Urteil vom Schleswig Holsteinisches Oberverwaltungsgericht (1. Senat) - 1 LB 9/17

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts vom 27. April 2016 wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens. Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt die Befreiung von Festsetzungen eines Bebauungsplans.

2

Der Kläger und seine Ehefrau … sind seit Dezember 2017 zu gleichen Teilen Eigentümer des mit einem Einfamilienhaus bebauten Grundstücks in der … im Gebiet der beigeladenen Gemeinde, das aus den Flurstücken … und … der Flur … der Gemarkung … besteht. Sie waren zuvor anteilig je zur Hälfte Nießbrauchsberechtigte dieses Grundstücks. Das auf der östlichen Seite der … gelegene Grundstück ist aus der Teilung des früheren Flurstücks … hervorgegangen, welches seinerseits ursprünglich Teil des Flurstücks … war.

3

Das Grundstück liegt im Geltungsbereich des Bebauungsplans Nr. 9 „Hauptstraße-Schmiederedder“ vom 4. November 2002 in der Fassung der 1. Änderung vom 19. September 2005. Der Bebauungsplan setzt südlich angrenzend an das streitbefangene Grundstück eine private Verkehrsfläche fest. Diese nach Teilung des früheren Flurstücks … mittlerweile realisierte Privatstraße (… Weg) verläuft als Einbahnstraße ca. 100 m südlich des streitbefangenen Grundstücks von der … ausgehend in östliche Richtung in einem bogenförmigen Verlauf nach Norden und mündet entlang der südlichen Grenze des klägerischen Grundstücks wieder in die … ein.

4

Der Bebauungsplan Nr. 9 enthält bereits in seiner Ursprungsfassung in Teil B folgende textliche Festsetzung:

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11. Anschluss anderer Flächen an die Verkehrsfläche „A“ § 9 Abs. 1 Nr. 11 BauGB
Von den in Aussicht genommenen Grundstücken „11“ und „12 bis 16“ dürfen keinerlei Ein- und/oder Ausfahrten zur Verkehrsfläche „A“ hergestellt werden.“

6

Bei der Verkehrsfläche „A“ handelt es sich nach der Planzeichnung (Teil A) des Bebauungsplans um die …. Das streitbefangene Grundstück ist Teil des in der Planzeichnung als Grundstück „12“ bezeichneten früheren Flurstücks … . Die textliche Festsetzung ist im Hinblick auf das streitbefangene Grundstück im Rahmen der 1. Änderung des Bebauungsplans Nr. 9 unverändert geblieben.

7

Das streitbefangene Grundstück gehörte ursprünglich zum Betriebsgelände der von der Familie des Klägers seit Generationen geführten Fleischerei und war mit einem Wohn- und Betriebsgebäude bebaut. Die verkehrliche Erschließung erfolgte über eine Zuwegung auf dem heutigen Flurstück … (… und …) und dem nordöstlich an das Plangebiet angrenzenden Flurstück … (…) zur … . Der Kläger ist neben seinem Cousin seit März 2016 Miteigentümer des Flurstücks … .

8

Nach Teilung des früheren Flurstücks … im Zuge der Planverwirklichung erteilte der Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 21. Juni 2005 eine Baugenehmigung zum Neubau eines Einfamilienhauses verbunden mit der Auflage, die Satzung der Beigeladenen über den Bebauungsplan Nr. 9 zu beachten.

9

Zugunsten des Klägers wurde an den Flurstücken … und … gemäß Bewilligung vom 2. August 2005 eine beschränkte persönliche Dienstbarkeit in Form eines Wege- und Leitungsrechts bestellt.

10

Im August 2006 stellte der Beklagte im Rahmen einer Ortsbesichtigung fest, dass das neu errichtete Einfamilienhaus des Klägers über das Flurstück … (heute Flurstück …) und das Flurstück … zur … erschlossen wurde.

11

Mit Ordnungsverfügung vom 6. September 2013 untersagte der Beklagte dem Kläger gemäß § 59 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 LBO die Erschließung seines Grundstücks über das Flurstück … . Zur Begründung verwies er auf die Festsetzungen des Bebauungsplans Nr. 9 der Beigeladenen. Eine Erschließung des Grundstücks über das Flurstück … sei nur über eine Baulasteintragung und Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplans zulässig. Eine solche Befreiung komme jedoch ebenso wenig wie die Eintragung einer Baulast in Betracht, weil die Grundzüge der Planung berührt würden. Insoweit sei zu berücksichtigen, dass die Erteilung der Baugenehmigung vom 21. Juni 2005 auf der rechtlichen Grundlage des Bebauungsplans erfolgt sei.

12

Der Kläger legte hiergegen mit Schreiben vom 26. September 2013 Widerspruch ein, den er mit weiterem Schreiben vom 3. Januar 2014 näher begründete. Er beantragte zugleich – falls erforderlich – eine „Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplanes“, da eine Zufahrt zum … Weg nicht erforderlich und auch nicht geboten sei. Die Erschließung seines Grundstücks zur … sei gesichert und dessen Bebaubarkeit auch nicht erst durch die neue Privatstraße … Weg ermöglicht worden. Im Zusammenhang mit der Erteilung der Baugenehmigung habe zudem die Beigeladene mit Bescheid vom 14. Juni 2005 bereits den Anschluss an die Schmutzwasserkanalisation über das Grundstück … und … genehmigt. Das streitbefangene Grundstück nehme im Plangebiet eine Sonderstellung ein, da sich an dessen Erschließung durch den erlassenen Bebauungsplan nichts geändert habe.

13

Mit Bescheid vom 18. März 2014 lehnte der Beklagte den Antrag auf Befreiung vom Anschluss des Grundstücks über den … Weg nach § 31 Abs. 2 BauGB ab. Zur Begründung führte er aus, dass der Bebauungsplan Nr. 9 zwingend eine Erschließung des klägerischen Grundstücks über den … Weg (Planstraße „e“) vorsehe und die Beigeladene zudem das nach § 36 Abs. 1 BauGB erforderliche Einvernehmen versagt habe.

14

Der Kläger erhob mit Schreiben vom 22. April 2014 Widerspruch. Zur Begründung wiederholte er im Wesentlichen sein früheres Vorbringen. Es gebe keinen Grund, eine Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplans zu versagen, da die vorhandene Zuwegung zur … genutzt werden könne. Weder würden irgendwelche Rechte Dritter berührt, noch gebe es Berufungsfälle in der Umgebung. Ein Bebauungsplan sei kein Selbstzweck und dürfe nicht der Realisierung wirtschaftlicher Belange eines privaten Erschließungsträgers dienen. Die Durchführung des Bebauungsplans würde hier zu einer offenbar nicht beabsichtigten Härte führen. Sein Grundstück sei im Ausgangspunkt Teil eines einheitlichen Grundstücks gewesen, das unmittelbar an die … angrenze. Die Zufahrt zur … sei schon immer vorhanden gewesen und für die Erschließung seines Grundstücks dinglich gesichert. Aus dem Straßen- und Wegegesetz ergebe sich ein unmittelbarer Anspruch auf eine Zufahrt zur …, der durch den späteren Bebauungsplan nicht habe eingeschränkt werden können. Aufgrund der gesicherten Zufahrt zur … sei die Bebauung des Grundstücks gemäß § 4 Abs. 2 LBO uneingeschränkt zulässig. Der private … Weg habe zu keiner Änderung der Grundstückssituation geführt. Die vorhandene Anbindung an die … sei zudem aus Gründen der Verkehrssicherheit vorzugswürdig, da diese Zuwegung weiter vom Kurvenbereich der … entfernt liege.

15

Mit Widerspruchsbescheid vom 22. August 2014, dem Kläger am 1. September 2014 zugestellt, wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Zur Begründung bezog er sich im Wesentlichen auf die Ausführungen in dem angefochtenen Bescheid und verwies ergänzend auf Ziffer 4.1 der Begründung des Bebauungsplans Nr. 9. Danach seien aus Gründen der Verkehrssicherheit und zwecks Vermeidung einer Beeinträchtigung der Verkehrsabläufe im Kurvenbereich Ein- und Ausfahrten von den dort genannten Grundstücken, zu denen auch das klägerische Grundstück gehöre, zur … nicht zugelassen. Zur Verkehrserschließung ergebe sich zudem aus Ziffer 7.1, dass u.a. auch das Grundstück des Klägers über private Verkehrsflächen an die öffentlichen Verkehrsflächen der … angebunden werde. Hiermit solle erreicht werden, dass die Zahl der direkt in die … mündenden Zufahrten auf ein Minimum reduziert werde. Eine Befreiung von diesen „Festsetzungen“ komme im Hinblick auf die ihnen zugrunde liegenden Verkehrssicherheitsaspekte nicht in Betracht. Im Übrigen enthalte die unter dem 21. Juni 2005 erteilte Baugenehmigung die Auflage, dass der Bebauungsplan Nr. 9 zu beachten sei, mithin auch die darin enthaltenen Festsetzungen zur Erschließung des Baugrundstücks über den … Weg.

16

Der Kläger hat am 1. Oktober 2014 Klage erhoben und sich zur Begründung auf seine Ausführungen im Widerspruchsverfahren bezogen. Ergänzend hat er geltend gemacht, dass weder er noch die früheren Eigentümer des streitbefangenen Grundstücks Miteigentum an der privaten Verkehrsfläche … Weg erworben hätten und ihnen diesbezüglich auch keine Rechte für eine etwaige Nutzung eingeräumt worden seien. Da das Grundstück schon vor Erlass des Bebauungsplans erschlossen gewesen sei, habe hierfür auch keine Notwendigkeit bestanden. Im Übrigen halte er die zulasten seines Grundstücks getroffenen Festsetzungen in dem Bebauungsplan für unwirksam, da es für diese angesichts der vorhandenen Erschließung des Grundstücks keine Rechtfertigung gebe. Durch Schaffung einer Privatstraße könne in diesen Bestandsschutz nicht eingegriffen werden.

17

Der Kläger hat beantragt,

18

den Bescheid vom 18. März 2014 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 22. August 2014 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, ihm die beantragte Befreiung zu erteilen.

19

Der Beklagte hat beantragt,

20

die Klage abzuweisen.

21

Er hat zur Begründung im Wesentlichen auf die Ausführungen in den angefochtenen Bescheiden und auf Nr. 11 der textlichen Festsetzungen des Bebauungsplans Nr. 9 (1. Änderung) verwiesen. Danach dürfe das streitbefangene Grundstück – wie auch der Rest des früheren Flurstücks … (…) – keine Zufahrt von der … haben.

22

Das Verwaltungsgericht hat die Klage mit Urteil vom 27. April 2016 – 8 A 132/14 –abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass keine Bedenken gegen die Wirksamkeit der textlichen Festsetzung Nr. 11 des Bebauungsplans Nr. 9 (1. Änderung) bestünden. Die Festsetzung sei nach § 9 Abs. 1 Nr. 11 BauGB zulässig. Gründe für eine Nichtigkeit dieser Regelung seien nicht ersichtlich. Für eine Befreiung von der betreffenden Festsetzung gemäß § 31 Abs. 2 BauGB fehle es bereits an den tatbestandlichen Voraussetzungen. Die begehrte Befreiung berühre die Grundzüge der Planung, zu denen gerade die Vorgabe gehöre, dass die an der privaten Verkehrsfläche … Weg gelegenen Grundstücke ihre Ein- und Ausfahrt vom und zum … Weg nehmen sollten. Eine Befreiung würde den jetzigen planwidrigen Zustand verfestigen.

23

Auf Antrag des Klägers hat der Senat die Berufung mit Beschluss vom 17. Mai 2017 – 1 LA 20/16 –, dem Kläger am 29. Mai 2017 zugestellt, zugelassen, weil die Anwendung und Auslegung der Festsetzungen im Bebauungsplan Nr. 9 der beigeladenen Gemeinde hinsichtlich des streitbefangenen Grundstücks besondere rechtliche Schwierigkeiten gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO aufweise.

24

Mit Beschluss vom 3. Juli 2017 hat der Senat die Gemeinde, in deren Gebiet das streitbefangene Grundstück gelegen ist, beigeladen.

25

Der Kläger hat mit dem am selben Tag bei Gericht eingegangenen Schriftsatz vom 29. Juni 2017 die Berufung begründet. Er wiederholt sein bisheriges Vorbringen und macht geltend, dass das Grundstück aufgrund der bestehenden Zufahrt zu dem ehemaligen Betriebsgrundstück der Fleischerei schon immer bebaubar gewesen sei, ohne dass es hierfür einer Ausweisung in einem Bebauungsplan bedurft hätte. Der Bau des privaten … Weges habe lediglich der erstmaligen Erschließung der anderen in seinem Bereich liegenden Grundstücke gedient. Die vom Beklagten angeführte textliche Festsetzung des Bebauungsplans richte sich zudem lediglich gegen die „Herstellung“ von Ein- und/oder Ausfahrten von den „in Aussicht genommenen Grundstücken“ zur … . Da das streitbefangene Grundstück bereits zur … erschlossen gewesen sei, sei es weder ein „in Aussicht genommenes Grundstück“ noch sei eine Zuwegung „hergestellt“ worden. Dementsprechend bedürfe es schon keiner Befreiung von der betreffenden Festsetzung. Wenn mit dieser allein die Absicht verfolgt worden sein sollte, die Eigentümer des streitbefangenen Grundstücks zur Finanzierung der Privatstraße … Weg heranzuziehen, so sei eine solche Regelung offensichtlich unwirksam. Schließlich sei die Bebauung des Grundstücks aber auch nach Maßgabe der erteilten Baugenehmigung erfolgt, in der die von ihm auf dem Grundstück eingerichteten Stellplätze vermerkt seien.

26

Der Kläger beantragt,

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das angefochtene Urteil zu ändern, den Bescheid vom 18. März 2014 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 22. August 2014 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, ihm die beantragte Befreiung zu erteilen,

28

hilfsweise,

29

festzustellen, dass eine Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplans Nr. 9 hinsichtlich der Erschließung seines Grundstücks, …, 24251 Osdorf, nicht erforderlich ist.

30

Der Beklagte beantragt,

31

die Berufung zurückzuweisen.

32

Zur Begründung weist er darauf hin, dass zwar das streitbefangene Grundstück aufgrund seiner Innenbereichslage im Rahmen des § 34 BauGB schon vor Inkrafttreten des Bebauungsplans bebaubar gewesen sei, das Einfamilienhaus des Klägers aber erst nach Inkrafttreten des Bebauungsplans genehmigt und errichtet worden sei. Mit dem Bebauungsplan sei eine neue Rechtslage geschaffen und die Bebaubarkeit des Grundstücks neu geordnet worden. Die Festsetzungen des Bebauungsplans seien vom Kläger seinerzeit auch nicht angegriffen worden. Stattdessen habe er sich über diese schlicht hinweggesetzt und „vollendete Tatsachen“ geschaffen. Um eine Anbindung an den … Weg habe er sich nie bemüht und könne sich diesbezüglich deshalb auch nicht auf die Unmöglichkeit einer entsprechenden Erschließung berufen. Die Konzeption der Erschließung sei zudem im Rahmen der 1. Änderung des Bebauungsplans Nr. 9 gemäß Ziffer 3.1 der Begründung für das betreffende Grundstück ausdrücklich aufrechterhalten worden. Die Voraussetzungen für eine Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB lägen schon deshalb nicht vor, weil eine solche die Grundzüge der Planung berühren würde, zu der es gerade gehöre, die am … Weg gelegenen Grundstücke über diese Privatstraße zu erschließen. Diese Erschließung diene der Vermeidung von Beeinträchtigungen der Verkehrsabläufe im Kurvenbereich und der Verkehrssicherheit. Bei der für den Neubau des klägerischen Einfamilienhauses geschaffenen Zuwegung habe es sich auch um die „Herstellung“ einer neuen Ein-/Ausfahrt für das „in Aussicht genommene“ Grundstück gehandelt.

33

Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.

34

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der von den Beteiligten zur Gerichtsakte gereichten Schriftsätze nebst Anlagen sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe

35

Die zulässige Berufung des Klägers bleibt ohne Erfolg.

36

Die Ablehnung der Befreiung von Nr. 11 der textlichen Festsetzungen des Bebauungsplans Nr. 9 (1. Änderung) der Beigeladenen mit Bescheid vom 18. März 2014 und der Widerspruchsbescheid vom 22. August 2014 sind rechtmäßig, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.

37

Der Kläger hat in dem für die erhobene Verpflichtungsklage maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung keinen Anspruch auf die beantragte Befreiung gemäß § 31 Abs. 2 BauGB von der im Bebauungsplan Nr. 9 (1. Änderung) festgesetzten verkehrlichen Erschließung seines Grundstücks.

38

Eine Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB ist entgegen der Annahme des Klägers nicht schon deshalb entbehrlich, weil die betreffende Festsetzung Nr. 11 des Bebauungsplans unwirksam wäre, sie in Bezug auf das streitbefangene Grundstück keine Anwendung finden würde oder schon erteilt wäre.

39

Das Verwaltungsgericht ist zutreffend von der Wirksamkeit der textlichen Festsetzung Nr. 11 des Bebauungsplans Nr. 9 (1. Änderung) ausgegangen, die u.a. für das in Aussicht genommene Grundstück „…“, welches das streitbefangene Grundstück umfasst, festsetzt, dass keinerlei Ein- und/oder Ausfahrten zur Verkehrsfläche „A“, der …, hergestellt werden dürfen.

40

Der Bebauungsplan Nr. 9 leidet insoweit nicht unter einem im Rahmen einer Inzidentprüfung auch nach Ablauf der Jahresfrist des § 215 Abs. 1 Satz 1 BauGB noch beachtlichen sogenannten Ewigkeitsmangel. Hierzu zählen ein Verstoß gegen den Erforderlichkeitsgrundsatz, ein Verstoß gegen den Bestimmtheitsgrundsatz, der Fall eines fehlerhaften Abwägungsergebnisses sowie das Fehlen jeglicher oder die Überschreitung einer Rechtsgrundlage (vgl. hierzu Bay. VGH, Beschluss vom 16. März 2020 – 1 ZB 18.336 –, Rn. 8 bei juris m.w.N.). Ein solcher Fall liegt hier nicht vor.

41

Der Bebauungsplan verstößt mit der Einbeziehung des früheren, das heutige Grundstück des Klägers umfassenden Flurstücks … insbesondere nicht gegen die städtebauliche Erforderlichkeit im Sinne des § 1 Abs. 3 Satz 1 BauGB. Danach haben die Gemeinden Bauleitpläne aufzustellen, sobald und soweit es für die städtebauliche Entwicklung und Ordnung erforderlich ist. Was in diesem Sinne erforderlich ist, bestimmt sich nach der planerischen Konzeption der Gemeinde. Der Gesetzgeber ermächtigt die Gemeinden, diejenige „Städtebaupolitik“ zu betreiben, die ihren städtebaulichen Ordnungsvorstellungen entspricht (BVerwG, Beschluss vom 25. Juli 2017 – 4 BN 2.17 –, Rn. 3 bei juris). Nicht erforderlich sind danach nur solche Bauleitpläne, die einer positiven städtebaulichen Planungskonzeption entbehren und ersichtlich der Förderung von Zielen dienen, für deren Verwirklichung die Planungsinstrumente des Baugesetzbuchs nicht bestimmt sind (BVerwG, Beschluss vom 11. Mai 1999 – 4 BN 15.99 –, Rn. 5 bei juris). Ausgehend hiervon bestehen an der Erforderlichkeit der Bauleitplanung im vorliegenden Fall keine Zweifel.

42

Der Bauleitplanung lag ein nachvollziehbares städtebauliches Konzept zugrunde. Nach Ziffer 3 der Begründung des Bebauungsplans Nr. 9 vom 4. November 2002 diente die Bauleitplanung insbesondere der Bereitstellung von Grundstücken für Infrastruktureinrichtungen und Wohnungsbau in zentraler Ortslage angrenzend an vorhandene Geschäfts- und Wohnbereiche. Die zu erschließenden Grundstücke sollten u.a. über den als private Verkehrsfläche „e“ festgesetzten heutigen … Weg an die öffentlichen Verkehrsflächen der … angebunden werden (vgl. Ziffer 7 und 7.1 der Begründung). Aus Gründen der Verkehrssicherheit und zwecks Vermeidung einer Beeinträchtigung der Verkehrsabläufe im Kurvenbereich wurden nach Ziffer 4.1 der Begründung Ein- und Ausfahrten von den dort genannten Grundstücken zur … nicht zugelassen. Ausweislich Ziffer 3.1 der Begründung der 1. Änderung des Bebauungsplans Nr. 9 vom 19. September 2005 hielt die Beigeladene im Rahmen des Änderungsverfahrens an den das Grundstück „…“ betreffenden Festsetzungen zur verkehrlichen Erschließung ausdrücklich fest. Lediglich auf die Vorgabe des Standortes von Anlagen des privaten ruhenden Verkehrs auf dem streitbefangenen Grundstück wurde zugunsten einer Vergrößerung der überbaubaren Grundstücksfläche verzichtet (vgl. Ziffer 3.2 der Begründung).

43

Die Einbeziehung des streitbefangenen Grundstücks in das Plangebiet und die Festsetzung der verkehrlichen Erschließung über die private Verkehrsfläche … Weg erfolgten nach der sich hieraus ergebenden Planungskonzeption der Beigeladenen nicht – wie der Kläger meint – zur Beteiligung seiner Eigentümer an der Finanzierung dieser Erschließungsstraße. Vielmehr ergibt sich aus der Planzeichnung des Bebauungsplans Nr. 9, dass die Überplanung des streitbefangenen Grundstücks als Teil des damaligen Flurstücks … erforderlich war, um die Erschließung der in Aussicht genommenen Baugrundstücke im Bereich des heutigen … Weges zu sichern. Die im Bebauungsplan festgesetzte private Verkehrsfläche (… Weg) verläuft im Bereich ihrer Einmündung in die … über die dort ehemals vorhandene Bebauung auf dem früheren Flurstück … . Zutreffend hat der Kläger deshalb selbst darauf hingewiesen, dass erst die im Hinblick auf den erlassenen Bebauungsplan erfolgte Übereignung der betreffenden Grundstücksflächen an den Erschließungsträger die Verwirklichung des Plans ermöglicht hat.

44

An der Erforderlichkeit im Sinne des § 1 Abs. 3 Satz 1 BauGB fehlt es auch nicht im Hinblick auf die Festsetzungen zur verkehrlichen Erschließung des klägerischen Grundstücks in Nr. 11 und 12.1 der textlichen Festsetzungen des Bebauungsplans Nr. 9 (1. Änderung). In Nr. 12.1 der textlichen Festsetzungen wird das Grundstück „…“, das auch das Grundstück des Klägers umfasst, ausdrücklich der privaten Verkehrsfläche „e“, dem heutigen … Weg, zugeordnet. Die textliche Festsetzung Nr. 11 setzt ergänzend „negativ“ fest, dass u.a. von dem Grundstück „…“ keinerlei Ein- und/oder Ausfahrten zur Verkehrsfläche „A“, der …, hergestellt werden dürfen. Soweit der Kläger gegen diese Planungskonzeption einwendet, dass das frühere Flurstück … seit jeher über die vorhandene Zuwegung zur … erschlossen gewesen sei, ist dem entgegenzuhalten, dass es der Beigeladenen aus Gründen der Verkehrssicherheit und zwecks Vermeidung einer Beeinträchtigung der Verkehrsabläufe im Kurvenbereich der … gerade darum ging, von den betreffenden Grundstücken keinerlei Ein- und Ausfahrten zu dieser öffentlichen Verkehrsfläche zuzulassen (siehe Ziffer 4.1 der Begründung des Bebauungsplans Nr. 9 vom 4. November 2002). Hieran hat die Beigeladene bezüglich des Grundstücks „…“ auch im Rahmen des Änderungsverfahrens festgehalten (vgl. Ziffer 3.1 der Begründung der 1. Änderung des Bebauungsplans Nr. 9 vom 19. September 2005). Angesichts der durch die Erschließungsstraße … Weg auch für das klägerische Grundstück neu geschaffenen Verkehrssituation unterliegt die Erforderlichkeit der Festsetzungen nach diesen nachvollziehbaren Erwägungen der Beigeladenen keinen Zweifeln.

45

Die textlichen Festsetzungen Nr. 11 und 12.1 überschreiten auch nicht den zulässigen Inhalt eines Bebauungsplans. Rechtsgrundlage für diese Festsetzungen ist § 9 Abs. 1 Nr. 11 BauGB. Danach können im Bebauungsplan aus städtebaulichen Gründen u.a. die Verkehrsflächen als öffentliche oder private Flächen und der Anschluss anderer Flächen an die Verkehrsflächen festgesetzt werden. Festsetzungen über die Anschlüsse der Grundstücke an die Verkehrsflächen haben grundsätzlich die „positive“, d.h. die Zulässigkeit begründende Bedeutung. Sie können aber auch den „negativen“, d.h. an anderen Stellen ausgeschlossenen Zugang bedeuten (vgl. Söfker, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, 140. EL Oktober 2020, § 9 Rn. 106 m.w.N.). Die von der Beigeladenen getroffene Regelung ist danach nicht zu beanstanden. Aus Nr. 12.1 der textlichen Festsetzungen ergibt sich für die dort genannten Grundstücke und damit auch für das Grundstück des Klägers als Teil des früheren Grundstücks „…“ die positive Regelung einer verkehrlichen Erschließung über die private Verkehrsfläche … Weg verbunden mit dem Ausschluss einer Zufahrt zur … gemäß Nr. 11 der textlichen Festsetzungen.

46

Das Grundstück des Klägers unterliegt auch dem Anwendungsbereich der textlichen Festsetzung Nr. 11 des Bebauungsplans Nr. 9, da es Teil der von der Beigeladenen bei ihrer Beschlussfassung „in Aussicht genommenen Grundstücke“ ist und der Kläger für das auf seinem Grundstück neu errichtete Einfamilienhaus eine „Ein- und/oder Ausfahrt“ zur … „hergestellt“ hat. Der Kläger kann nicht mit Erfolg einwenden, dass die von ihm mitgenutzte Zuwegung des früheren Flurstücks … zur … schon immer bestanden habe. Der Beklagte hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die Bebaubarkeit des Grundstücks mit Erlass des Bebauungsplans Nr. 9 vom 4. November 2002 neu geregelt wurde und die Beachtung dieser Satzung Gegenstand der mit der Baugenehmigung vom 21. Juni 2005 erteilten Auflage ist. Das klägerische Grundstück gehört als Teil des früheren Flurstücks …, dem Grundstück …, zu den von der Beigeladenen zur Planverwirklichung im Bebauungsplan „in Aussicht genommenen Grundstücken“. Der Kläger hat sein auf diesem Grundstück neu errichtetes Einfamilienhaus nicht nur über das benachbarte Flurstück … an die Schmutzwasserkanalisation angeschlossen, sondern es auf der Grundlage des zu seinen Gunsten als beschränkte persönliche Dienstbarkeit eingetragenen Wegerechts auch verkehrlich erschlossen und damit für sein Grundstück eine (mittelbare) „Ein- und/oder Ausfahrt“ zur … neu „hergestellt“. Neben dem eindeutigen Wortlaut sprechen aber auch Sinn und Zweck der textlichen Festsetzung Nr. 11 für deren Anwendung auf das klägerische Grundstück. Dieses durch Grundstücksteilung erst nach Inkrafttreten des Bebauungsplans entstandene Grundstück liegt direkt an der Ecke … Weg/… im Kurvenbereich der … . Wie sich aus Ziffer 4.1 der Begründung des Bebauungsplans Nr. 9 in seiner Ursprungsfassung ergibt, wurde die textliche Festsetzung Nr. 11 gerade zur Bewältigung der in diesem Bereich neu entstandenen Verkehrssituation geschaffen. Vor diesem Hintergrund ist es auch ohne Belang, ob das Grundstück als Teil des früheren Grundstücks „…“ schon früher einmal erschlossen und bebaut war oder nicht.

47

Die für die vom Kläger erstrebte verkehrliche Erschließung seines Grundstücks über die … danach erforderliche Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB wurde auch nicht bereits (konkludent) mit der Baugenehmigung vom 21. Juni 2005 erteilt. Eine Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplans zur verkehrlichen Erschließung ist nicht Gegenstand dieser Genehmigung. Anders als im Fall der unter dem 31. März 2005 erteilten Befreiung von der im Bebauungsplan für das Grundstück des Klägers zwingend festgesetzten zweigeschossigen Bauweise hat der Kläger vor Erteilung der Baugenehmigung weder einen Antrag auf eine entsprechende Befreiung gestellt, noch hat der Beklagte hierzu das Einvernehmen der Beigeladenen nach § 36 Abs. 1 BauGB eingeholt oder sonst zu erkennen gegeben, über eine solche Befreiung zu entscheiden. Allein die Einzeichnung des PKW-Stellplatzes im Lageplan rechtfertigt nicht die Annahme, der Beklagte habe über eine Befreiung von der Erschließung zur privaten Verkehrsfläche … Weg entschieden. Die Einzeichnung im nordöstlich an das Flurstück … (heute …) angrenzenden Bereich des Grundstücks lässt lediglich die geplante Lage des eigenen PKW-Stellplatzes, nicht aber eine von den Festsetzungen des Bebauungsplans Nr. 9 abweichende verkehrliche Erschließung erkennen.

48

Der Kläger hat keinen Anspruch auf eine Befreiung von den textlichen Festsetzungen des Bebauungsplans Nr. 9 (1. Änderung) zur verkehrlichen Erschließung seines Grundstücks gemäß § 31 Abs. 2 BauGB.

49

Nach dieser Vorschrift kann von den Festsetzungen des Bebauungsplans befreit werden, wenn die Grundzüge der Planung nicht berührt werden und (1.) die Gründe des Wohls der Allgemeinheit, einschließlich des Bedarfs zur Unterbringung von Flüchtlingen oder Asylbegehrenden, die Befreiung erfordern oder (2.) die Abweichung städtebaulich vertretbar ist oder (3.) die Durchführung des Bebauungsplans zu einer offenbar nicht beabsichtigten Härte führen würde und wenn die Abweichung unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist.

50

Die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Befreiung des klägerischen Grundstücks von Nr. 11 der textlichen Festsetzungen des Bebauungsplans Nr. 9 (1. Änderung) sind zurzeit nicht gegeben.

51

Zwar würde eine Befreiung entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts nicht die Grundzüge der Planung berühren. Ob eine Befreiung die Grundzüge der Planung berührt oder von minderem Gewicht ist, beurteilt sich nach den konkreten Umständen des Einzelfalls, nämlich dem im Bebauungsplan zum Ausdruck gebrachten planerischen Wollen. Bezogen auf dieses Wollen darf der Befreiung vom Planinhalt keine derartige Bedeutung zukommen, dass die angestrebte und im Plan zum Ausdruck gebrachte städtebauliche Ordnung in beachtlicher Weise beeinträchtigt wird. Die Befreiung muss – soll sie mit den Grundzügen der Planung vereinbar sein – durch das planerische Wollen gedeckt sein; es muss mit anderen Worten angenommen werden können, die Befreiung liege noch im Bereich dessen, was der Planer gewollt hat oder gewollt hätte, wenn er die weitere Entwicklung einschließlich des Grundes für die Befreiung gekannt hätte (vgl. BVerwG, Urteil vom 29. Januar 2009 – 4 C 16.07 –, Rn. 23 bei juris zu § 13 Abs. 1 BauGB). Die Befreiung kann nicht als Vehikel dafür herhalten, die von der Gemeinde getroffene planerische Regelung beiseite zu schieben. Sie darf – jedenfalls von Festsetzungen, die für die Planung tragend sind – nicht aus Gründen erteilt werden, die sich in einer Vielzahl gleichgelagerter Fälle oder gar für alle von einer bestimmten Festsetzung betroffenen Grundstücke anführen ließen (BVerwG, Beschluss vom 5. März 1999 – 4 B 5.99 –, Rn. 6 bei juris; Söfker, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, 140. EL Stand Oktober 2020, § 31 Rn. 36). Hier ergibt sich aus Nr. 11 und Nr. 12.1 der textlichen Festsetzungen des Baubauungsplans Nr. 9 (1. Änderung) für das streitbefangene Grundstück zwar ausdrücklich die Vorgabe einer verkehrlichen Erschließung über die private Verkehrsfläche … Weg. Eine Abweichung von dieser Festsetzung berührt jedoch nicht die Grundkonzeption des Bebauungsplans. Nach den in Ziffer 3 der Begründung des Bebauungsplans Nr. 9 vom 4. November 2002 genannten Zielen und Zwecken diente der Bebauungsplan insbesondere der Bereitstellung von Grundstücken für Infrastruktureinrichtungen und Wohnungsbau in zentraler Ortslage. Die Erschließung und Nutzung der entlang des … Weges gelegenen (neu) erschlossenen Grundstücke würde durch die Befreiung jedoch nicht beeinträchtigt. Darüber hinaus handelt es sich bei dem Grundstück des Klägers aber auch um einen Sonderfall, der sich aus der Überplanung des damals vorhandenen Bestandes ergibt und von dem keine Vorbildwirkung für andere Grundstücke in dem betreffenden Plangebiet ausgeht. Das klägerische Grundstück ist aus der Teilung des früheren Flurstücks … hervorgegangen, das bei Erlass des Bebauungsplans bereits über eine Zufahrt zur … verfügte, die noch heute der verkehrlichen Erschließung der Flurstücke … und … dient. Die Zufahrt befindet sich zudem außerhalb des in Ziffer 4.1 der Begründung des Bebauungsplans Nr. 9 vom 4. November 2002 unter dem Gesichtspunkt der Verkehrssicherheit angesprochenen Kurvenbereichs der … am nordöstlichen Rand des Plangebiets auf dem Flurstück … und dem – außerhalb des Plangebiets liegenden – Flurstück … . Angesichts der besonderen Lage des klägerischen Grundstücks und der historisch als Teil des früheren Flurstücks … angelegten verkehrlichen Erschließung über die vorhandene Zuwegung zur … ist nicht erkennbar, dass andere Grundstückseigentümer in dem östlich der … gelegenen Plangebiet ebenfalls eine vom Bebauungsplan abweichende verkehrliche Erschließung mit Erfolg für sich beanspruchen könnten. Im Übrigen trägt schon der Bebauungsplan Nr. 9 (1. Änderung) selbst der vorhandenen Zufahrt insoweit Rechnung, als der auf dem heutigen Flurstück … parallel zur … festgesetzte Streifen für die Anpflanzung einer Hecke in diesem Bereich endet.

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Die begehrte Befreiung wäre auch gemäß § 31 Abs. 2 Nr. 2 BauGB städtebaulich vertretbar. Städtebaulich vertretbar ist eine Abweichung dann, wenn sie im Sinne der Anforderungen des § 1 Abs. 6 und 7 BauGB mit der städtebaulichen Entwicklung und Ordnung im Sinne des § 1 Abs. 3 BauGB vereinbar ist (vgl. BVerwG, Beschluss vom 20. November 1989 – 4 B 163.89 –, Rn. 15 bei juris). Dies ist hier im Blick auf die besondere Situation des streitbefangenen Grundstücks der Fall. Das Grundstück war – wie bereits ausgeführt – ursprünglich Teil des verkehrlich zur … erschlossenen früheren Flurstücks … . Die Befreiung würde auch nicht die Schaffung einer neuen, vom Plangeber nicht gewollten Zufahrt im Kurvenbereich der … bedeuten, sondern dem klägerischen Grundstück lediglich die Mitbenutzung der bereits vorhandenen und teilweise außerhalb des Plangebiets liegenden Zuwegung ermöglichen.

53

Einer Befreiung stünde hier auch nicht die Würdigung nachbarlicher Interessen entgegen. Unter nachbarlichen Interessen sind nicht nur subjektive Rechte aufgrund nachbarschützender Vorschriften zu verstehen, sondern auch Rechtsreflexe, d.h. tatsächliche Vorteile infolge einer keinen Nachbarschutz vermittelnden Vorschrift (Dürr, in: Brügelmann, BauGB, 117. EL Stand Mai 2021, § 31 Rn. 49). Die Würdigung nachbarlicher Interessen erfolgt unter Heranziehung der Grundsätze zum Gebot der Rücksichtnahme und hängt somit wesentlich von den Umständen des Einzelfalls ab. Erforderlich ist eine Würdigung der Interessen des Bauherrn an der Erteilung der Befreiung und der Interessen des betroffenen Nachbarn an der Einhaltung der Festsetzungen des Bebauungsplans und damit an einer Verhinderung von Beeinträchtigungen oder Nachteilen durch eine Befreiung. Der Nachbar kann umso mehr Rücksichtnahme verlangen, je empfindlicher seine Stellung durch eine an die Stelle der im Bebauungsplan festgesetzten Nutzung tretenden andersartigen Nutzung berührt werden kann. Umgekehrt braucht derjenige, der die Befreiung in Anspruch nehmen will, umso weniger Rücksicht zu nehmen, je verständlicher und unabweisbarer die von ihm verfolgten Interessen sind (BVerwG, Urteil vom 19. September 1986 – 4 C 8.84 –, Rn. 18 bei juris). Vorliegend handelt es sich bei den textlichen Festsetzungen zur verkehrlichen Erschließung in Nr. 11 und Nr. 12.1 des Baubauungsplans Nr. 9 (1. Änderung) nicht um nachbarschützende Festsetzungen. Bereits ausweislich Ziffer 4.1 der Begründung des Bebauungsplans Nr. 9 vom 4. November 2002 dienen sie vielmehr der Verkehrssicherheit und der Vermeidung einer Beeinträchtigung der Verkehrsabläufe im Kurvenbereich der … . Nach dem Vorbringen der Beteiligten kommen als zu würdigende nachbarliche Belange hier allein etwaige fiskalische Interessen der an der privaten Verkehrsfläche … Weg gelegenen anderen Grundstückseigentümer in Betracht. Diese Interessen stehen jedoch dem sich aus der besonderen Lage und Entstehungsgeschichte ergebenden Interesse des Klägers an der verkehrlichen Erschließung seines Grundstücks über die Flurstück … und … zur … nicht entgegen. Angesichts der Vielzahl der durch den … Weg erschlossenen Grundstücke bestehen keine Anhaltspunkte für die Annahme, dass sich die Erschließungskosten infolge einer Befreiung des klägerischen Grundstücks unzumutbar erhöhen würden, zumal das klägerische Grundstück lediglich mit einer Nutzungseinheit, nämlich einem Einfamilienhaus, bebaut ist. Nach Angaben des Klägers haben die Eigentümer der privaten Verkehrsfläche bis heute auch keine Ansprüche gegen den Kläger oder seine Rechtsvorgänger geltend gemacht. Seinen Rechtsvorgängern sei lediglich bei Errichtung des … Weges ein ideeller Miteigentumsanteil angeboten worden. Diese hätten das jedoch abgelehnt. Ein nachhaltiges Interesse der Nachbarn an der Beteiligung des klägerischen Grundstücks an den Erschließungskosten ist angesichts des bereits vor vielen Jahren errichteten … Weges nicht zu erkennen.

54

Die vom Kläger begehrte Befreiung ist aktuell aber nicht mit den öffentlichen Belangen vereinbar. Hierzu gehören die gemäß § 1 Abs. 6 und § 1a BauGB sowie alle im Zusammenhang mit den städtebaulichen Anforderungen an die Bauleitplanung heranzuziehenden Belange. Die Vereinbarkeit mit öffentlichen Belangen bedeutet auch, dass sich die Erteilung einer Befreiung nicht in Widerspruch setzen darf zu anderen Vorschriften des BauGB oder den mit ihnen verfolgten Zwecken (Söfker, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, 140. EL Stand Oktober 2020, § 31 Rn. 56 f.). Dies ist hier jedoch der Fall. Die mit der Befreiung von der verkehrlichen Erschließung des Grundstücks über den … Weg gewünschte Erschließung über die Flurstücke … und … zur … ist nicht im Sinne von § 30 Abs. 1 BauGB gesichert. Für die wege- bzw. straßenmäßige Erschließung ist allgemein zu fordern, dass das Baugrundstück einen gesicherten Zugang zu einer öffentlichen Straße hat, die eine Zufahrt von Kraftfahrzeugen einschließlich öffentlicher Versorgungsfahrzeuge (Müllabfuhr, Feuerwehr, Krankenwagen) erlaubt (Söfker, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, 140. EL Stand Oktober 2020, § 30 Rn. 46). Ist zum Erreichen einer öffentlichen Straße das Überqueren anderer Grundstücke erforderlich, so muss die Zuwegung öffentlich-rechtlich durch eine Baulast oder (dinglich) privatrechtlich durch eine Grunddienstbarkeit nach § 1018 BGB gesichert sein (BGH, Urteil vom 24. Januar 2020 – V ZR 155/18 –, Rn. 27 bei juris; BVerwG, Urteil vom 3. Mai 1988 – 4 C 54.85 –, Rn. 14 bei juris). Eine solche Sicherung ist hier aktuell nicht gegeben. Die vom Kläger gewünschte Zuwegung über die Flurstücke … und … zur … ist zurzeit weder durch eine Baulast noch durch eine Grunddienstbarkeit gesichert. Auf der Grundlage der Bewilligung vom 2. August 2005 wurde zugunsten des Klägers lediglich eine beschränkte persönliche Dienstbarkeit in Form eines Wege- und Leitungsrechts bestellt. Eine beschränkte persönliche Dienstbarkeit genügt aber nicht den Anforderungen an eine dauerhafte dingliche Sicherung der Zuwegung, da sie – ungleich einer Grunddienstbarkeit – personenbezogen ist. Anders als bei Grunddienstbarkeiten im Sinne des § 1018 BGB ergibt sich die Berechtigung bei der beschränkten persönlichen Dienstbarkeit gemäß § 1090 Abs. 1 BGB nicht aus dem Eigentum an einem herrschenden Grundstück, sondern ist an eine bestimmte Person gebunden (Mohr, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Aufl. 2020, § 1090 Rn. 36). Berechtigter der beschränkten persönlichen Dienstbarkeit ist danach lediglich der Kläger selbst, nicht aber das streitbefangene Grundstück, zu dessen Gunsten er eine alternative verkehrliche Erschließung begehrt.

55

Dem Antrag des Klägers auf Gewährung einer Schriftsatzfrist war nicht stattzugeben. Weder lagen die Voraussetzungen für einen Schriftsatznachlass gemäß § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 283 Satz 1 ZPO vor, noch ergab sich aus der richterlichen Hinweispflicht nach § 86 Abs. 3 VwGO Anlass, dem Kläger eine Schriftsatzfrist zu gewähren. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass die Hinweispflicht grundsätzlich nicht verlangt, dass das Gericht die Beteiligten vorab auf seine Rechtsauffassung oder die beabsichtigte Würdigung des Prozessstoffs hinweist, weil sich die tatsächliche und rechtliche Würdigung regelmäßig erst aufgrund der abschließenden Beratung ergibt (BVerwG, Beschluss vom 25. August 2003 – 6 B 43.03 –, Rn. 5 bei juris). Hier war der Kläger in der mündlichen Verhandlung ohne Weiteres in der Lage, sich zu den rechtlichen Voraussetzungen einer Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB und den tatsächlichen Gegebenheiten im konkreten Fall einzulassen. Soweit der Kläger mit der beantragten Schriftsatzfrist darüber hinaus begehrt hat, ihm Gelegenheit zu geben, die für die Erteilung einer Befreiung erforderliche Grunddienstbarkeit binnen vier Wochen vorzulegen, ging es ihm nicht mehr nur um die Gewährung rechtlichen Gehörs als Reaktion auf ein verspätetes Vorbringen oder einen gerichtlichen Hinweis, sondern darum, einen neuen Sachverhalt erst zu schaffen und damit die Anspruchsvoraussetzungen nachträglich herzustellen.

56

Die Klage hat nach alledem auch mit dem Hilfsantrag keinen Erfolg.

57

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO. Es entspricht hier nicht der Billigkeit, dem Kläger die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen aufzuerlegen, da die Beigeladene keinen Antrag gestellt und sich damit nicht dem Risiko der Kostenlast ausgesetzt hat, vgl. § 154 Abs. 3 VwGO.

58

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i. V. m. § 708 Nr. 10, § 711 ZPO.

59

Die Revision wird nicht zugelassen. Die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO liegen nicht vor.

60

BESCHLUSS

61

Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren gemäß § 47 Abs. 1 und § 52 Abs. 1 GKG auf 5.000,00 € festgesetzt.

62

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 68 Abs. 1 Satz 5, § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).


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