Beschluss vom Oberlandesgericht Karlsruhe - 3 Ws 35/19

Gründe

 
I.
Mit Beschluss der StVK vom 19.12.2013 war nach Verbüßung von zwei Dritteln der Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten die Vollstreckung des Strafrestes zur Bewährung ausgesetzt worden. Die Bewährungszeit wurde auf vier Jahre festgesetzt und endete gemäß § 56a Abs. 2 Satz 1 StGB i.V.m. § 57 Abs. 3 Satz 1 StGB ursprünglich mit Ablauf des 1.1.2018. Im Zeitraum vom 7.9.2016 bis 28.11.2016 machte sich der Verurteilte wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in drei Fällen strafbar. Mit Strafbefehl des AG H. vom 30.11.2017 wurde gegen ihn deshalb eine Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Monaten verhängt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde.
Noch vor Rechtskraft des Strafbefehls wies die StVK den Verurteilten mit Schreiben vom 18.12.2017 darauf hin, dass wegen der neuerlichen Straftaten die Entscheidung über den Straferlass bis zur Rechtskraft des noch anhängigen Verfahrens zunächst zurückgestellt werde und wegen der vorgeworfenen Taten trotz etwaigen Ablaufs der Bewährungszeit diese verlängert oder aber auch die gewährte Strafaussetzung zur Bewährung widerrufen werden könne. Dieses Schreiben wurde ihm am 21.12.2017 zugestellt. Mit Schreiben vom 31.1.2018, zugestellt am 7.2.2018, wurde er nach Rechtskraft des Strafbefehls darauf hingewiesen, dass die Staatsanwaltschaft nunmehr die Verlängerung der Bewährungszeit beantragt habe.
Am 20.2.2018 wurde der Verurteilte erneut wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis straffällig, weshalb ihn das AG H. am 22.10.2018 zu einer Freiheitsstrafe von sieben Monaten verurteilte, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Ebenfalls am 20.2.2018 wurde mit Beschluss der StVK die Bewährungszeit aus dem Beschluss vom 19.12.2013 um ein Jahr verlängert (neues Ende: 1.1.2019). Die zuständige Geschäftsstelle der StVK veranlasste die Hinausgabe des Beschlusses am 21.2.2018.
Die StA hat vor dem Hintergrund der erneuten Verurteilung vom 22.10.2018 mit Verfügung vom 7.12.2018 die Verlängerung der Bewährungszeit um ein weiteres Jahr beantragt.
Die StVK teilte die positive Sozialprognose der Anlassverurteilung und der StA nicht und widerrief nach vorheriger schriftlicher Anhörung des Verurteilten - auch bezüglich eines möglichen Widerrufs - mit dem angefochtenen Beschluss vom 11.1.2019 die Aussetzung zur Bewährung hinsichtlich der Vollstreckung des Strafrestes. Gegen diesen Beschluss wendet sich der Verurteilte mit seiner sofortigen Beschwerde.
II.
Die sofortige Beschwerde des Verurteilten ist gemäß §§ 453 Abs. 2 Satz 3, 311 Abs. 2 StPO zulässig und begründet.
1. Die Voraussetzungen für einen Widerruf der Bewährung liegen nicht vor, da der Verurteilte die neuerliche Straftat nach Ablauf der ursprünglich festgesetzten Bewährungszeit und vor Erlass des Verlängerungsbeschlusses begangen hat (vgl. zum Zeitpunkt des Erlasses eines Beschlusses mit Außenwirkung: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 61. Aufl., Rdn. 9 Vor § 33).
Schließt die verlängerte Bewährungszeit rechnerisch auch rückwirkend an die abgelaufene Bewährungszeit an, so rechtfertigen Straftaten, die zwischen dem Ablauf der ursprünglichen Bewährungszeit und dem Erlass des Verlängerungsbeschlusses begangen worden sind, den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung gleichwohl nicht, denn der Verurteilte stand insoweit zum Tatzeitpunkt unbeschadet der späteren Rückwirkung tatsächlich nicht unter offener Bewährung (vgl. OLG Karlsruhe, B. v. 14.3.2017 - 2 Ws 59/17, juris Rdn. 9).
Ein anderes ergibt sich nach Auffassung des Senats auch nicht aus dem Umstand, dass der Verurteilte vor der Begehung der erneuten Straftat in einem gerichtlichen Hinweisschreiben nicht nur auf die Möglichkeit eines Widerrufs, sondern gerade auf diejenige einer Verlängerung hingewiesen worden war (wie hier: OLG Oldenburg, B. v. 4.12.2013 - 1 Ws 635/13 -, juris [entgegen B. v. 20.9.2007 - 1 Ws 513-514/07]; KG Berlin, B. v. 12.5.2009 - 2 Ws 176/09, BeckRS 2009, 19078; OLG Köln, StV 2008, 262; OLG Frankfurt, NStZ-RR 2008, 221; a.A. jeweils unter Hinweis auf eine nur knapp begründete und dem Sachverhalt nach nicht gänzlich nachvollziehbare Kammerentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 10.2.1995 - 2 BvR 168/19; OLG Jena, B. v. 11.12.2013 - 1 Ws 451/13 -, BeckRS 2014, 9284 [entgegen B. v. 6.7.2009, VRS 117, 344]; OLG Hamm, B. v. 29.1.2013 - 3 Ws 19/13, BeckRS 2013, 11474; OLG Rostock, B. v. 7.12.2010 - I Ws 335/10, juris; OLG Düsseldorf, B. v. 23.2.2005 - 3 Ws 50/05, juris).
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Ist es auch zutreffend, dass in dieser Konstellation das Rückwirkungsverbot aus Art. 103 Abs. 2 GG nicht greift, da es bezüglich der Frage der (weiteren) Aussetzung der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe an der den unmittelbaren Anwendungsbereich des Art. 103 Abs. 2 GG charakterisierenden missbilligenden staatlichen Reaktion auf ein schuldhaftes Unrecht fehlt (vgl. BeckOK-Radtke/Hagemeier, GG, Stand: 1.3.2015, Rdn. 21 zu Art. 103 m.w.N.), und dass der Verurteilte aufgrund des vorhergehenden Hinweises mit einem Erlass der Strafe gemäß § 56g Abs. 1 StGB nicht ernstlich rechnen durfte, so sprechen aus Sicht des Senats dennoch die gewichtigeren Gründe dafür, dass auch bei entsprechendem vorherigen rechtlichen Hinweis ein Widerruf der Bewährung wegen einer Tat, die zu einem Zeitpunkt begangen wurden, in dem der Verurteilte tatsächlich nicht, sondern erst rechnerisch rückwirkend wieder unter Bewährung stand, nicht in Betracht kommt.
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So verlangt bereits der Wortlaut des § 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB als Voraussetzung für einen Bewährungswiderruf eindeutig, dass der Verurteilte „in der Bewährungszeit eine Straftat begeht“. Zum Zeitpunkt der Begehung der Straftat war die Bewährungszeit aber abgelaufen, woran auch die angekündigte bloße Möglichkeit, dass die Bewährungszeit zu einem späteren Zeitpunkt gegebenenfalls nochmals verlängert wird, nichts ändert. Die Beachtung der Wortlautgrenze ist nach Auffassung des Senats auch deshalb geboten, weil der Widerruf der Aussetzung der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe zur Bewährung den bereits durch die Verurteilung erfolgten Eingriff in das Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 GG zumindest erheblich vertieft, mithin im grundrechtlichen Sinne wesentlich ist und die Möglichkeit einer zeitlichen Rückanknüpfung durch den Gesetzgeber selbst zu regeln ist, wenn nachteilige Folgen daran geknüpft werden sollen (vgl. zum Gesetzesvorbehalt bezüglich bloßer Weisungen nach § 56c StGB: BVerfG, StV 2012, 481). Entsprechend hat der Gesetzgeber in anderen Konstellationen, in denen ein Widerruf wegen eigentlich außerhalb der Bewährungszeit begangener Straftaten ermöglicht werden sollte, dies explizit geregelt (vgl. § 56f Abs. 1 Satz 2 StGB und § 57 Abs. 5 Satz 2 StGB). Zu bedenken ist auch, dass die aufgrund einer Änderung der Rechtsprechung erfolgte zeitliche Rückanknüpfung des nachträglichen Verlängerungsbeschlusses an das ursprüngliche Ende der Bewährungszeit erfolgte, um eine für den Verurteilten zeitlich nicht hinnehmbare Ausdehnung des Bewährungsverfahrens zu vermeiden (vgl. OLG Bamberg, B. v. 27.8.2009 - 1 Ws 409/09, BeckRS 2009, 26729), nicht hingegen, um einen Widerruf auch wegen Taten zu ermöglichen, die nach ursprünglichem Ablauf der Bewährungszeit begangen worden sind. Dementsprechend untersteht der Verurteilte in diesem Zwischenzeitraum nicht der Aufsicht und Leitung der Bewährungshilfe und ist die Erteilung seine Resozialisierung unterstützender nachträglicher Weisungen nach § 56e i.V.m. § 56c StGB nicht möglich (vgl. insofern auch Groß, jurisPR-StrafR 12/2014 Anm. 1).
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Hinzu kommt, dass die gegenteilige Auffassung, die bei entsprechendem vorherigen Hinweis einen Widerruf für möglich erachtet, vor dem Hintergrund der Belange des Vertrauensschutzes eine erhebliche Rechtsunsicherheit mit sich bringt. So erfolgt die Belehrung im Rahmen der Ausgangsverurteilung nach § 268a Abs. 3 StPO i.V.m. § 56f Abs. 1 StGB dergestalt, dass ein Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung erfolgen kann, wenn sich der Verurteilte in der Bewährungszeit erneut strafbar macht. Ein Hinweis dahingehend, dass „in der Bewährungszeit“ auch den Zeitraum zwischen Ablauf der Bewährungszeit und Verlängerungsbeschluss mit umfassen kann, wird bislang nicht praktiziert. Auch der spätere Hinweis, dass aufgrund neuer Straftaten die Bewährungszeit möglicherweise verlängert wird, eröffnet eine bloße Möglichkeit, aber keine Gewissheit, dass dem auch so sein wird oder nicht doch die Strafe erlassen oder der Widerruf der Bewährung erfolgt. Auch ist unklar, wann über die Frage der Verlängerung entschieden werden wird, wie lange mithin der Zeitraum zwischen Ablauf der Bewährungszeit und Verlängerungsbeschluss andauert, während der noch stets mit einem Widerruf für den Fall der Begehung einer neuen Straftat gerechnet werden muss. Schließlich - teils basierend auf diesen Unsicherheiten - besteht auch eine erhebliche Unklarheit darüber, welche Anforderungen an das einen Widerruf ermöglichende Hinweisschreiben zu stellen sind. Nach einer Auffassung soll der bloße Hinweis auf einen noch möglichen Widerruf ausreichen (OLG Hamm, a.a.O.), nach anderer Ansicht muss ein expliziter Hinweis auf eine mögliche Verlängerung ergehen (OLG Jena, a.a.O.). Darüber hinaus wird zum Teil - berechtigterweise - auf den jedenfalls sicherzustellenden postalischen Zugang des Hinweisschreibens hingewiesen (OLG Hamm, a.a.O.), wobei selbst bei einer förmlichen Zustellung des Hinweisschreibens der inhaltliche Zugang der Belehrung nicht in gleicher Weise sichergestellt ist, wie bei einer Belehrung nach § 268a Abs. 3 StPO. Im Falle einer Belehrung nach § 268a Abs. 3 StPO i.V.m. § 409 Abs. 1 Satz 2 StPO im Strafbefehlswege ist demgegenüber jedenfalls durch die gemäß § 407 Abs. 2 Satz 2 StPO gesicherte Verteidigung der inhaltliche Zugang der Belehrung weitergehend rechtsstaatlich abgesichert.
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Schließlich wären - folgte man der gegenteiligen Auffassung - Konstellationen denkbar, in denen, anders als vorliegend, zum Zeitpunkt des Erlasses des Verlängerungsbeschlusses die Verurteilung wegen der in dem Zeitraum zwischen Ablauf der Bewährungszeit und dem Verlängerungsbeschluss begangenen Straftat bereits rechtskräftig ist. In diesen Fällen müsste dann das zuständige Gericht die Bewährungszeit zunächst verlängern, um sich die Möglichkeit des Widerrufs zu eröffnen, und zugleich in einem weiteren Schritt die Strafaussetzung widerrufen. Ein derartiges Vorgehen widerspräche aber der Gesetzessystematik des § 56f StGB.
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Im Übrigen ist anzumerken, dass die in dem Zeitraum zwischen Ablauf der Bewährungszeit und Verlängerungsbeschluss begangene Straftat nicht ohne Folgen bleibt, sondern unter Berücksichtigung der Vorstrafen regelmäßig zur Verhängung einer Freiheitsstrafe führen wird, so dass allein aufgrund des Umstandes, dass wegen dieser Straftat kein Bewährungswiderruf im Hinblick auf eine frühere Verurteilung möglich ist, weder der staatliche Strafahndungsanspruch noch das Präventionsinteresse gefährdet sind.
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2. Der angefochtene Beschluss der StVK war daher aufzuheben und der Antrag der Staatsanwaltschaft auf Verlängerung der Bewährungszeit zurückzuweisen, weil mangels Vorliegen eines Widerrufsgrundes auch die Voraussetzungen für eine Verlängerung der Bewährungszeit als milderes Mittel gemäß § 56f Abs. 2 Nr. 2 StGB nicht vorliegen.

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