Beschluss vom Landgericht Verden (Aller) (1. Große Strafkammer) - 1 Qs 218/16

Tenor

Auf die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Verden wird der Nichteröffnungsbeschluss des Amtsgerichts Stolzenau vom 29.8.2016 aufgehoben.

Die Anklage der Staatsanwaltschaft Verden vom 3.3.2016 wird zur Hauptverhandlung zugelassen und das Hauptverfahren vor dem Amtsgericht Stolzenau – Strafrichter – eröffnet.

Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens sowie die diesbezüglichen notwendigen Auslagen des Angeschuldigten bleibt der verfahrensabschließenden Entscheidung des Amtsgerichts vorbehalten.

Die Entscheidung unterliegt keiner weiteren Anfechtung (§ 310 Abs. 2 StPO).

Gründe

I.

1

Der Angeschuldigte steht seit seiner Entlassung am 16.2.2012 aus dem Maßregelvollzug (Maßregel nach § 64 StGB) gem. § 67d Abs. 2 S. 3 StGB Kraft Gesetzes unter Führungsaufsicht nach Maßgabe des Beschlusses der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Göttingen vom 6.2.2012. Hierin wurde dem Angeschuldigten unter anderem in Nr. 5 des Beschlusses die Weisung erteilt, keine alkoholischen Getränke zu sich nehmen. In der Begründung des Beschlusses wurde u.a. angeführt, die Weisung beruhe auf § 68b StGB. Mit Schreiben vom 21.12.2015 teilte die Bewährungshelferin mit, die letzte Urinprobe habe einen positiven Befund auf Alkoholkonsum ergeben und der Proband habe telefonisch den Konsum eingeräumt. Hierauf stellte die Führungsaufsichtsstelle des Landgerichts Verden am 6.1.2016 Strafantrag bei der Staatsanwaltschaft Verden wegen des Verdachts des Verstoßes gegen die o.g. Weisung im Dezember 2015, § 145a StGB. Die Staatsanwaltschaft Verden erhob am 3.3.2016 gegen den Angeschuldigten Anklage wegen der Verwirklichung des § 145a StGB vor dem Amtsgericht Stolzenau, wobei ihm als Tathandlung der Alkoholkonsum in der Woche vor 17.12.2015 und damit ein Verstoß gegen die o.g. Weisung vorgeworfen wurde. Mit Beschluss vom 29.8.2016 lehnte das Amtsgericht Stolzenau die Eröffnung des Hauptverfahrens aus rechtlichen Gründen ab unter Verweis auf die Entscheidungen BGH 5 StR 275/15 und 2 StR 512/15 und den dort in Bezug genommenen Bestimmtheitsgrundsatz. Hiergegen richtet sich die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft vom 4.9.2016.

II.

2

Die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft vom 4.9.2016 (Bl. 136 d.A.) gegen den Nichteröffnungsbeschluss des Amtsgerichts Stolzenau vom 29.8.2016 (Bl. 133 d.A.) ist statthaft gem. § 210 Abs. 2 StPO und auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt (Bl. 133, 138 ff. d.A.). Sie hat auch in der Sache Erfolg. Denn es besteht die überwiegende Wahrscheinlichkeit der Verurteilung des Angeschuldigten gem. § 145a StGB und somit hinreichender Tatverdacht gem. § 203 StPO.

3

1. In tatsächlicher Hinsicht besteht auf Grund der Mitteilung der Bewährungshelferin vom 21.12.2015 sowie des Untersuchungsbefundes der Urinprobe vom 17.12.2015 (Bl. 91, 104 d.A.) die überwiegende Wahrscheinlichkeit, dass das Tatgericht einen Alkoholkonsum des Angeschuldigten in der Woche vor dem 17.12.2015 feststellen wird.

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2. Ein solches Verhalten stellt auch in rechtlicher Hinsicht einen Verstoß gegen die o.g. Weisung während der Führungsaufsicht dar, keinerlei alkoholische Getränke oder andere illegale Suchtmittel zu sich zu nehmen und begründet die Strafbarkeit gem. §§ 145a, 68b Abs. 1 Nr. 10 StGB i.V.m. der Weisung Nr. 5 des Führungsaufsichtsbeschlusses der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Göttingen vom 6.2.2012.

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a) Die Weisung des Alkoholkonsumverbotes ist auch zulässig und rechtmäßig. Insbesondere werden keine unzumutbaren Anforderungen an den Probanden ggf. wegen noch bestehender Alkoholsucht gestellt. Denn dieser befand sich vom 12.1.2010 bis zum 16.2.2012 im Maßregelvollzugszentrum Bad Rehburg zur Therapie seines Hanges zu Alkohol. Ausweislich des Entlassungsberichtes vom 13.1.2012 (Bl. 24 d.A.) wird während der Therapiedauer der gut zwei Jahre nicht von Rückfällen oder sonstigem Alkoholkonsum berichtet, sondern der Angeschuldigte wurde erfolgreich mit der Anregung entlassen, sich mindestens für den Bewährungszeitraum des Konsums von Suchtmitteln völlig zu enthalten.

6

b) Entgegen der Ansicht des Amtsgerichts liegt bei den vorgenannten Normen auch in Anbetracht des Charakters von § 145a StGB als Blankettvorschrift eine hinreichende Bestimmtheit vor, sodass diese eine Strafbarkeit begründen.

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aa) Das verfassungsrechtliche Gebot der Bestimmtheit von Strafgesetzen ist u.a. normiert in Art. 103 Abs. 2 GG und § 1 StGB. Neben dem Rückwirkungsverbot, dem Analogieverbot und dem Schriftlichkeitsgebot fordert es die Bestimmtheit i.e.S. – im Sinne von Klarheit – der Strafnormen. Dem Normadressaten soll es in Ansehung des Wortlautes des Strafgesetzes möglich sein, die (Tatbestands-)Voraussetzungen der Strafbarkeit zu erkennen, um so zwischen strafbarem und straflosem Verhalten klar unterscheiden zu können. Nur so kann er sein Verhalten hierauf einstellen, seine Freiheit wirksam ausüben und gegen Eingriffe des Staates sichern (vgl. z.B. Fischer, StGB, 64. Aufl., 2017, § 1 Rn. 4 - 6 mit zahlr. Nachw.). Bei Blankettstrafgesetzen wie § 145a StGB besteht die Besonderheit, dass diese nur Art und Maß der Strafbarkeit bestimmen und zur Ausfüllung des detaillierten Inhaltes des strafbaren Verhaltens Bezug genommen wird auf eine andere Rechtsnorm im gleichen Gesetz (Binnenverweisung) oder die Ausfüllung übertragen wird auf eine Instanz außerhalb des Strafgesetzes (anderes Gesetz, Verordnungsgeber, Verwaltungsbehörde, Gericht etc.), welche ihrerseits die Ausfüllungsnorm bestimmt (Außenverweisung). Das vollständige Strafgesetz ist dann nur im Zusammenspiel mit Grundnorm und Ausfüllungsnorm bestimmbar (ausführlich allgemein zur Systematik und den Anforderungen an Blankettgesetze Dannecker in: Leipziger Kommentar StGB, 12. Aufl., 2009, § 1, Rn. 148 ff. m.w.N.). Zu beachten ist, dass auf Grund des Parlamentsvorbehalts der Gesetzgeber bereits in der Verweisungsnorm die Grenzen des strafbaren Verhaltens hinreichend klar bestimmen muss, da andernfalls die Grenzen der Strafbarkeit nicht durch „Gesetz“, wie es Art. 103 Abs. 2 GG fordert, festgelegt werden (vgl. BVerfG, Beschl. vom 22.6.1988, 2 BvR 234/87 = BVerfGE 78, 374). Auch in Anbetracht der allgemein diskutierten Problematiken zu Bestimmtheit und Parlamentsvorbehalt wird diese Gesetzestechnik vom BVerfG und vom BGH als zulässig angesehen, auch in Bezug auf § 145a StGB (vgl. z.B. Roggenbuck in: Leipziger Kommentar, a.a.O., § 145a Rn. 5 und Fischer, a.a.O., Rn. 10, beide m. zahlr. Rechtsprechungsnachweisen).

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bb) Diesen Anforderungen an die Bestimmtheit wird die so zu betrachtende Strafnorm der §§ 145a, 68b Abs. 1 Nr. 10 StGB i.V.m. der Weisung Nr. 5 des Führungsaufsichtsbeschlusses (Verbot u.a. des Konsums alkoholischer Getränke) gerecht. Denn wie die nachfolgende Darstellung zeigt, konnte der Angeschuldigte bei bloßem Lesen des gesamten Inhaltes dieser Normenkette klar erkennen, dass es ihm durch den Führungsaufsichtsbeschluss bei Strafe untersagt ist, Alkohol zu trinken:

9

§ 145a S. 1 StGB normiert:

10

„Wer während der Führungsaufsicht gegen eine bestimmte Weisung der in § 68b Abs. 1 bezeichneten Art verstößt und dadurch den Zweck der Maßregel gefährdet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“

11

§ 68b Abs. 1 S. 1 StGB normiert:

12

„Das Gericht kann die verurteilte Person für die Dauer der Führungsaufsicht oder für eine kürzere Zeit anweisen,

13

[…]

14

10. keine alkoholischen Getränke oder andere berauschende Mittel zu sich zu nehmen […].

15

[…]“

16

Nr. 5 des Führungsaufsichtsbeschlusses normiert:

17

„Der Verurteilte wird angewiesen, während der Bewährungszeit keinerlei alkoholische Getränke oder andere illegale Suchtmittel zu sich zu nehmen.“

18

§ 145a StGB bezieht sich explizit auf § 68b Abs. 1 StGB. Dieser wiederum führt explizit die mögliche Weisung des Alkoholkonsumverbotes auf, welche sodann im Führungsaufsichtsbeschluss auch tatsächlich angeordnet wird. Hält man die Konstruktion von Blankettvorschriften in Ansehung des Bestimmtheitsgrundsatzes grundsätzlich für zulässig, muss man vorliegend auch von der Bestimmtheit dieser Weisung und damit Strafnorm ausgehen. Denn klarer kann man sich nicht ausdrücken.

19

cc) Zwei Strafsenate des BGH haben in jüngerer Zeit indes hierzu eine andere Rechtsauffassung vertreten (BGH, Beschl. v. 19.8.2015, 5 StR 275/15 = StraFo 2015, 471; BGH Beschl. v. 11.2.2016, 2 StR 512/15 = NStZ-RR 2016, 200). BGH 5 StR 275/15 führt hierzu aus (Rn. 5, zitiert nach juris):

20

„In Anbetracht des Gebots aus Art. 103 Abs. 2 GG und der Tatsache, dass § 68b Abs. 2 StGB auch nicht strafbewehrte Weisungen zulässt, muss es sich aus dem Beschluss selbst ergeben, dass es sich bei den in Rede stehenden Weisungen um solche nach § 68b Abs. 1 StGB handelt, die gemäß § 145a Satz 1 StGB strafbewehrt sind. Dafür ist zwar eine ausdrückliche Bezugnahme auf § 68b Abs. 1 StGB einerseits nicht erforderlich (aA wohl Roggenbuck in LK, StGB, 12. Aufl., § 145a Rn. 9); sie wird ohne weitere Erläuterungen andererseits auch in der Regel nicht ausreichen, um dem Verurteilten die notwendige Klarheit zu verschaffen. Der Umstand, dass eine Weisung strafbewehrt ist, muss aber in dem Führungsaufsichtsbeschluss unmissverständlich klargestellt sein […].“

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Bei genauerer Betrachtung beschränkt sich die eigentliche argumentative Begründung dieser so weitreichenden Entscheidung auf den ersten zitierten Satz, konkret auf den Verweis auf Art. 103 Abs. 2 GG und auf den Hinweis, dass § 68b Abs. 2 StGB auch nicht strafbewehrte Weisungen zulasse. Eine Thematisierung der sogleich darzustellenden Argumente (s.u. 2.b)dd)) erfolgt nicht. Gleiches gilt für die Entscheidung BGH 5 StR 275/15 (dort Rn. 9 – zit. nach juris). Diesen Entscheidungen vorausgegangen war der Beschluss des OLG Karlsruhe v. 5.8.2010 (1 Ws 107/10 = StV 2010, 643). Hierin hatte das OLG lediglich wohl im Sinne einer Anregung darauf hingewiesen, dass es für die Strafvollstreckungskammer aus Gründen der Klarstellung und der Fürsorgepflicht zur Vermeidung eines Irrtums über die Strafbarkeit angezeigt sei, soweit möglich, in der Beschlussformel festzustellen, ob die Weisung strafbewehrt nach § 68b Abs. 1 StGB oder nicht strafbewehrt nach § 68b Abs. 2 StGB sei (Rn. 18 – zit. nach juris), ohne hieraus Konsequenzen bei dessen Unterlassung zu benennen. Den beiden Entscheidungen des BGH folgte in der jüngsten Zeit auch das OLG Braunschweig, wobei sich die Begründung zum vorliegenden Problem im Wesentlichen in der sinngemäßen Wiedergabe des Wortlautes des BGH unter Verweis auf die beiden Entscheidungen beschränkte (OLG Braunschweig, Beschl. v. 21.11.2016, 1 Ss 65/16, dort Rn. 13., zit. nach juris).

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dd) Die Kammer vermag aus den unter 2.b aa) - bb) hergeleiteten Gründen nicht zu erkennen, warum es nach den Anforderungen zweier Senate des BGH für ein ausreichendes Maß an Gesetzesbestimmtheit erforderlich sein sollte, in dem Führungsaufsichtsbeschluss die erteilten Weisungen als strafbewehrt gem. § 68 Abs. 1 oder nicht strafbewehrt gem. § 68 Abs. 2 StGB explizit zu kennzeichnen. Wie am hiesigen Beispiel dargelegt, ist allein durch die Lektüre des Wortlautes der Normen klar die Strafbarkeit zu erkennen. Darüber hinaus sprechen jedoch noch weitere Argumente gegen die Auffassung des BGH. Im Einzelnen:

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(1) Die Auffassung des BGH erscheint auf den ersten Blick plausibel. Denn die Forderung, dass in dem Führungsaufsichtsbeschluss die Weisung eindeutig als strafbewehrt benannt wird, bedeutet ein Höchstmaß an Klarheit und Bestimmtheit. Der Proband kann somit unmittelbar aus dem Beschluss heraus erkennen, dass er sich bei Verstoß gegen die Weisungen strafbar macht. Das ist durchaus sinnvoll und mag wünschenswert sein und verleiht den Weisungen darüber hinaus mehr Nachdruck. Es ist jedoch nicht erforderlich, um der Strafnorm insgesamt zur Bestimmtheit und damit Gültigkeit zu verhelfen, denn dies ist sie, wie oben gezeigt, bereits aus sich heraus. Der BGH überspannt die Anforderungen an die Bestimmtheit. Denn er fordert, dass sich allein aus der Ausfüllungsnorm  (Führungsaufsichtsbeschluss) die Strafbarkeit ablesen lässt. Dies widerspricht der Dogmatik zur Bestimmtheit der Blankettnormen, bei denen sich aus der Natur der Sache heraus erst in der Gesamtlektüre von Blankettnorm und Ausfüllungsnorm zusammen die Strafbarkeit ergibt (s.o. 2.b)aa)). Dies sei exemplarisch für viele andere Blankettkonstruktionen am Beispiel des BtMG dargestellt: Im BtMG werden in den §§ 29 ff. die Strafbarkeiten im Wesentlichen bestimmt, wobei indes offen bleibt, welche Substanzen „Betäubungsmittel“ sind. Hierzu verweisen die Blankettnormen auf § 1 BtMG, welcher seinerseits die Anlagen I bis III mit den dort gelisteten Betäubungsmitteln in Bezug nimmt, welche durch Rechtsverordnung geändert oder ergänzt werden können. In den Anlagen I bis III findet sich aber (zu Recht) nirgendwo ein Hinweis darauf, dass der Umgang mit diesen Betäubungsmitteln strafbewehrt ist. Dies müsste der BGH allerdings konsequent fordern. Indes stellt auch er die allgemein anerkannte Systematik des BtMG mit seinen Blankettstrafnormen nicht in Frage. Die hier aufgestellte Anforderung erstaunt auch in Anbetracht anderer Entscheidungen des BGH zum Bestimmtheitsgrundsatz. So hat der BGH z.B. selbst im Falle des Naturschutzstrafrechts mit der dort angewandten sog. extensionalen Verweisungstechnik (Kettenverweisungen) ausgehend von den §§ 30, 30a BNatSchG a.F. auf komplizierte europäische Verordnungen, die für Rechtslaien und damit die Mehrzahl Bürger kaum noch nachzuvollziehen sind, die Bestimmtheit bejaht (vgl. BGH, Beschl. v. 16.8.1996, 1 StR 745/95 = BGHSt 42, 219).

24

(2) Eine Unbestimmtheit ergibt sich auch nicht aus dem Umstand, dass § 68b StGB zwischen strafbewehrten und nicht strafbewehrten Weisungen in den Absätzen 1 und 2 unterscheidet. Denn Abs. 1 führt abschließend in 12 Nummern mögliche Weisungen auf, wobei der Gesetzeswortlaut sehr konkret ist, z.B. wie vorliegend „keine alkoholischen Getränke zu sich zu nehmen“ (Nr. 10) oder „keine Kraftfahrzeuge zu führen“ (Nr. 6) oder „den Wohnort nicht ohne Erlaubnis der Aufsichtsstelle zu verlassen“ (Nr. 1). Verhängt das Gericht diese Weisungen, ist für den Probanden ein Abgleich des Führungsaufsichtsbeschlusses mit den Nummern des § 68b Abs. 1 StGB ohne Weiteres und ohne Verwechslungsgefahr mit Abs. 2 möglich. Denn die Weisungen nach § 68b Abs. 2 StGB sind „weitere Weisungen“ anderen Inhaltes (zumeist die Therapieweisung) die gerade nicht unter die zuerst zu prüfenden und auch vom Probanden zuerst zu lesenden Weisungen fallen. Kann er „seine Weisung“ nicht in Abs. 1 finden, ist die Weisung nicht strafbewehrt. Geht er (trotz des eindeutigen Wortlautes) dennoch irrtümlich davon, dass ein Verstoß gegen Weisungen nach § 68b Abs. 2 StGB strafbewehrt ist, begeht er schlimmstenfalls ein folgenloses strafloses Wahndelikt (umgekehrter Verbotsirrtum).

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Die Weisung wird auch nicht deswegen strafbewehrt, weil sie im Führungsaufsichtsbeschluss als strafbewehrt gekennzeichnet wird, wie der BGH es fordert. Sondern sie ist es, oder sie ist es eben nicht: Entweder bildet eine Weisung zusammen mit den §§ 145a, 68b Abs. 1 StGB eine Strafnorm - dann muss sie zu ihrer Wirksamkeit nicht als solche gekennzeichnet werden. Oder eine Weisung bildet zusammen mit den genannten Normen keine Strafnorm - dann aber vermag auch der Hinweis auf die Strafbarkeit eine Strafbarkeit nicht zu begründen. Die Argumentation des BGH in diesem Punkt deutet vielmehr auf eine unzulässige Vermischung zwischen Tatbestands(tatsachen)kenntnis (vgl. § 16 StGB) und Rechtsnormkenntnis (vgl. § 17 StGB) hin. Zur Tatbestands(tatsachen)kenntnisebene gehört die Kenntnis insbesondere über die bestehende Führungsaufsicht, die erteilten Weisungen und das Verhalten des Probanden hierzu. Fehlt diese Kenntnis in einem Punkt, kommt eine Strafbarkeit nicht in Betracht, da es sich § 145a StGB und ein Vorsatzdelikt handelt, § 16 Abs. 1 StGB. Zur Rechtsnormkenntnisebene gehört die Einsicht, Unrecht zu tun (§ 17 StGB). Diesen Umstand könnte der BGH meinen, wenn er fordert, die strafbewehrten Weisungen müssten als solche gekennzeichnet und von den nicht strafbewehrten abgegrenzt werden. Denn der BGH geht selbstredend davon aus, dass der Proband durch den Führungsaufsichtsbeschluss über das von ihm verlangte Verhalten informiert ist (Tatsachenkenntnis). Der BGH verlangt aber darüber hinaus, dass der Führungsaufsichtsbeschluss dem Probanden die Weisung auch als strafbewehrt deklariert. Dies bedeutet nichts anderes als die Forderung nach Verschaffung von Unrechtseinsicht. Das aber hat mit der Bestimmtheit der Norm nichts zu tun; die Entscheidung über Bestimmtheit oder Unbestimmtheit fällt bereits zuvor (s.o. 2.b.aa) - bb)). Zudem hat das fehlende Unrechtsbewusstsein nach § 17 StGB lediglich die Folge der fakultativen Strafmilderung bei voll erhaltenem Vorsatz und nur bei Unvermeidbarkeit das Handeln ohne Schuld. Auch ist es nach allgemeiner Auffassung ausreichend, wenn der Täter weiß, dass es sich überhaupt um Unrecht handelt, ohne näher einordnen zu müssen, ob es sich um straf-, öffentlich- oder zivilrechtliche Normen handelt (vgl. Fischer, a.a.O. § 17 Rn. 3). Mit der Zustellung des Führungsaufsichtsbeschlusses oder der Belehrung erhält der Proband Kenntnis von den Weisungen und weiß daher um sein ggf. normwidriges Verhalten. Irrelevant ist danach auch, ob hier der Hinweis enthalten ist, dass, und bei welchen Weisungen es sich um strafbewehrte Weisungen handelt. Denn der Verstoß gegen alle Weisungen ist Unrecht.

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(3) Gegen eine Verletzung des Bestimmtheitsgrundsatzes spricht auch der Umstand, dass das Gesetz im Führungsaufsichtsbeschluss einen solchen Hinweis auf die Strafbarkeit nicht vorsieht. Der Gesetzgeber hat vielmehr den Weg der mündlichen Belehrung des Probanden gem. §§ 268a Abs. 3 S. 3, 453a StPO gewählt und geht folglich davon aus, dass eine solche Belehrung im Beschluss nicht erfolgen muss.

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Darüber hinaus hat diese Überlegung ein Weiteres zur Folge mit erheblicher Brisanz: Fordert der BGH eine solche Belehrung im Beschluss, müsste er die §§ 145a i.V.m. 68b Abs. 1 StGB insgesamt für verfassungswidrig wegen Verstoßes gegen Art. 103 Abs. 2 GG halten (denn hierauf stützt er die Normnichtigkeit) und bei Entscheidungserheblichkeit zur konkreten Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 GG dem BVerfG vorlegen. Denn der Gesetzgeber hat strukturell keine Belehrung im Führungsaufsichtsbeschluss vorgesehen. Der (verfassungsmäßige) Bestand der Strafnorm soll nach dem BGH aber hiervon anhängen. Dem kann auch nicht durch den Umstand hinreichend begegnet werden, dass die Gerichte, welche die Führungsaufsichtsbeschlüsse erlassen, in „verfassungskonformer Auslegung“ diesen Hinweis mit aufnehmen. Denn die Praxis zeigt, dass in der überwiegenden Zahl der Fälle ein solcher Hinweis nicht aufgenommen wird. Nach Schätzung der Kammer dürften in Deutschland auch über anderthalb Jahre nach dem ersten Beschluss des BGH vom 19.8.2015 mehrere Tausend Führungsaufsichtsbeschlüsse in Kraft sein, welche das vom BGH aufgestellte Kriterium nicht erfüllen (zwei Mitglieder der Kammer sind in anderer Funktion Leiter und stellvertretender Leiter der Führungsaufsichtsstelle des Landgerichtbezirks).  Dies bedeutet, dass in der konkreten Rechtsanwendung eine solche Korrektur überwiegend nicht erfolgt, sodass es in der Mehrzahl der Fälle bei der vom BGH angenommenen (wenn auch nicht explizit ausgesprochenen) Verfassungswidrigkeit verbliebe. Zeigt sich indes eine solche strukturelle Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes, welche die Rechtspraxis faktisch nicht auszugleichen vermag, wäre die Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG geboten.

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ee) Im Ergebnis ist festzustellen, dass §§ 145a, 68b Abs. 1 Nr. 10 StGB i.V.m. der Weisung Nr. 5 des Führungsaufsichtsbeschlusses (Verbot u.a. des Konsums alkoholischer Getränke) hinreichend bestimmt ist. Ein Hinweis im Führungsaufsichtsbeschluss, dass die Weisung unter § 68b Abs. 1 StGB fällt und strafbewehrt ist, ist hierzu nicht erforderlich.

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3. Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die diesbezüglich entstandenen notwendigen Auslagen des Angeschuldigten war dem Amtsgericht vorzubehalten, weil die Rechtsmittelkosten im Falle eines erfolgreichen, zu Ungunsten des Angeschuldigten eingelegten Rechtsmittels der Staatsanwaltschaft zu den Verfahrenskosten zählen, über die in der verfahrensabschließenden Entscheidung zu befinden ist (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 60. Aufl., 2017, § 473 Rn. 15).

 


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