Urteil vom Verwaltungsgericht Schwerin (15. Kammer) - 15 A 262/16 As SN

Tenor

1. Die in den Bescheinigungen über die Meldung als Asylsuchende vom 13., 14. und 30. Januar 2015 enthaltenden Aufforderungen an die Klägerinnen, sich zur zuständigen Erstaufnahmeeinrichtung Nostorf-Horst zu begeben, werden aufgehoben.

2. Die Beklagte wird verpflichtet, den Klägerinnen Aufenthaltsgestattungen nach Maßgabe des § 63 des Asylgesetzes (AsylG) auszustellen.

Die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens hat die Beklagte zu tragen.

Tatbestand

1

Die Klägerinnen wenden sich gegen die in verschiedenen Bescheinigungen über die Meldung als Asylsuchende (sog. BüMA) enthaltenden Aufforderungen, sich zur zuständigen Erstaufnahmeeinrichtung Nostorf-Horst zu begeben. Weiter begehren sie die Erteilung von Aufenthaltsgestattungen.

2

Die am […] Mai 1998 geborene – und damit noch minderjährige - Klägerin zu 1) ist die Mutter der am […] 2014 in der Türkei geborenen Klägerin zu 2). Sie ist nach eigenen Angaben afghanische Staatsangehörige der Volksgruppe der Tadschiken schiitischen Glaubens. Nach eigenen Angaben ist sie religiös verheiratet mit X. (geb. am […] Oktober 1995), der auch Vater der Klägerin zu 2) ist. Dieser ist ebenfalls afghanischer Staatsangehöriger der Volksgruppe der Tadschiken sunnitischen Glaubens.

3

Nach Angaben der Klägerin zu 1) reisten die Klägerinnen am 29. Dezember 2014 in das Bundesgebiet ein. Sie stellten am 3. Februar 2015 Asylanträge beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt), über die noch nicht entschieden sind. Herr X. reiste nach Angaben der Klägerin zu 1) am 5. Januar 2016 ein und stellte am 16. Januar 2015 einen Asylantrag. Den darauf ergangenen „Dublin“-Bescheid hat das Bundesamt nach seiner Aussage wegen Fristablaufs zwischenzeitlich aufgehoben; Herr X. befindet sich derzeit im „normalen“ Asylverfahren, welches noch nicht abgeschlossen ist.

4

Gestützt auf § 42 Abs. 1 Satz 2 des Sozialgesetzbuches VIII (SGB VIII) wurden die (minderjährigen) Klägerinnen vom Kinder- und Jugendnotdienst Hamburg (KJND) des Landesbetriebes Erziehung und Beratung am 29. Dezember 2014 gegen 22:00 Uhr wegen dringender Gefahr in Obhut genommen.

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Im Rahmen der „Wichtigen Mitteilung nach § 22 Abs. 3 AsylVfG“ verfügte die Erstaufnahmeeinrichtung Hamburg der Beklagten unter dem 13. Januar 2015, dass sich sowohl Herr X. als auch die (in der Mitteilung handschriftlich durch „+ Ehefrau und Kind“ ergänzten) Klägerinnen bis zum Ende des Tages zur Aufnahmeeinrichtung Nostorf-Horst (Mecklenburg-Vorpommern) begeben sollen. Dieser Aufforderung kam Herr X. am gleichen Tage auch nach. Er wohnt mittlerweile in F-Stadt.

6

Zuvor hatten die Klägerin zu 1) und Herr X. am 13. Januar 2015 schriftlich bestätigt, dass sie eine gemeinsame Ehe führten. Nach einem undatierten, am selben Tage bei der Ausländerbehörde eingegangenen Vermerk des Landesbetriebes Erziehung und Beratung sei die Klägerin zu 1) darüber informiert worden, dass ihr Ehemann umverteilt werden solle. Nach einem Telefonat mit ihrem Ehemann habe sie sich zusammen mit ihrer Tochter für ihren Verbleib in Hamburg entschieden. In der die Klägerinnen allein betreffenden Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchende der Erstaufnahmeeinrichtung Hamburg der Beklagten vom 14. Januar 2015 war ebenfalls die Aufforderung enthalten, sich zur zuständigen Aufnahmeeinrichtung Nostorf-Horst zu begeben. Am 16. Januar 2014 ist in einem Vermerk festgehalten, die Klägerin zu 1) habe sich gegenüber einer Mitarbeiterin des KJND geäußert, dass sie vor ihrem Ehemann Angst habe. Deshalb würde die Mitarbeiterin sie nicht aus ihrer Obhut entlassen, zumal die Klägerin im KJND bleiben möchte. In einem weiteren Vermerk vom gleichen Tage ist festgehalten, dass die Umverteilungsentscheidung bestehen bleibe, da die Klägerin zu 1) das Bestehen einer Ehe bestätigt habe. Gegenüber der Ausländerbehörde habe die Klägerin zu 1) am 16. Januar 2015 angegeben, dass ihr am Tag der Verteilung vom KJND gesagt worden sei, sie müsse der Verteilung nicht Folge leisten, weil sie minderjährig sei. Sie habe unterschrieben, dass sie keine Angst vor ihrem Mann habe und dieses auch nie gegenüber dem KJND geäußert habe.

7

Am 30. Januar 2015 wurde der Klägerin zu 1) erneut eine Bescheinigung der Erstaufnahmeeinrichtung Hamburg über die Meldung als Asylsuchender (gültig bis 30. Januar 2015) mit der Aufforderung nach Nostorf-Horst zu gehen ausgehändigt. Dabei wurde auf die Verteilungsentscheidung vom 13. Januar 2015 verwiesen.

8

Am gleichen Tag bat die Klägerin zu 1) für sich und ihre Tochter um Inobhutnahme. Dieser Bitte kam der KJND nach. Nach Auffassung der Ausländerbehörde sei dies nicht nachvollziehbar, weil nach der Erstverteilung der Klägerinnen die Erstaufnahmeeinrichtung Nostorf-Horst zuständig sei. Etwaige Probleme seien dort zu klären.

9

Unter dem 6. Mai 2015 meldete sich der Verfahrens- und spätere Prozessbevollmächtigte zur Akte. Die beantragte Akteneinsicht wurde wegen der nach Auffassung der Ausländerbehörde fehlenden Zuständigkeit dem Bevollmächtigten verweigert.

10

Die Amtsvormündin der Klägerin zu 1) teilte der Ausländerbehörde am 9. Juni 2015 mit, dass die minderjährige Klägerin (nur) religiös verheiratet sei. Da ihr „Ehemann“ nach Nostorf-Horst verteilt worden sei, seien die Klägerinnen in Obhut genommen worden, zumal die Ehe nach deutschem Recht ungültig sei. Wegen der Inobhutnahme in Hamburg sei die Ausländerbehörde der Beklagten weiter zuständig. Sie bat um Erteilung von Aufenthaltsgestattungen für die Klägerinnen. Unter dem 18. Juni 2015 teilte die Ausländerbehörde der Amtsvormündin mit, dass wegen fehlender Zweifel am Bestand der Ehe zwischen der Klägerin und Herrn X. und der daraus folgenden Familieneinheit die Verteilungsentscheidung bestehen bleibe. Dies gelte auch für die entsprechende Entscheidung bezüglich der Klägerin zu 2). Soweit kein Kontakt mehr zwischen den Ehepartnern bestehen sollte, müsse dies mit der Jugendhilfeeinrichtung in Nostorf-Horst geklärt werden, da es an einer Zuständigkeit der Beklagten fehle.

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Am 10. Dezember 2015 beantragten die Klägerinnen die Ausstellung einer Aufenthaltsgestattung, da sie Asylanträge beim Bundesamt gestellt hätten. Die Beklagte forderte die Klägerinnen mit Schreiben vom 22. Dezember 2015 erneut auf, sich in die zuständige Aufnahmeeinrichtung Nostorf-Horst zu begeben.

12

Am 30. Dezember 2015 haben die Kläger beim Verwaltungsgericht Hamburg die vorliegende Klage erhoben und gleichzeitig um vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht. Mit Beschlüssen vom 8. Februar 2016 – 10 K 6854/15 – und 10 E 6855/15 - hat das Verwaltungsgericht Hamburg die Streitsachen zuständigkeitshalber an das Verwaltungsgericht Schwerin verwiesen. Der auf die vorläufige Erteilung einer Bescheinigung über die Aufenthaltsgestattung (kurz: Aufenthaltsgestattung) gerichtete Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz wird beim Verwaltungsgericht Schwerin unter dem Geschäftszeichen 15 B 261/15 As SN geführt.

13

Zur Begründung der Klage (und des Antrags auf vorläufigen Rechtsschutzes) tragen die Klägerinnen im Wesentlichen vor: Die Ausländerbehörde der Beklagten sei die örtlich zuständige Behörde zur Erteilung der begehrten Aufenthaltsgestattungen. Aufgrund der Entscheidung ihrer Vormünder wohnten sie im Zuständigkeitsbereich der Beklagten. Ihr Aufenthalt sei weder bei Asylantragstellung noch bei Klageerhebung räumlich beschränkt gewesen. Mit der schriftlichen Asylantragstellung sei keine räumliche Aufenthaltsbeschränkung verbunden. Die von der Beklagten gemäß § 46 Abs. 2 AsylG vorgenommene Zuweisungsentscheidung gehe zudem ins Leere, da sie – die Klägerinnen – wegen ihrer Aufnahme in einer Jugendhilfeeinrichtung gemäß § 14 Abs. 1 Satz 2 AsylG nicht verpflichtet gewesen seien, einen Asylantrag beim Bundesamt persönlich zu stellen. Daher habe auch kein Erstverteilungsverfahren durchgeführt werden dürfen. Die entsprechenden Entscheidungen in den Bescheinigungen vom 14. und 30. Januar 2015 seien rechtswidrig.

14

Die Klägerin zu 1) hat in der mündlichen Verhandlung klarstellend vorgetragen, sie habe in dem Gespräch mit der Mitarbeiterin des KJND nicht gesagt, sie habe Angst vor ihrem Ehemann. Vielmehr habe sie vor dem Gespräch mit ihrem Mann telefoniert, der ihr erzählt habe, dass sich in Nostorf-Horst niemand um ihn kümmern würde und die Lage dort ganz schlecht sei. Deshalb habe sie der Mitarbeiterin gesagt, dass sie Angst habe, nach Nostorf-Horst zu gehen.

15

Die Klägerinnen beantragen,

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1. die in den Bescheinigungen über die Meldung als Asylsuchende vom 13., 14. und 30. Januar 2015 enthaltende Aufforderung, sich zur zuständigen Erstaufnahmeeinrichtung Nostorf-Horst zu begeben, aufzuheben.

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2. die Beklagte zu verpflichten, ihnen – den Klägern – eine Aufenthaltsgestattung nach § 63 AsylG auszustellen.

18

Die Beklagte beantragt,

19

die Klage abzuweisen abzulehnen.

20

Zur Begründung trägt sie ergänzend vor: Es bestehe kein Grund die BüMA aufzuheben. Die Klägerin zu 1) und Herr X. hätten das Bestehen ihrer Ehe bestätigt. Daraufhin sei die gesamte Familie entsprechend Art. 6 des Grundgesetzes (GG) nach Nostorf-Horst verteilt worden. Sollten sich nunmehr familiäre Probleme ergeben, seien diese in Nostorf-Horst zu lösen.

21

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten der genannten Verfahren nebst beigezogenen Verwaltungsvorgängen der Ausländerbehörde der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe

22

I. Die Klage ist hinsichtlich beider Klageanträge zulässig.

23

1. Der Klageantrags zu 1), ist zutreffend als Anfechtungsklage nach § 42 Abs. 1 Alt. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) formuliert worden. Die in der BüMA enthaltende, auf § 22 Abs. 3 Satz 1 in der damaligen Fassung des Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG) gestützte Aufforderung an die Klägerinnen, sich zur Erstaufnahmeeinrichtung nach Nostorf-Horst zu begeben (sog. Weiterleitungsverfügung), ist entgegen verbreiteter Auffassung ein Verwaltungsakt im Sinne des § 35 Satz 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG). Trotz der lediglich abstrakt-generellen Festlegungen der Verteilung von Asylbewerbern nach Maßgabe des § 46 AsylVfG wird durch die Bestimmung der zuständigen Aufnahmeeinrichtung nach § 46 Abs. 2 AsylVfG eine Aufenthaltsbestimmung in der Erstaufnahmeeinrichtung im konkreten Einzelfall getroffen, der Aufenthalt des Asylbewerbers beschränkt und die verwaltungsinterne Festlegung der Aufnahmeeinrichtung durch die Anordnung rechtsgestaltend umgesetzt.

24

Vgl. VG Schwerin, Beschluss vom 18. April 2013 – 3 B 693/12 As –, juris Rn. 16 f. unter Hinweis auf VG Berlin, Beschl. v. 20. Januar 2012 - 30 L 1816.11; ferner Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin, Beschluss vom 18. Oktober 2013 – 115/13, 115 A/13 –, juris Rn. 16 sowie Marx, AsylVfG, 8. Aufl.2014, § 46 Rn. 15; vgl. näher BVerwG, Urt. v. 31. März 1992 – 9 C 155/90 – juris Rn. 15; ablehnend etwa Bergmann, in: ders./Dienelt, Ausländerrecht, 11. Aufl. 2016, § 46 AsylVfG Rn. 8.

25

2.Die Klagefrist des § 74 Abs. 1 AsylG hat gemäß § 58 Abs. 1 VwGO nicht zu laufen begonnen, weil der angegriffenen Weiterleitungsanordnung keine Rechtsmittelbelehrung beigefügt war. Es gilt daher gemäß § 58 Abs. 2 VwGO die Jahresfrist seit Bekanntgabe des Verwaltungsaktes. Im vorliegenden Fall ist die BüMA den Klägerinnen zuerst am 13. bzw. 14. Januar 2015 bekannt gegeben worden. Fristablauf war daher der 13. oder 14. Januar 2016. Die vorliegende Klage ist beim Verwaltungsgericht Hamburg am 30.Dezember 2015 und damit rechtzeitig eingegangen.

26

3. a) Soweit die Klägerinnen mit ihrem Klageantrag zu 2) eine Aufenthaltsgestattung nach § 63 AsylVfG bzw. nunmehr des Asylgesetzes (AsylG) begehren, ist dieser erst in der mündlichen Verhandlung gestellte Antrag als Klageänderung nach § 91 VwGO zu werten. Diese Klageänderung ist zulässig, da die Beklagte sich auf die Änderung der Klage rügelos eingelassen hat. Sie ist zudem sachdienlich, weil dadurch ein weiterer Verwaltungsrechtstreit um die Erteilung der Aufenthaltsgestattung, bei dem es im Wesentlichen um die gleichen Rechtsfragen gehen würde, vermieden wird.

27

b) Die Verpflichtungsklage nach § 42 Abs. 1 Alt. 2 VwGO ist die zutreffende Rechtsschutzform. Nach richtiger Auffassung ist die Erteilung der Bescheinigung ein Verwaltungsakt nach § 35 Satz 1 VwVfG. Sie enthält Regelungswirkungen bezüglich räumlicher Beschränkungen und Befristungen und konkretisiert die Rechtswirkungen der Aufenthaltsgestattung des § 55 Abs. 1 Satz 1 AsylG jedenfalls insoweit auf den Einzelfall.

28

Vgl. BVerwG, Urteil vom 29. April 1988 – 9 C 54/87 –, BVerwGE 79, 291-298 juris LS 1 und Rn. 7; Wolff, in Hofmann/Hoffmann, aaO, § 63 Rn. 4; Marx, AsylVfG, 8. Aufl. 2014, § 63 Rn. 3 ff.; Funke-Kaiser, GK-AsylVfG, § 63 Rn. 11, 37; VG Schwerin, Beschluss vom 16. April 2015 – 15 B 1187/15 As SN (n.v.), Umdruck, S. 3; VG Schwerin, Beschluss vom 3. Juni 2014 – 15 B 1126/14 As – (n. v.), Umdruck, S. 5 je mwN.

29

c) Dieser Antrag ist trotz fehlender Entscheidung der Ausländerbehörde der Beklagten auch zulässig. Insoweit haben die Klägerinnen ein Rechtsschutzbedürfnis und müssen nicht weiter auf die behördliche Entscheidung warten. Die Ausländerbehörde der Beklagten hat durch ihr vorprozessuales Verhalten und ihr Verhalten im Prozess gezeigt, dass sie sich nicht für zuständig hält, weil die Zuständigkeit mit Erlass der Weiterleitungsverfügung zu den Behörden des Landes Mecklenburg-Vorpommern gewechselt sei. Jedenfalls liegen die Voraussetzungen der Untätigkeitsklage des § 75 VwGO vor, da die Ausländerbehörde nicht binnen drei Monate nach Antragstellung am 10. Dezember 2015 eine Entscheidung über die Frage des Erlasses einer Aufenthaltsgestattung getroffen hat. Zureichende Gründe für eine spätere Verwaltungsentscheidung ihrer Ausländerbehörde hat die Beklagte nicht vorgetragen und sind auch sonst nicht ersichtlich.

30

II. Die Klage ist auch begründet. Zum einen ist die angegriffene Weiterleitungsverfügung rechtswidrig und verletzt die Klägerinnen auch in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO; nachfolgend unter 1.). Zum anderen ist die Weigerung oder Ablehnung der Entscheidung der Beklagten, den Klägerinnen eine Aufenthaltsgestattung nach § 63 AsylG zu erteilen rechtswidrig und verletzt die Klägerinnen in ihren Rechten (vgl. § 113 Abs. 5 VwGO). Die Klägerinnen haben einen Anspruch auf Erteilung der begehrten Bescheinigung durch die Ausländerbehörde der Beklagten (nachfolgend unter 2.).

31

1. Rechtsgrundlage für Erstverteilung war bis zum 30. Oktober 2015 §§ 22, 46 ff. AsylG. Die Anwendung dieser Vorschrift war indessen im Fall von unbegleiteten Kindern und Jugendlichen ausgeschlossen. Denn nach § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 des Sozialgesetzbuches VIII (SGB VIII) war das Jugendamt auch ohne Vorliegen einer dringenden Gefahr berechtigt und verpflichtet, ein Kind oder einen Jugendlichen in seine Obhut zu nehmen, wenn ein ausländisches Kind oder ein ausländischer Jugendlicher unbegleitet nach Deutschland kommt und sich weder Personensorge- noch Erziehungsberechtigte im Inland aufhalten. Diese im vorliegenden Fall durch § 42 Abs. 2 Abs. 1 Nr. 3 SGB VIII begründete Primärzuständigkeit für Erstunterbringung und –versorgung unbegleiteter Kinder und Jugendlicher ist lex specialis zu den allgemeinen Erstverteilungsbestimmungen an §§ 22 f., 46 ff. AsylG anzusehen und verdrängte diese vollständig (vgl. auch §§ 14 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG, 47 Abs. 1 AsylG).

32

Vgl. dazu BayVGH, Beschluss vom 23. September 2014 – 12 CE 14.1833, 12 C 14.1865 –, juris Rn. 14; VG München, Gerichtsbescheid vom 17. April 2015 – M 24 K 14.4797 – juris Rn. 21 ff.; VG Schwerin, Beschluss vom 23. Dezember 2015 – 3 B 4387/15 -; Wiesner, in: ders., SGB VIII, 5. Aufl. 2015, § 42 Rn. 17; Kepert/Röchling, in: Kunkel (Hrsg.), SGB VIII, 5. Aufl. 2014, § 42 Rn. 44; Trenczek, in: Münder/Meysen/Trenczek (Hrsg.), SGB VIII 7. Aufl. 2013, § 42 Rn. 15; Marx, AsylVfG, 8. Aufl. 2014, § 12 Rn. 26, § 14 Rn. 12; je mwN.

33

a) Der Bundesgesetzgeber hat mit Wirkung vom 1. November 2015 in § 42a ff. SGB VIII ein spezielles Obhuts- und Umverteilungsverfahren für unbegleitete ausländische Kinder und Jugendliche durch Art. 1 Nr. 4 des Gesetzes zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher vom 28. Oktober 2015 (BGBl. I S. 1802) aufgenommen.

34

Vgl. Bruns, in: Hofmann (Hrsg.), Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 12 Rn. 22; Wiesner, aaO, § 73 Rn. 42 ff. mwN; dazu Gesetzentwurf der Bundesregierung BTDrucks. 18/3160.

35

Danach sind unbegleitete ausländische Minderjährige vom Jugendamt vorläufig in Obhut zu nehmen und können nur nach Maßgabe der §§ 42a ff. SGB VIII auf andere Bundesländer verteilt werden.

36

b) Gemäß § 77 Abs. 1 AsylG ist unabhängig von der Klageart maßgebend die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung, so dass die §§ 42a ff. SGB VIII hier der Entscheidung zu Grunde zu legen sind. Dies führt indessen nicht dazu, im vorliegenden Fall die Rechtmäßigkeit der angegriffenen Weiterleitungsverfügung herbeizuführen.

37

aa) Die Anwendung der genannten Bestimmungen des Sozialgesetzbuches VIII im vorliegenden Fall scheitert bereits daran, dass die Ausländerbehörde in formeller Hinsicht nicht zur Entscheidung für die Weiterleitung unbegleiteter Minderjähriger berufen ist. Die Entscheidung ist ausschließlich dem Jugendamt vorbehalten. Dies folgt aus § 42a Abs. 1 SGB VIII, wonach nur diese Behörde berechtigt und verpflichtet ist, unbegleitete ausländische Minderjährige vorläufig in Obhut zu nehmen. Streitgegenstand ist hier jedoch die Weiterleitungsentscheidung. Diese ist von der Erstaufnahmeeinrichtung Hamburg als Teil der Ausländerbehörde der Beklagten erlassen worden (Behörde für Inneres und Sport, vgl. dazu II. Abs. 4 der Anordnung über Zuständigkeiten im Ausländer- und Asylverfahrensrecht vom 17. Dezember 2004 [Amtlicher Anzeiger, 2004, S. 2621]).

38

Nach § 2 Abs. 3 Nr. 1 SGB VIII ist die Inobhutnahme eine andere Aufgabe der Jugendhilfe, die gemäß § 3 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII durch Träger der öffentlichen Jugendhilfe wahrgenommen wird. Nach § 85 Abs. 1 SGB VIII ist der örtliche Träger der öffentlichen Jugendhilfe zuständig, da die Aufgabe nicht im Katalog des § 85 Abs. 2 SGB VIII für den überörtlichen Träger aufgeführt ist. Nach § 69 Abs. 1 SGB VIII errichten die örtlichen Träger Jugendämter nach Maßgabe des Landesrechts. Nach Art. II Abs. 3 Nr. 22 Anordnung über Zuständigkeiten im Kinder- und Jugendhilferecht vom 12. Februar 2002 (Amtlicher Anzeiger 2002, S. 817) ist für die Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen die Behörde für Arbeit, Soziales Familie und Integration zuständig. Für Aufgaben nach dem Ausländer- und Asylrecht sind hingegen Bezirksämter und die Behörde für Inneres und Sport als Ausländerbehörde zuständig (vgl. im Einzelnen die o.g. Anordnung über Zuständigkeiten im Ausländer- und Asylverfahrensrecht). Eine Umdeutung der asylrechtlichen Weiterleitungsentscheidung in eine solche nach Jugendhilferecht scheidet bereits deshalb aus (vgl. auch § 47 Abs. 1 VwVfG).

39

bb) In materieller Hinsicht ist zu beachten, dass dem Jugendamt in den genannten Obhuts- und Weiterleitungsvorschriften ein weiten Beurteilungs- und Ermessensspielraum eingeräumt ist, den das Gericht nicht durch eine eigene Einschätzung und Ausübung des Ermessens auszufüllen berechtigt ist (vgl. § 114 Satz 1 VwGO). Nach § 42a Abs. 2 Nr. 1 und 4 SGB VIII hat das Jugendamt im Hinblick auf die in § 42b Abs. 4 SGB VIII genannten Ausschließungsgründe u. a. einzuschätzen, ob das Kindeswohl durch die Durchführung des Verteilungsverfahrens gefährdet würde und/oder der Gesundheitszustand eine Verteilung ausschließen. Diese Einschätzungen dürfen nicht durch das Gericht vorgenommen werden.

40

cc) Zudem dürfte ein Weiterleitung heute bereits in zeitlicher Hinsicht daran scheitern, dass diese nach § 42b Abs. 4 Nr. 4 SGB VIII ausgeschlossen ist, wenn sie nicht innerhalb eines Monats nach der Inobhutnahme erfolgt ist. Im Übrigen sollen die Kinder und Jugendlichen möglichst in dem Land verbleiben, indem sie vorläufig in Obhut genommen worden sind.

41

dd) Die weiteren Aufforderungen vom 14. und 30. Januar 2014, sich zur Erstaufnahmeeinrichtung Nostorf-Horst zu begeben, werden aus Gründen der Klarstellung aufgehoben. Es handelt sich dabei um wiederholende Verfügungen ohne eigenständigen Regelungsgehalt.

42

ee) Zur Vermeidung weiterer Streitigkeiten weist das Gericht vorsorglich darauf hin, dass alles dafür spricht, einem Antrag des Ehemannes der Klägerin zu 1), nach Hamburg umverteilt zu werden, gemäß § 51 Abs. 1 i.V.m. § 26 Abs. 1 bis 3 AsylG und mit Blick auf Art. 6 GG und Art. 8 EMRK zu entsprechen sein dürfte.

43

II. Auch der weitere Klageantrag auf Verpflichtung zur Erteilung einer Aufenthaltsgestattung nach Maßgabe des § 63 AsylG ist begründet. Zuständig für die Erteilung der Bescheinigung ist gemäß § 63 Abs. 3 die Ausländerbehörde, in deren Bezirk sich der Ausländer aufhalten muss. Weil keine Weiterleitung nach Maßgabe des Asylrechts erfolgen durfte, ist das die Ausländerbehörde der Beklagten. Die getroffene Weiterleitungsentscheidung ist, wie oben unter I. ausgeführt, rechtswidrig. Es sind derzeit auch keine Gründe nach § 67 AsylG ersichtlich, die einer Erteilung der genannten Bescheinigung entgegenstehen.

44

III. Die Kosten des Verfahrens hat gemäß § 154 Abs. 1 VwGO die Beklagte als Unterliegende zu tragen. Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei. Gemäß § 167 Abs. 2 VwGO sieht das Gericht von einer Erklärung der vorläufigen Vollstreckbarkeit des Urteils ab.

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