Endurteil vom Oberlandesgericht München - 8 U 8353/21

Tenor

I. Auf die Berufung des Klägers wird das Endurteil des Landgerichts München II, 14. Zivilkammer (Einzelrichter), vom 25.10.2021 einschließlich des zugrunde liegenden Verfahrens aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur weiteren Verhandlung und Entscheidung, auch über die sonstigen Kosten des Berufungsverfahrens, an das Landgericht zurückverwiesen.

II. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

IV. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf bis zu 6.000.- € festgesetzt.

V. Von der Erhebung von Gerichtskosten für das Berufungsverfahren wird abgesehen.

Tatbestand

Tatsächliche Feststellungen

Der Tatbestand des angefochtenen Urteils lautet:

„Der Kläger macht Ansprüche im Zusammenhang mit dem sog. Dieselskandal geltend.

Der Kläger kaufte am 23.07.2013 den von der Beklagten hergestellten, im Versäumnisurteil vom 10.12.2020 näher bezeichneten Pkw. In diesem war ein von der Konzernschwester der Beklagten, der Volkswagen AG, entwickelter und hergestellter Motor des Typs EA189 verbaut, der eine unzulässige Vorrichtung zur Abgasmanipulation enthielt, was zum Rückruf durch das Kraftfahrtbundesamt führte.

Der Kläger behauptet, die Beklagte habe aufgrund der engen Entwicklungszusammenarbeit mit der Volkswagen AG um die unzulässige Manipulation gewusst und den Kläger vorsätzlich sittenwidrig getäuscht und geschädigt, welcher den Pkw bei Kenntnis nicht gekauft hätte. Er macht Schadensersatz geltend in Höhe des Kaufpreises.“

Sodann folgt die Darstellung der Prozessgeschichte zu den Versäumnisurteilen (das Landgericht hat am 10.06.2020 ein klagezusprechendes Versäumnisurteil gegen die Beklagte erlassen (Bl. 264 d.A.), das es mit weiterem Versäumnisurteil vom 17.06.2021 gegen den Kläger aufgehoben hat, Bl. 353 d.A.) und der Anträge, gefolgt von folgendem Satz zum Beklagtenvortrag:

„Der Beklagte erhebt die Einrede der Verjährung.“

Die nachfolgenden Gründe des angefochtenen Urteils lauten:

„Das Versäumnisurteil vom 17.06.2021 ist aufrechtzuerhalten, da die zulässige Klage unbegründet ist, § 343 ZPO.

Dem Kläger steht gegen die Beklagte kein Anspruch, insbesondere aus § 826, 823 Abs., 2, 852, 280 ff. BGB zu.

Eine Kenntnis der Beklagten hat der Kläger nicht substantiiert dargelegt, so dass eine sekundäre Darlegungslast derselben nicht zum Tragen kommt. Die bloße Entwicklungszusammenarbeit genügt hierfür ebenso wenig wie die Konzernverbundenheit, die nicht zu einer Kenntniszurechnung über § 31, 278, 831 BGB, je auch analog, führt.

Überdies ist der Anspruch auch verjährt.“

Weitere, konkretere Feststellungen enthält das angefochtene Urteil, auf das Bezug genommen wird, nicht. Die Verfahrensakte umfasste zur Zeit der Entscheidung des Landgerichts ca. 500 Blatt, wobei sich der Kläger dort umfangreich zur angeblichen Verantwortlichkeit der Beklagten äußerte.

Mit der Berufung wiederholt der Kläger seine erstinstanzlichen Anträge. Er rügt u.a., dass das Urteil des Landgerichts keine ausreichende Begründung enthalte und deshalb nur spekuliert werden könne, was das Ausgangsgericht meine. Sodann wiederholt die Berufungsbegründung auf 55 Seiten ihren erstinstanzlichen Vortrag u.a. zur angeblichen Kenntnis der Beklagten vom Vorhandensein der unzulässigen Abschalteinrichtung und deren Verantwortlichkeit hierfür.

Mit Verfügung vom 16.12.2021 wurden die Parteien darauf hingewiesen, der Senat teile die Auffassung der Berufung, dass das angefochtene Urteil keine brauchbare Grundlage für ein Berufungsverfahren darstelle und deshalb angeregt werde, die Zurückverweisung an das Landgericht zu beantragen und Einverständnis mit schriftlicher Entscheidung zu erklären.

Der Kläger beantragte daraufhin die Zurückverweisung an das Landgericht im schriftlichen Verfahren.

Die Beklagte erklärte sich mir der vom Senat vorgeschlagenen Vorgehensweise einverstanden und stimmte einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren ebenfalls zu.

Ergänzend wird auf die Schriftsätze der Parteien im Berufungsverfahren Bezug genommen.

Gründe

I.

Die zulässige Berufung des Klägers ist begründet. Der Rechtsstreit war auf den zuletzt übereinstimmenden Antrag bzw. Wunsch der Parteien zur weiteren Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht zurückzuverweisen (§ 538 Abs. 2 ZPO analog).

1. Das Verfahren im ersten Rechtszug leidet an wesentlichen Mängeln (vgl. § 538 Abs. 2 Nr. 1 ZPO), weil das angefochtene Urteil entgegen § 313 ZPO keinen ausreichenden Tatbestand und keine ausreichenden Urteilsgründe enthält.

a) Ein mangelhafter Tatbestand stellt einen Verfahrensfehler dar (vgl. Zöller/Heßler, ZPO, 34. A. 2022, § 538 Rnr. 29 mwN). Der Tatbestand soll eine in sich verständliche, knappe Darstellung der erhobenen Ansprüche und der dazu vorgebrachten Angriffs- und Verteidigungsmittel enthalten (vgl. z.B. Thomas/Putzo, ZPO, 42. Aufl. 2021, § 313 Rnr. 12).

Diesen Anforderungen genügt der vorliegende „Tatbestand“ angesichts einer zur Zeit der Entscheidung des Landgerichts ca. 500-seitigen Akte in keiner Weise. Dort wird nicht dargelegt, was die Klageseite zur Begründung einer Haftung der Beklagten konkret angeführt hat und womit die Beklagte die Verjährungseinrede begründet hat.

b) Auch mangelhafte Urteilsgründe stellen einen Verfahrensfehler dar (vgl. Zöller/Heßler, ZPO, 34. A. 2022, § 538 Rnr. 29 mwN).

Gemäß § 313 Abs. 1 Nr. 6, Abs. 3 ZPO haben die Entscheidungsgründe eines Zivilurteils eine kurze Zusammenfassung der Erwägungen zu enthalten, auf denen die Entscheidung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht beruht. Die ausdrücklich betonte Kürze der Entscheidungsgründe darf dabei jedoch nicht auf Kosten ihrer Verständlichkeit gehen. Vielmehr ist zu berücksichtigen, dass die Parteien einen verfassungsrechtlich fundierten Anspruch darauf haben, über die den Spruch des Richters tragenden Gründe und über die dafür maßgebenden Erwägungen in ausreichender Weise unterrichtet zu werden (Musielak/Voit, 18. Aufl. 2021, § 313a ZPO Rn.10 mwN; OLG Saarbrücken FamRZ 1993, 1098 (1099); OLG Köln BeckRS 2005, 30350113).

c) Nach kursorischer Durchsicht der Verfahrensakte erster Instanz scheint der Sachvortrag des hiesigen Klägers demjenigen zu ähneln, der z.B. Gegenstand des Verfahrens des Senats 8 U 6521/20 war. Dort hat der Senat immerhin 10 Seiten Hinweis und 17 Seiten Begründung im Endbeschluss gem. § 522 II ZPO benötigt, um darzustellen, dass und warum die dortige Klage vom Landgericht im Ergebnis zu Recht abgewiesen worden war (Beschluss vom 28.05.2021 - 8 U 6521/20, BeckRS 2021, 12757). Auch wenn man denselben Maßstab sicherlich nicht an eine erstinstanzliche Entscheidung anlegen kann, verdeutlicht dies doch, dass der vorliegende Tatbestand und die Gründe auch den Mindestanforderungen für erstinstanzliche Entscheidungen offensichtlich nicht genügen.

2. Das Fehlen von Tatbestand oder Entscheidungsgründen stellt einen wesentlichen Verfahrensmangel dar, weil nicht erkennbar ist, ob und wieweit der Anspruch auf rechtliches Gehör gewahrt ist (MüKoZPO/Rimmelspacher, 6. Aufl. 2020, ZPO § 538 Rn. 51 mwN aus der Rspr. vor der Reform des Berufungsrechts, insbes. BGH vom 24.11.1976, Gz. IV ZR 3/75).

Dieser erhebliche Verfahrensmangel stellt nach Auffassung des Senats einen über § 538 Abs. 2 ZPO hinausgehenden, ungeschriebenen Zurückverweisungsgrund dar. Denn das Ziel der Reform des Berufungsrechts, die Berufung in ein Instrument zur Fehlerkontrolle und -beseitigung zu verwandeln (vgl. MüKoZPO/Rimmelspacher, 6. Aufl. 2020, ZPO § 538 Rn. 33), kann so nicht erreicht werden.

a) Der Gesetzgeber hat zu den Gründen für die Zivilprozessreform u.a. folgendes ausgeführt (BT-Drs. 14/4722 S. 58):

„Am Ende des erstinstanzlichen Verfahrens muss eine Entscheidung stehen, die von den Parteien wirklich akzeptiert werden kann. Die Parteien sollen erkennen, dass das Gericht alle Chancen nutzt, um eine umfassende Prüfung des vorgetragenen Sachverhalts vorzunehmen. Dann werden mehr Prozesse in erster Instanz endgültig abgeschlossen werden können. Mit der Stärkung der ersten Instanz geht die Umgestaltung der zweiten einher. Die Berufungsinstanz soll sich in aller Regel auf den vom Eingangsgericht festgestellten Sachverhalt stützen und auf ihre genuine Aufgabe der Fehlerkontrolle und -beseitigung bei Tatbestand und rechtlicher Bewertung konzentrieren.“

b) Diese Konzeption des Gesetzgebers hat u.a. in § 529 Abs. 1 ZPO Ausdruck gefunden, wonach das Berufungsgericht die vom Gericht des ersten Rechtszuges festgestellten Tatsachen seiner Verhandlung und Entscheidung zugrunde zu legen hat. Da das angefochtene Urteil hier keinerlei konkrete Feststellungen enthält, fehlt es an aber Tatsachen, die der Senat seiner Verhandlung und Entscheidung zugrunde legen könnte.

Auch § 540 ZPO ist Folge dieser Konzeption. Danach enthält das Berufungsurteil anstelle von Tatbestand und Entscheidungsgründen die Bezugnahme auf die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil mit Darstellung etwaiger Änderungen oder Ergänzungen sowie eine kurze Begründung für die Abänderung, Aufhebung oder Bestätigung der angefochtenen Entscheidung. Auch hierfür bietet das angefochtene Urteil keinerlei Grundlage. Man stelle sich vor, der Senat würde die Berufung gem. § 540 ZPO „aus den zutreffenden Gründen des Ersturteils“ zurückweisen. Ein derartiges Urteil wäre auch für eine Revision oder Nichtzulassungsbeschwerde vor dem Bundesgerichtshof keine geeignete Basis.

c) Gleichwohl hat der Gesetzgeber die Zurückverweisungsvorschrift des § 538 Abs. 2 Nr. 1 ZPO als Ausnahmeregelung ausgestaltet, die den Grundsatz der Prozessbeschleunigung nur durchbricht, wenn die Aufhebung des angefochtenen Urteils wegen eines wesentlichen Verfahrensfehlers erfolgt und noch eine umfangreiche oder aufwendige Beweisaufnahme notwendig ist (vgl. BT-Drs. 14/4722 S. 102, BGH BB 2005, 516).

Dabei hat der Gesetzgeber aber offensichtlich übersehen oder nicht für möglich gehalten, dass ein Erstgericht - wie hier - entgegen § 313 ZPO ein Urteil erlassen könnte, dass die Feststellung, ob noch eine umfangreiche oder aufwendige Beweisaufnahme notwendig ist, ohne vollständige Verlagerung der Aufgaben der Tatsachenfeststellung der ersten Instanz in die zweite Instanz überhaupt nicht ermöglicht.

Der Senat ist deshalb der Auffassung, dass diese Gesetzeslücke dadurch geschlossen werden muss, dass die Zurückverweisung an das Erstgericht entsprechend § 538 Abs. 2 ZPO auch dann zulässig ist, wenn das angefochtene Urteil grob verfahrensfehlerhaft ist und es deshalb keine taugliche Grundlage für ein Berufungsverfahren nach der Konzeption des Reformgesetzgebers darstellt (ebenso OLG München, Urteil vom 22.09.2005, Az. 19 U 5182/04, NJOZ 2005, 4826, beck-online; KG, Urteil vom 10. September 2007 - 12 U 190/06 -, juris; LG München I, NJW-RR 2004, 353; BeckOK ZPO/Wulf, 43. Ed. 1.12.2021, ZPO § 538 Rn. 15, a.A. wohl Musielak/Voit/Ball, 18. Aufl. 2021, ZPO § 538 Rn. 11, für Versäumung der 5-Monatsfrist, unter Hinweis auf BGH, Urt. v. 29. 4. 2010 - I ZR 39/08, Rz. 17 ff.)

Ansonsten würde der verfassungsrechtlich fundierte Anspruch der Parteien, über die den Spruch des Richters tragenden Gründe und über die dafür maßgebenden Erwägungen in ausreichender Weise unterrichtet zu werden (Musielak/Voit/ Musielak, 17. Aufl. 2020, ZPO § 313 a, Rn.10; OLG Saarbrücken FamRZ 1993, 1098 (1099); OLG Köln BeckRS 2005, 30350113), in erster Instanz leerlaufen.

d) Daher sei nur noch kurz angemerkt, dass es sich auch um ein unzulässiges Überraschungsurteil handeln dürfte. Da das Landgericht zunächst am 10.06.2020 ein klagezusprechendes Versäumnisurteil gegen die Beklagte erlassen hat, muss es die Klage zu diesem Zeitpunkt noch für schlüssig gehalten haben, vgl. § 331 I ZPO. Dann hätte es zumindest eines vorherigen Hinweises gem. § 139 ZPO bedurft, warum es nunmehr eine Kenntnis der Beklagten nicht mehr für substantiiert dargelegt hält. Dass ein solcher Hinweis vom Landgericht erteilt worden wäre, ergibt sich aus dem angefochtenen Urteil nicht.

3. Der Senat ist sich darüber im Klaren, dass die Landgerichte derzeit mindestens ebenso unter der Diesel-Verfahrensflut zu leiden haben wie die Obergerichte und der Bundesgerichtshof. Dies kann aber nicht dazu führen, dass Klagen in der ersten Instanz nicht mehr konkret geprüft werden und dass die Mindeststandards für die Abfassung der entsprechenden Urteile noch deutlich unterschritten werden, wie hier. Denn damit werden die Probleme nur 1 : 1 im Rechtsmittelzug weitergereicht. Das ist nicht Sinn und Zweck des erstinstanzlichen Verfahrens (s.o.) und muss deshalb zumindest in Extremfällen wie hier zur Aufhebung und Zurückverweisung führen, damit das Erstgericht seiner Aufgabe gerecht werden kann.

4. Für das weitere Verfahren weist der Senat noch auf folgendes hin:

Der BGH hat kürzlich in einem Parallelfall entschieden, dass eine tatrichterliche Überzeugungsbildung gemäß § 286 Abs. 1 Satz 1 ZPO hinsichtlich der Kenntnis von Repräsentanten der hiesigen Beklagten als Fahrzeugherstellerin vom Einsatz einer von der Motorherstellerin implementierten evident unzulässigen Abschalteinrichtung verfahrensfehlerfrei möglich sein kann (BGH, Urteil vom 25. November 2021 - VII ZR 257/20, Rz. 30 ff.).

Der erkennende Senat konnte diese Überzeugung allerdings bisher nicht gewinnen (vgl. Beschluss vom 28.5.2021 - 8 U 6521/20, BeckRS 2021, 12757, Rz. 30 f. und 48). Es wird Aufgabe des Landgerichts sein, anhand des hiesigen Vortrags - einschließlich des Vortags im Berufungsverfahren nach Zurückverweisung - zu beurteilen, ob es diese Überzeugung, ggf. auch nach Beweisaufnahme, hier gewinnen kann.

II.

1. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.

2. Die Revision war nicht zuzulassen. Zwar hätte die Rechtssache gemäß § 543 Abs. 2 ZPO grundsätzliche Bedeutung, weil bisher durch den Bundesgerichtshof nicht geklärt ist, ob § 538 Abs. 2 ZPO die Zurückverweisungsgründe auch dann abschließend regelt, wenn das angefochtene Urteil grob verfahrensfehlerhaft ist und deshalb keine taugliche Grundlage für ein Berufungsverfahren nach der Konzeption des Reformgesetzgebers darstellt. Da die Parteien jedoch zuletzt übereinstimmend die Zurückverweisung an das Landgericht beantragt bzw. gewünscht haben und die Entscheidung sie somit nicht beschwert, bestand auch kein Anlass, die Revision zuzulassen.

3. Der festgesetzte Streitwert entspricht dem Hauptantrag abzüglich der dort eingeräumten Nutzungsentschädigung (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Oktober 2021 - VIII ZR 255/20).

4. Der Senat hält es für veranlasst, gemäß § 21 GKG von der Erhebung von Gerichtskosten für das Berufungsverfahren abzusehen. Eine Unrichtigkeit i.S.v. § 21 GKG liegt vor, soweit das Gericht gegen eine eindeutige gesetzliche Norm verstoßen hat und soweit der Verstoß auch offen zutage tritt. Ein offensichtlicher schwerer Verfahrensfehler kann ausreichen (BGH NJW-RR 2003, 1294). Hier liegt, wie oben dargelegt, ein offensichtlicher und schwerer Verfahrensfehler vor, der vom Kläger auch gerügt wurde.

Verwandte Urteile

Keine verwandten Inhalte vorhanden.

Referenzen