Urteil vom Oberverwaltungsgericht Mecklenburg-Vorpommern (3. Senat) - 3 L 170/10

Tenor

Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Greifswald vom 23. Juni 2010 geändert.

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Kläger können die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des Vollstreckungsbetrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Die Kläger wenden sich gegen die Rücknahme einer sogenannten Kerngebietsbescheinigung, eines Grundlagenbescheides für die Gewährung einer Investitionszulage.

2

Diese betrifft die Doppelhaushälfte E-Straße in B-Stadt. Der Bereich ist in dem Bebauungsplan F als Allgemeines Wohngebiet festgesetzt. Die gegenüberliegende Straßenseite ist unbebaut. In etwa 150 m Entfernung beginnt auf der gegenüberliegenden Straßenseite der Ortskern von B-Stadt. Dort befinden sich eine Schule, das Amtsgebäude und einige Gewerbebetriebe.

3

Mit Datum vom 28.03.2002 erteilte der Beklagte auf den Antrag der Kläger eine Bescheinigung nach § 3 Abs. 1 Nr. 4b InvZulG 1999, mit der bescheinigt wurde, dass das Gebäude in einem Gebiet liegt, das auf Grund der Bebauung der näheren Umgebung einem Gebiet entspricht, welches durch Bebauungsplan als Kerngebiet im Sinne des § 7 BauNVO festgesetzt ist. Auf der Grundlage dieser Bescheinigung wurde eine Investitionszulage in Höhe von 5.460,09 EUR an die Kläger ausgezahlt.

4

Mit Schreiben vom 27.01.2003 wies das Finanzamt Stralsund bezogen auf andere Gebäude E-Straße auf rechtliche Zweifel an der Richtigkeit der Bescheinigungen hin, die für Bauvorhaben "auf der grünen Wiese" ausgestellt worden seien, und verwies auf die "Hinweise für die kommunale Bescheinigungspraxis..." des Bundesbauministeriums. Das Finanzamt bat um Überprüfung aller vom Beklagten in der Vergangenheit bereits erteilten Investitionszulagenbescheinigungen und ggf. Rücknahme der entsprechenden Bescheide, einschließlich eines Hinweises "auf die Möglichkeit einer straf- oder bußgeldrechtlichen Würdigung bei bestehendem Verdacht einer falsch ausgestellten Bescheinigung".

5

Der Beklagte antwortete hierauf mit Schreiben vom 20.02.2003. Eine Rücknahme ausgestellter Bescheinigungen werde abgelehnt, weil die Voraussetzungen jeweils von der Bauamtsleitung des Amtes sorgfältig überprüft und zum Zeitpunkt der Bescheinigungserstellung als erfüllt angesehen worden seien. Dies sei auf der Grundlage entsprechender Ausführungen in der Zeitschrift des Städte- und Gemeindetages erfolgt. Ergänzend sei mit dem Finanzamt Rücksprache gehalten worden, worüber ein Telefonvermerk existiere. Erst im November 2002 sei eine Entscheidung des Verwaltungsgerichts Greifswald bekannt geworden, auf Grund derer der Städte- und Gemeindetag seine bisherige Empfehlung einer großzügigen Auslegung des InvZulG zurück gezogen habe. Ebenfalls erst zu diesem Zeitpunkt habe das Innenministerium M-V Hinweise und Merkblätter zur Investitionszulage nach dem InvZulG 1999 versandt. Der Beklagte verwies auf den Vertrauensschutz der Begünstigten, die die Planung und Finanzierung ihrer Bauvorhaben auf die Förderbarkeit nach dem InvZulG aufgebaut hätten. Die aus einer möglichen Rücknahme der Verwaltungsakte resultierenden Konsequenzen seien als unzumutbare Nachteile für die Betroffenen zu werten und würden auf Grund dessen vom Amt prinzipiell abgelehnt.

6

In der Beschlussvorlage für die Sitzung der Gemeindevertretung B-Stadt am 18.02.2003 erläuterte die Amtsverwaltung, weshalb die Kerngebietsbescheinigungen für das Gemeindegebiet nicht rechtmäßig erteilt worden seien, und empfohlen, diese zurückzunehmen. Im Protokoll heißt es hierzu: "Die Beschlussvorlage wird durch den Bürgermeister zurückgezogen. Es erfolgt die Information, dass die Grundlagenbescheide durch die Gemeinde B-Stadt vor der Änderung der rechtlichen Auslegung nicht zurückgezogen werden sollen. Neue Bescheinigungen werden indes nicht mehr ausgestellt."

7

Unter dem 07.01.2003 beantragten die Kläger für die andere Doppelhaushälfte E-Straße in B-Stadt ebenfalls einen Grundlagenbescheid nach dem Investitionszulagengesetz. Diesen Antrag lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 27.02.2003 mit der Begründung ab, die Voraussetzungen des § 3 Abs. 1 Nr. 4 InvZulG 1999 lägen nicht vor. Den Widerspruch der Kläger wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 02.04.2003 als unbegründet zurück.

8

Mit Schreiben des Landrates des Landkreises Nordvorpommern als untere Rechtsaufsichtsbehörde vom 12.11.2007 wurden die Amtsverwaltungen aufgefordert, in allen Fällen fehlerhafter Investitionsbescheinigungen Rücknahmebescheide zu erlassen und bis zum 30.11.2007 über den Erlass der Rücknahmebescheide zu berichten. Die Kommunalabteilung des Innenministeriums habe darauf hingewiesen, dass grundsätzlich in allen diesen Fällen Rücknahmebescheide zu erlassen seien. Dabei stehe der Aspekt im Vordergrund, dass nur mittels einer generellen "Fehlerkorrektur" das Vertrauen in die öffentliche Verwaltung herzustellen sei. Auf einen Vertrauensschutz könnten sich die Begünstigten regelmäßig nicht berufen. Zwar hätten diese eine Vermögensdisposition vorgenommen, aber der geldwerte Vorteil stecke quasi in der Liegenschaft und sei damit als Gegenstand der Bereicherung noch vorhanden. Das Finanzministerium habe angekündigt, die Kommunen, falls sie der Aufforderung der Rechtsaufsichtsbehörde zur Rücknahme der Bescheinigungen nicht nachkämen, in die Haftung nehmen zu wollen.

9

Mit Schreiben vom 25.07. und 11.09.2007 hörte der Beklagte die Kläger zu der beabsichtigten Rücknahme an. Die Kläger äußerten sich nicht.

10

Mit dem angefochtenen Bescheid vom 20.11.2007 nahm der Beklagte den Grundlagenbescheid vom 28.03.2002 mit Wirkung für die Vergangenheit zurück und führte zur Begründung aus: Im Rahmen einer nochmaligen Prüfung der Sach- und Rechtslage sei festgestellt worden, dass die bescheinigten Voraussetzungen nicht gegeben seien. Die konkrete örtliche Situation biete keine Anhaltspunkte für das Vorhandensein eines Kerngebietes iSv § 7 BauNVO. Auch die Bebauung der näheren Umgebung entspreche nicht ansatzweise einem solchen Kerngebiet. Zwar lägen im Ortsteil Einrichtungen, die auch in einem Kerngebiet zulässig seien, wie die Grundschule, ein Hotel und andere Gewerbebetriebe, dennoch handele es sich um einen Ortsteil, der überwiegend durch eine Wohnbebauung gekennzeichnet sei. Ein Dorfkern stelle regelmäßig kein Kerngebiet iSd § 3 Abs. 1 Nr. 4b InvZulG 1999 dar. Das Vertrauen der Kläger sei nicht wegen Verbrauchs gewährter Leistungen schutzwürdig, weil die Kläger Aufwendungen erspart hätten, die sonst aus eigenen Mitteln aufzubringen gewesen wären. Im Rahmen der Anhörung hätten die Kläger auch kein schutzwürdiges Vertrauen geltend gemacht.

11

Den Widerspruch der Kläger wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 30.01.2008 als unbegründet zurück. Die Jahresfrist für die Rücknahme sei gewahrt. Die Frist habe nicht bereits im Jahr 2003 zu laufen begonnen, weil damals – wie im einzelnen näher ausgeführt wird - keine Sicherheit über die Rechtswidrigkeit der erteilten Grundlagenbescheide bestanden habe. Eine Einzelfallprüfung hinsichtlich einer Rücknahme sei nicht durchgeführt worden. Man habe vergebens auf eine Rückäußerung des Finanzamtes gewartet. Da die Kläger die Doppelhaushälfte zu einem Preis von etwa 138.000 EUR veräußert hätten, seien sie nicht entreichert; die Verwendung des Geldes stehe - unter dem Gesichtspunkt eines schutzwürdigen Vertrauens, § 48 Abs. 2 VwVfG M-V - der Rücknahme nicht entgegen. Bei der Ermessensentscheidung über die Rücknahme sei der Grundsatz der sparsamen und wirtschaftlichen Verwendung der Haushaltsmittel zu beachten, der den großzügigen Verzicht auf die Rücknahme verbiete. Angesichts des mangelnden Vertrauensschutzes überwiege das öffentliche Interesse an der Wiederherstellung eines rechtskonformen Zustandes gegenüber dem privaten Interesse an der Aufrechterhaltung des rechtswidrigen Bescheides.

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Die Kläger haben am 27.02.2008 Klage erhoben. Sie haben vorgetragen: Die Rücknahme sei nicht gemäß § 48 Abs. 4 VwVfG M-V fristgerecht innerhalb eines Jahres nach Kenntnis der die Rücknahme rechtfertigenden Tatsachen erfolgt. Daraus dass der Beklagte die Erteilung einer Investitionszulagenbescheinigung für das zweite Grundstück der Kläger bereits Anfang des Jahres 2003 abgelehnt habe, ergebe sich, dass die Rechtswidrigkeit des zurück genommenen Bescheides ihm bereits zu diesem Zeitpunkt bekannt gewesen sei. Auch das Finanzamt Stralsund, das Bauministerium M-V und das Finanzministerium M-V hätten bereits zu diesem Zeitpunkt Kenntnis von der Rechtswidrigkeit der ausgestellten Grundlagenbescheide gehabt. Für das Finanzministerium M-V gelte dies bereits seit April 2001. In der 2007 erteilten Weisung des Landkreises Nordvorpommern, Grundlagenbescheide aus früheren Jahren zurück zu nehmen, sei die Rücknahme nicht von einer Würdigung der Einzelfallumstände abhängig gemacht worden. Das anschließende Anhörungsschreiben an die Kläger vom 11.09.2007 sei nicht auf weitere Sachverhaltsaufklärung gerichtet gewesen; es stelle sich lediglich als formelle Wahrung des rechtlichen Gehörs dar. Die Kläger haben sich auf die Entscheidung des VGH Mannheim vom 05.04.2007 - 8 S 2090/06 - berufen, nach der die Jahresfrist zur Rücknahme zu laufen beginnt, wenn aus der Sicht der Behörde Entscheidungsreife gegeben ist.

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Die Kläger haben beantragt,

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den Rücknahmebescheid des Beklagten vom 20.11.2007 und dessen Widerspruchsbescheid vom 30.01.2008 aufzuheben.

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Der Beklagte hat beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Er hat vorgetragen, die Jahresfrist des § 48 Abs. 4 VwVfG M-V stehe der Rücknahme nicht entgegen, weil diese erst mit Kenntnis der Behörde von allen für die zu treffende Ermessensentscheidung relevanten Tatsachen beginne. Diese habe erst im Juli 2007 vorgelegen.

18

In der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht hat der Kläger zu 2. erklärt, als er die Investitionszulage erhalten habe, sei das Gebäude bereits errichtet gewesen. Weitere Investitionsmaßnahmen habe er danach nicht getätigt. Über die Voraussetzungen, unter denen eine Investitionszulage gewährt werde, habe er sich seinerzeit überhaupt keine Gedanken gemacht. Diese sei von seinem Steuerberater beantragt worden.

19

Das Verwaltungsgericht hat mit Urteil des Berichterstatters vom 23.06.2010 der Klage stattgegeben und den angefochtenen Rücknahmebescheid aufgehoben. Zur Begründung hat das Verwaltungsgericht ausgeführt: Die zurück genommene Kerngebietsbescheinigung sei rechtswidrig. Die Rücknahme sei gemäß § 48 Abs. 2 VwVfG M-V nicht durch Vertrauensschutzgesichtspunkte gehindert, weil von einer grob fahrlässigen Unkenntnis bei den Klägern bzw. dem Steuerberater als ihrem Vertreter auszugehen sei. Die Rücknahme sei jedoch nicht innerhalb der Jahresfrist des § 48 Abs. 4 VwVfG M-V erfolgt. Der zuständige Sachbearbeiter des Beklagten habe spätestens im Februar 2003 die Rechtswidrigkeit der Kerngebietsbescheinigung erkannt. Soweit grundsätzlich auch die vollständige Kenntnis der Behörde über den für die Entscheidung über die Rücknahme erheblichen Sachverhalt Voraussetzung für den Fristlauf sei, insbesondere einschließlich Vertrauensschutzaspekten und Ermessensgesichtspunkten, gelte dies nicht, wenn die Behörde zu erkennen gegeben habe, dass sie von vornherein - ohne Klärung dieser Gesichtspunkte - eine Rücknahme für unzulässig halte. Es komme also - wie der VGH Mannheim in der von Klägerseite angeführten Entscheidung zu Recht dargelegt habe - allein auf den Zeitpunkt der Entscheidungsreife aus Sicht der Behörde an. Dies sei hier der Zeitpunkt im Februar 2003 gewesen, in dem der Beklagte erklärt habe, eine Rücknahme werde abgelehnt.

20

Im übrigen sei die Rücknahme ermessensfehlerhaft. Allerdings begründeten die Haushaltsgrundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit sowie die fehlende Schutzwürdigkeit des Vertrauens der Kläger ein intendiertes Ermessen. Der Beklagte habe aber berücksichtigen müssen, dass ihn ein erhebliches Mitverschulden an der rechtswidrigen Erteilung der Bescheinigung treffe. Auch bei einer weiten Auslegung des § 3 Abs. 1 Nr. 4b InvZulG 1999 sei offensichtlich gewesen, dass die Voraussetzungen für die Erteilung der Bescheinigung nicht vorgelegen hätten. Bei lebensnaher Betrachtung könne daher davon ausgegangen werden, dass er die Bescheinigung in Kenntnis der Rechtswidrigkeit erteilt habe oder zumindest den sich aufdrängenden Zweifeln an deren Rechtmäßigkeit nicht nachgegangen sei. Auch der fehlende Vertrauensschutz zu Gunsten der Kläger hindere eine Berücksichtigung des Mitverschuldens der Behörde nicht. Im übrigen habe der Beklagte auch den Zeitablauf seit Kenntnis der Rechtswidrigkeit bei der Ermessensentscheidung berücksichtigen müssen. Es habe näherer Darlegung bedurft, weshalb auch vier Jahre später noch das öffentliche Interesse an der Rücknahme der Bescheinigung gegenüber dem Interesse der Kläger überwiege.

21

Gegen das am 03.08.2010 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 30.08.2010 die Zulassung der Berufung beantragt und den Antrag am Montag, den 04.10.2010 begründet. Der Senat hat mit Beschluss vom 18.01.2013, zugestellt am 23.01.2013, die Berufung zugelassen. Der Beklagte hat daraufhin am 22.02.2013 die Berufung begründet.

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Er trägt vor: Die Jahresfrist des § 48 Abs. 4 VwVfG M-V sei im Zeitpunkt der Entscheidung noch nicht abgelaufen gewesen. Das Amt habe erst im Jahre 2007 Kenntnis von der Rechtswidrigkeit der erteilten Investitionsbescheinigungen gehabt. Bis dahin sei zur Frage der Rechtmäßigkeit eine differenzierte Auffassung vertreten worden. Die Richtlinien des Innenministeriums vom 05.11.2002 hätten lediglich die künftige Bescheinigungspraxis geregelt, sich zu den bereits zuvor erlassenen Bescheinigungen aber nicht geäußert. Dies ergebe sich bereits aus dem Widerspruchsbescheid.

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Es treffe auch nicht zu, dass er - der Beklagte - bereits im Jahr 2003 zu erkennen gegeben habe, dass eine Rücknahme für unzulässig gehalten werde. Dies ergebe sich insbesondere nicht aus dem Protokoll der Gemeindevertretersitzung vom 18.02.2003. In dieser Sitzung sei die Gemeindevertretung lediglich informiert worden, habe aber keine Beschlüsse gefasst. Der informierende Bürgermeister - der im übrigen für die Entscheidung über die Rücknahme nicht zuständig gewesen sei - habe die Auffassung vertreten, dass die Bescheide im Zeitpunkt ihres Erlasses rechtmäßig gewesen seien. Entsprechend habe sich der Amtsvorsteher in dem Schreiben an das Finanzamt Stralsund vom 20.02.2003 geäußert. Allerdings habe dieser in dem genannten Schreiben die Rücknahme auch aus Vertrauensschutzgründen "prinzipiell abgelehnt". Aus der anschließenden Bekundung des Interesses an einer informellen Klärung ergebe sich jedoch, dass dies eher als Absichtserklärung denn als Entscheidung gemeint gewesen sei. Eine endgültige Entscheidungsreife, wie sie der VGH Mannheim in seiner Entscheidung vom 05.04.2007 fordere, habe zu diesem Zeitpunkt noch nicht vorgelegen.

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Im übrigen weiche die genannte Entscheidung des VGH Mannheim von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ab, nach der die Jahresfrist erst zu laufen beginne, wenn der Behörde sämtliche für die Rücknahmeentscheidung erheblichen Tatsachen vollständig bekannt seien, wozu auch alle Tatsachen gehörten, die für die Beurteilung eines Vertrauensschutzes nach § 48 Abs. 2 VwVfG M-V sowie für die Ermessensausübung relevant seien. Der VGH Mannheim lege die subjektive Perspektive der Behörde zu Grunde, während das Bundesverwaltungsgericht einen objektiven Maßstab anlege. Objektiv sei die Sachaufklärung jedoch erst nach Anhörung der Betroffenen abgeschlossen.

25

Ein Mitverschulden sei entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts bei der Ermessensausübung nicht zu berücksichtigen. Es sei nicht nachvollziehbar, dass derjenige, der gemäß § 48 Abs. 2 Nr. 3 VwVfG M-V keinen Vertrauensschutz in Anspruch nehmen könne, über die Anwendung von Verschuldensgrundsätzen letztlich doch wieder geschützt werden solle. Weshalb der Zeitablauf im Rahmen der Ermessensentscheidung hätte berücksichtigt werden müssen, sei ebenfalls nicht erkennbar. Insbesondere bestünden keine Anhaltspunkte für einen Wegfall des öffentlichen Interesses daran, fehlerhaft bewilligte Fördermittel, die durch das Steueraufkommen finanziert würden, zurück zu verlangen. Allenfalls könne der Zeitablauf zu einer Verwirkung der Rücknahmebefugnis führen.

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Der Beklagte beantragt,

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das Urteil des Verwaltungsgerichts Greifswald vom 23. Juni 2010 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

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Die Kläger beantragen,

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die Berufung zurückzuweisen.

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Das Verwaltungsgericht habe zu Recht angenommen, dass der Rücknahmebescheid rechtswidrig sei, weil die Jahresfrist des § 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG M-V bereits abgelaufen gewesen sei. Für den Fristbeginn sei - wie der VGH Mannheim zu Recht entschieden habe - die Entscheidungsreife aus der Sicht der Behörde maßgeblich. Diese habe bereits zum Zeitpunkt der Sitzung der Gemeindevertretung am 18.02.2003 vorgelegen. Ebenso ergebe sie sich aus dem Schreiben des Beklagten an das Finanzamt Stralsund vom 28.03.2002, in dem eine Rücknahme der Bescheinigung ausdrücklich abgelehnt werde. Die Kläger berufen sich auf eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, nach der ein Fehler in der Rechtsanwendung vorliegt, der den Beginn der Jahresfrist nicht hinauszuschieben vermag, wenn die Behörde umfassende Kenntnis der die Rücknahme rechtfertigenden Tatsachen hatte und sich lediglich über die Erforderlichkeit ausdrücklicher Ermessenserwägungen geirrt hat. Ebenso berufen sie sich auf eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, nach der es auf die subjektive Fähigkeit der Rücknahmebehörde, die Reichweite und die rechtlichen Anforderungen der Rücknahmeermächtigung richtig zu erkennen, nicht ankomme, und Rechtsirrtümer, die der Behörde insoweit trotz umfassender Tatsachenkenntnisse unterlaufen, zu ihren Lasten gingen. Die Kläger tragen vor, durch eine nachgeschobene Anhörung der Betroffenen könne der Behörde nicht eine Art "Wiedereinsetzung in den vorigen Stand" gewährt werden. Dies würde dem auf Rechtssicherheit zielenden Zweck der Rücknahmefrist zuwider laufen. Die Anforderung, dass die Entscheidungsreife nicht von der rechtlichen Erkenntnisfähigkeit der Behörde abhängig gemacht werden dürfe, würde konterkariert werden. Auch nach der Entscheidung des Großen Senats des Bundesverwaltungsgerichts vom 19.12.1984 könne der Zeitpunkt der Entscheidungsreife mit dem Zeitpunkt zusammen fallen, in dem die Behörde die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes erkenne.

31

Sie - die Kläger - könnten sich gemäß § 48 Abs. 2 VwVfG M-V auf Vertrauensschutz berufen. Ihnen bzw. ihrem Steuerberater sei jedenfalls nicht bekannt oder grob fahrlässig unbekannt gewesen, dass die Voraussetzungen für die Gewährung einer Investitionszulage von vornherein nicht vorgelegen hätten. Es sei davon auszugehen, dass der Steuerberater auf Grund der damaligen großzügigen kommunalen Bescheinigungspraxis angenommen habe, dass zu den förderungswürdigen Bauvorhaben auch solche gehörten, die auf Grund der Bebauung in näherer Umgebung eines Kerngebietes lagen. Eine andere Bewertung habe sich ihnen zum Zeitpunkt der Antragstellung jedenfalls nicht ohne weiteres aufdrängen müssen. Im übrigen sei die Rücknahme auch ermessensfehlerhaft, weil der Beklagte sein eigenes Mitverschulden nicht berücksichtigt habe.

32

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die Berufung ist zulässig und begründet. Die Klage ist unter Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils abzuweisen, weil sie zulässig, aber unbegründet ist. Der angefochtene Rücknahmebescheid des Beklagten vom 20.11.2007 und dessen Widerspruchsbescheid vom 30.01.2008 sind rechtmäßig und verletzen die Kläger nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.

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Rechtsgrundlage für die Rücknahme ist § 48 VwVfG M-V. Nach § 48 Abs. 1 VwVfG M-V kann ein rechtswidriger Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden (Satz 1); ein Verwaltungsakt der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), darf nur unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 zurückgenommen werden (Satz 2).

35

1. Bei der unanfechtbar gewordenen Bescheinigung vom 28.03.2002, mit der nach § 3 Abs. 1 Nr. 4b InvZulG 1999 bescheinigt wurde, dass das Gebäude E-Straße in B-Stadt in einem Gebiet liegt, das auf Grund der Bebauung der näheren Umgebung einem Gebiet entspricht, welches durch Bebauungsplan als Kerngebiet im Sinne des § 7 BauNVO festgesetzt ist, handelt es sich um einen rechtswidrigen Verwaltungsakt. Tatsächlich liegt das Gebäude in einem Gebiet, das durch Bebauungsplan als Allgemeines Wohngebiet gemäß § 4 BauNVO festgesetzt ist und auch tatsächlich so genutzt wird.

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Auf die Frage, ob die Bescheinigung nichtig ist, weil sie an einem besonders schwerwiegenden Fehler leidet und dieser bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände offensichtlich ist (§ 44 Abs. 1 VwVfG M-V), kommt es nicht an. Auch ein nichtiger Verwaltungsakt kann zurückgenommen werden. Die Behörde ist nicht auf die Feststellung nach § 44 Abs. 5 VwVfG M-V beschränkt (vgl. BSG U. v. 23.02.1989 - 11/7 RAr 103/87 - NVwZ 1989, 902 = Juris Rn. 17; Kopp/Ramsauer VwVfG 13. Aufl. 2012 § 48 Rn. 18; Sachs in Stelkens ua VwVfG § 48 Rn. 67; jew. mwN).

37

2. Die von der zuständigen Gemeindebehörde erteilte Investitionsbescheinigung ist gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 4b InvZulG 1999 die Grundlage für die Gewährung einer Investitionszulage und damit ein begünstigender Verwaltungsakt iSd § 48 Abs. 1 Satz 2 VwVfG M-V. Da es sich um einen Verwaltungsakt handelt, der Voraussetzung für die Gewährung einer einmaligen Geldleistung ist, darf dieser gemäß § 48 Abs. 2 VwVfG M-V nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist (Satz 1); das Vertrauen ist in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte gewährte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann (Satz 2). Dabei finden die Grundsätze Anwendung, die zum Umfang des Bereicherungsanspruchs (§ 818 BGB) entwickelt worden sind. Danach ist eine Geldleistung nicht im Sinne des § 48 Abs. 2 Satz 2 VwVfG M-V verbraucht, wenn sie zur Schuldentilgung oder für Anschaffungen verwendet worden ist, die wertmäßig im Vermögen des Begünstigten noch vorhanden sind (BVerwG U. v. 28.01.1993 - 2 C 15.91 - NVwZ-RR 1994, 32 = Juris Rn. 11 f.).

38

Nach diesen Maßstäben kommt ein Vertrauensschutz hier nicht in Betracht und wird von den Klägern auch nicht geltend gemacht. Der durch die Gewährung der Investitionszulage bei den Klägern eingetretene Vermögenszuwachs – durch Schuldentilgung bzw. Investition in das errichtete Gebäude, für das sodann ein entsprechender Kaufpreis erzielt wurde – ist wertmäßig noch vorhanden. Ein „Wegfall der Bereicherung“ ist nicht eingetreten. Es bestehen im übrigen auch keine Anhaltspunkte dafür, dass die Kläger die Gesamtinvestition nur im Hinblick auf die erwartete Investitionszulage getätigt hätten oder mit der Zulage bestimmte weitere Maßnahmen finanziert hätten, die ansonsten unterblieben wären. Denn sie haben in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht angegeben, das Gebäude sei bereits errichtet gewesen, als sie die Investitionszulage erhalten hätten; weitere Investitionsmaßnahmen wie z.B. Modernisierungen seien nach Erhalt der Investitionszulage nicht vorgenommen worden.

39

Auf die Frage, ob sich die Kläger – wie das Verwaltungsgericht angenommen hat - auf Vertrauensschutz auch deshalb nicht berufen können, weil sie die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannten oder in Folge grober Fahrlässigkeit nicht kannten bzw. ihnen das Verschulden ihres Steuerberaters zuzurechnen ist (§ 48 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 VwVfG M-V), kommt es daher nicht mehr an.

40

3. Erhält die Behörde von Tatsachen Kenntnis, die die Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes rechtfertigen, so ist die Rücknahme nur innerhalb eines Jahres seit dem Zeitpunkt der Kenntnisnahme zulässig, § 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG M-V. Diese Frist ist hier gewahrt.

41

Die Jahresfrist des § 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG wird in Lauf gesetzt, wenn die Behörde positive Kenntnis von den Tatsachen erhalten hat, die die Rücknahme des Verwaltungsakts rechtfertigen. Dass die die Rücknahme des Verwaltungsakts rechtfertigenden Tatsachen aktenkundig sind, genügt nicht. Die Behörde erlangt diese positive Kenntnis, wenn der nach der innerbehördlichen Geschäftsverteilung zur Rücknahme des Verwaltungsakts berufene Amtswalter oder ein sonst innerbehördlich zur rechtlichen Überprüfung des Verwaltungsakts berufener Amtswalter die die Rücknahme des Verwaltungsakts rechtfertigenden Tatsachen feststellt. Die Behörde muss insoweit nicht nur die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts erkannt haben, sondern ihr müssen außerdem sämtliche für die Rücknahmeentscheidung erheblichen Tatsachen vollständig bekannt sein, wozu auch alle Tatsachen gehören, die im Falle des § 48 Abs. 2 VwVfG M-V ein Vertrauen des Begünstigten in den Bestand des Verwaltungsakts entweder nicht rechtfertigen oder ein bestehendes Vertrauen als nicht schutzwürdig erscheinen lassen, sowie die für die Ermessensausübung wesentlichen Umstände (st. Rspr. seit BVerwG, B. v. 19.12.1984 - Gr.Sen.1,2.84 - NJW 1985, 819, 820 f. = Juris Rn. 17 ff.; vgl. zuletzt ausführlich BVerwG U. v. 28.06.2012 - 2 C 13.11 - BVerwGE 143, 230 = Juris Rn. 27 ff.).

42

Bereits der Wortlaut des § 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG M-V fordert die Kenntnis von Tatsachen, die die Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsakts "rechtfertigen", und stellt damit klar, daß die Erkenntnis der Rechtswidrigkeit für sich allein den Fristlauf nicht auszulösen vermag, sondern hierzu die vollständige Kenntnis des für die Entscheidung über die Rücknahme des Verwaltungsakts erheblichen Sachverhalts nötig ist. Hierzu gehören auch alle Tatsachen, die im Falle des § 48 Abs. 2 VwVfG M-V ein Vertrauen des Begünstigten in den Bestand des Verwaltungsakts entweder nicht rechtfertigen oder ein bestehendes Vertrauen als nicht schutzwürdig erscheinen lassen, sowie die für die Ermessensausübung wesentlichen Umstände. Die Frist beginnt demgemäß zu laufen, wenn die Behörde ohne weitere Sachaufklärung objektiv in der Lage ist, unter sachgerechter Ausübung ihres Ermessens über die Rücknahme des Verwaltungsakts zu entscheiden. Das entspricht dem Zweck der Jahresfrist als einer Entscheidungsfrist, die sinnvollerweise erst anlaufen kann, wenn der zuständigen Behörde alle für die Rücknahmeentscheidung bedeutsamen Tatsachen bekannt sind. Die Behörde soll nicht durch den drohenden Fristablauf zu einer Entscheidung gezwungen werden, obwohl ihr diese mangels vollständiger Kenntnis des insofern erheblichen Sachverhalts noch nicht möglich ist. Ein entsprechendes Verständnis der Jahresfrist als einer Bearbeitungsfrist für die Behörde würde dem Wortlaut der Vorschrift widersprechen und von ihrem Sinn und Zweck nicht getragen sein (vgl. BVerwG B. v. 19.12.1984 - Gr.Sen.1,2.84 – aaO; zum Charakter der Frist als Entscheidungs- und nicht Bearbeitungsfrist vgl. zuletzt BVerwG U. v. 28.06.2012 – 2 C 13.11 – aaO Rn. 33).

43

Das Bundesverwaltungsgericht hat in Fortentwicklung dieser Rechtsprechung auch entschieden, dass zur Herstellung der Entscheidungsreife, mit deren Eintritt die Entscheidungsfrist des § 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG erst zu laufen beginnen kann, regelmäßig das Anhörungsverfahren gehört, das der Wahrung des in einem rechtsstaatlichen Verwaltungsverfahren gebotenen rechtlichen Gehörs dient, und zwar unabhängig vom Ergebnis der Anhörung. Denn die Einwände des Anzuhörenden können nur dann ernstlich zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen werden, wenn sich die Behörde ihre Entscheidung bis zum Abschluss des Anhörungsverfahrens offen hält. Das gilt auch und gerade, wenn es sich bei der zu treffenden Entscheidung um eine Ermessensentscheidung handelt, bei der die für die Ermessensbetätigung maßgeblichen Umstände auch in der Sphäre des anzuhörenden Betroffenen liegen. Es liegt in der Konsequenz der Ausgestaltung der Rücknahmefrist als Entscheidungsfrist, dass es die Behörde in der Hand hat, den Beginn der Frist durch eine Verzögerung des Anhörungsverfahrens hinauszuschieben. Ein solches Verhalten kann allerdings zur Verwirkung des Rechts auf Rücknahme führen (vgl. BVerwG, U. v. 20.09.2001 - 7 C 6.01 - NVwZ 2002, 485 mwN; BVerwG B. v. 04.12.2008 - 2 B 60.08 - Juris Rn. 7).

44

Nach diesen Maßstäben war eine Anhörung der Kläger hier zur Herstellung der Entscheidungsreife erforderlich, um zu klären, ob die Kläger in schutzwürdiger Weise auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hatten, § 48 Abs. 2 VwVfG M-V. Mit dem Abschluss des Anhörungsverfahrens im Jahr 2007 begann die Jahresfrist des § 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG M-V zu laufen; sie wurde folglich durch den Rücknahmebescheid vom 20.11.2007 gewahrt.

45

Soweit die Kläger sich auf eine – ebenfalls die Rücknahme einer Investitionsbescheinigung betreffende - Entscheidung des VGH Mannheim berufen (U. v. 05.04.2007 - 8 S 2090/06 - VBlBW 2007, 347), nach der die Jahresfrist des § 48 Abs. 4 VwVfG M-V zu laufen beginnt, wenn aus der Sicht der Behörde - subjektiv - Entscheidungsreife vorliegt bzw. die Behörde zu erkennen gegeben hat, dass sie eine Rücknahme des rechtswidrigen Verwaltungsakts von vornherein - ohne Klärung konkreter Vertrauensschutzaspekte - für unzulässig hält, folgt der Senat dieser Auffassung nicht. Der VGH Mannheim hat ausgeführt, die Jahresfrist zur Rücknahme habe in dem Moment zu laufen begonnen, in dem die Behörde die Rechtswidrigkeit der erteilten Bescheinigung erkannt, aber offenbar angenommen habe, die weiteren Rücknahmevoraussetzungen lägen nicht vor. Mit Blick auf den Zweck der Ausschlussfrist als Entscheidungsfrist komme es allein darauf an, ob aus Sicht der Behörde Entscheidungsreife gegeben sei. Habe diese zu erkennen gegeben, dass sie eine Rücknahme des rechtswidrigen Verwaltungsakts von vornherein - ohne Klärung konkreter Vertrauensschutzaspekte - für unzulässig halte, beginne die Jahresfrist auch dann zu laufen, wenn diese Rechtsauffassung unzutreffend sei und eine Rücknahme bei hinreichender Aufklärung des Sachverhalts in Betracht komme. Denn ein auf die weiteren Rücknahmevoraussetzungen bezogener Rechtsirrtum habe keine fristhemmende Wirkung. Käme es für die Frage der Entscheidungsreife nicht auf die Rechtsauffassung der Rücknahmebehörde, sondern auf die zutreffende Anwendung der Rücknahmevoraussetzungen an, wäre es von den Rechtskenntnissen der Behörde abhängig, ob und wann sie die zur Herbeiführung der Entscheidungsreife notwendige Sachaufklärung vornehme. Die zur Verfügung stehende Rücknahmefrist wäre also um so länger bemessen, je geringer die Rechtskenntnisse der jeweiligen Behörde sind. Dies wäre aber mit dem Zweck der Jahresfrist, Rechtssicherheit und Rechtsklarheit im Hinblick auf den Bestand von Verwaltungsakten zu gewährleisten, nicht zu vereinbaren. Im Übrigen läge auch treuwidriges Verhalten vor, wenn sich eine Rücknahmebehörde, die zu erkennen gegeben hatte, dass aus ihrer Sicht Entscheidungsreife vorlag, später hinsichtlich des Fristablaufs auf die Notwendigkeit weiterer Sachaufklärung beriefe.

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Die Auffassung des VGH Mannheim, dass die Jahresfrist des § 48 Abs. 4 VwVfG M-V zu laufen beginnt, wenn aus der Sicht der Behörde - subjektiv - Entscheidungsreife vorliegt bzw. die Behörde zu erkennen gegeben hat, dass sie eine Rücknahme des rechtswidrigen Verwaltungsakts von vornherein - ohne Klärung konkreter Vertrauensschutzaspekte - für unzulässig hält, ist mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nicht vereinbar. Allerdings mögen Besonderheiten des Einzelfalles eine Abweichung von dem regelmäßigen Beginn der Jahresfrist rechtfertigen können (vgl. BVerwG B. v. 09.01.2007 - 8 B 36.06 - Juris Rn. 5). Der VGH Mannheim berücksichtigt jedoch nicht Besonderheiten des Einzelfalles, sondern stellt Rechtsgrundsätze auf, die von denen des Bundesverwaltungsgerichts abweichen. Dass der Lauf der Rücknahmefrist von den Rechtskenntnissen der Behörde abhängt, liegt in der Konsequenz der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts. Denn danach reicht bereits die Kenntnis der Behörde von denjenigen Tatsachen, aus denen sich die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes ergibt, nicht aus um die Jahresfrist in Lauf zu setzen; vielmehr muss hinzu kommen, dass die Behörde auch die zutreffende Schlussfolgerung auf die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes gezogen hat (BVerwG B. v. 19.12.1984 - GrSen 1, 2.84 - aaO). Wann diese Schlussfolgerung gezogen wird, hängt von den Rechtskenntnissen ab. Soweit der Gesichtspunkt von Treu und Glauben herangezogen wird um zu begründen, dass die Behörde, aus deren Sicht bereits Entscheidungsreife vorgelegen hatte, sich nicht später hinsichtlich des Fristablaufs auf die Notwendigkeit weiterer Sachaufklärung berufen könne, bleibt unberücksichtigt, dass das Bundesverwaltungsgericht im Falle einer Verzögerung der Sachaufklärung den - engeren bzw. konkreteren - Maßstab der Verwirkung anwendet. Dass ein Verstoß gegen Treu und Glauben an die "subjektive Entscheidungsreife" aus Sicht der Behörde anknüpfen soll, erscheint auch deshalb nicht plausibel, weil diese nicht notwendig nach außen deutlich geworden ist, sondern vielmehr typischerweise behördenintern geblieben bzw. - wie in dem vom VGH Mannheim entschiedenen ebenso wie in dem hier vorliegenden Fall - nur gegenüber einer anderen Behörde erkennbar geworden ist, nicht aber gegenüber dem Rücknahmeadressaten. Die Kriterien der Verwirkung berücksichtigen demgegenüber zu Recht die Perspektive des Adressaten der Erklärung bzw. Entscheidung.

47

4. Ein Fall der Verwirkung der Rücknahmebefugnis liegt nicht vor. Die Verwirkung setzt voraus, dass Umstände eingetreten sind, aus denen der die Rechtswidrigkeit kennende Begünstigte berechtigterweise den Schluss ziehen durfte, der Verwaltungsakt werde nicht mehr zurückgenommen, obwohl die Behörde dessen Rücknehmbarkeit erkannt hat, der Begünstigte ferner tatsächlich darauf vertraut hat, dass die Rücknahmebefugnis nicht mehr ausgeübt werde und dieses Vertrauen in einer Weise betätigt hat, dass ihm mit der sodann gleichwohl erfolgten Rücknahme ein unzumutbarer Nachteil entstünde (vgl. BVerwG, U. v. 20.12.1999 - 7 C 42.98 - NJW 2000, 1512, 1514). Im vorliegenden Fall fehlt es bereits an der Vertrauensgrundlage als der ersten dieser Voraussetzungen. Die bloße Untätigkeit des Beklagten nach Versagung der Investitionsbescheinigung für die zweite Doppelhaushälfte Am E. 14a reicht insoweit nicht aus. Das Verhalten der Gemeindevertretung ist nicht relevant, weil diese für die Entscheidung über die Rücknahme nicht zuständig war und die Entscheidung sie im rechtlichen Sinne auch sonst "nichts anging". Dass die Korrespondenz des Beklagten mit dem Finanzamt Stralsund den Klägern bekannt gewesen wäre, ist weder vorgetragen worden noch ersichtlich. Erst recht fehlt es an einer Vertrauensbetätigung in dem Sinne, dass den Klägern aus der gleichwohl erfolgenden Rücknahme ein unzumutbarer Nachteil entstünde.

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5. Der Beklagte hat entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts sein Ermessen fehlerfrei ausgeübt. Allerdings enthält der Ausgangsbescheid keine Ermessenserwägungen. Dort heißt es lediglich, da die Kläger von ihrem Anhörungsrecht keinen Gebrauch gemacht und somit auch die Schutzwürdigkeit ihres Vertrauens nicht geltend gemacht hätten, werde die rechtswidrig erteilte Bescheinigung auch für die Vergangenheit zurückgenommen. Im Widerspruchsbescheid hat die Behörde jedoch deutlich gemacht, dass sie sich des ihr zustehenden Ermessens bewusst ist. Sie hat den "Grundsatz einer sparsamen und wirtschaftlichen Verwendung der Landeshaushaltsmittel" angeführt, der den großzügigen Verzicht auf die Rücknahme verbiete, und darauf hingewiesen, dass mit der Rücknahme der Bescheinigung ein rechtskonformer Zustand wiederhergestellt werde. Angesichts des mangelnden Vertrauensschutzes überwiege das entsprechende öffentliche Interesse gegenüber dem privaten Interesse an der Aufrechterhaltung des rechtswidrigen Bescheides. Die Rücknahme der Bescheinigung auch zum jetzigen Zeitpunkt werde für angemessen gehalten.

49

Weiter gehende Ermessenserwägungen musste der Beklagte weder bezogen auf den Zeitablauf seit Kenntnis von der Rechtswidrigkeit noch bezogen auf das eigene (Mit-)verschulden anstellen.

50

a) Der Zeitablauf ist in der Begründung der Ermessensentscheidung mit dem Satz: "Die Rücknahme der Grundlagenbescheinigung auch zum jetzigen Zeitpunkt halte ich für sachgerecht und angemessen." zumindest angesprochen. Weitergehende Erwägungen waren nicht erforderlich. Der Zeitablauf seit Kenntnis der Behörde von der Rechtswidrigkeit wird unter den weiteren Voraussetzungen des Vertrauensschutzes, des Ablaufs der Rücknahmefrist oder der Verwirkung berücksichtigt. Eine eigenständige Bedeutung kommt diesem Gesichtspunkt darüber hinaus regelmäßig nicht zu.

51

Soweit das Bundesverwaltungsgericht in seiner Rechtsprechung zum Lastenausgleichsrecht den Zeitablauf seit Kenntnis von der Rechtswidrigkeit als zu berücksichtigenden Ermessensgesichtspunkt genannt hat, handelte es sich um Fälle, in denen eine Ermessensausübung völlig fehlte (BVerwG U. v. 09.11.1978 - 3 C 68.77 - Buchholz 427.3 § 335a LAG Nr. 63 = Juris Rn. 28; U. v. 08.10.1981 - 3 C 36.81 – Buchholz 427.3 § 335a LAG Nr. 70). Darum geht es hier jedoch nicht. Ebenso liegt kein Sonderfall etwa deshalb vor, weil ein Zeitraum von mehr als 30 Jahren verstrichen wäre, nach dessen Ablauf in weiten Teilen der Rechtsordnung spätestens eine Verjährung eintritt (vgl. OVG Münster U. v. 08.11.2012 - 11 A 1548/11 - NVwZ-RR 2013, 250; ebenfalls zum Lastenausgleichsrecht, betreffend einen Zeitraum von 52 Jahren).

52

b) Das (Mit-)Verschulden der Behörde an dem Erlass des rechtswidrigen Verwaltungsaktes stellt regelmäßig keinen Ermessensgesichtspunkt dar, der gegen eine Rücknahme sprechen könnte. Wird ein rechtswidriger Verwaltungsakt erlassen, so wird - mit Ausnahme der Fälle arglistiger Täuschung oder unrichtiger oder unvollständiger Angaben des Begünstigten oder eines Dritten - typischerweise ein Verschulden oder Mitverschulden der Behörde vorliegen. Dies gilt insbesondere in Fällen von Rechtsanwendungsfehlern. Typischerweise wird das Verschulden der Behörde um so höher sein, je "schlimmer" der Fehler ist. Ein "schlimmer" Fehler begründet aber unter dem Gesichtspunkt der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung gerade ein höheres Interesse an einer Rücknahme, dem gegenüber die ggf. gegen eine Rücknahme sprechenden Gesichtspunkte der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes eher zurück treten. Wollte man dies anders sehen, so würde gerade in krassen Fällen, in denen sehenden Auges rechtswidrige Entscheidungen erlassen worden sind bzw. Fälle von Korruption oder anderer Straftaten vorliegen, die Rückgängigmachung der entsprechenden Entscheidungen und Wiederherstellung rechtmäßiger Zustände erschwert. Diese Wertung erscheint nicht sachgerecht.

53

Soweit in der Rechtsprechung die Berücksichtigung eines Mitverschuldens der Behörde bei der Ermessensentscheidung über die Rücknahme verlangt worden ist, ging es typischerweise um Fälle aus dem Bereich des Sozialrechts, in denen ein Vertrauensschutz des Betroffenen nicht bereits mangels Vorliegens eines Vertrauenstatbestandes ausschied, sondern mangels Schutzwürdigkeit des Vertrauens, wobei die entsprechende Bewertung an ein Verschulden des Betroffenen anknüpfte (vgl. OVG Münster U. v. 11.08.1994 - 24 A 646/92 – zur Sozialhilfe; U. v. 23.01.1990 - 16 A 2836/88 – zum BAföG; VG Sigmaringen U. v. 29.11.2006 - 5 K 1225/06 – Juris). In solchen Fällen das Verschulden des Betroffenen in eine Relation zum Verschulden der Behörde zu setzen, leuchtet ein. Entsprechendes gilt, soweit das Mitverschulden der Behörde berücksichtigt wird, um die Schutzwürdigkeit eines Vertrauens des Begünstigten ("unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rückforderung") zu begründen (vgl. VGH Kassel, U. v. 09.09.1991 - 8 UE 1097/85 - Juris Rn. 38). Auch in dem vom Bundesverwaltungsgericht entschiedenen subventionsrechtlichen Fall, in dem eine Berücksichtigung des Mitverschuldens der Behörde entsprechend den Grundsätzen des § 242 BGB wegen unzulässiger Rechtsausübung für möglich gehalten wurde (vgl. BVerwG, U. v. 14.08.1986 - 3 C 9.85 - NVwZ 1987, 44) war ein Vertrauensschutz des Betroffenen nicht bereits mangels Vorliegens eines Vertrauenstatbestandes ausgeschieden, sondern mangels Schutzwürdigkeit des Vertrauens, nämlich wegen unrichtiger Angaben (vgl. § 48 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 VwVfG M-V).

54

Soweit im übrigen in der Rechtsprechung allgemeiner die Berücksichtigung der Verantwortung bzw. des Fehlverhaltens der Behörde verlangt worden ist (vgl. BVerwG U. v. 09.11.1978 - 3 C 68.77 - Buchholz 427.3 § 335a LAG Nr. 63 = Juris Rn. 28; U. v. 08.10.1981 - 3 C 36.81 – Buchholz 427.3 § 335a LAG Nr. 70; jeweils zum Lastenausgleichsrecht), handelte es sich um Fälle, in denen eine Ermessensausübung gänzlich unterblieben war, und gesagt sein sollte, dass unter den genannten Umständen auch bei fehlendem Vertrauensschutz eine Ermessensausübung nicht etwa gänzlich entbehrlich ist. Lässt die Entscheidung über die Rücknahme aber - wie hier - erkennen, dass die Behörde das ihr zustehende Ermessen gesehen hat, so bedarf es für eine ordnungsgemäße Ermessensausübung nicht der ausdrücklichen Erwähnung ihres eigenen (Mit-)Verschuldens.

55

c) Dass in der Begründung der Ermessensentscheidung von "Landeshaushaltsmitteln" die Rede ist, begründet schließlich ebenfalls keinen Ermessensfehler. Allerdings stehen die Einnahmen aus der Einkommensteuer, aus denen die Investitionszulage finanziert wird (vgl. § 6 Abs. 3 InvZulG 1999), Bund, Ländern und Gemeinden gemeinsam zu (vgl. Art. 106 Abs. 3 und Abs. 5 GG). Der Grundsatz der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit gemäß § 34 Abs. 2 Satz 1 LHO ist nicht anwendbar. Bei dem hier in Rede stehenden Interesse der öffentlichen Hand an der vollständigen Einnahmeerhebung (das u.a. in § 34 Abs. 1 LHO zum Ausdruck kommt), geht es jedoch um dasselbe Ziel. Dieses trägt neben dem ausdrücklich angesprochenen Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (Art. 20 Abs. 3 GG; vgl. auch § 85 AO) die angefochtene Rücknahmeentscheidung.

56

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.

57

Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO iVm §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

58

Die Revision ist nicht zuzulassen, da keiner der Gründe des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.

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