Urteil vom Oberlandesgericht Stuttgart - 4 U 114/03

Tenor

1. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Landgerichts Heilbronn vom 24.04.2003 - Aktenzeichen 3 O 534/02 III - wird zurückgewiesen.

2. Der Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung des Klägers durch Sicherheitsleistung in Höhe von bis 8.000,-- EUR abwenden, wenn nicht der Kläger vor Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

4. Die Revision wird nicht zugelassen.

Streitwert der Berufung: bis EUR 50.000,--

Gründe

 
1.
Der Kläger betreibt in H. eine gynäkologische Praxis, in welcher er unter Beachtung der gesetzlichen Bestimmungen Schwangerschaftsabbrüche im Sinne von § 218 a Abs. 1 und Abs. 2 StGB vornimmt. Der Beklagte ist Abtreibungsgegner.
Am Nachmittag des 24.04.2002 ging der Beklagte vor der Praxis des Klägers auf und ab. Er trug dabei ein Sandwich-Plakat mit der Aufschrift (Vorderseite): "Abtreibung tötet ungeborene Kinder" und (Rückseite): "Du sollst nicht töten. Gilt auch für Ärzte". Weiter verteilte er Flugblätter, die einen Aufruf zur Hilfe im Kampf gegen die straflose Tötung ungeborener Kinder enthielten (siehe beigezogene Akte des einstweiligen Verfügungsverfahrens 3 O 207/02 III Landgericht Heilbronn bzw. 4 U 171/02 OLG Stuttgart). In diesem Zusammenhang sprach der Beklagte ferner Passanten und vermeintliche Patientinnen des Klägers an.
Mit Urteil vom 24.04.2003 - Aktenzeichen 3 O 534/02 III - hat das Landgericht Heilbronn den Beklagten antragsgemäß zur Unterlassung verurteilt. Dagegen richtet sich dessen Berufung. Im Übrigen wird wegen des Sachverhaltes auf das Urteil des Landgerichts Heilbronn verwiesen.
Bereits im vorangegangenen einstweiligen Verfügungsverfahren hatte das Landgericht Heilbronn - Aktenzeichen 3 O 207/02 III - den Beklagten wegen diesen Sachverhaltes mit Urteil vom 24.09.2002 zur Unterlassung verurteilt; die dagegen eingelegte Berufung des Beklagten hat der Senat mit Urteil vom 22.01.2003 - Aktenzeichen 4 U 171/02 - zurückgewiesen. Mit den Parteien hatte sich der Senat bereits im Verfahren 4 U 5/02 (Urteil vom 08.05.2002) und 4 U 54/02 (Urteil vom 18.09.2002) beschäftigt, wobei jeweils die Berufung des Beklagten zurückgewiesen wurde; im Verfahren 4 U 54/02 wurde der Senat letztlich durch die Entscheidung des BGH vom 01.04.2003 - Aktenzeichen VI ZR 366/02 - bestätigt.
2.
Die zulässige Berufung ist in der Sache nicht begründet und deshalb zurückzuweisen. Das Landgericht hat den Unterlassungsanspruch des Klägers wegen Verletzung seines Persönlichkeitsrechts gemäß §§ 823 Abs. 1, 1004 BGB analog zurecht bejaht.
a.
Ohne Erfolg rügt der Beklagte, zur Entscheidung dieses Rechtsstreits sei der 12. Senat des OLG Stuttgart, bei dem die Sache zunächst unter dem Aktenzeichen 12 U 92/03 eingegangen ist, zuständig, dessen Abgabe an den 4. Senat sei zu Unrecht erfolgt. Wie im Verhandlungstermin ausführlich erörtert, entspricht die Abgabe an den 4. Senat dem Geschäftsverteilungsplan des Oberlandesgericht Stuttgart, denn der 4. Senat verhandelte das einstweilige Verfügungsverfahren der Parteien (4 U 171/02) und ist deshalb auch für das vorliegende Hauptsacheverfahren zuständig (Geschäftsverteilungsplan für 2003 Rdn. 42 a, 43 a).
b.
Das vorangegangene einstweilige Verfügungsverfahren hindert den Kläger nicht, vorliegendes Hauptsacheverfahren zu betreiben. Entgegen der Auffassung des Beklagten fehlt nicht das Rechtsschutzinteresse. Der Senat begnügt sich insoweit mit dem Hinweis, dass dem bereits der Umstand entgegensteht, dass es sich bei den Verfahren um verschiedene Streitgegenstände handelt.
c.
Soweit geltend gemacht wird, das Landgericht Heilbronn hätte den Rechtsstreit nicht durch den Einzelrichter entscheiden dürfen, kann dies dahinstehen. Gemäß § 348 a Abs. 3 ZPO ist ein eventueller Verstoß nicht anfechtbar. Im Übrigen hat der Senat bezüglich der Verfassungsmäßigkeit der §§ 348, 348 a, 526 ZPO keine Zweifel.
d.
Entgegen der Auffassung des Beklagten hatte das Landgericht keine Veranlassung, nach Kenntnis der Pressemitteilung des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 23.04.2003 aufgrund des Schriftsatzes des Beklagten vom 23.04.2003 die mündliche Verhandlung wieder zu eröffnen.
e.
10 
Im noch innerhalb der Berufungsbegründungsfrist eingegangenen Schriftsatz vom 26.06.2003 (Bl. 81/82) rügt der Beklagte ferner als Verstoß gegen § 139 Abs. 1 ZPO, das Landgericht habe "die dem Urteil zu Grunde gelegten Tatsachen nicht ordnungsgemäß ermittelt". Dieser allgemein gehaltene Vorwurf ist unzutreffend. Der Kläger hatte nach entsprechender Rüge des Beklagten in der Klagerwiderung mit Schriftsatz vom 16.01.2003 (Bl. 18 ff.) die Vorwürfe gegen den Beklagten unter Berufung auf Zeugen substantiiert. Im replizierenden Schriftsatz des Beklagtenvertreters vom 04.04.2003 (Bl. 40) erfolgte kein substantiiertes Bestreiten und ein solches geschah auch nicht (im Gegenteil) bei der persönlichen Anhörung des Beklagten im landgerichtlichen Verhandlungstermin (Bl. 44). Letztlich hat der Beklagte nach Ergehen des landgerichtlichen Urteils auch keine Tatbestandsberichtigung beantragt.
f.
11 
Der Unterlassungsanspruch des Klägers ergibt sich aus den §§ 823 Abs. 1, 1004 BGB analog (Verletzung des Persönlichkeitsrechts des Klägers).
aa.
12 
Das Verhalten des Beklagten in seiner konkreten Ausgestaltung berührt den Kläger im Bereich seiner gewerblichen Betätigung und damit als Teil der sozialen Gesellschaft. Dieser ist somit in seiner Sozialsphäre und damit in einem Teil seines Persönlichkeitsrechts betroffen.
bb.
13 
Ob insoweit ein rechtswidriger Eingriff in das Persönlichkeitsrecht (Artikel 1 und Artikel 2 Grundgesetz) vorliegt, hängt von einer Güter- und Interessenabwägung mit den seitens des Beklagten geltend gemachten Rechten/Gütern ab, der Meinungsfreiheit (Artikel 5 Grundgesetz) sowie der Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit (Artikel 4 Grundgesetz). Hierbei kommt der Meinungsfreiheit kein genereller Vorrang zu. Zwar spricht bei der Erörterung von Fragen, die die Öffentlichkeit wesentlich berühren, eine Vermutung für die freie Rede, doch kann diese Vermutung durch hinreichend gewichtige Gründe des Persönlichkeitsschutzes überwunden werden (Bundesverfassungsgericht NJW 1999, 2358, 2359). Die Abwägung hat unter Berücksichtigung der falltypischen Gestaltung und der besonderen Umstände des Einzelfalles zu erfolgen; anders ausgedrückt: es ist die Abwägung sowohl auf der Grundlage einer generellen Betrachtung des Stellenwertes der betroffenen Grundrechtspositionen als auch unter Berücksichtigung der Intensität der Grundrechtsverletzungen im konkreten Fall vorzunehmen (BGH NJW 1997, 2513). Danach erweist sich vorliegend der Eingriff in das Persönlichkeitsrecht des Klägers als rechtswidrig.
(1.)
14 
Mit dem Ansprechen von Patientinnen und Passanten im Bereich der klägerisches Praxis und dem Hinweis auf die Abtreibungstätigkeit des Klägers greift der Beklagte ganz erheblich in das - die Sozialsphäre betreffende - Persönlichkeitsrecht des Klägers ein. In diese Sozialsphäre fällt auch das Verhältnis des Klägers als Arzt zu seinen aktuellen und potenziellen Patientinnen, das durch das Verhalten des Beklagten nachteilig für den Kläger wie auch für die Patientinnen beeinträchtigt werden kann und wird. So wird der Kläger in einer Art und Weise in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gerückt, die er so nicht will und Patientinnen/Passantinnen werden mit einer Fragestellung konfrontiert, der sie sich teilweise überhaupt nicht aussetzen wollen und/oder die sie in zusätzliche psychische Zweifel versetzt. Das Verhalten des Beklagten ist damit geeignet, aktuelle und potenzielle Patientinnen des Klägers von einer (weiteren) Konsultation abzuhalten und so dem Kläger - auch - wirtschaftliche Nachteile zuzufügen. Zwar hält sich der Beklagte nicht Tag für Tag im Bereich der Praxis des Klägers auf, doch werden in der Regel einmal "abgeschreckte" Patientinnen/Passantinnen verloren bleiben.
(2.)
15 
Soweit sich der Beklagte auf seine Meinungsfreiheit beruft, macht er ein gegenüber dem Persönlichkeitsrecht des Klägers gleichrangiges Grundrecht geltend. Zweifellos ist er deshalb grundsätzlich berechtigt, öffentlich Abtreibungen und damit die Tätigkeit als Abtreibungsmediziner zu kritisieren, da die bei diesen und auch beim Kläger betroffene Sozialsphäre einen gewissen Bezug zur Öffentlichkeit hat und damit einer öffentlichen Darstellung nicht völlig verschlossen ist. Vorliegend ist der Eingriff in das Persönlichkeitsrecht des Klägers jedoch zu gewichtig. Zwar handelt es sich bei der Frage, ob, unabhängig von der aktuellen gesetzlichen Regelung Abtreibungen zulässig sein bzw. vorgenommen werden sollen, um ein die Öffentlichkeit berührendes Thema, und der Hinweis auf die (gesetzlich zulässige, straflose) Abtreibungstätigkeit des Klägers entspricht auch der Wahrheit, dennoch ist die Verhältnismäßigkeit zwischen der Motivation des Beklagten und der Intensität des Eingriffs in die Klägerrechte nicht gewahrt. Dies deshalb, weil der Beklagte zum einen durch sein Verhalten den Kläger bewusst in eine von diesem ungewollte und nicht herausgeforderte Öffentlichkeit drängt; das Thema, ob Abtreibungen zulässig sein sollen oder nicht, ist vom Kläger weder durch die Vornahme von (straflosen) Abtreibungen als solche noch durch einen eventuellen Hinweis auf diese Tätigkeit im Internet in die Öffentlichkeit gebracht worden. Auch wird der Kläger willkürlich aus einer Vielzahl von Abtreibungsmedizinern ausgewählt und als im Wesentlichen als Privatperson Betroffener zum Gegenstand der Personalisierung eines allgemeinen Sachproblems gemacht. Diese Prangerwirkung führte auch im oben erwähnten, vom BGH letztlich bestätigten Verfahren 4 U 54/02 OLG Stuttgart zur Zurückweisung der Berufung des Beklagten. Der Senat sieht insoweit auch keine Kollision mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts NJW 1999, 2358 (Greenpeace-Plakataktion gegen FCKW-produzierende Unternehmen); dort ist der Beschwerdeführer (Vorstandsvorsitzender der H. AG) nicht als Privatperson, sondern als verantwortlicher Unternehmensführer angegriffen, die H. AG neben der K. AG das einzige deutsche Unternehmen, das noch FCKW-produzierte und der Beschwerdeführer hatte sich selbst mit verschiedenen Stellungnahmen zur FCKW-Problematik in die öffentliche Diskussion eingeschaltet. Vorliegend kommt hinzu, dass der Beklagte sein Ziel durch eine bewusste Irritation des Arzt-Patienten Verhältnisses und wirtschaftliche Schädigung des Klägers erreichen will. Letzteres hat der Senat im Verfahren 4 U 54/02 ausgeführt. Danach ist - wie in der dortigen Berufungsbegründung des Beklagten selbst eingeräumt - einer der Beweggründe des Beklagten für sein Verhalten im unmittelbaren Bereich der Praxis des Klägers, auf diesen dessen Personal und abtreibungswillige Frauen einzuwirken und unter anderem den Kläger durch gewollte Vermögenseinbußen (Verlust von Patientinnen/Honoraren) von der Fortführung der gesetzlich erlaubten Tätigkeit abzuhalten. Im Übrigen benötigte es dieser Einräumung nicht, da auf der Hand liegt, dass das Verhalten des Beklagten diese Auswirkungen hat und der Beklagten insoweit zumindest bedingt vorsätzlich handelt.
(3.)
16 
Auch die Berufung des Beklagten auf Artikel 4 Grundgesetz (Glaubens-, Gewissens-, Bekenntnisfreiheit) rechtfertigt eine andere Beurteilung nicht.
g
17 
Der Urteilstenor des landgerichtlichen Urteils bezüglich der Örtlichkeit ("in der Nähe...") ist hinreichend bestimmt; die Beurteilung eines etwaigen Verstoßes ist zwar ins Vollstreckungsverfahren verlagert, doch ist dies nichts außergewöhnliches.
3.
18 
Kostenentscheidung: § 97 Abs. 1 ZPO.
19 
Vorläufige Vollstreckbarkeit: §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
20 
Veranlassung zur Revisionszulassung besteht nicht. Die vom Beklagten vorgelegte Entscheidung des OLG Karlsruhe vom 23.04.2003 (Aktenzeichen 6 U 189/02) deckt sich im wesentlichen mit der Problematik des bereits mehrfach erwähnten Verfahrens des Senats unter dem Aktenzeichen 4 U 54/02; in seinem Beschluss vom 01.04.2003 - Aktenzeichen VI ZR 366/02 - in dem die Beschwerde des Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision gegen dieses Urteil des Senats zurückgewiesen wurde, hat der BGH deutlich gemacht, dass er die Auffassung des Senats für richtig hält. Das vom Beklagten erwähnte Greenpeace-Urteil des BGH - Aktenzeichen VI ZR 23/93 - ist Grundlage der oben erwähnten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 08.04.1999 (NJW 1999, 2358) und weist nach Auffassung des Senats - wie oben dargelegt - erhebliche Sachverhaltsunterschiede zum vorliegenden Verfahren auf.

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