller geklärt. Nach der zitierten Rechtsprechung soll mit der Regelung aber keine „Amnestie für jedes Fehlverhalten in den vorangegangen Verfahren“ verbunden sein. Die Täuschungshandlungen können unter Umständen ein Ausweisungsinteresse gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG erfüllen oder einen Ausnahmefall begründen, der das intendierte Ermessen aus § 25b Abs. 1 AufenthG zu einer Ermessensregelung herabstuft (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.12.2019 – 1 C 34.18 –, juris Rn. 56; OVG B-Stadt, Beschluss vom 19. Mai 2017 – 1 Bs 207/16 –, juris Rn. 30 ff.).

37

Die Offenbarung ihrer wahren Identitäten erfolgte erst etwa 8 bzw. 9 Jahre nach Einreise der Antragsteller zu 1 und zu 2 und nur knapp ein Jahr bevor sie eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25b AufenthG beantragten. Diese Umstände lassen den Schluss zu, dass die Offenbarung der Identitäten und der Staatsangehörigkeit nur zum Zwecke der Beantragung einer Aufenthaltserlaubnis erfolgte. Es wird daher davon ausgegangen, dass ein atypischer Fall vorliegt, der die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25b AufenthG in das Ermessen des Antragsgegners stellt. Damit liegt jedenfalls auch kein gebundener Anordnungsanspruch vor. Eine Ermessensentscheidung ist nicht sicherungsfähig in Rahmen einer einstweiligen Anordnung gemäß § 123 Abs. 1 VwGO (vgl. Wysk/Buchheister VwGO § 123 Rn. 19 m.w.N.). Dies wäre nur dann der Fall, wenn eine Situation vorläge, bei der das Ermessen des Antragsgegners auf Null reduziert wird. Dies ist hier jedoch nicht gegeben.

38

Ob die Antragsteller zu 1 und 2 mittlerweile ihren Lebensunterhalt überwiegend durch Erwerbstätigkeit sichern können (§ 25b Abs. 1 Nr. 3 AufenthG) oder ob ein Ausweisungsinteresse bezüglich des Antragstellers zu 1 besteht (§ 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) kann daher offenbleiben.

39

Auch die Antragsteller zu 3 bis 6 haben keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25b Abs. 1 AufenthG.

40

Der Antragsteller zu 6 wurde noch nicht sechs Jahre ununterbrochen geduldet (§ 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AufenthG), denn er ist im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung erst vier Jahre alt.

41

Bezüglich der Antragsteller zu 3 bis 5, die zwischen 10 und 13 Jahre alt sind, ist auf die Integration ihrer Eltern – der Antragsteller zu 1 und 2 – abzustellen (vgl. Urteil der Kammer vom 19. Juni 2019 – 11 A 565/18 –, juris Rn. 34). Im Wege einer Gesamtbetrachtung ist in der Regel die aufenthaltsrechtliche und tatsächliche Situation der übrigen Familienmitglieder, insbesondere der Eltern, von Bedeutung (Haedicke in HTK-AuslR / § 60a AufenthG / zu Abs. 2 Satz 1 - Art. 8 EMRK - Verwurzelung, Stand: 13.10.2020, Rn. 61 ff.) Denn Kinder bzw. Jugendliche teilen grundsätzlich das aufenthaltsrechtliche Schicksal ihrer Eltern, soweit diese personensorgeberechtigt sind (VGH Mannheim, Urteil vom 18.01.2006 – 13 S 2220/05 –, juris Rn. 39; Urteil vom 13. Dezember 2010 – 11 S 2359/10 –, juris Rn. 54, m.w.N.; BVerwG, Urteil vom 26. Oktober 2010 – 1 C 18.09 –, juris Rn. 15). Das ergibt sich aus dem Umstand, dass den Eltern das Aufenthaltsbestimmungsrecht zusteht und zudem aus der gesamten familienrechtlichen Stellung minderjähriger Kinder (vgl. §§ 1626 Abs. 1, 1631 Abs. 1 BGB). Auch führt die von Art. 6 GG und Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützte Beziehung zwischen Eltern und Kindern dazu. Diese Wertung schlägt sich auch im AufenthG durch die Regelung zur Handlungsfähigkeit nieder, vgl. § 80 AufenthG. Auch wenn dies nicht bedeutet, dass eine soziale und wirtschaftliche Integration der Kernfamilie des Ausländers für dessen Verwurzelung vorausgesetzt wird, so ist zu beachten, dass der genannte Grundsatz nicht ins Gegenteil verkehrt wird und dazu führt, dass im Ergebnis die Eltern unter Berufung auf die familiäre Einheit nach Art. 6 GG und Art. 8 EMRK das aufenthaltsrechtliche Schicksal des minderjährigen Kindes teilen würden (OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 02. Februar 2010 – 18 B 1591/09 –, juris Rn. 13; Beschluss vom 10. August 2010 – 18 B 623/10 –, juris Rn. 13). Auch liegt es bei fehlender Integration bzw. bei fehlender Entwurzelung der Eltern vom Heimatland nahe, dass diese bei einer Rückkehr im Familienverband im Rahmen der Personensorge den Minderjährigen bei der (Re-) Integration unterstützen (VGH Mannheim, Urteil vom 13. Dezember 2010 – 11 S 2359/10 –, juris Rn. 54 f.).

42

Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe kann es dahinstehen, ob die Antragsteller zu 3 bis 5 die Erfüllung der übrigen Tatbestandsvoraussetzungen des § 25b Abs. 1 AufenthG glaubhaft gemacht haben. Denn durch die Täuschung ihrer Eltern über deren Identitäten liegt auch in der Person der Kinder ein atypischer Fall vor, der wie bei den Eltern zu einer Verschiebung der Rechtsfolge des § 25b Abs. 1 Satz 1 AufenthG insofern führt, als dass die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG zu einer Ermessensentscheidung der Ausländerbehörde wird. Ein sicherungsfähiger Anspruch auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis ist damit auch hinsichtlich der Antragsteller zu 3 bis zu 5 nicht gegeben.

43

Der Hilfsantrag ist zulässig, aber unbegründet.

44

Ein Anordnungsanspruch der Antragsteller ist nicht glaubhaft gemacht und auch sonst nicht ersichtlich. Ein Anspruch der Antragsteller kann sich lediglich aus § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG ergeben, der darauf gerichtet ist, die Abschiebung vorübergehend auszusetzen. Dieser Anspruch wurde bereits im Rahmen des Hauptantrages geprüft und verneint (s.o.). Ein darüberhinausgehender Anspruch auf Durchführung einer amtsärztlichen Untersuchung durch den Antragsgegner besteht nicht. Insbesondere aus der Rechtsgrundlage für die Anordnung einer ärztlichen Untersuchung gemäß § 82 Abs. 4 Satz 1 AufenthG leitet sich kein Anspruch her. Die Norm ist eine Ermessensnorm der Ausländerbehörde, aus der sich Mitwirkungspflichten des Ausländers ergeben können.

45

Die Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe sind mangels hinreichender Erfolgsaussichten des Antrags auf einstweiligen Rechtsschutz nicht gegeben, § 166 VwGO i.V.m. § 114 ZPO.

46

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

47

Die Streitwertfestsetzung folgt aus §§ 52 Abs. 2, 53 Abs. 2 Nr. 1, 45 Abs.1 Satz 2 GKG.


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