Vorbehaltsurteil vom Landgericht Bonn - 1 O 80/21
Tenor
1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 2.420.460,00 EUR nebst Zinsen in Höhe von neun Prozentpunkten über dem Basiszinssatz vom 4.6.2020 bis 17.6.2020 aus 2.677.500,00 EUR und seit dem 18.6.2020 aus 2.420.460,00 EUR zu zahlen.
2. Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
4. Der Beklagten bleibt die Ausführung ihrer Rechte im Nachverfahren vorbehalten.
1
Tatbestand:
2Die Parteien streiten im Urkundenprozess um Zahlungsansprüche der Klägerin aus einem mit der Beklagten im Rahmen der COVID-19-Pandemie geschlossenen Vertrag über die Lieferung von Atemschutzmasken.
3Im Rahmen eines sog. Open-House-Verfahrens veröffentlichte die Beklagte Ende März 2020 die Auftragsbekanntmachung mit der Referenznummer 333-2020-0110 im "Supplement zum Amtsblatt der Europäischen Union" für das europäische öffentliche Auftragswesen sowie in dessen Online-Version "Tenders Electronic Daily".
4In Ziffer II.2.4) der Auftragsbekanntmachung ist als spätester Liefertermin der 30. April 2020 genannt. Die Einreichung von Angeboten war bis zum Ablauf des 8. April 2020 möglich. Der Beitritt zum Open-House-Vertragssystem bzw. Abschluss des Open-House-Vertrags erfolgte ausweislich der Teilnahmebedingungen und Auftragsbekanntmachung durch Zuschlagserteilung.
5Abrufbar über einen Link in der Auftragsbekanntmachung waren u.a. die Aufforderung zur Angebotsabgabe, das Vertragsformular über die Lieferung von Schutzausrüstung sowie die Leistungsbeschreibung. Die Aufforderung zur Angebotsabgabe enthielt unter 3.1 einen Hinweis auf den genannten Liefertermin zum 30.04.2020.
6Der „Gegenstand des Vertrages“ ist in dem Vertragsformular über die Lieferung von Schutzausrüstung unter § 1 S. 1 zunächst wie folgt definiert:
7„Gegenstand des Vertrages ist die Lieferung von Produkten folgender Produktgruppe(n):
81. FFP2 Masken Menge in Stück: Klicken Sie hier, um Text einzugeben
92. OP-Masken Menge in Stück: Klicken Sie hier, um Text einzugeben
103. Schutzkittel Menge in Stück: Klicken Sie hier, um Text einzugeben
11Der Auftragnehmer konnte insoweit lediglich die zu liefernde Stückzahl eingeben.
12§ 2 Ziffer 2.1 lautet unter der Überschrift „Vertragsbestandteile“ wie folgt:
13„Folgende Unterlagen und Bestimmungen sind in Ergänzungen der Regelungen dieses Vertrages Bestandteile des Vertragsverhältnisses:
14a. die Leistungsbeschreibung mit den Stückpreisen für die einzelnen Produktgruppen Anlage 1“
15(einen entsprechenden Buchstaben b. weist das Vertragsdokument nicht auf)
16§ 3 Ziffer 3.1 lautet wie folgt:
17„Die von dem AN zu liefernden Produkte einer Produktgruppe i.S.d. § 1 dieses Vertrags werden durch die Leistungsbeschreibung (Anlage 1) näher bestimmt.“
18In der Leistungsbeschreibung wurde hinsichtlich der Produktgruppen „FFP 2 Masken“, „OP-Masken“ und „Schutzkittel“ unterschieden.
19Hinsichtlich ersterer heißt es dort:
20„FFP2 Masken
21Beschreibung:
22- Atmungsaktives Design, das nicht gegen den Mund zusammenfällt (z.B. Entenschnabel, becherförmig)
- Versehen mit einer Metallplatte an der Nasenspitze
- Kann wiederverwendbar* (aus robustem Material, das gereinigt und desinfiziert werden kann) oder Einwegartikel sein
Normen/Standards:
24 Atemschutzgerät "N95" gemäß FDA Klasse II, unter 21 CFR 878.4040, und CDC NIOSH, oder "FFP2" gemäß EN 149 Verordnung 2016/425 Kategorie III
25oder gleichwertige Normen, auch KN95 (CHN)“
26Weiter war in der Leistungsbeschreibung ein Preis pro Maske in Höhe von 4,50 EUR netto vorgesehen.
27Zudem finden sich in dem o.g. Vertragsformular insbesondere die folgenden weiteren Regelungen:
28In § 3 Ziffer 3.2 heißt es zur Lieferung:
29„Die Lieferung der Produkte hat an die Y & Co. KG […] während der üblichen Geschäftszeiten zu erfolgen; […]. Die Lieferung ist der Y & Co. KG in Textform mit einer Frist von mindestens drei Kalendertagen vor dem Liefertermin anzukündigen. Spätester Liefertermin ist der 30.04.2020 innerhalb der Geschäftszeiten gemäß S.1. Bei Nichteinhaltung des spätesten Liefertermins entfallen die gegenseitigen Pflichten der Vertragspartner; eine verspätete Lieferung stellt keine Erfüllung des Vertrages durch den AN dar (absolutes Fixgeschäft).“
30§ 5 Ziffer 5.1 bestimmt in Bezug auf die Zahlung:
31„Der AG zahlt die vereinbarte Vergütung bargeldlos binnen einer Woche nach erfolgter Lieferung und Eingang einer den Vorschriften des Umsatzsteuerrechts entsprechenden Rechnung bei der Y & Co. KG […] auf das von dem AN angegebene Konto.“
32Unter § 6 und der Überschrift „Mängelansprüche“ finden sich in den Ziffern 6.1 und 6.2 die folgenden Regelungen:
33„6.1 Für Sach- und Rechtsmängelansprüche gelten die gesetzlichen Vorschriften, soweit nachfolgend nichts anderes bestimmt ist.
346.2 Eine Untersuchungs-/Rügeobliegenheit des AG beschränkt sich auf Mängel, die nach der Ablieferung unter äußerlicher Begutachtung offen zu Tage treten (z.B. Transportbeschädigungen, Falsch- und Minderlieferungen). Eine Rüge/Mängelanzeige gilt als unverzüglich und rechtzeitig, wenn sie innerhalb von sieben Kalendertagen beim AN eingeht.“
35Ferner heißt es dort unter § 7 Ziffer 7.1 des Vertrages:
36„Der Vertrag tritt mit Zuschlagserteilung des AG auf das im Open-House-Verfahren abgegebene Angebot des AN in Kraft und endet mit Ablauf des 30.04.2020. Die durch eine innerhalb der Vertragslaufzeit erfolgte Lieferung begründeten Rechte und Pflichten […] bestehen [...] fort.“
37Die Schutzmasken sollten im Anschluss an die Beschaffung durch die Beklagte an die Bundesländer und Kassenärztlichen Vereinigungen weitergegeben werden.
38Die Klägerin unterbreitete der Beklagten am 08.04.2020 ein Angebot über die Lieferung von 500.000 Schutzmasken. Mit Schreiben vom 10.04.2020 erteilte die Beklagte über die Generalzolldirektion den entsprechenden Zuschlag.
39Die für den 30.04.2020 avisierte Lieferung der 500.000 Schutzmasken erfolgte nach zweimaliger Verschiebung des Liefertermins wegen Engpässen bei den anzunehmenden Spediteuren der Beklagten und auf deren Anordnung letztlich am 11.05.2020.
40Für die Schutzmasken stellte die Klägerin der Beklagten durch Schreiben vom 08.05.2020 einen Betrag in Höhe von 2.677.500,00 EUR in Rechnung (Anlage K10).
41Am 18.06.2020 zahlte die Beklagte an die Klägerin 257.040,00 EUR.
42Hintergrund der nicht erfolgten vollständigen Zahlung war eine Prüfung der angelieferten Ware durch die X GmbH (im Folgenden „X"). Dabei lief das Prüfungsverfahren vor dem Hintergrund, dass es zur Zeit des Ausbruchs der COVID-Pandemie nicht genügend Schutzmasken gab, die das Konformitätsbewertungsverfahren vollständig durchlaufen hatten und auf dem deutschen Markt verkehrsfähig gewesen wären, wie folgt ab: Die Zentralstelle der Länder (nachfolgend: „ZLS“) passte das von der europäischen Norm EN 149 vorgesehene Prüfverfahren auf Grundlage der am 13.03.2020 von der EU-Kommission herausgegebenen „Empfehlung der Europäischen Kommission 2020/403 über Konformitätsbewertungs- und Marktüberwachungsverfahren im Kontext der COVID-19-Bedrohung“ an und erstellte infolge dessen den Prüfgrundsatz für Corona SARS-Cov-2 Pandemie Atemschutzmasken (nachfolgend „CPA-Prüfgrundsatz“). Die Beklagte entschied sich sodann, das Prüfverfahren auf Basis des CPA-Prüfgrundsatzes zu modifizieren und insbesondere auf diejenigen Kriterien zu beschränken, die ihrer Auffassung nach für die Verwendung der Schutzmasken insbesondere im medizinischen Bereich essentiell sind (nachfolgend „modifizierter CPA-Prüfgrundsatz“). Diese Modifikation erfolgte durch das BMG in Abstimmung mit dem Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte („BfArM"). Zur Durchführung der erforderlichen Prüfung benannte die Beklagte den X einschließlich seiner Gruppengesellschaft der Q GmbH & Co. KG (Q).
43Die Beklagte führte im Rahmen dieses Prüfverfahrens nach dem von ihr entwickelten modifizierten CPA-Prüfgrundsatz zunächst eine Sensorikprüfung in Form einer sog. Sicht- und Anlegeprüfung durch, im Rahmen derer der X u.a. Passform (Dichtsitz), Befestigung der Fixierbänder sowie Geruch begutachtete. Hieran schloss sich im Falle des Bestehens der Prüfung – an anderen Prüfexemplaren – eine Laborprüfung an, die neben Elementen, die bereits Gegenstand der Sensorikprüfung waren (z.B. Dichtsitz der Schutzmasken und Stabilität der Bänder im Rahmen einer sog. Anlegeprüfung) insbesondere die Prüfung des Atemwiderstandes und des Filterdurchlasses der Schutzmasken umfasste. Im Rahmen der Atemwiderstandsprüfung wird gemessen, wie sehr die Atmung des Trägers aufgrund der Dichtigkeit der Maske beeinträchtigt wird, und bei der Filterdurchlassprüfung, ob die Schutzmasken die Anforderungen an die Dichtigkeit als Schutz gegen den Durchlass von schädlichen Partikeln (hier Tröpfchen oder Aerosole als Träger der Corona-Viren) erfüllen.
44Dabei unterscheiden sich die vereinbarten Standards der europäischen Norm EN 149 für FFP2 Masken und der chinesischen Norm für KN95 Masken sowohl im Hinblick auf den zulässigen Durchlassgrad, als auch die bei den Filterdurchlasstests anzuwendenden Prüfbedingungen. Während FFP2-Schutzmasken gemäß Ziffer 7.9.2 der EN 149 bei einem Luftstrom von 95 l/min einen Durchlassgrad von maximal 6 % aufweisen müssen, dürfen chinesische KN95-Schutzmasken bei einem Luftstrom von 85 l/min den Durchlassgrad von 5 % nicht überschreiten. Auch können FFP2-Schutzmasken sowohl mit paraffinölhaltigen Aerosolen als auch Natriumchlorid getestet werden, wohingegen bei KN95-Schutzmasken lediglich Prüfungen mit Natriumchlorid zulässig sind.
45Bei der Auswertung der Durchlassprüfung implementierte die Beklagte infolge des Umstands, dass KN95 Schutzmasken bei X-Prüfungen einem anderen Luftfluss ausgesetzt werden, als für KN95-Masken vorgesehen ist, einen Toleranzbereich von einem Filterdurchlassgrad von 15%, innerhalb dessen die Masken nicht zum Gegenstand von Mängelansprüchen gemacht wurden.
46Für die Zusammenstellung der zu prüfenden Stichprobe entnahm der X grundsätzlich pro Avis-Nummer jeweils drei Verpackungseinheiten von unterschiedlichen Paletten, die abhängig vom Hersteller eine unterschiedliche Anzahl von Exemplaren enthielten. Im Rahmen der Sensorikprüfung untersuchte der X an drei bis zehn Exemplaren, ob die Schutzmasken den Anforderungen genügten. Im Labor wurden mindestens drei Exemplare durch drei Testpersonen einer Anlegeprüfung unterzogen. Bei nicht eindeutigen Ergebnissen bzw. Prüfkriterien in Sensorik- und Anlegeprüfung im Labor griff der X auf weitere Prüfexemplare zurück. Da die Anlegeprüfung mit Hautkontakt sowie menschlicher Beatmung einherging, wurden sowohl die Atemwiderstands als auch die Durchlassprüfung anhand von jeweils zwei weiteren Exemplaren durchgeführt, sodass insgesamt mindestens sieben, ggf. aber auch mehr Exemplare im Rahmen der Laborprüfung getestet wurden.
47Mit E-Mail vom 18.06.2020 (Anlage B9) rügte die Beklagte die behauptete Mangelhaftigkeit eines großen Teils der gelieferten Schutzmasken und erklärte insoweit den Rücktritt vom Vertrag. In der E-Mail vom 18.06.2020 heißt es auszugsweise:
48„Folgende Mängel mussten wir feststellen:
49Sensorikprüfung:
50- Avis Nr. $$### #########-#########: Form- und Tragetest nicht bestanden (verschiedene Maskentypen; mindestens ein Maskentyp am Nasenclip fehlerhaft); 240.000 Masken
51- Avis Nr. $$#### #########-#########: Form- und Tragetest nicht bestanden (verschiedene Maskentypen; mindestens ein Maskentyp am Nasenclip fehlerhaft); 16.000 Masken
52- Avis Nr. $$#### #########-#########: Form- und Tragetest nicht bestanden (verschiedene Maskentypen; mindestens ein Maskentyp am Nasenclip fehlerhaft); 196.000 Masken“
53Wegen vorstehend näher bezeichneter Mangelhaftigkeit eines Teiles Ihrer Lieferung erklären wir hiermit den
54R ü c k t r i t t
55vom mangelbehafteten Teil des mit Ihnen geschlossenen Vertrages hinsichtlich der erhaltenen Lieferung.“
56Die von der Beklagten beauftragte Rechtsanwaltskanzlei Z GmbH erklärte mit Schreiben vom 29. Juni 2020 (Anlage B10) vorsorglich nochmals den Teilrücktritt. In dem Schreiben heißt es auszugsweise:
57„Die von Ihrer Mandantin unter der Avis-Nr./HU-Nummer $$####/#########-######### gelieferten KN95 (CHN) Masken des Herstellers A Co. Ltd. (240.000 Stück), unter der Avis-Nr./HU-Nummer $$####/#########-########## gelieferten KN95 (CHN) Masken des Herstellers A Co. Ltd. (196.000 Stück) sowie unter der Avis-Nr./HU-Nummer $$####/#########-######### gelieferten KN95 (CHN) Masken des Herstellers C Co., Ltd. (16.000 Stück) entsprechen nicht den vertraglichen Anforderungen. Ausweislich der als Anlagenkonvolut 2 beigefügten Gutachten haben die jeweiligen Masken die Qualitätsprüfungen nicht bestanden. Die Masken erfüllen nicht die an KN95 (CHN) Masken gestellten Anforderungen. Die Masken haben die Anlegeprüfung nicht bestanden und der Nasenclip der Masken ist zu schwach, um die Maske am Gesicht bündig zu halten. Daher wurde bereits mit E-Mail unserer Mandantin vom 18.06.2020 der Rücktritt erklärt. Rein vorsorglich erklären wir namens und im Auftrag unserer Mandantin erneut den
58RÜCKTRITT
59von den zwischen Ihrer und unserer Mandantin geschlossenen Verträgen betreffend die vorstehend genannten mangelhaften Teillieferungen.“
60Die Klägerin ist der Ansicht, die von der Beklagten vorgelegten Prüfprotokolle seien nicht geeignet, im Urkundsverfahren den Nachweis der Mangelhaftigkeit der Masken zu erbringen. Insoweit bestreitet die Klägerin, dass die getesteten Masken den gelieferten entsprechen. Sie ist ferner der Ansicht, für den Fall, dass man einen Mangel unterstelle, dass die Ware wegen Verletzung der gesetzlichen (§ 377 Abs. 3 HGB) und vertraglichen (§ 242 BGB) Rügeobliegenheit als mangelfrei gelte, weil die Beklagte die bereits Mitte Mai von den Prüfern festgestellten angeblichen Mängel erst im Mitte Juni gerügt habe. Zudem scheitere ein Anspruch daran, dass die Beklagte der Klägerin vor dem Rücktritt keine Nachfrist gesetzt habe, obwohl sie hierzu gem. §§ 437 Nr. 2, 323 Abs. 2 BGB verpflichtet gewesen sei. Es läge insbesondere weder ein absolutes noch ein relatives Fixgeschäft vor.
61Die Klägerin beantragt,
62die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 2.420.460,00 € nebst 9 % Zinsen über Basiszins nach § 247 BGB vom 4.6.2020 bis 17.6.2020 aus 2.677.500,00 € und seit dem 18.6.2020 aus 2.420.460,00 € zu zahlen.
63Die Beklagte beantragt,
64die Klage abzuweisen; hilfsweise im Falle eines klagestattgebenden Vorbehaltsurteils zu gestatten, ihre Rechte im Nachverfahren geltend zu machen.
65Die Beklagte ist der Auffassung, sie sei wirksam vom Vertrag zurückgetreten, da die von der Klägerin gelieferten Masken unter der Avis-Nummer $$#### und $$#### mangelhaft seien.
66Ferner ist sie der Ansicht, § 377 HGB finde in Ermangelung eines beiderseitigen Handelsgeschäfts keine Anwendung.
67Die Beklagte ist zudem der Auffassung, eine Nachfristsetzung sei entbehrlich gewesen, da es sich vorliegend um ein relatives Fixgeschäft handele und im Übrigen zudem besondere Umstände vorgelegen hätten.
68Entscheidungsgründe:
69Die im Urkundenverfahren statthafte Klage ist zulässig und begründet.
70Die Klägerin hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Zahlung eines Betrages in Höhe von 2.420.460,00 EUR aus dem zwischen dem Parteien geschlossenen sog. Open-House-Vertrag i.V.m. § 433 Abs. 2 BGB.
71I.
72Die Klage ist gemäß § 592 ZPO im Urkundenprozess statthaft.
73Der geltend gemachte Anspruch hat die Zahlung eines vereinbarten Kaufpreises und damit einer bestimmten Geldsumme zum Gegenstand. Zudem sind sämtliche zur Begründung des Anspruchs erforderlichen Tatsachen (Abschluss des Kaufvertrags, Ablieferung, Rechnungsstellung) unstreitig. Im Übrigen erfüllt die Klägerin auch die vom BGH geforderte Voraussetzung, dass selbst wenn die anspruchsbegründenden Tatsachen unstreitig sind, mindestens eine Urkunde vorgelegt werden muss (BGH, Urteil vom 24. 4. 1974 - VIII ZR 211/72, NJW 1974, 1199), indem die Klägerin u.a. den Vertrag über die Lieferung von Schutzausrüstung (Anlage K4) und das Bestätigungsschreiben über den Zuschlag (Anlage K5) als Urkunde vorgelegt hat.
74II.
75Die Klage ist begründet.
761.
77a)
78Mit den zwischen den Parteien geschlossenem sog. Open-House-Vertrag über insgesamt 500.000 Atemschutzmasken hat die Beklagte sich zu Zahlung eines Kaufpreises in Höhe von 4,50 EUR netto zzgl. 19% Umsatzsteuer pro Schutzmaske verpflichtet.
79Die Lieferung dieser Schutzmasken ist durch die Klägerin erfolgt. Diese Anspruchsvoraussetzungen hat die Klägerin – soweit überhaupt zwischen den Parteien streitig – mit den im Urkundenprozess zulässigen Beweismitteln vollständig geführt.
80b)
81Die Beklagte ist nicht gemäß der §§ 437 Nr. 2, 323 Abs. 2 Nr. 2, 346, 433, 434 Abs. 1 S. 1 BGB wirksam von dem zwischen den Parteien geschlossenen Vertrag zurückgetreten.
82Die Beklagte hat mit E-Mail vom 18.06.2020 (Anlage B9) den Teilrücktritt vom Kaufvertrag nach § 349 BGB gegenüber der Klägerin betreffend der von der Beklagten behaupteten Mangelhaftigkeit eines großen Teils der gelieferten Schutzmasken erklärt. Allerdings ist in dem hier statthaften Urkundenprozess der insoweit beweisbelasteten Beklagten der Beweis des Vorliegens der Voraussetzungen für einen wirksamen Rücktritt vom Kaufvertrag nicht gelungen.
83Es fehlt bereits an dem Nachweis durch Urkunden, dass die von der Klägerin gelieferten Schutzmasken mangelhaft im Sinne von § 434 Abs. 1 S. 1 BGB sind.
84Die Klägerin hat hinreichend bestritten, dass die von ihr gelieferten Schutzmasken tatsächlich mit den von der Beklagten mit den Prüfberichten (Anlage K13, K14, K15, B8) geprüften Schutzmasken übereinstimmen.
85Der Beweis dieser richtigen Zuordnung ist der Beklagten mit den hier vorgelegten Prüfberichten nicht gelungen. Denn die von der Beklagten für die Mangelhaftigkeit der Schutzmasken angeführten Prüfberichte sind nicht geeignet, zu beweisen, dass tatsächlich und ausschließlich die von der Klägerin angelieferten Schutzmasken dieser Prüfung zu Grunde lagen. So führen die Prüfberichte bereits nicht die Klägerin als Lieferantin auf. Losgelöst von der Frage, ob die in englischer Sprache in den Prozess eingeführten Prüfberichte Urkunden im Sinne von §§ 592 ff. ZPO darstellen, so sind diese Berichte in jedem Fall nicht geeignet, zu beweisen, dass tatsächlich die von der Klägerin gelieferten Schutzmasken von der Beklagten geprüft worden sind und die in den Prüfberichten erfassten Eigenschaften beinhalten.
86Neben der fehlenden Zuordnungsmöglichkeit beweisen die Prüfprotokolle auch die für einen wirksamen Rücktritt erforderliche Mangelhaftigkeit der streitgegenständlichen Schutzmasken nicht. Denn zwischen den Parteien unstreitig hat die Beklagte die Masken anhand des sog. CPA-Prüfgrundsatzes geprüft und dabei nicht ausschließlich den vertraglich vereinbarten Standard für KN95-Schutzmasken zugrunde gelegt. Mit den von der Beklagten vorgelegten Prüfprotokollen ist nicht bewiesen, dass dieser angewandte CPA-Prüfgrundsatz weniger streng als der für KN95-Schutzmasken relevante Standard ist und die einzelnen Voraussetzungen des zwischen den Parteien vertraglich vereinbarten Standards tatsächlich nicht erfüllt sind. Die Prüfberichte enthalten keine Angaben zu den einzelnen Prüfschritten des Prüfverfahrens und der Geeignetheit zur Überprüfung der Voraussetzungen des vertraglich vereinbarten Standards, was die Klägerin auch in zulässigerweise bestritten hat.
87Die Prüfberichte des Xs, die nach Auffassung der Kammer mit einem Privatgutachten zu vergleichen sind und unstreitig den CPA-Prüfgrundsatz und nicht den Standard KN95 zugrunde legen, können auch nicht als unparteiliches Prüfgutachten zu der Frage der Mangelhaftigkeit der streitgegenständlichen Schutzmasken bewertet werden. Insoweit bedarf es für die Beurteilung der streitigen Frage der Mangelhaftigkeit der Schutzmasken der Einholung eines Gutachtens durch einen gerichtlich bestellten Sachverständigen, was jedoch in dem hier entscheidenden Urkundenverfahren kein statthaftes Beweismittel ist.
88Da die Voraussetzungen für einen wirksamen Rücktritt nach §§ 437 Nr. 2, 323 Abs. 2 Nr. 2, 346, 433, 434 Abs. 1 S. 1 BGB bereits aufgrund des fehlenden Beweises der Mangelhaftigkeit der streitgegenständlichen Schutzmasken nicht vorliegen, kommt es auf die streitigen (Rechts-)Fragen der Entbehrlichkeit der Fristsetzung zur Nacherfüllung, einer verspäteten Rüge der Beklagten oder die Verletzung von vertraglichen Nebenpflichten nicht weiter an.
893.
90Der Zinsanspruch folgt aus Verzug, §§ 288 Abs. 1, 2, 286 Abs. 1 BGB.
91Der Zeitraum ist wie beantragt der 4.6.2020 bis 17.6.2020 für den Betrag aus 2.677.500,00 EUR. Gem. § 5 Ziffer 5.1 des Vertrages war der Kaufpreis in Höhe von 2.677.500,00 EUR jeweils eine Woche nach der (vollständigen) Lieferung am 11.05.2020 fällig und damit vor dem von der Klägerin beantragten Datum. Da die Beklagte am 18.06.2020 an die Klägerin einen Betrag in Höhe von 257.040,00 EUR zahlte, kann die Klägerin seit dem 18.06.2020 Zinsen aus einem Betrag in Höhe von 2.420.460,00 EUR verlangen.
92II.
93Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 91 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 4, 711 ZPO.
94III.
95Streitwert: 2.420.460,00 EUR
Verwandte Urteile
Keine verwandten Inhalte vorhanden.
Referenzen
- BGB § 437 Rechte des Käufers bei Mängeln 3x
- BGB § 323 Rücktritt wegen nicht oder nicht vertragsgemäß erbrachter Leistung 3x
- BGB § 346 Wirkungen des Rücktritts 2x
- BGB § 433 Vertragstypische Pflichten beim Kaufvertrag 2x
- BGB § 434 Sachmangel 3x
- §§ 592 ff. ZPO 1x (nicht zugeordnet)
- BGB § 288 Verzugszinsen und sonstiger Verzugsschaden 1x
- BGB § 2 Eintritt der Volljährigkeit 1x
- BGB § 286 Verzug des Schuldners 1x
- BGB § 242 Leistung nach Treu und Glauben 1x
- BGB § 247 Basiszinssatz 1x
- HGB § 377 2x
- BGB § 349 Erklärung des Rücktritts 1x
- VIII ZR 211/72 1x (nicht zugeordnet)