Beschluss vom Oberlandesgericht Braunschweig (1. Strafsenat) - 1 AR (Ausl.) 17/22

Tenor

Die Auslieferung des Verfolgten aus Deutschland nach Frankreich zum Zweck der Strafverfolgung wegen der im Europäische Haftbefehl des Staatsanwalts bei dem Bezirksgericht Paris vom 28. Februar 2019 (Az. 14261000083) bezeichneten Straftat wird für zulässig erklärt.

Die Auslieferungshaft dauert fort.

Gründe

I.

1

Die französischen Behörden haben durch eine Ausschreibung im Schengener Informationssystem (SIS) nach Art. 26 des SIS-II-Beschlusses vom 28. Februar 2019 um Auslieferung des Verfolgten zur Strafverfolgung ersucht. Der Ausschreibung liegt ein Europäischer Haftbefehl des Staatsanwaltes beim Bezirksgericht Paris vom 28. Februar 2019 (Az. 14261000083) zugrunde, der auf Basis des Haftbefehls der Untersuchungsrichterin in Charleville-Meziere vom 27. Februar 2019 erlassen wurde.

2

Dem Verfolgten wird ausweislich der übermittelten Zusatzinformationen zu Artikel 26 des Ratsbeschlusses SIS II (A-Formular) Ziffer 044 (Bl. 5 d.A., Übersetzung Bl. 15 d.A) zur Last gelegt, in der Nacht vom 10. auf den 11. Mai 2013 mit mehreren Personen ein Loch in die Decke des Juweliergeschäfts „… et …“ im Einkaufszentrum … Hypermarkt in ..., Département Ardennes, gebrochen, sich sodann abgeseilt und Goldschmuck im Wert von ca. 264.318,95 € entwendet zu haben.

3

Der Verfolgte wurde am 15. Juli 2022 im Landkreis Peine festgenommen und befindet sich seitdem in der Justizvollzugsanstalt Wolfenbüttel, Abteilung Braunschweig. Er hat sich bei seiner Vernehmung durch die Richterin beim Amtsgericht Braunschweig am 16. Juli 2022 mit seiner vereinfachten Auslieferung nicht einverstanden erklärt und hat auch nicht auf die Beachtung des Spezialitätsgrundsatzes verzichtet.

4

Der Senat hat auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft Braunschweig am 21. Juli 2022 die Auslieferungshaft gegen den Verfolgten angeordnet.

5

Mit Vorabentscheidung nach § 79 Abs. 2 IRG vom 22. Juli 2022 hat die Generalstaatsanwaltschaft bekannt gegeben, keine Bewilligungshindernisse gemäß § 83b IRG geltend zu machen und die Auslieferung zu bewilligen, sofern sie durch das Oberlandesgericht Braunschweig für zulässig erklärt wird.

6

Mit Schreiben vom 3. August 2022 hat das Amtsgericht Gdansk-Nord mitgeteilt, dass dort gegen den Verfolgten wegen derselben Tat, die dem Europäischen Haftbefehl zugrunde liegt, ein Strafverfahren anhängig ist. Der Verfolgte habe im Rahmen dieses Verfahrens die Tat gestanden, weshalb gegen ihn keine Präventivmaßnahmen ergriffen worden seien.

7

Die französischen Behörden haben am 8. August 2022 mitgeteilt, dass Polen aufgrund des dort gegen den Verfolgten geführten Strafverfahrens ein Auslieferungsersuchen nach Frankreich abgelehnt hätte. Am 9. August 2022 haben die französischen Behörden ergänzend mitgeteilt, dass der Europäische Haftbefehl dennoch weiter gültig sei.

8

Mit Zuschrift vom 22. August 2022 hat die Generalstaatsanwaltschaft Braunschweig beantragt, die Auslieferung des Verfolgten nach Frankreich zum Zwecke der Strafverfolgung für zulässig zu erklären.

9

Der Beistand des Verfolgten hat mit Schreiben vom 6. September 2022 Stellung genommen. Er führt aus, in der Entscheidung der polnischen Behörden, mit der sie die Auslieferung des Verfolgten nach Frankreich abgelehnt haben, liege ein Auslieferungshindernis in Gestalt einer gerichtlichen Entscheidung. Zwar gelte § 83b Abs. 1 Nr. 1 IRG für diesen Fall nicht unmittelbar. Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung von Entscheidungen gebiete es aber, ein Auslieferungshindernis anzunehmen. Andernfalls werde die Intention des Gesetzgebers verletzt und die Entscheidung der polnischen Behörden untergraben. Der Verfolgte stehe wegen der verfahrensgegenständlichen sowie 17 weiterer Taten, die er in verschiedenen europäischen Staaten begangen haben soll, in Polen vor Gericht. Er habe sich bislang dem Verfahren uneingeschränkt gestellt, weshalb gegen ihn keine Untersuchungshaft angeordnet worden sei. Die Verfahrensakten umfassten 80 Ordner und die Verhandlung dauere bereits seit 3 Jahren an. Sie stehe kurz vor dem Abschluss, drohe nun aber aufgrund der Inhaftierung des Verfolgten in Deutschland und der möglichen Auslieferung nach Frankreich zu scheitern.

II.

1.

10

Dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft, die Auslieferung für zulässig zu erklären (§ 29 Abs. 1 IRG), war zu entsprechen. Die Auslieferung des Verfolgten ist zulässig.

11

Die Ausschreibung im Schengener Informationssystems (SIS) nach Art 26 des SIS-II-Beschlusses vom 28. Februar 2019 enthält die gemäß § 83a Abs. 1 IRG erforderlichen Angaben und gilt daher als Europäischer Haftbefehl.

12

Dass der Wortlaut der anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen entgegen § 83a Abs. 1 Nr. 4 IRG nicht übermittelt wurde, schadet nicht, weil die beiderseitige Strafbarkeit, deren Überprüfung die Vorschriften dienen, vorliegt. Die Tat wäre nach deutschem Recht als Diebstahl (im besonders schweren Fall) gemäß §§ 242, 243 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 StGB, gegebenenfalls auch als Bandendiebstahl nach § 244 Abs. 2 Nr. 2 StGB oder als schwerer Bandendiebstahl nach § 244a Abs. 1 StGB, jeweils in Verbindung mit § 25 Abs. 2 StGB, strafbar.

13

Die Voraussetzungen des § 81 Nr. 1 IRG sind erfüllt. Die dem Verfolgten vorgeworfene Tat ist nach französischem Recht mit Freiheitsstrafe im Höchstmaß von sieben Jahren bedroht.

14

Die Fragen der Gegenseitigkeit (§ 5 IRG) und, da ein Europäischer Haftbefehl vorliegt, der Spezialität (§ 11 IRG) sind im Auslieferungsverfahren mit Mitgliedstaaten der Europäischen Union nicht zu prüfen (§ 82 IRG).

15

Schließlich bestehen auch keine durchgreifenden Anhaltspunkte für etwaige Bewilligungshindernisse nach § 83b IRG. Ein solches kann insbesondere auch nicht in dem Umstand erblickt werden, dass aufgrund der Tat, wegen der die französischen Behörden um Auslieferung ersuchen, gegen den Verfolgten in Polen bereits ein Strafverfahren geführt wird und die polnischen Behörden daher ein Auslieferungsersuchen der Republik Frankreich abgelehnt haben.

16

Ein Bewilligungshindernis gemäß § 83b Abs. 1 Nr. 1 IRG liegt darin nicht, da dies voraussetzt, dass gegen den Verfolgten wegen derselben Tat im Inland (Hervorhebung durch den Senat) ein strafrechtliches Verfahren geführt wird. Aufgrund des klaren Wortlauts der Norm, der auch angesichts der Regelung des § 83b Abs. 1 Nr. 3 IRG keinen Raum für die vom Beistand angestrebte Auslegung lässt, kommt eine Anwendung auf den vorliegenden Fall nicht in Betracht.

17

Die Auslieferung verstößt auch nicht gegen das in Art. 50 GRCh in Verbindung mit Art. 54 SDÜ aufgeführte Verbot der Doppelbestrafung. Diese Norm ist schon von ihrem Wortlaut her nicht anwendbar, da eine rechtskräftige Sanktion im Sinne des Art. 50 GRCh in Verbindung mit Art. 54 SDÜ (dazu: BVerfG, Beschluss vom 19. Mai 2022, 2 BvR 1110/21, juris, Rn. 41) nicht vorliegt. Die Vorschriften schützen einen Verdächtigen nicht davor, dass er wegen derselben Tat möglicherweise in mehreren Vertragsstaaten Ermittlungen ausgesetzt ist (BVerfG; a.a.O., Rn. 40).

18

Auch unmittelbar aus Art. 103 Abs. 3 GG ergibt sich kein Hindernis. Es erscheint bereits zweifelhaft, ob die an das in Polen geführte Verfahren anknüpfende ausländische Rechtshängigkeit im Rahmen eines deutschen Strafverfahrens überhaupt ein Verfahrenshindernis begründen könnte (vgl. BGH, Beschluss vom 11. April 2007, 3 StR 94/07, juris). Jedenfalls ist im vorliegenden Auslieferungsverfahren nicht zu prüfen, ob sich an das polnische Verfahren in Frankreich (nach französischem Recht) das Verfahrenshindernis der anderweitigen Rechtshängigkeit knüpft. Denn Art 103 Abs. 3 GG erfasst nur deutsche Gerichtsverfahren (BVerfG, Beschluss vom 15. Dezember 2011, 2 BvR 148/11, juris, Rn. 32; BeckRS 2012, 45914) und ist daher im unionsrechtlich determinierten Auslieferungsverfahren, bei dem primär Unionsgrundrechte zur Anwendung kommen (BVerfG, Beschluss vom 19. Mai 2022, 2 BvR 1110/21, juris, Rn.38), nicht einschlägig.

19

Weiterhin ist auch der Anwendungsbereich von § 83b Abs. 2 Nr. 1 IRG nicht eröffnet, weil der Verfolgte nicht über einen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland verfügt. Nach seinen eigenen Angaben im Rahmen der Anhörung vor dem Amtsgericht Braunschweig sei er von 2013 bis 2019 in Polen inhaftiert gewesen und noch im März 2022 in Polen erneut verhaftet worden. Auch wenn keine konkreten Erkenntnisse über seine aktuelle Aufenthaltsdauer in Deutschland vorliegen, liegt diese jedenfalls deutlich unterhalb dem grundsätzlich erforderlichen fünfjährigen ununterbrochenen Aufenthalt, der erst eine hinreichende Bindung zum Vollstreckungsstaat begründet (vgl. Zimmermann, in: Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 6. Auflage 2020, § 83b IRG Rn. 39).

20

2.
Die Voraussetzungen der Auslieferungshaft liegen aus den im Beschluss des Senates vom 21. Juli 2022 genannten Gründen weiterhin vor.

21

Es besteht weiterhin die Gefahr, dass sich der Verfolgte dem Auslieferungsverfahren und der Durchführung der Auslieferung entziehen wird (§ 15 Abs. 1 Nr. 1 IRG). Wenn ein Europäischer Haftbefehl vorliegt, ist in rahmenbeschlusskonformer Auslegung regelmäßig davon auszugehen, dass der ersuchende Staat die Haftgründe geprüft und zutreffend bejaht hat (st. Rspr. d. Strafsenats - vgl. bspw. OLG Braunschweig, Beschluss vom 22. Oktober 2014 – 1 AR (Ausl) 6/14, juris, Rdnr. 14).

22

Diese Annahme ist auch im vorliegenden Fall angesichts der dem Verfolgten aufgrund der Schwere der ihm zur Last gelegten Tat und der ihm daher drohenden Strafe weiterhin gerechtfertigt. Der Verfolgte ist erkennbar nicht bereit, sich dem Verfahren in Frankreich zu stellen. Ausreichende fluchthemmende Umstände liegen nicht vor.

23

3.
Aus Gründen der Verhältnismäßigkeit bestehen weder gegen die Zulässigkeit der Auslieferung noch gegen die Fortdauer der Auslieferungshaft Bedenken.

 


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