Beschluss vom Landgericht Nürnberg-Fürth - 12 Qs 57/21

Tenor

1. Auf die sofortige Beschwerde des Angeklagten wird der Beschluss des Amtsgerichts Fürth vom 23. März 2021 aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung über den Einspruch des Angeklagten vom 17. März 2021 gegen den Strafbefehl des Amtsgerichts Fürth vom 11. Februar 2021 an das Amtsgericht Fürth zurückverwiesen.

2. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die insoweit dem Angeklagten entstandenen notwendigen Auslagen trägt die Staatskasse; die Kosten der Wiedereinsetzung hat er selbst zu tragen.

Gründe

I.

Das Amtsgericht Fürth erließ gegen den Angeklagten - einen polnischen Staatsbürger mit Wohnsitz in …, Polen - am 11. Februar 2021 einen Strafbefehl wegen Diebstahls, der eine Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu 40 € vorsah. Der Strafbefehl samt Übersetzung in die polnische Sprache wurde am 3. März 2021 an den vom Angeklagten benannten Zustellungsbevollmächtigten, PHK P. von der Polizeiinspektion F., zugestellt. Der Angeklagte selbst erhielt den Strafbefehl am 5. März 2021.

Mit Schreiben vom 17. März 2021, beim Amtsgericht Fürth eingegangen am 23. März 2021, legte der Angeklagte einen auf die Rechtsfolge beschränkten Einspruch gegen den Strafbefehl ein. Noch am selben Tag verwarf das Amtsgericht den Einspruch als unzulässig, weil verspätet. Die Einspruchsfrist sei am 17. März um 24.00 Uhr abgelaufen.

Zum 1. April 2021 trat PHK P. in den Ruhestand. Am 15. April 2021 wurde die an ihn adressierte polnische Übersetzung des Verwerfungsbeschlusses an PHM S. bei der Polizeiinspektion F. zugestellt. Gegen diesen Beschluss wandte sich der Angeklagte mit Schreiben vom 22. April 2021, beim Amtsgericht Fürth eingegangen am 27. April 2021. Darin legte er „Berufung“ ein und beantragte, den Einspruch „zuzulassen und die Frist wieder in Gang zu setzen“. Zur Begründung führte er aus, er sei mit dem deutschen Recht nicht vertraut und sei davon ausgegangen, dass die am 17. März 2021 ablaufende Frist gewahrt werde, wenn er (spätestens) an diesem Tag seinen Einspruch abschicke. So sei nämlich die Rechtslage in Polen.

Das Amtsgericht gewährte unter dem 2. August 2021 keine Wiedereinsetzung und half der sofortigen Beschwerde nicht ab. Die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth beantragte in ihrer Zuschrift, die sofortige Beschwerde als unzulässig zu verwerfen.

II.

Die zulässige sofortige Beschwerde ist begründet.

1. Gegen den den Einspruch verwerfenden Beschluss ist die sofortige Beschwerde statthaft (§ 411 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 StPO). Sie ist form- und insbesondere auch fristgerecht eingelegt worden.

a) Die Zustellung des Beschlusses war unwirksam und konnte daher die Wochenfrist des § 311 Abs. 2 mit § 35 Abs. 2 Satz 1 StPO nicht in Gang setzen. Der Angeklagte hatte PHK P. als Zustellungsbevollmächtigten benannt. Die Zustellung des Beschlusses ist aber nicht an ihn, sondern an PHM S. erfolgt. Diesen hatte der Angeklagte nicht ausdrücklich zur Entgegennahme von Schriftstücken bevollmächtigt, sodass an ihn auch nicht wirksam zugestellt werden konnte.

In diesem Zusammenhang wird vertreten, dass der Angeklagte regelmäßig kein Interesse daran habe, die Zustellungen an eine bestimmte Person in der Justiz bewirken zu lassen. Daher sei die Vollmacht so auszulegen, dass der Vertreter oder Nachfolger im Amt ebenfalls zum Empfang bevollmächtigt seien; jedenfalls sei von einer stillschweigenden Unterbevollmächtigung des Vertreters oder Nachfolgers analog § 167 BGB auszugehen (Niesler in BeckOK-StPO, 39. Ed., Stand 01.01.2021, § 132 Rn. 12). Diese Auffassung teilt die Kammer nicht.

aa) Allerdings hat die Kammer keine grundsätzlichen Bedenken (entgegen LG Berlin, Beschluss vom 3. November 2011 - 526 Qs 22/11, juris; dazu auch Gleß in Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl., § 132 Rn. 14 m.w.N.) gegen die Bestellung eines Polizeibeamten als Zustellungsbevollmächtigten.

bb) Dem Angeklagten obliegt nach der Erteilung der Zustellungsvollmacht, selbst dafür zu sorgen, dass der Bevollmächtigte ihn zuverlässig unterrichten kann. Gegebenenfalls muss er sich beim Bevollmächtigten über den etwaigen Eingang von Schriftstücken informieren (BayObLG, Beschluss vom 19. Juni 1995 - 4St RR 102/95, juris Rn. 11; LG Dresden, Beschluss vom 10. Januar 2017 - 3 Qs 105/16, juris Rn. 22). Um diese eventuell notwendige Kommunikation sicherzustellen, muss der Bevollmächtigte als Ansprechpartner des Angeklagten diesem namentlich bekannt oder für ihn leicht identifizierbar sein (Herrmann in SSW-StPO, 4. Aufl., § 116a Rn. 24 m.N.). Der Angeklagte muss wissen, an wen er sich wenden muss. Das ist nicht gewährleistet, wenn er - wie hier - einen bestimmten Polizeibeamten bevollmächtigt, Zustellungen aber ebenso an andere, dem Angeklagten unbekannte Beamte wirksam erfolgen könnten (im Ergebnis ebenso AG Ludwigshafen, Beschluss vom 9. Juni 2010 - 5489 Js 10962/10 - 4c OWi, juris Rn. 5; Schultheis in KK-StPO, 8. Aufl., § 127a Rn. 6; unter Betonung des Vertrauensaspekts Kulhanek, Die Sprach- und Ortsfremdheit von Beschuldigten in Strafverfahren, 2019, S. 129).

Eine Unterbevollmächtigung des Nachfolgers durch den ausgeschiedenen Bevollmächtigten analog § 167 BGB scheidet daher ebenfalls aus. Die aufgezeigte Interessenlage des Angeklagten - er ist es, der den Bevollmächtigten überhaupt zur Unterbevollmächtigung ermächtigen müsste (Palandt/Ellenberger, BGB, 80. Aufl., § 167 BGB Rn. 12) - steht der Auslegung entgegen, der Bevollmächtigte dürfe Untervollmachten erteilen. Eine gegebenenfalls dem zuwider vom Bevollmächtigten eigenmächtig erteilte Untervollmacht wäre wegen § 180 Satz 1 BGB unwirksam.

cc) Nichts anderes ergibt sich daraus, dass das vom Angeklagten unterzeichnete polizeiliche Formular hinter der Zeile „Als Bevollmächtigten für Zustellungen im Inland benenne ich unwiderruflich…“ eine hochgestellte „5“ als Fußnote aufweist. Auf der Rückseite des Formulars wird zu der Fußnote ausgeführt: „Soweit eine Amtsperson als Zustellungsbevollmächtigter für Zustellungen benannt wird, ermächtigt der Beschuldigte mit seiner Unterschrift im Verhinderungsfalle dessen Vertreter ebenso zur Entgegennahme von Zustellungen“. Die Voraussetzungen dieser Klausel sind nicht gegeben. Es liegt kein Verhinderungs- oder Vertretungsfall vor, denn der Bevollmächtigte ist aus dem aktiven Dienst geschieden; es handelt sich vielmehr um einen von der Klausel nicht geregelten Nachfolgefall.

dd) Da die Zustellung bereits aus den genannten Gründen unwirksam war, muss die Kammer nicht vertiefen, ob die Benennung des Zustellungsbevollmächtigten auch deshalb unwirksam gewesen sein könnte, weil das entsprechende Formular dem des Deutschen kaum mächtigen Angeklagten nicht in seiner Muttersprache, sondern nur auf deutsch vorgelegt worden ist. Die Zustellungsvollmacht bedarf bei Sprachunkundigen der Übersetzung (LG Berlin, Beschluss vom 3. November 2011 - 526 Qs 22/11, juris Rn. 19; Schultheis in KK-StPO, 8. Aufl., § 127a Rn. 6; Kulhanek, JR 2016, 207, 212).

b) Tatsächlich hat der Angeklagte, wie sein Wiedereinsetzungsantrag vom 22. April 2021 zeigt, von dem Verwerfungsbeschluss Kenntnis erhalten, sodass der aufgezeigte Zustellungsmangel geheilt wurde (§ 37 Abs. 1 StPO mit § 189 ZPO). Das Datum des tatsächlichen Zugangs als fristauslösendes Ereignis ist der Akte allerdings nicht zu entnehmen, sodass von einer Verfristung der sofortigen Beschwerde nicht ausgegangen werden kann.

2. Die sofortige Beschwerde ist auch begründet. Dem Angeklagten ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, da er ohne sein Verschulden an der Einhaltung der zweiwöchigen Frist zur Einlegung des Einspruchs gegen den Strafbefehl gehindert war (§ 44 Satz 1 StPO).

a) Der Angeklagte hat die Einspruchsfrist versäumt. Er gibt in seinem Einspruchsreiben vom 17. März 2021 selbst an, den Strafbefehl am 5. März 2021 erhalten zu haben. Das ist zwar mit der von der Kammer eingeholten Auskunft der Polizeiinspektion F. kaum zu vereinbaren, wonach PHK P. den Strafbefehl am 5. März 2021 zur Post an den Angeklagten gegeben habe. Es ist aber mangels besserer Erkenntnis von der Kammer so hinzunehmen. Damit ist der beim Amtsgericht Fürth erst am 23. März 2021 eingegangene Einspruch verfristet.

b) Diese Verspätung war aber nicht verschuldet i.S.d. § 44 Satz 1 StPO. Gemäß der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH, Urteil vom 15. Oktober 2015 - C-216/14, juris Rn. 52 ff.) ist der in einem anderen Mitgliedstaat wohnende Adressat eines Strafbefehls bei Zustellungsbevollmächtigung so zu stellen, dass ihm die volle Frist für den Einspruch zur Verfügung steht, gegebenenfalls durch die Gewährung einer Wiedereinsetzung (EuGH, Urteil vom 22. März 2017 - C-124/16 u.a., juris Rn. 51). Nachdem der Angeklagte den Strafbefehl am 5. März 2021 erhalten hatte, konnte er grundsätzlich bis zum 19. März 2021 den Einspruch einlegen. Das ist zwar nicht geschehen, gleichwohl war dem Angeklagten nach Lage des Falles Wiedereinsetzung zu gewähren.

aa) Sein fehlendes Verschulden kann der Angeklagte allerdings nicht darauf stützen, dass er von einer unzutreffenden Rechtslage ausging. Er berief sich darauf, dass nach dem Recht seines Heimatlandes die rechtzeitige Aufgabe eines Schriftstücks bei der Post die Frist wahre. Entsprechend dieser Vorstellung habe er sich auch verhalten, indem er seinen Einspruch am 17. März 2021 bei der polnischen Post aufgegeben habe. Tatsächlich gilt nach Art. 124 der polnischen Strafprozessordnung die Frist als gewahrt, wenn das Schriftstück vor dem Ablauf der Frist bei einem Postdienstleister aufgegeben worden ist, der Zustellungen auf dem Gebiet der Europäischen Union vornimmt. Hier lag dem Strafbefehl aber ausweislich der Zustellungsurkunde eine polnische Übersetzung der Rechtsbehelfsbelehrung:bei, aus der sich ausdrücklich ergibt, dass die Frist nur als gewahrt gilt, wenn der Einspruch vor Fristablauf bei Gericht eingeht. In einer solchen Situation kann sich ein Beschuldigter nicht mit Erfolg auf abweichende Regelungen in seiner heimatlichen Rechtsordnung berufen.

bb) Die Wiedereinsetzung war aber zur Vermeidung einer europarechtlich unzulässigen Diskriminierung zu gewähren.

(1) Ein inländischer Beschuldigter darf für die Einlegung des Einspruchs auf die normalen Postlaufzeiten vertrauen (BVerfG, Beschluss vom 16. Dezember 1975 - 2 BvR 854/75, juris Rn. 9; OLG Koblenz Beschluss vom 25. März 1983 - 1 Ws 182/83, wistra 1983, 206; KG, Beschluss vom 30. August 2000 - 1 AR 1002/00 - 3 Ws 397/00, juris Rn. 3). Nach eigener Angabe der Deutschen Post ist sie in der Lage, 90% aller nationalen Briefsendungen bereits einen Werktag nach der Einlieferung beim Empfänger auszuliefern (https://www.deutschepost.de/de/q/qualitaet_gelb.html). Hätte der Angeklagte seinen Einspruch daher am 17. März 2021 im Inland bei der Post aufgegeben, hätte er mit einem Eingang bei Gericht bis 19. März 2021 rechnen dürfen. Eine im Betriebsablauf der Post etwa aufgetretene Verzögerung wäre ihm nach der zitierten Rechtsprechung nicht im Sinne eines Verschuldens zuzurechnen.

(2) Dem Angeklagten gereicht es nicht zum Verschulden, dass er den Einspruch am 17. März 2021 im Ausland zur Post aufgegeben hat und er deshalb zu spät bei Gericht einging.

Es wird zwar vertreten, dass bei der Aufgabe der Post im (EU-)Ausland die längere Postlaufzeit vom Absender einkalkuliert werden müsste (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 20. März 2008 - III-2 Ws 48/08, juris Rn. 1). Die Kammer teilt diese Auffassung für die gegebene Konstellation indes nicht, weil sie höherrangigen Wertungen widerspricht. Der Europäische Gerichtshof stützt nämlich die Notwendigkeit, einem im Ausland wohnenden Beschuldigten die volle Zweiwochenfrist für den Einspruch zu gewähren auch auf das unionsrechtliche Diskriminierungsverbot (EuGH, Urteil vom 14. Mai 2020 - C-615/18, NJW 2020, 1873 Rn. 50), wonach der im EU-Ausland Wohnende nicht schlechter stehen dürfe als ein Inländer. Legt man das zugrunde, so darf die Differenz der Zeiträume zwischen den Postlaufzeiten im Inland einerseits und vom EU-Ausland ins Inland andererseits dem Beschuldigten nicht schaden. Sähe man das anders und müsste ein Beschuldigter den Einspruch im EU-Ausland so rechtzeitig absenden, dass er noch binnen der Zweiwochenfrist beim deutschen Gericht ankommt, hätte er die vom Europäischen Gerichtshof geforderten vollen zwei Wochen Einspruchsfrist nicht zur Verfügung. Die möglichen Postlaufzeiten sind durchaus erheblich. So wird die gewöhnliche Postlaufzeit einer als prioritär eingestuften Briefsendung von Polen nach Deutschland bis zum dritten Werktag nach dem Tag ihrer Aufgabe angegeben (https://www.poczta-polska.pl/paczki-i-listy/przesylki-zagraniczne/listy/list-polecony/). Auch der Europäische Gerichtshof rechnet mit erheblichen Postlaufzeiten innerhalb der Union (zusätzliche pauschale Entfernungsfrist von zehn Tagen gem. Art. 51 VerfO EuGH). Das kann bei der Wiedereinsetzung nicht unberücksichtigt bleiben.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 467 Abs. 1 StPO analog und auf § 473 Abs. 7 StPO.

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