Urteil vom Verwaltungsgericht Stuttgart - 11 K 80/10

Tenor

Der Bescheid des Beklagten vom 05.1.2009 und der Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 16.12.2009 werden aufgehoben.

Der Beklagte wird verpflichtet, über den Antrag des Klägers auf dessen Einbürgerung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.

Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Die Hinzuziehung des Bevollmächtigten im Vorverfahren war notwendig.

Tatbestand

 
Der Kläger begehrt eine erneute Ermessensentscheidung über seinen Antrag auf Einbürgerung.
Der Kläger ist 1975 geboren und ghanaischer Staatsangehöriger. Er heiratete am 17.11.2001 in Dänemark eine deutsche Staatsangehörige, das gemeinsame Kind wurde am 03.10.2002 geboren.
Der Kläger reiste am 18.11.2001 ohne gültiges Visum ins Bundesgebiet ein und legte der Ausländerbehörde der Stadt Backnang am 13.12.2001 eine gefälschte belgische Aufenthaltserlaubnis vor. Wegen dieser Straftat wurde der Kläger vom Amtsgericht Backnang am 03.06.2002 wegen Urkundenfälschung zu einer Freiheitsstrafe von 4 Monaten, ausgesetzt auf 2 Jahre zur Bewährung, verurteilt (rechtskräftig seit 11.06.2002). Die Strafe wurde am 23.07.2004 erlassen. Nach Auskunft des Bundesamtes für Justiz vom 09.07.2009 wird Tilgungsreife am 03.06.2012 eintreten.
Dem Kläger wurde zunächst ein vom 16.10.2003 für zwei Monate gültiges Einreisevisum erteilt. Er erhielt sodann ab 29.10.2003 befristete Aufenthaltserlaubnisse und ab dem 17.10.2005 eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis, die ab dem 14.10.2008 in eine Niederlassungserlaubnis umgewandelt wurde.
Der Kläger beantragte am 17.02.2009 seine Einbürgerung. Im Laufe des Verfahrens legte er die Bescheinigung über den Einbürgerungstest und das Zertifikat über den Sprachtest Deutsch vor, außerdem den Nachweis eines unbefristeten Arbeitsverhältnisses und der Familieneinkünfte sowie seiner Rentenanwartschaften. Die vom Kläger angebotene Loyalitätserklärung hat der Beklagte bislang nicht entgegen genommen.
Der Beklagte teilte dem Kläger mit Schreiben vom 15.07.2009 mit, die Vorstrafe könne nicht außer Betracht bleiben, die Freiheitsstrafe übersteige die Unbedenklichkeitsgrenze. Der Kläger habe hohe kriminelle Energie bewiesen, daher müsse die Tilgung abgewartet werden. - In der Stellungnahme des Prozessbevollmächtigten hierzu ließ der Kläger auf eine rechtsmittelfähige Entscheidung bestehen.
Mit Bescheid vom 05.10.2009 lehnte der Beklagte die Einbürgerung des Klägers ab und führte zur Begründung aus: Die Einbürgerung des Ehegatten eines Deutschen scheide aus, wenn er wegen einer Straftat verurteilt worden sei und diese Straftat nicht außer Betracht bleiben könne. Die Straftat des Klägers überschreite die Unbedenklichkeitsgrenze um einen Monat und könne daher nicht außer Betracht bleiben. Im Rahmen der Ermessensentscheidung werde berücksichtigt, dass der Kläger mit einer Deutschen verheiratet sei und einen 7-jährigen deutschen Sohn habe, wirtschaftlich integriert sei und in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis stehe. Jedoch stelle die begangene Urkundenfälschung kein Kavaliersdelikt dar und zeuge von hoher krimineller Energie. Dies habe auch zu einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe geführt. Der Kläger hätte auch legale Wege nutzen können, um in Deutschland mit seiner Ehefrau zusammen zu leben. Eine Anspruchseinbürgerung scheide aus, weil der Kläger legal erst am 16.10.2002 eingereist sei und seither noch nicht einen mindestens achtjährigen rechtmäßigen Aufenthalt vorweisen könne und im übrigen die Straftat auch ihr entgegenstünde.
Hiergegen erhob der Kläger am 26.10.2009 Widerspruch mit der Begründung, die Freiheitsstrafe sei anstelle einer Geldstrafe nur verhängt worden, weil der Kläger damals ohne eigene Einkünfte gewesen sei.
Das Regierungspräsidium Stuttgart wies den Widerspruch mit Bescheid vom 16.12.2009 aus den Gründen des Ausgangsbescheids mit der Maßgabe zurück, dass die Verurteilung des Klägers über der Höchstgrenze liege und die Unbeachtlichkeitsgrenze somit nicht nur geringfügig überschreite. Eine Ermessensentscheidung nach § 12a Abs. 1 S. 3 StAG eröffne sich somit nicht.
10 
Am 08.01.2010 hat der Kläger Klage zum Verwaltungsgericht Stuttgart erhoben und bringt zur Begründung vor: Die Entscheidung sei im Hinblick auf § 12a Abs. 1 S. 3 StAG ermessensfehlerhaft. Da der Kläger bereits 2006 einen Einbürgerungsantrag gestellt habe, den er aufgrund unzutreffender Hinweise durch den Beklagten wieder zurück genommen habe, müsse der Beklagte im Sinne einer Folgenbeseitigung die dem Kläger günstigere Fassung des Gesetzes von 2004 anwenden. Danach sei eine zur Bewährung ausgesetzte Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe bis zu 6 Monaten als unbeachtlich anzusehen gewesen. Bei Ausländern mit langem Aufenthalt beinhalte die Vorgängerregelung in § 88 Abs. 1 S. 2 AuslG ein überwiegendes öffentliches Interesse an der Einbürgerung selbst dann, wenn der Ausländer wegen einer Straftat verurteilt worden sei. Unabhängig davon gebiete die Regelung bei Überschreitung der Unbedenklichkeitsgrenze eine umfassende Ermessensbetätigung unter angemessener Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles. Dabei sei der Umstand, dass der Kläger mehr als 3 Jahre illegal in Belgien gelebt habe, als Auslandstat nicht zu berücksichtigen. Auch sei die gefälschte Urkunde im Rechtsverkehr zuvor nie benutzt worden, es sei niemandem ein Schaden entstanden. Der Kläger sei auch nie strafrechtlich in Erscheinung getreten. Der Kläger habe sich sofort voll geständig gezeigt. Die Bewährungsstrafe sei ihm schon 2004 erlassen worden. Der Beklagte habe nicht einmal die Strafakten beigezogen. Zudem sei der Strafrichter um die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe nicht herum gekommen, weil der Kläger kein eigenes Einkommen erzielt habe. Auch müsse im Rahmen des Ermessens das Interesse an der Einheitlichkeit der Staatsangehörigkeit innerhalb der Familie berücksichtigt werden. Soweit im Widerspruchsbescheid auf die VAH Bezug genommen werde, liege ein Ermessensfehler vor, weil dort nur auf Bewährung ausgesetzte Strafen nach Wochen ausgenommen würden. Solche Verurteilungen kämen aber in der strafgerichtlichen Praxis überhaupt nicht vor, vielmehr würden Freiheitsstrafen nur nach Monaten verhängt.
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Der Kläger beantragt,
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den Bescheid des Beklagten vom 05.10.2009 und den Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 16.12.2009 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, über den Antrag des Klägers auf Einbürgerung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.
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Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
15 
Er bringt vor: Auf den Kläger sei die Neufassung des StAG anzuwenden, da der Antrag nach dem 03.03.2007 gestellt worden sei. Dem Kläger sei auch zutreffend geraten worden, den 2006 eingebrachten Antrag zurück zu nehmen. Denn die damals gültige Unbeachtlichkeitsgrenze sei nur auf Anspruchseinbürgerungen anzuwenden gewesen, für welche der Kläger noch nicht die notwendige rechtmäßige Aufenthaltszeit vorgewiesen habe. Zudem hätte der Einbürgerung nach altem Recht das Vorliegen eines Ausweisungsgrundes entgegen gestanden. Davon seien nach Nr. 8.1.1.2 der VAH nur geringfügige Verstöße ausgenommen gewesen, worunter aber keine vorsätzlichen Straftaten hätten fallen können. Daher bestehe auch kein Anspruch auf eine Folgenbeseitigung. Die Bindung des Ermessens durch die VAH sei zur Gewährleistung der Gleichbehandlung zulässig. Die für den Regelfall vorgesehenen Bindungsregeln in typischen Einzelfällen ließen aber Freiraum für atypische konkrete Fälle. Vorliegend sei maßgeblich, dass die Freiheitsstrafe des Klägers die Unbeachtlichkeitsgrenze um ¼ überschritten habe und die Tilgung erst im Jahr 2012 anstehe, außerdem, dass er versucht habe, sich mittels gefälschter Urkunden einen Vorteil zu verschaffen. Ein Zusammenleben mit seiner Ehefrau in Deutschland hätte der Kläger auch legal erreichen können. Die Vereinheitlichung der Staatsangehörigkeit innerhalb der Familie entspreche nicht mehr der gesellschaftliche Vielfalt und stelle auch keine Forderung des Gesetzgebers mehr dar. Die Beiziehung der Strafakten sei am Amtsgericht gescheitert, wo sie nicht mehr auffindbar gewesen seien. Schließlich stehe der Behauptung, der Amtsrichter habe mangels eigener Einkünfte den Kläger nicht zu einer Geldstrafe verurteilen können, die Begründung des Strafurteils entgegen.
16 
Nach der mündlichen Verhandlung am 12.04.2010, in welcher die Beteiligten auf weitere mündliche Verhandlung verzichtet haben, hat das Gericht die amtliche Auskunft des Justizministeriums Bad.-Württ. vom 21.04.2010 eingeholt. Wegen der Einzelheiten wird hierauf Stellung genommen. Im Rahmen des rechtlichen Gehörs hierzu führt der Prozessbevollmächtigte des Klägers noch aus: Die Stellungnahme des Ministeriums bestätige die Erfahrungen des Prozessbevollmächtigten in fast 30 Jahren als Strafrechtsverteidiger. Bei der Verurteilung zu Einzelstrafen würden Freiheitsstrafen nicht nach Wochen verhängt.
17 
Der Beklagte hat noch ausgeführt: Auf die Fragestellung komme es gar nicht mehr an. Das Merkmal der Geringfügigkeit beziehe sich nicht abstrakt auf einen Zeitabschnitt, sondern auf die vom Gesetzgeber festgelegten zeitlichen Strafbarkeitsgrenzen, die für unbeachtlich gehaltenen würden. Daher sei von der vom Gesetzgeber festgelegten Strafbarkeitsgrenze von 3 Monaten auf Bewährung auszugehen. Damit müsse eine Überschreitung um 30% als nicht mehr geringfügig angesehen werden. Dem stehe nach einem Urteil des VG Darmstadt nicht entgegen, dass häufig Verurteilungen nur nach Monaten ausgesprochen würden. Zudem erfasse die Vorschrift nicht nur Einzelverurteilungen, sondern auch die Kumulierung von Verurteilungen. Daher sei der Widerspruchsbescheid zutreffend davon ausgegangen, dass das Ermessen gar nicht eröffnet sei.
18 
Dem Gericht lagen die Behördenakten vor. Hierauf, auf die gewechselten Schriftsätze sowie auf die Gerichtsakten wird wegen weiterer Einzelheiten Bezug genommen

Entscheidungsgründe

 
19 
Das Gericht konnte mit dem Einverständnis der Beteiligten ohne weitere mündliche Verhandlung entscheiden (§ 101 Abs. 2 VwGO).
20 
Die Klage ist zulässig und auch begründet. Der Kläger kann eine fehlerfreie erneute Bescheidung seines Einbürgerungsantrages unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts verlangen, die entgegen stehenden Bescheide sind aufzuheben (§ 113 Abs. 1 und 5 S. 2 VwGO).
21 
Anwendung findet vorliegend das StAG in seiner aktuellen Fassung des 2. Änderungsgesetzes zum Zuwanderungsgesetz vom 19.08.2007, da der Einbürgerungsantrag am 17.02.2009 und somit nach dem in § 40c vorausgesetzten Stichtag für die Geltung der §§ 8 bis 14 StAG in der jeweils günstigeren Fassung gestellt wurde. Daher kann die insoweit günstigere Regelung des § 12a Abs. 1 S. 1 Nr. 3 StAG 2004 - wonach Verurteilungen zu einer auf Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe bis zu 6 Monaten außer Betracht zu bleiben hatten -, keine Anwendung finden.
22 
Der Kläger kann die Anwendung der früheren günstigeren Fassung des § 12a StAG auch nicht unter dem Gesichtspunkt des Folgebeseitigungsanspruchs verlangen. Zwar hat das BVerwG (mit Urteil vom 19.08.1996, - 1 B 82/95 -, ) entschieden, dass die Behörde im Falle einer rechtswidrigen Ablehnung eines begünstigenden Verwaltungsaktes vor einer Rechtsänderung eine Folgenbeseitigungslast treffen kann, die sie verpflichtet, im Rahmen einer ihr möglichen Ermessensentscheidung zu berücksichtigen, dass sie einen Anspruch durch rechtswidriges Verhalten vereitelt hat, und die ihr Ermessen auf Null reduzieren kann. Die ablehnende Haltung des Beklagten - ein Verwaltungsakt wurde insoweit nicht erlassen -, die letztlich wohl zur Rücknahme des ersten Einbürgerungsantrages des Klägers aus dem Jahre 2006 geführt hatte, dürfte aber nicht als rechtswidrig anzusehen gewesen sein, weil die Voraussetzungen für die Einbürgerung des Klägers nach dem StAG 2004 nicht vorlagen.
23 
Zum einen hätte der Einbürgerung nach § 8 Abs. 1 Nr. 2 StAG 2004 Ausweisungsgrund nach § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG entgegen gestanden. Darunter fielen, wie die Vorläufigen Anwendungshinweise des Bundes - VAH - (2004) in Ziff. 8.1.1.2 zutreffend konkretisierten, Straftaten, die einen "nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen die Rechtsordnung" darstellten. Dabei mussten die Merkmale geringfügig und vereinzelt zusammen fallen, weil andernfalls auch eine vereinzelte schwere Straftat unter die Privilegierung gefallen wäre. Die vom Kläger begangene Straftat blieb zwar vereinzelt, da es sich um eine Vorsatztat handelte, konnte sie aber nicht als geringfügig gelten (vgl. BVerwG, Urteil vom 24.09.1996, - 1 C 9/94 -, zu § 46 Nr. 2 AuslG = § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG).
24 
Der Kläger hätte seinerzeit auch keinen Anspruch auf Einbürgerung nach § 10 StAG a.F. gehabt, weil die rechtmäßige Aufenthaltszeit von 8 Jahren im Jahre 2006 noch keinesfalls erfüllt war.
25 
Im Grundsatz begehrt der Kläger seine Einbürgerung in den deutschen Staatsverband. Der Kläger ist mit einer deutschen Staatsangehörigen verheiratet, es ist insoweit kein atypischer Fall gegeben. Mit Ausnahme der hier streitigen Voraussetzung nach § 8 Abs. 1 Nr. 2 iVm § 12a Abs. 1 StAG 2007 und der Klärung der Frage, ob sich der Kläger aus der bisherigen ghanaischen Staatsangehörigkeit entlassen lassen muss, kann vom Vorliegen der Einbürgerungsvoraussetzungen nach § 9 StAG ausgegangen werden.
26 
Da der Kläger vom Amtsgericht Backnang mit Urteil vom 03.06.2002 zu einer Freiheitsstrafe von 4 Monaten verurteilt worden war, die auf 2 Jahre zur Bewährung ausgesetzt und ihm mit Wirkung vom 23.07.2004 erlassen worden ist, hält ihm der Beklagten im Grundsatz zurecht entgegen, dass die Einbürgerungsvoraussetzungen nach § 8 Abs. 1 Nr. 2 StAG 2007 nicht erfüllt sind. Die Vorstrafe kann auch nicht nach § 12a Abs. 1 S. 1 Nr. 3 StAG 2007 außer Betracht bleiben, weil die Freiheitsstrafe das dort festgelegte Maß von bis zu drei Monaten um einen Monat überschritten hat.
27 
Der angefochtene Bescheid hat in der durch den Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums Stuttgart erlangten Fassung jedoch verkannt, dass das Ermessen nach § 12a Abs. 1 S. 3 StAG 2007 eröffnet war. Dabei ist zunächst ausdrücklich zu bemerken ist, dass der Ausgangsbescheid zutreffend davon ausgegangen war, dass Ermessen eröffnet ist und er hat dieses Ermessen wohl auch zutreffend und unter hinreichender Würdigung der Belange des Klägers ausgeübt. Diese Ermessensentscheidung ist jedoch durch den Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums Stuttgart überlagert worden, der ausdrücklich davon ausgegangen ist, dass kein Ermessen eröffnet ist. Da Gegenstand der Klage der ursprüngliche Bescheid in der Fassung ist, die er durch den Widerspruchsbescheid gefunden hat (vgl. § 79 Abs. 1 Nr. 1 VwGO), muss vorliegend vom Widerspruchsbescheid ausgegangen werden, wobei die Erwägungen, die der Beklagte im Rahmen der Erwiderung noch dargelegt hat, keine Heilung des Ermessensausfalls im Sinne von § 114 S. 2 VwGO darstellen kann, weil der Widerspruchsbescheid ausdrücklich eine Befugnis zur Ermessensbetätigung verneint hat.
28 
Nach § 12a Abs. 1 S. 3 StAG 2007 wird im Einzelfall entschieden, ob die Strafe oder die Summe der Strafen, die den Rahmen nach Satz 1 und 2 geringfügig übersteigt, außer Betracht bleiben kann. Demnach ist dieses sog. Nichtberücksichtigungsermessen eröffnet, wenn die zu berücksichtigende Strafe die Bagatellgrenze geringfügig überschreitet. Es handelt sich dabei um einen unbestimmten Rechtsbegriff, dessen Anwendung durch die Behörden der Exekutive der vollen gerichtlichen Kontrolle unterliegt.
29 
Allerdings hatte der Gesetzgeber, der bei der Änderung der Bagatellgrenzen im Rahmen der Novelle von 2007 der Auffassung der Innenministerkonferenz folgte, wonach die bisherigen Bagatellgrenzen als zu hoch empfunden wurden, weshalb sie nunmehr zu halbieren seien, die Vorstellung, dass der Begriff „geringfügig ... durch die Verwaltungsvorschrift präzisiert" werden solle (vgl. BT-DrS 16/5065 S. 230). Die VAH des Bundes in der Fassung vom 19. Oktober 2007 führen (insoweit inhaltsgleich auch die VAH des Landes Bad.-Württ. in der Fassung vom 01.09.2008) in Ziff. 21a.1.3 aus, dass eine geringfügige Überschreitung der Unbeachtlichkeitsgrenzen nicht mehr angenommen werden könne, wenn die Verurteilung bzw. die Summe der Verurteilungen die in Satz 1 genannten Höchstgrenzen um mehr als 21 Tagessätze bzw. drei Wochen Freiheitsstrafe überstiegen. Diese Vorläufigen Anwendungshinweise unterlagen jedoch keinerlei parlamentarischer Kontrolle durch den (Bundes- bzw. Landes-)Gesetzgeber, weshalb ihnen ein die Judikative bindender Charakter nicht zukommen kann (vgl. dazu auch Geyer in Handkommentar zum Ausländerrecht, Anm. 11 zu § 10 StAG). Daher bleibt es insoweit dabei, dass es sich bei dem Begriff "geringfügig" um einen unbestimmten Rechtsbegriff handelt, der voll der gerichtlichen Kontrolle unterliegt (vgl. zur Bedeutung der - nicht ermessenslenkenden - Verwaltungsvorschriften zum StAG auch VGH Bad.-Württ., Urteil vom 12.01.2005, - 13 S 2549/93 -, ).
30 
Maßstab für die Beurteilung der Geringfügigkeit ist die vom Gesetzgeber festgelegte Bagatellgrenze von 90 Tagessätzen für die Geldstrafe einerseits und von 3 Monaten für die Freiheitsstrafe andererseits. Dabei kann nicht von einer beliebigen Größenordnung ausgegangen werden, wie dies etwa vom VG Darmstadt mit seiner willkürlich erscheinenden Grenze von 10% Überschreitung des Strafrahmens angenommen wurde (vgl. Urteil vom 03.12.2008, - 5 K 1079/08.DA -, ).
31 
Die Festlegung der Bagatellgrenzen sowie die ausdrückliche Regelung in S. 2, 2. HS, sprechen dafür, dass dabei zunächst von einer Gleichwertigkeit von Geldstrafen nach Tagessätzen mit Freiheitsstrafen nach Monaten ausgegangen worden ist. Dies erlaubt jedoch nicht den Schluss, dass die für sich betrachtet womöglich rechtskonforme Festlegung der Geringfügigkeitsgrenze bei Geldstrafen auf eine Überschreitung um 21 Tagessätze dazu zwingen müsste, bei der Überschreitung der Bagatellgrenze Freiheitsstrafen ebenfalls 21 Tage - also 3 Wochen - festzulegen, genauso wenig, wie umgekehrt das Maß der noch geringfügigen Überschreitung der Freiheitsstrafe zu einer entsprechenden Festlegung von Tagessätzen bei der Geldstrafe führen müsste. Eine solche Gleichstellung verbietet sich schon nach dem StGB, das für Geldstrafen eine Mindeststrafe von 5 Tagessätzen (vgl. § 40 Abs. 1 S. 2), für Freiheitsstrafe aber eine Mindeststrafe von 1 Monat (vgl. § 38 Abs. 2), also unterschiedliche Strafrahmen vorsieht.
32 
Die Bestimmung der Geringfügigkeitsgrenze ist vielmehr für Geldstrafen einerseits und für Freiheitsstrafen andererseits getrennt vorzunehmen, wobei der Urteilspraxis der Strafgerichte eine besondere Bedeutung zukommen muss (a.A. offenbar VG Darmstadt, aaO.). Stellt sich nämlich die Festlegung der Geringfügigkeitsgrenze, wie sie in den Vorläufigen Anwendungshinweisen vorgenommen worden ist, als praxisfremd oder irrelevant heraus, so wäre sie ungeeignet , um dem Willen des Gesetzgebers Rechnung zu tragen. Dieser besteht ersichtlich darin, auch bei Überschreitung der Bagatellgrenze eine Einzelfallentscheidung zu ermöglichen, allerdings möchte er solche Fälle auf die mit geringfügigen Überschreitungen beschränken. Die Festlegung einer Geringfügigkeitsgrenze, die in der Rechtswirklichkeit keine Anwendung finden könnte, würde gegen diese Intention und damit gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen.
33 
Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat insoweit eingewandt, dass eine Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von 3 Monaten und 3 Wochen - dem entspräche wohl eine Verurteilung zu einer Einzelstrafe von 15 Wochen - in der Praxis nicht vorkomme. Zwar ist auch eine strafrechtliche Verurteilung nach vollen Wochen - gemäß § 39 StGB - rechtlich möglich. Die beim Justizministerium eingeholte amtliche Auskunft hat jedoch ergeben, dass eine nach Wochen bemessene Freiheitsstrafe in der Praxis wohl nur sehr selten vorkomme, sei es in der Form der Bemessung nach Wochen, sei es in der Form eines gemischten Ausspruchs. Dies gelte jedenfalls für Einzelstrafen. Bei der Bildung von Gesamtstrafen, die durch Erhöhung der höchsten Einzelstrafe gebildet werden (§§ 53, 54 StGB), komme die Strafbemessung nach Wochen eher vor. So liege es nicht fern, dass aus einer Freiheitsstrafe von vier Monaten und einer Freiheitsstrafe von drei Monaten eine Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Monaten und zwei Wochen gebildet werde. - Aus dieser Auskunft schließt das Gericht, dass eine oberhalb der Bagatellgrenze liegende Verurteilung zu einer Einzel-Freiheitsstrafe stets mindestens 4 Monate umfasst. Lediglich in Fällen, in welchen mehrere Verurteilungen aus kurzfristigen Freiheits- und/oder Geldstrafen zu einer Gesamtstrafe zusammengefasst oder - nach § 12a Abs. 1 S. 2 StAG - kumuliert werden, kann es womöglich und höchst ausnahmsweise zu einem "Betrag" kommen, der den von den Vorläufigen Anwendungshinweisen vorgegebenen Zeitraum von 3 Monaten und 3 Wochen einhält. Damit werden - zumindest unter dem Gesichtspunkt der Strafrechtspraxis - Ausländer mit mehreren Straftaten gegenüber solchen Ausländern privilegiert, die nur eine Straftat begangen haben, obwohl in beiden Fällen die Bagatellgrenze von 3 Monaten nicht eingehalten wird. Dies widerspricht nach Auffassung der erkennenden Kammer dem bereits dargelegten Willen des Gesetzgebers, den Behörden Einzelfallentscheidungen zu ermöglichen. Daher darf die Geringfügigkeitsgrenze bei Freiheitsstrafen nicht so bemessen sein, dass die Ermessensermächtigung in der Praxis mangels anwendbarer Fallgestaltungen selbst auch keine Anwendung finden kann. Das Gericht sieht aus diesen Erwägungen eine Überschreitung der Bagatellgrenze um höchstens einen Monat als in der Praxis vorkommende und relevante Größenordnung noch als geringfügig an mit der Folge, dass bei zur Bewährung ausgesetzten und erlassenen Bewährungsstrafen von 4 Monaten eine Ermessensentscheidung zu treffen ist. Dies berücksichtigt die o.a. Erwägungen des Gesetzgebers (vgl. BT-DrS, aaO.), der die von der Innenministerkonferenz geforderte Halbierung der früheren Bagatellgrenzen von 6 auf 3 Monaten umsetzen wollte, immer noch, weil auch die hier so bestimmte Geringfügigkeitsgrenze immer noch erheblich unterhalb der früheren Bagatellgrenze liegt, dem Änderungsziel also auch insoweit Rechnung getragen wird. Der Umstand, dass in solchen Fällen Ermessen auszuüben ist, begründet zwar einen subjektiven Anspruch des Ausländers auf Ausübung des Ermessens und auf Ausschöpfung der Ermächtigung, zwingt im Normalfall die Behörde aber nicht, die Strafe im Ergebnis nicht zu berücksichtigen.
34 
Da die Verurteilung des Klägers eine Freiheitsstrafe auf Bewährung von 4 Monaten beinhaltete, war das Ermessen nach § 12a Abs. 1 S. 3 StAG eröffnet. Nachdem eine Ermessensentscheidung, wie ausgeführt, nach dem insoweit maßgeblichen Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums Stuttgart nicht getroffen worden ist, kann der Kläger eine Neubescheidung beanspruchen. Da dem Neubescheidungsanspruch die vorliegend angefochtenen Bescheide entgegenstehen, waren sie auszuheben.
35 
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gemäß § 162 Abs. 2 VwGO war die Hinzuziehung des Bevollmächtigten im Vorverfahren für notwendig zu erklären, weil dem Kläger sonst Chancengleichheit gegenüber den Fachbehörden verwehrt geblieben wäre.

Gründe

 
19 
Das Gericht konnte mit dem Einverständnis der Beteiligten ohne weitere mündliche Verhandlung entscheiden (§ 101 Abs. 2 VwGO).
20 
Die Klage ist zulässig und auch begründet. Der Kläger kann eine fehlerfreie erneute Bescheidung seines Einbürgerungsantrages unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts verlangen, die entgegen stehenden Bescheide sind aufzuheben (§ 113 Abs. 1 und 5 S. 2 VwGO).
21 
Anwendung findet vorliegend das StAG in seiner aktuellen Fassung des 2. Änderungsgesetzes zum Zuwanderungsgesetz vom 19.08.2007, da der Einbürgerungsantrag am 17.02.2009 und somit nach dem in § 40c vorausgesetzten Stichtag für die Geltung der §§ 8 bis 14 StAG in der jeweils günstigeren Fassung gestellt wurde. Daher kann die insoweit günstigere Regelung des § 12a Abs. 1 S. 1 Nr. 3 StAG 2004 - wonach Verurteilungen zu einer auf Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe bis zu 6 Monaten außer Betracht zu bleiben hatten -, keine Anwendung finden.
22 
Der Kläger kann die Anwendung der früheren günstigeren Fassung des § 12a StAG auch nicht unter dem Gesichtspunkt des Folgebeseitigungsanspruchs verlangen. Zwar hat das BVerwG (mit Urteil vom 19.08.1996, - 1 B 82/95 -, ) entschieden, dass die Behörde im Falle einer rechtswidrigen Ablehnung eines begünstigenden Verwaltungsaktes vor einer Rechtsänderung eine Folgenbeseitigungslast treffen kann, die sie verpflichtet, im Rahmen einer ihr möglichen Ermessensentscheidung zu berücksichtigen, dass sie einen Anspruch durch rechtswidriges Verhalten vereitelt hat, und die ihr Ermessen auf Null reduzieren kann. Die ablehnende Haltung des Beklagten - ein Verwaltungsakt wurde insoweit nicht erlassen -, die letztlich wohl zur Rücknahme des ersten Einbürgerungsantrages des Klägers aus dem Jahre 2006 geführt hatte, dürfte aber nicht als rechtswidrig anzusehen gewesen sein, weil die Voraussetzungen für die Einbürgerung des Klägers nach dem StAG 2004 nicht vorlagen.
23 
Zum einen hätte der Einbürgerung nach § 8 Abs. 1 Nr. 2 StAG 2004 Ausweisungsgrund nach § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG entgegen gestanden. Darunter fielen, wie die Vorläufigen Anwendungshinweise des Bundes - VAH - (2004) in Ziff. 8.1.1.2 zutreffend konkretisierten, Straftaten, die einen "nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen die Rechtsordnung" darstellten. Dabei mussten die Merkmale geringfügig und vereinzelt zusammen fallen, weil andernfalls auch eine vereinzelte schwere Straftat unter die Privilegierung gefallen wäre. Die vom Kläger begangene Straftat blieb zwar vereinzelt, da es sich um eine Vorsatztat handelte, konnte sie aber nicht als geringfügig gelten (vgl. BVerwG, Urteil vom 24.09.1996, - 1 C 9/94 -, zu § 46 Nr. 2 AuslG = § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG).
24 
Der Kläger hätte seinerzeit auch keinen Anspruch auf Einbürgerung nach § 10 StAG a.F. gehabt, weil die rechtmäßige Aufenthaltszeit von 8 Jahren im Jahre 2006 noch keinesfalls erfüllt war.
25 
Im Grundsatz begehrt der Kläger seine Einbürgerung in den deutschen Staatsverband. Der Kläger ist mit einer deutschen Staatsangehörigen verheiratet, es ist insoweit kein atypischer Fall gegeben. Mit Ausnahme der hier streitigen Voraussetzung nach § 8 Abs. 1 Nr. 2 iVm § 12a Abs. 1 StAG 2007 und der Klärung der Frage, ob sich der Kläger aus der bisherigen ghanaischen Staatsangehörigkeit entlassen lassen muss, kann vom Vorliegen der Einbürgerungsvoraussetzungen nach § 9 StAG ausgegangen werden.
26 
Da der Kläger vom Amtsgericht Backnang mit Urteil vom 03.06.2002 zu einer Freiheitsstrafe von 4 Monaten verurteilt worden war, die auf 2 Jahre zur Bewährung ausgesetzt und ihm mit Wirkung vom 23.07.2004 erlassen worden ist, hält ihm der Beklagten im Grundsatz zurecht entgegen, dass die Einbürgerungsvoraussetzungen nach § 8 Abs. 1 Nr. 2 StAG 2007 nicht erfüllt sind. Die Vorstrafe kann auch nicht nach § 12a Abs. 1 S. 1 Nr. 3 StAG 2007 außer Betracht bleiben, weil die Freiheitsstrafe das dort festgelegte Maß von bis zu drei Monaten um einen Monat überschritten hat.
27 
Der angefochtene Bescheid hat in der durch den Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums Stuttgart erlangten Fassung jedoch verkannt, dass das Ermessen nach § 12a Abs. 1 S. 3 StAG 2007 eröffnet war. Dabei ist zunächst ausdrücklich zu bemerken ist, dass der Ausgangsbescheid zutreffend davon ausgegangen war, dass Ermessen eröffnet ist und er hat dieses Ermessen wohl auch zutreffend und unter hinreichender Würdigung der Belange des Klägers ausgeübt. Diese Ermessensentscheidung ist jedoch durch den Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums Stuttgart überlagert worden, der ausdrücklich davon ausgegangen ist, dass kein Ermessen eröffnet ist. Da Gegenstand der Klage der ursprüngliche Bescheid in der Fassung ist, die er durch den Widerspruchsbescheid gefunden hat (vgl. § 79 Abs. 1 Nr. 1 VwGO), muss vorliegend vom Widerspruchsbescheid ausgegangen werden, wobei die Erwägungen, die der Beklagte im Rahmen der Erwiderung noch dargelegt hat, keine Heilung des Ermessensausfalls im Sinne von § 114 S. 2 VwGO darstellen kann, weil der Widerspruchsbescheid ausdrücklich eine Befugnis zur Ermessensbetätigung verneint hat.
28 
Nach § 12a Abs. 1 S. 3 StAG 2007 wird im Einzelfall entschieden, ob die Strafe oder die Summe der Strafen, die den Rahmen nach Satz 1 und 2 geringfügig übersteigt, außer Betracht bleiben kann. Demnach ist dieses sog. Nichtberücksichtigungsermessen eröffnet, wenn die zu berücksichtigende Strafe die Bagatellgrenze geringfügig überschreitet. Es handelt sich dabei um einen unbestimmten Rechtsbegriff, dessen Anwendung durch die Behörden der Exekutive der vollen gerichtlichen Kontrolle unterliegt.
29 
Allerdings hatte der Gesetzgeber, der bei der Änderung der Bagatellgrenzen im Rahmen der Novelle von 2007 der Auffassung der Innenministerkonferenz folgte, wonach die bisherigen Bagatellgrenzen als zu hoch empfunden wurden, weshalb sie nunmehr zu halbieren seien, die Vorstellung, dass der Begriff „geringfügig ... durch die Verwaltungsvorschrift präzisiert" werden solle (vgl. BT-DrS 16/5065 S. 230). Die VAH des Bundes in der Fassung vom 19. Oktober 2007 führen (insoweit inhaltsgleich auch die VAH des Landes Bad.-Württ. in der Fassung vom 01.09.2008) in Ziff. 21a.1.3 aus, dass eine geringfügige Überschreitung der Unbeachtlichkeitsgrenzen nicht mehr angenommen werden könne, wenn die Verurteilung bzw. die Summe der Verurteilungen die in Satz 1 genannten Höchstgrenzen um mehr als 21 Tagessätze bzw. drei Wochen Freiheitsstrafe überstiegen. Diese Vorläufigen Anwendungshinweise unterlagen jedoch keinerlei parlamentarischer Kontrolle durch den (Bundes- bzw. Landes-)Gesetzgeber, weshalb ihnen ein die Judikative bindender Charakter nicht zukommen kann (vgl. dazu auch Geyer in Handkommentar zum Ausländerrecht, Anm. 11 zu § 10 StAG). Daher bleibt es insoweit dabei, dass es sich bei dem Begriff "geringfügig" um einen unbestimmten Rechtsbegriff handelt, der voll der gerichtlichen Kontrolle unterliegt (vgl. zur Bedeutung der - nicht ermessenslenkenden - Verwaltungsvorschriften zum StAG auch VGH Bad.-Württ., Urteil vom 12.01.2005, - 13 S 2549/93 -, ).
30 
Maßstab für die Beurteilung der Geringfügigkeit ist die vom Gesetzgeber festgelegte Bagatellgrenze von 90 Tagessätzen für die Geldstrafe einerseits und von 3 Monaten für die Freiheitsstrafe andererseits. Dabei kann nicht von einer beliebigen Größenordnung ausgegangen werden, wie dies etwa vom VG Darmstadt mit seiner willkürlich erscheinenden Grenze von 10% Überschreitung des Strafrahmens angenommen wurde (vgl. Urteil vom 03.12.2008, - 5 K 1079/08.DA -, ).
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Die Festlegung der Bagatellgrenzen sowie die ausdrückliche Regelung in S. 2, 2. HS, sprechen dafür, dass dabei zunächst von einer Gleichwertigkeit von Geldstrafen nach Tagessätzen mit Freiheitsstrafen nach Monaten ausgegangen worden ist. Dies erlaubt jedoch nicht den Schluss, dass die für sich betrachtet womöglich rechtskonforme Festlegung der Geringfügigkeitsgrenze bei Geldstrafen auf eine Überschreitung um 21 Tagessätze dazu zwingen müsste, bei der Überschreitung der Bagatellgrenze Freiheitsstrafen ebenfalls 21 Tage - also 3 Wochen - festzulegen, genauso wenig, wie umgekehrt das Maß der noch geringfügigen Überschreitung der Freiheitsstrafe zu einer entsprechenden Festlegung von Tagessätzen bei der Geldstrafe führen müsste. Eine solche Gleichstellung verbietet sich schon nach dem StGB, das für Geldstrafen eine Mindeststrafe von 5 Tagessätzen (vgl. § 40 Abs. 1 S. 2), für Freiheitsstrafe aber eine Mindeststrafe von 1 Monat (vgl. § 38 Abs. 2), also unterschiedliche Strafrahmen vorsieht.
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Die Bestimmung der Geringfügigkeitsgrenze ist vielmehr für Geldstrafen einerseits und für Freiheitsstrafen andererseits getrennt vorzunehmen, wobei der Urteilspraxis der Strafgerichte eine besondere Bedeutung zukommen muss (a.A. offenbar VG Darmstadt, aaO.). Stellt sich nämlich die Festlegung der Geringfügigkeitsgrenze, wie sie in den Vorläufigen Anwendungshinweisen vorgenommen worden ist, als praxisfremd oder irrelevant heraus, so wäre sie ungeeignet , um dem Willen des Gesetzgebers Rechnung zu tragen. Dieser besteht ersichtlich darin, auch bei Überschreitung der Bagatellgrenze eine Einzelfallentscheidung zu ermöglichen, allerdings möchte er solche Fälle auf die mit geringfügigen Überschreitungen beschränken. Die Festlegung einer Geringfügigkeitsgrenze, die in der Rechtswirklichkeit keine Anwendung finden könnte, würde gegen diese Intention und damit gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen.
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Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat insoweit eingewandt, dass eine Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von 3 Monaten und 3 Wochen - dem entspräche wohl eine Verurteilung zu einer Einzelstrafe von 15 Wochen - in der Praxis nicht vorkomme. Zwar ist auch eine strafrechtliche Verurteilung nach vollen Wochen - gemäß § 39 StGB - rechtlich möglich. Die beim Justizministerium eingeholte amtliche Auskunft hat jedoch ergeben, dass eine nach Wochen bemessene Freiheitsstrafe in der Praxis wohl nur sehr selten vorkomme, sei es in der Form der Bemessung nach Wochen, sei es in der Form eines gemischten Ausspruchs. Dies gelte jedenfalls für Einzelstrafen. Bei der Bildung von Gesamtstrafen, die durch Erhöhung der höchsten Einzelstrafe gebildet werden (§§ 53, 54 StGB), komme die Strafbemessung nach Wochen eher vor. So liege es nicht fern, dass aus einer Freiheitsstrafe von vier Monaten und einer Freiheitsstrafe von drei Monaten eine Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Monaten und zwei Wochen gebildet werde. - Aus dieser Auskunft schließt das Gericht, dass eine oberhalb der Bagatellgrenze liegende Verurteilung zu einer Einzel-Freiheitsstrafe stets mindestens 4 Monate umfasst. Lediglich in Fällen, in welchen mehrere Verurteilungen aus kurzfristigen Freiheits- und/oder Geldstrafen zu einer Gesamtstrafe zusammengefasst oder - nach § 12a Abs. 1 S. 2 StAG - kumuliert werden, kann es womöglich und höchst ausnahmsweise zu einem "Betrag" kommen, der den von den Vorläufigen Anwendungshinweisen vorgegebenen Zeitraum von 3 Monaten und 3 Wochen einhält. Damit werden - zumindest unter dem Gesichtspunkt der Strafrechtspraxis - Ausländer mit mehreren Straftaten gegenüber solchen Ausländern privilegiert, die nur eine Straftat begangen haben, obwohl in beiden Fällen die Bagatellgrenze von 3 Monaten nicht eingehalten wird. Dies widerspricht nach Auffassung der erkennenden Kammer dem bereits dargelegten Willen des Gesetzgebers, den Behörden Einzelfallentscheidungen zu ermöglichen. Daher darf die Geringfügigkeitsgrenze bei Freiheitsstrafen nicht so bemessen sein, dass die Ermessensermächtigung in der Praxis mangels anwendbarer Fallgestaltungen selbst auch keine Anwendung finden kann. Das Gericht sieht aus diesen Erwägungen eine Überschreitung der Bagatellgrenze um höchstens einen Monat als in der Praxis vorkommende und relevante Größenordnung noch als geringfügig an mit der Folge, dass bei zur Bewährung ausgesetzten und erlassenen Bewährungsstrafen von 4 Monaten eine Ermessensentscheidung zu treffen ist. Dies berücksichtigt die o.a. Erwägungen des Gesetzgebers (vgl. BT-DrS, aaO.), der die von der Innenministerkonferenz geforderte Halbierung der früheren Bagatellgrenzen von 6 auf 3 Monaten umsetzen wollte, immer noch, weil auch die hier so bestimmte Geringfügigkeitsgrenze immer noch erheblich unterhalb der früheren Bagatellgrenze liegt, dem Änderungsziel also auch insoweit Rechnung getragen wird. Der Umstand, dass in solchen Fällen Ermessen auszuüben ist, begründet zwar einen subjektiven Anspruch des Ausländers auf Ausübung des Ermessens und auf Ausschöpfung der Ermächtigung, zwingt im Normalfall die Behörde aber nicht, die Strafe im Ergebnis nicht zu berücksichtigen.
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Da die Verurteilung des Klägers eine Freiheitsstrafe auf Bewährung von 4 Monaten beinhaltete, war das Ermessen nach § 12a Abs. 1 S. 3 StAG eröffnet. Nachdem eine Ermessensentscheidung, wie ausgeführt, nach dem insoweit maßgeblichen Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums Stuttgart nicht getroffen worden ist, kann der Kläger eine Neubescheidung beanspruchen. Da dem Neubescheidungsanspruch die vorliegend angefochtenen Bescheide entgegenstehen, waren sie auszuheben.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gemäß § 162 Abs. 2 VwGO war die Hinzuziehung des Bevollmächtigten im Vorverfahren für notwendig zu erklären, weil dem Kläger sonst Chancengleichheit gegenüber den Fachbehörden verwehrt geblieben wäre.

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