Urteil vom Verwaltungsgericht Minden - 11 K 3673/19
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens tragen die Kläger zu je ¼.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Kläger dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
1
Tatbestand:
2Die Kläger sind Eigentümer der mit Wohnhäusern bebauten Grundstücke „Am N. 25a“ (Kläger zu 1. und 2.) und “Am N. 23“ (Kläger zu 3. und 4.) in der Stadt S. im Ortsteil O. .
3Auf dem örtlichen Marktplatz im Ortsteil O. finden die O1. Maitage und seit dem Jahre 2011 auch das Schützenfest der Sankt Hubertus Schützenbruderschaft O2. e.V. von 1928 statt. Der Marktplatz (Gemarkung O. , Flur 2, Flurstück 630) befindet sich im Eigentum der Beklagten. Ein Bebauungsplan existiert in diesem Bereich nicht. Der Bereich des Marktplatzes wird im Flächennutzungsplan der Stadt als Grünfläche ausgewiesen, der sich nördlich angrenzende Bereich als Kerngebiet (MK-Fläche). Die Grundstücke der Kläger liegen südlich angrenzend an den Marktplatz und werden im Flächennutzungsplan als Wohngebiet (W) ausgewiesen.
4Mit Schreiben ihrer Prozessbevollmächtigten vom 11.10.2017 und 16.10.2017 wandten sich die Kläger an die Beklagte und baten um ein immissionsschutzrechtliches Einschreiten gegen die von diesen Veranstaltungen ausgehende Lärmbelästigung. Die Durchführung des Schützenfestes auf dem zentralen Marktplatz in O. erfolge erst seit dem Jahre 2011 und habe deshalb keine Tradition. Die bis tief in die Nacht stattfindenden Discoveranstaltungen seien auch nicht als Brauchtumspflege zu klassifizieren. Eine Verlängerung der Veranstaltung über 24 Uhr hinaus sei in aller Regel auch nicht mehr als unwesentlich zu qualifizieren und komme mit Blick auf die schutzwürdigen Belange der Anwohner nicht in Betracht.
5Für die Durchführung des Schützenfestes der St. I. Schützenbruderschaft O. e.V. im Jahre 2018 erteilte die Beklagte dem Beigeladenen unter dem 28.06.2018 eine vorläufige gaststättenrechtliche Erlaubnis, die unter Nr. 1.5 u.a. die Auflage enthielt, dass der Lärmwert nach 24:00 Uhr 0,5 m vor dem geöffneten Fenster der Kläger T. einen Wert von 62 dB(A) nicht überschreiten dürfe.
6Die Kläger erhoben am 23.01.2018 Klage mit dem Antrag, die Beklagte zu verurteilen, durch geeignete Maßnahmen sicherzustellen, dass bei der Nutzung des in ihrem Eigentum stehenden öffentlichen Marktplatzes im S1. Ortsteil O. sowie bei der Überlassung desselben an Dritte die vom Marktplatz ausgehenden Geräuschimmissionen auf den Grundstücken der Kläger, den Objekten Am N. 23 und Am N. 25 a in S. , die im Antrag genannten Immissionsrichtwerte der Freizeitlärmrichtlinie nicht überschritten werden.
7Das Gericht wies die Klage mit Urteil vom 31.07.2019 (11 K 361/18). als unzulässig ab und führte zur Begründung aus, dass für eine derartige Leistungsklage auf vorbeugenden Lärmschutz kein Rechtsschutzinteresse bestehe, da die Kläger die Möglichkeit hätten, im Wege der Anfechtungsklage und des eröffneten Eilrechtsschutzes (§ 80 VwGO) gegen konkrete Veranstaltungen vorzugehen, mit dem Ziel die Aufnahme von Schutzauflagen bzw. Festlegung von Lärmgrenzwerten zu erreichen. Die gegen diese Urteil eingelegte Zulassungsbeschwerde wies das OVG NRW mit Beschluss vom 25.06.2020 zurück (8 A 3751/19).
8Für die Durchführung des Schützenfestes der St. I. Schützenbruderschaft O. e.V. im Jahre 2020 erteilte die Beklagte dem Beigeladenen unter dem 19.09.2019 eine vorläufige gaststättenrechtliche Erlaubnis und unter dem 05.11.2019 eine „Ausnahmegenehmigung gemäß § 12 der Ordnungsbehördlichen Verordnung über die Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung im Gebiet der Stadt S. vom 31.01.2019“. Danach dürfen Lautsprecher und Musikanlagen im Rahmen der Befreiung nur mit 65 dB(A) gemessen ab 24.00 Uhr bis 03.00 Uhr und mit 55 dB(A) gemessen ab 03:00 bis 05:00 Uhr in einer Entfernung von 0,5 m vor dem Fenster der Kläger zu 3. und 4. betrieben werden.
9Die Kläger haben gegen die ihrem Prozessbevollmächtigten am 08.11.2019 zugestellte Ausnahmegenehmigung vom 05.11.2019 am 09.12.2019 Klage erhoben. Die Beklagte teilte dem Gericht mit Schreiben vom 11.05.2020 mit, dass das Schützenfest im Jahre 2020 wegen der Coronapandemie abgesagt worden sei, bei entsprechender Antragstellung und unveränderter Rechtslage aber davon auszugehen sei, dass für das Jahr 2021 eine inhaltsgleiche Genehmigung erteilt werde.
10Die Kläger sind der Auffassung, dass die für das Schützenfest 2020 erteilte Ausnahmegenehmigung rechtswidrig war, weil sie mit den Vorgaben der Freizeitlärmrichtlinie nicht vereinbar sei und die Durchführung der Schützenfestes in der genehmigten Form für sie zu unzumutbaren Lärmimmissionen führe. Für eine Fortsetzungsfeststellungsklage bestehe auf Grund der Mitteilung der Beklagten vom 11.05.2020 ein Feststellungsinteresse wegen einer Wiederholungsgefahr. Ein Vorverfahren sei entbehrlich gewesen, weil sie als Beteiligte zum Verwaltungsverfahren hinzugezogen worden seien. Die Genehmigung sei ihnen förmlich bekannt gemacht worden. Außerdem sei diesem Rechtsstreit bereits ein anderes Gerichtsverfahren vorausgegangen, das sich auf die speziell vom Schützenfest der Schützenbruderschaft St. I. ausgehenden Lärmemissionen bezogen habe. Selbst wenn man von der Notwendigkeit eines Widerspruchsverfahrens ausgehen müsste, hätte das Gericht sie darauf hinweisen und das Gerichtsverfahren entsprechend § 114 Abs. 2 VwGO aussetzen müssen. Da der streitgegenständliche Verwaltungsakt sich vor Ablauf der Widerspruchsfrist durch Absage des Schützenfestes erledigt habe, wäre ein Widerspruchsverfahren damit unstatthaft geworden und hätte eingestellt werden müssen.
11Die Kläger beantragen,
12festzustellen, dass die dem Beigeladenen erteilte immissionsschutzrechtliche Ausnahmegenehmigung vom 05.11.2019 rechtswidrig war.
13Die Beklagte beantragt,
14die Klage abzuweisen.
15Sie trägt zur Begründung vor: Bei dem Schützenfest der Sankt I. Schützenbruderschaft O. e.V. handele es sich um eine Traditionsveranstaltung, die bereits seit Gründung der Schützenbruderschaft im Jahre 1928 im Stadtgebiet stattfinde dort entsprechend verwurzelt sei. Um die Beliebtheit und Verbundenheit bei der heimischen Bevölkerung dauerhaft zu erhalten und damit die dem öffentlichen Interesse liegende Weiterführung der Tradition zu sichern, habe es im Jahre 2011 einen Wechsel des konkreten Standortes für das Festzelt gegeben. Für die Durchführung des Schützenfestes in der genehmigten Form bestehe ein erhebliches öffentliches Interesse. Die nachbarlichen Interessen an der Einhaltung der Nachtruhe seien von ihr umfassend gewürdigt worden. Sie würden aber das öffentliche Interesse nicht überwiegen. Das Schutzbedürfnis der Bevölkerung werde durch die Erteilung einer Ausnahmegenehmigung für den Schützenfestsonnabend und den Schützenfestmontag nur geringfügig beeinträchtigt. Dies betreffe gerade mal 0,5 % der Jahrestage. Andere Veranstaltungen mit Ausnahmecharakter würden auf dem Marktplatz nicht stattfinden. Das Schützenfest sei ein traditioneller, allgemein akzeptierter Ausdruck des Gemeindelebens über alle Altersgruppen hinweg und habe für die Identität und den Zusammenhalt der örtlichen Gemeinschaft einen hohen Stellenwert. Dies zeige sich auch darin, dass die UNESCO dem Deutschen Schützenwesen im Jahre 2015 den Status eines immateriellen Kulturerbes verliehen habe. Die apodiktische Vorgabe eines maximalen Lärmwertes von 55 dB(A) bis max. 24 Uhr würde für Traditionsveranstaltungen zu gleichen Beschränkungen führen wie bei seltenen Ereignissen und der den Traditionsveranstaltungen zukommenden Sonderstellung nicht ausreichend Rechnung tragen.
16Der Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.
17Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte, der beigezogenen Akte 11 K 361/18 und der Verwaltungsvorgänge der Beklagten.
18E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e:
19Über die Klage konnte der Berichterstatter als Einzelrichter entscheiden, weil der Sachverhalt geklärt ist und die Rechtssache keine besonderen Schwierigkeiten rechtlicher oder tatsächlicher Art aufweist und die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat (§ 6 VwGO).
20Die Klage hat mit dem nunmehr verfolgten Fortsetzungsfeststellungsantrag i.S.d. § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO keinen Erfolg.
21In einem Fall, in dem sich der angefochtene Verwaltungsakt nach Klageerhebung erledigt – hier durch die Absage des streitgegenständlichen Schützenfestes für das Jahr 2020 auf Grund der Corona-Pandemie – kann die klagende Partei die Feststellung der Rechtwidrigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes beantragen (§ 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO). Eine derartige Klageänderung ist gemäß § 173 VwGO i.V.m. § 264 Nr. 2 ZPO zulässig, ohne dass es der Zustimmung der Beklagten oder des Beigeladenen bedarf.
22Vgl. Kopp/Schenke, VwGO Kommentar, 25. Auflage 2019, § 113 Rn. 121 m.w.N. auf die Rechtsprechung.
23Das Gericht lässt dahinstehen, ob die Fortsetzungsfeststellungsklage überhaupt zulässig ist, d.h. es keiner Durchführung eines Widerspruchsverfahrens bedurfte (1.). und die Kläger sich zur Begründung des Feststellungsinteresses auf eine Wiederholungsgefahr berufen können (2.) Die Klage ist jedenfalls unbegründet, weil die dem Beigeladenen am 05.11.2019 erteilte Ausnahmegenehmigung nach dem LImSchG NRW nicht rechtswidrig war (3.)
241.
25Für die von den Klägern erhobene Anfechtungsklage gegen die Genehmigung vom 05.11.2019 bedurfte es der vorherigen Durchführung eines Widerspruchsverfahrens nach § 68 VwGO.
26Ein Widerspruchsverfahren ist nach § 110 Abs. 3 Satz 1 JustizG NRW durchzuführen, wenn die einem anderen erteilte Genehmigung durch einen im Verwaltungsverfahren nicht beteiligten Dritten angefochten wird und kein Ausnahmefall nach § 110 Abs. 3 Satz 2 JustizG NRW vorliegt. Ein Ausnahmefall i.S.d. § 110 Abs. 3 Satz 2 JustizG NRW lag hier nicht vor. Das Erfordernis eines Widerspruchsverfahrens entfällt nach § 110 Abs. 3 Satz 1 JustizG NRW nicht, weil die Kläger im Verwaltungsverfahren vor der Erteilung der Ausnahmegenehmigung an den Beigeladenen nicht förmlich beteiligt worden sind.
27Vgl. § 110 Abs. 3 Satz 1 JustizG NRW und zum Vorverfahren bezüglich einer Ausnahmegenehmigung nach § 10 Abs. 4 LImSchG NRW: OVG NRW, Beschluss vom 10.07.2020 – 8 B 1006/20 –, n.v.
28Die Frage, wer Beteiligter im Sinne dieser Vorschrift ist, richtet sich mangels einer spezialgesetzlichen Definition nach den für das Verwaltungsverfahren in Nordrhein-Westfalen geltenden allgemeinen Regelungen des Verwaltungsverfahrensgesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen (VwVfG NRW) und hier insbesondere nach § 13 VwVfG NRW.
29Vgl. VG Köln, Urteil vom 24.07.2019 – 24 K 16174/17 –, juris Rn. 58; VG Düsseldorf, Urteil vom 24.09.2012 – 11 K 9127/10 –, juris Rn. 25 und Beschluss vom 19.06.2017 – 28 L 1602/17 –, juris Rn. 34; VG Minden, Urteil vom 25.09.2013 – 11 K 1779/12 –, juris, Rn. 27 ff.; zur Vorgängerfassung des § 6 Abs. 3 Satz 1 AG VwGO: OVG NRW, Beschluss vom 05.10.2010 0 – 8 B 817/10 –, juris, Rn. 15 ff.
30Die Hinzuziehung als Beteiligter setzt nach § 13 Abs. 2 Satz 2 VwVfG einen förmlichen Akt voraus, Die Zustellung des Genehmigungsbescheides an die Kläger reicht hierfür allein nicht aus.
31Die Notwendigkeit eines Widerspruchsverfahrens vor Erhebung der Anfechtungsklage können die Kläger auch nicht mit dem Hinweis in Abrede stellen, der gleiche oder zumindest im Wesentlichen gleiche Streitgegenstand sei bereits in der Vergangenheit Gegenstand eines Widerspruchs- bzw. Klageverfahren gewesen, sodass es eines erneuten Vorverfahrens nicht bedurft hätte.
32Vgl. zu einer derartigen Fallkonstellation: OVG NRW, Urteil vom 23.09.2020 – 8 A 1161/18 –, juris Rn. 62 ff. m.w.N. auf die Rechtsprechung des BVerwG und die Literatur zu § 68 VwGO.
33So liegt der Fall hier nicht. Entgegen der Darstellung der Kläger waren Ausnahmegenehmigungen für das hier streitige jährliche Schützenfest der St. I. Schützenbruderschaft bisher weder Gegenstand eines Widerspruchs- noch Klageverfahrens. Im Verfahren 11 K 361/18 hatten die Kläger eine vorbeugende Unterlassungs- bzw. Leistungsklage erhoben, mit dem Ziel, die Einhaltung bestimmter Immissionsrichtwerte bei jeglichen Veranstaltungen auf dem Marktplatz im Ortsteil O. sicherzustellen. Diese Klage hat das Gericht als unzulässig abgewiesen. Die im Urteil (Seite 9) erfolgten Ausführungen zur Anwendung des Freizeitlärmerlasses erfolgten „rein vorsorglich“ und waren kein Teil der tragenden Entscheidungsgründe. Das Gericht hat ausdrücklich darauf hingewiesen (Seite 14), dass die Frage, ob und in welchem Umfang Ausnahmegenehmigungen nach § 10 Abs. 4 LImschG zulässig sind, eine Einzelfallentscheidung unter Abwägung aller widerstreitender Belange erfordert und die Beklagte lediglich auf diese Prüfpflichten hingewiesen, sich zu Rechtmäßigkeit von Ausnahmegenehmigungen im Einzelfall, insbesondere bezogen auf das hier streitige Schützenfest, aber nicht geäußert.
34Es besteht in Rechtsprechung und Literatur Einigkeit, dass die Durchführung eines Vorverfahrens jedenfalls dann notwendige Sachentscheidungsvoraussetzung für eine Fortsetzungsfeststellungsklage, wenn der Verwaltungsakt vor Eintritt des erledigenden Ereignisses bestandskräftig geworden ist. Eine gleichwohl als Fortsetzungsfeststellungsklage aufrecht erhaltene Klage müsste deshalb als unzulässig abgewiesen werden.
35Vgl. Sodann//Ziekow, Kommentar, VwGO, 4. Auflage 2014, § 113 Rn. 263 und Kopp/Schenke, VwGO, Kommentar, 25.Auflage 2019, § 113 Rn. 126 jeweils m.w.N. auf die Rechtsprechung.
36Diese Konstellation trifft auf den vorliegenden Fall allerdings nicht zu. Die Ausnahmegenehmigung vom 05.11.2019 wurde dem Prozessbevollmächtigten der Kläger mit Schreiben vom 07.11.2019 bekannt gegeben. In Ermangelung einer der Genehmigung bzw. dem Schreiben beigefügten Rechtsmittelbelehrung hätten die Kläger innerhalb der Jahresfrist des § 68 Abs. 2 VwGO Widerspruch eingelegen können. Bis zur des Erledigung des Rechtsstreites – durch Verzicht des Beigeladenen auf die erteilte Genehmigung und die Absage des Schützenfestes, die dem Gericht mit Schreiben der Beklagten vom 11.05.2020 mitgeteilt wurde – war die Einlegung eines Widerspruches deshalb noch möglich, eine Bestandskraft der Genehmigung vom 07.11.2019 noch nicht eingetreten.
37Ob ein Widerspruchsverfahren als Sachurteilsvoraussetzung für eine Fortsetzungsfeststellungsklage auch dann verlangt werden kann, wenn – wie hier – die Erledigung vor Ablauf der Widerspruchsfrist eingetreten ist,
38vgl. zum Meinungsstand: Kopp/Schenke, VwGO, Kommentar, 25.Auflage 2019, § 113 Rn. 127, m.w.N.,
39lässt das Gericht dahin stehen, weil die Klage jedenfalls unbegründet ist (hierzu unter 3.).
402.
41Eine Wiederholungsgefahr ist anzunehmen, wenn bei im Wesentlichen gleichen tatsächlichen und rechtlichen Verhältnissen mit einer gleichartigen Entscheidung auch in Zukunft zu rechnen ist.
42Vgl. Sodann//Ziekow, Kommentar, VwGO, 4. Auflage 2014, § 113 Rn. 271 und Kopp/Schenke, VwGO, Kommentar, 25.Auflage 2019, § 113 Rn. 141 jeweils m.w.N. auf die Rechtsprechung.
43Der Beklagte hat in seinem Schreiben vom 11.05.2020 darauf hingewiesen, dass eine Ausnahmegenehmigung für das Schützenfest im Jahre 2021 zwar bisher nicht gestellt wurde, aber bei „unveränderter Rechtslage“ für das Jahr 2021 erteilt werde. Mit Blick darauf, dass nach § 13 Abs. 3 der Verordnung zum Schutz vor Neuinfizierungen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 (Coronaschutzverordnung – CoronaSchVO) in der Fassung vom 30.10.2020 große Festveranstaltungen bis mindestens zum 31.12.2020 – zu denen auch Schützenfeste gehören (§ 13 Abs. 3 Nr. 4 CoronaSchVO) – untersagt sind und eine Verbesserung der Infektionslage, die eine Aufhebung dieses Verbotes zulassen würde, nicht absehbar ist, ist derzeit völlig offen, ob und unter welchen Bedingungen eine gleichartige Veranstaltung im Jahre 2021 überhaupt stattfinden kann und wird. Bei gleichbleibenden tatsächlichen und rechtlichen Verhältnissen wäre deshalb eher davon auszugehen, dass eine gleichlautende Genehmigung für das Jahr 2021 nicht erteilt wird. Insoweit ist auch zweifelhaft, ob die Kläger sich zur Begründung des Fortsetzungsfeststellungs-interesses auf eine Wiederholungsgefahr berufen können. Auch dies lässt das Gericht dahinstehen, weil die Klage jedenfalls unbegründet ist (hierzu unter 3.)
443.
45Die Klage ist jedenfalls unbegründet. Die dem Beigeladenen erteilte Ausnahmegenehmigung nach den §§ 9 Abs. 3 und 10 Abs. 4 LImSchG NRW vom 05.11.2019 war rechtmäßig und verletzte die Kläger nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
46Nach § 9 Abs. 1 LImSchG NRW sind in der Zeit von 22 bis 6 Uhr Betätigungen verboten, welche die Nachtruhe zu stören geeignet sind. Von diesem Verbot können nach § 10 Abs. 3 LImSchG NRW bei Vorliegen eines öffentlichen Bedürfnisses oder besonderer örtlicher Verhältnisse die Gemeinden für Messen, Märkte, Volksfeste, Volksbelustigungen, ähnliche Veranstaltungen und für Zwecke der Außengastronomie sowie für die Nacht vom 31. Dezember zum 1. Januar durch ordnungsbehördliche Verordnung allgemeine Ausnahmen von dem Verbot des Absatzes 1 zulassen. Ein öffentliches Bedürfnis liegt in der Regel vor, wenn eine Veranstaltung auf historischen, kulturellen oder sonst sozialgewichtigen Umständen beruht und deshalb das Interesse der Allgemeinheit an der Durchführung der Veranstaltung gegenüber dem Schutzbedürfnis der Nachbarschaft überwiegt.
47Nach § 10 Abs. 1 LImSchG NRW dürfen Geräte, die der Schallerzeugung oder Schallwiedergabe dienen (Musikinstrumente, Tonwiedergabegeräte und ähnliche Geräte), nur in solcher Lautstärke benutzt werden, dass unbeteiligte Personen nicht erheblich belästigt werden. Auch von diesem Verbot kann die örtliche Ordnungsbehörde bei einem öffentlichen oder überwiegenden privaten Interesse auf Antrag des Veranstalters Ausnahmen zulassen und diese mit Bedingungen und Auflagen verbinden. § 9 Abs. 3 gilt entsprechend (vgl. § 10 Abs. 4 Satz 1 bis 3 LImSchG NRW).
48Die von § 3 Abs. 1 BImSchG vorausgesetzte Erheblichkeit immissionsbedingter Beeinträchtigungen bemisst sich danach, ob sie das den Betroffenen in der jeweiligen Situation zumutbare Maß überschreiten. Für die Beurteilung der Zumutbarkeit sind insbesondere Art, Ausmaß und Dauer der fraglichen Immissionen, ihre soziale Adäquanz sowie die Schutzwürdigkeit und Schutzbedürftigkeit des davon betroffenen Gebiets von Bedeutung. Fehlt es, wie hier, an einer normativen Konkretisierung der Erheblichkeitsschwelle, bedarf es einer Beurteilung der Zumutbarkeit anhand der Umstände des jeweiligen Einzelfalls.
49Für diese Beurteilung kann nach Auffassung des OVG NRW die Freizeitlärmrichtlinie der Bund/Länder-Arbeitsgemeinschaft für Immissionsschutz (LAI) vom 6.3.2015 (im Folgenden: Freizeitlärmrichtlinie) als Orientierungshilfe herangezogen werden.
50Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 25.05.2016 – 4 B 581/16 –, juris Rn. 8 unter Bezugnahme auf BVerwG, Urteil vom 24.04.1991 – 7 C 12.90 –, juris, Rn. 14.
51Nach Nr. 3.2 Buchstabe c des Runderlass des Ministeriums für Klimaschutz, Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz – V-5 – 8800.4.8 (V Nr.) vom 13.04.2016 zur Messung und Beurteilung und Verminderung von Geräuschimmissionen bei Freizeitanlagen (MBl. 2016, 237 ff, im Folgenden :Freizeitlärmerlass), soll die Freizeitlärmrichtlinie vom 06.03.2015 nur bei neuen Veranstaltungen (Festen, Konzerten o. ähnliches) berücksichtigt werden, was für eine weiterhin vorrangige Geltung des Freizeitlärmerlasses bei Traditionsveranstaltungen sprechen könnte.
52Ob hier auf die Freizeitlärmrichtlinie abzustellen ist oder auf den Freizeitlärmerlass kann dahingestellt bleiben, da beide der erteilten Ausnahmegenehmigung nicht entgegenstehen.
53Die Freizeitlärmrichtlinie sieht Immissionsrichtwerte außerhalb (Ziffer 4.1) und innerhalb von Gebäuden (Ziffer 4.2) sowie Maximalpegel für Geräuschspitzen (Ziff. 4.1 bis 4.3). Diese Werte dürfen bei zahlenmäßig eng begrenzten Veranstaltungen mit hoher Standortgebundenheit oder sozialer Adäquanz und Akzeptanz überschritten werden (Ziffer 4.4.1 Absatz 1) ist vorgesehen, wobei die Unvermeidbarkeit und Zumutbarkeit von der zuständigen Behörde zu prüfen und zu begründen ist (Ziffer 4.4.2 Absatz 2) ist. Für die Zumutbarkeit gilt als Richtschnur, dass Überschreitungen des Beurteilungspegels vor den Fenstern im Freien von 70 dB(A) tags und/oder 55 dB(A) explizit zu begründen sind (Ziffer 4.4.2 Absatz 1 Buchstabs a), Überschreitungen eines Beurteilungspegels nachts von 55 dB(A) nach 24:00 Uhr vermieden werden sollen (Ziffer 4.4.2 Absatz 1 Buchstabs b), in besonders gelagerten Fällen eine Verschiebung der Nachtzeit von bis zu zwei Stunden zumutbar seien kann (Ziffer 4.4.2 Absatz 1 Buchstabs c), die Anzahl der Tage mit seltenen Veranstaltungen 18 pro Kalenderjahr nicht überschreiten sollen (Ziff. 4.4.2 Absatz 1 Buchstabe d) und Geräuschspitzen die Werte von 90 dB(A) tags und 65 dB(A) nachts einhalten sollen ( 4.4.2 Absatz 1 Buchstabe e).
54Die Freizeitlärmrichtlinie kann jedoch allenfalls als Orientierungshilfe zur Bestimmung der Grenze der Zumutbarkeit herangezogen werden, sofern sie für die Beurteilung der Erheblichkeit einer Lärmbelästigung im konkreten Streitfall brauchbare Anhaltspunkte liefert. Sie darf jedoch nicht schematisch angewandt werden; die Zumutbarkeitsgrenze ist aufgrund einer umfassenden Würdigung aller Umstände des Einzelfalls zu bestimmen, wobei u.a. einerseits die spezielle Schutzwürdigkeit des jeweiligen Baugebietes und andererseits aber auch die Anzahl der Veranstaltungen, für die Ausnahmegenehmigungen erteilt wurden, und eventuell auch der Bestandsschutz einer Anlage mit hoher Akzeptanz in der Bevölkerung berücksichtigt werden können.
55Vgl. BVerwG, Beschluss vom 21.10.2020 – 4 B 4/20 –, juris Rn. 5 zur Freizeitlärmrichtlinie.
56Dementsprechend stellt Ziffer 4.4.2 Absatz 3 der Freizeitlärmrichtlinie klar, dass durch die vorgenenannten Empfehlungen die Grenze der Zumutbarkeit nicht abschließend und verbindlich definiert wird. Vielmehr hat die Behörde je intensiver und gründlicher die Voraussetzungen der Ziffer 4.4.2 Absatz 2 zu prüfen, je größer der Umfang der Abweichungen von den Immissionsrichtwerten nach Ziffer 4.1. bis 4.3 ist und je größer die Anzahl der Tage ist, an denen Abweichungen von diesen Werten genehmigt werden sollen. Bei herausragenden Veranstaltungen ist der sozialen Adäquanz und Akzeptanz hierbei besondere Bedeutung beizumessen.
57Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 25.05.2016 – 4 B 581/16 –, juris Rn. 11 unter Bezugnahme auf BGH, Urteil vom 26.09.2003 - V ZR 41/03 -, juris, Rn. 16; OVG Rh.-Pf., Urteil vom 14.09.2004 - 6 A 10949/04 -, juris, Rn. 17 f., m. w. N.
58Ebenso bestimmt Nr. 3.2 des Freizeitlärmerlasses zwar, dass bei seltenen Ereignissen keinesfalls ein nächtlicher Immissionshöchstwert von 55 dB(A) überschritten werden darf. Damit wird aber lediglich allgemein die Grenze für Veranstaltungen festgelegt, die eine bestimmte Anzahl überschreiten, keinen Traditionscharakter haben und auch keiner Ausnahmegenehmigung bedürfen. Für letztere, einer Ausnahmegenehmigung bedürfende Veranstaltungen kann dieser Wert dagegen überschritten werden. Verbindliche Aussagen dazu, in welchem Maße und für welchen Zeitraum dieser Wert überschritten werden darf, enthält Nr. 3.4 des Freizeitlärmerlasses nicht. Die Vorgabe, die Lärmbelästigung ab 22:00 „deutlich zu reduzieren“ steht unter dem Vorbehalt der technischen und organisatorischen Machbarkeit und hängt davon ab, ob der „Charakter der Veranstaltung“ gewahrt bleibt. Im Übrigen fordert auch Nr. 3.4 des Freizeitlärmerlasses eine Abwägung zwischen den Interessen der Allgemeinheit an der Durchführung der Veranstaltung im genehmigten Umfang und dem Schutzbedürfnis der Nachbarschaft vor Ruhestörungen in der Nachtzeit.
59Gemessen an diesen Voraussetzungen bedurfte es für die geplante Durchführung des Schützenfestes 2020 einer Ausnahmegenehmigung nach §§ 9 Abs. 3, 10 Abs. 4 LImschG NRW, weil der nach § 3 Abs. 1 LImSchG i.V.m. Nr. 6.1 TA Lärm und Ziffer 4.4.1 der Freizeitlärmrichtlinie maßgebliche Immissionsrichtwert für allgemeine Wohngebiete von 40 dB(A) in der Nachtzeit überschritten wird. Das Grundstück der Kläger liegt zwar nicht innerhalb eines Bebauungsplangebietes, entspricht nach der Art der Bebauung wohl aber einem allgemeinen Wohngebiet (§ 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 4 BauNVO). Ob auf Grund der Nähe zum Marktplatz und der sich westlich und nördlich anschließenden gewerblichen Bebauung von einer Gemengelagesituation i.S.d. Nr. 6.7 TA Lärm auszugehen ist und ein Zwischenwert zu bilden ist, kann dahingestellt bleiben. Dass selbst die nach der TA Lärm maßgeblichen Werte für ein Mischgebiet bei der Durchführung des Schützenfestes der St. I. Schützenbruderschaft e.V. nicht eingehalten werden können, haben Überwachungsmessungen des Kreises H. im Jahre 2018 ergeben (Beurteilungspegel: 64,8 dB(A)) und wurde von keinem der Beteiligten auch für zukünftige Veranstaltungen bestritten.
60Die für die Durchführung des Schützenfestes der St. I. Schützenbruderschaft e.V. erteilte Ausnahmegenehmigung für das Jahr 2020 war unter Berücksichtigung der sich aus Ziffer 4.4.2 der Freizeitlärmrichtlinie ergebenden Vorgaben (noch) rechtmäßig.
61Eine hohe Standortgebundenheit i.S.d. Ziffer 4.4.1 der Freizeitlärmrichtlinie ist bei besonderem örtlichem oder regionalem Bezug gegeben, insbesondere bei Festen mit kommunaler Bedeutung wie örtliche Kirmes- oder Feuerwehrfeste, und von einer sozialer Adäquanz und Akzeptanz, wenn die Veranstaltung eine soziale Funktion und Bedeutung hat. Dass diese Voraussetzungen bei dem jährlichen Fest der Schützenbruderschaft St. I. e.V. erfüllt sind, hat das Gericht bereits im Urteil vom 31.07.2019 – 11 K 361/18 – juris ausgeführt. Auf diese Ausführungen wird zwecks Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen. Soweit Ziffer 4.4.2 Absatz 3 der Richtlinie ausführt, dass bei herausragenden Veranstaltungen der sozialen Adäquanz und Akzeptanz besondere Bedeutung beizumessen ist, dürfte dies nicht nur bei dem Kriterium der Zumutbarkeit, sondern auch dem der Unvermeidbarkeit zu berücksichtigen sein. Etwaige alternative Standorte – insbesondere die von den Klägern vorgeschlagene Freifläche zwischen Feuerwehr und Schulgelände – sind bereits im Zusammenhang mit dem ersten Klageverfahren untersucht, wegen der von der Unteren Landschaftsbehörde aber erhobenen Bedenken fallengelassen worden (BA I Bl. 4 und 5). Im Übrigen hat die Beklagte bereits im Verfahren 11 K 361/18 zu Recht darauf hingewiesen, dass ein zentrumsnaher Veranstaltungsplatz fußläufig für die ältere Bevölkerung – die einen nicht unerheblichen Anteil der dem Verein angehörenden Mitglieder ausmacht – leichter zu erreichen ist und dies für die soziale Akzeptanz eines derartigen Festes von nicht unerheblicher Bedeutung ist. Auf diesen Platz traf dies ebenso wenig zu wie auf den bis 2011 genutzten Veranstaltungsort. Letzterer war mehr als 1,5 km vom Ortszentrum entfernt und wurde – so die unbestrittenen Angaben der Beklagten im Verfahren 11 K 361/18, bestätigt durch am 2.12.2020 in der mündlichen Verhandlung anwesende Mitglieder der Schützenbruderschaft – auch nur vorübergehend als Ausweichplatz genutzt. Traditionell fand das Schützenfest seit 1928 immer auf einem zentrumsnahen Platz - unweit des jetzigen Marktplatzes entfernt – statt.
62Die mit der Ausnahmegenehmigung zugelassene Ausnahme vom Gebot der Nachtruhe (§ 9 Abs. 1 LImSchG NRW) und der Beeinträchtigung der Lautstärke (§ 10 Abs. 1 LImSchG NRW) ist für die Kläger auch (noch) zumutbar.
63Den Verwaltungsvorgängen und auch dem Vortrag der Beklagten im Klageverfahren kann entnommen werden, dass der Beklagte bei der Erteilung der Ausnahmegenehmigung eine Abwägungsentscheidung zwischen den widerstreitenden Interessen der Allgemeinheit und der Nachbarschaft unter Berücksichtigung der in Ziffer 4.4.2 Absatz 3 Freizeitlärmrichtlinie und Nr. 3.4 Freizeitlärmerlass genannten Gesichtspunkte getroffen hat. Dass er bei der Abwägung der widerstreitenden Interessen wesentliche Belange nicht berücksichtigt hat, ihnen eine Bedeutung beigemessen hat, die der Normgeber diesen Interessen nicht zubilligt, oder das Abwägungsergebnis nicht vertretbar ist, ist für das Gericht nicht erkennbar.
64Es trifft zwar zu, dass mit der Ausnahmegenehmigung Lärmimmissionen gestattet werden, die mit 65 dB(A) bis 3:00 Uhr morgens über den nach Ziffer 4.4.2 Absatz 1 Freizeitlärmrichtlinie ab 24.00 Uhr als „zumutbar“ erachteten Beurteilungspegel von 55 dB(A) erheblich hinausgehen.
65Das OVG NRW geht in der von den Klägern zitierten Rechtsprechung,
66vgl. OVG NRW, Beschluss vom 25.05.2016 – 4 B 581/16 –, juris Rn. 17 unter Bezugnahme auf Nr. 4.4.2 der Freizeitlärmrichtlinie und BGH, Urteil vom 26.09.2003 – V ZR 41/03 –, juris Rn. 18,
67zwar davon aus, dass sich mit Rücksicht auf den Schutz der Nachtruhe der Anwohner eine über Mitternacht hinausgehende erhebliche Überschreitung der Richtwerte auch bei kommunal bedeutsamen Veranstaltungen für die unmittelbare Nachbarschaft „in aller Regel nicht mehr als unwesentlich qualifizieren“ lässt. Dies lässt aber Raum für eine Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalles im Sinne der o.g. Rechtsprechung des BVerwG. Die vom OVG NRW zitierte Entscheidung des BGH verhält sich im Übrigen nur zu von einem Rockkonzert ausgehende Lärmimmissionen und bewertet diese bei Überschreitung der in der LAI-Freizeitlärmrichtlinie festgesetzten Lärmgrenzwerte ab Mitternacht nicht mehr als „unwesentlich“ i.S.d. § 906 BGB. Ob etwas anderes gilt, wenn für Traditionsveranstaltungen eine weitergehende Ausnahmegenehmigung nach öffentlichem Recht erteilt wurde, lässt der BGH ausdrücklich offen (Rn. 19). Die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung hat in der Vergangenheit auch mehrfach bei Traditionsveranstaltungen, die über Mitternacht hinausgehen, eine die nächtlichen Immissionsrichtwerte erheblich überschreitende Lärmbelästigung im Einzelfall noch als zumutbar angesehen.
68Vgl. Sächsisches OVG, Urteil vom 29.10.2019 – 1 A 245/17 –, juris Rn. 46 zum Lärm einer Freilichtbühne; VG Aachen, Urteil vom 21.05.2010 - 6 L 198/10 - , juris Rn 27 zum Lärm eines Schützenfestes; VG Arnsberg, Urteil vom 18.07.2016 – 8 K 3533/15 –, juris Rn. 30 ff. zur Veranstaltung „Genuss Pur“.
69Zentrale Plätze – wie Marktplätze und Festplätze – sind für das dörfliche und städtische Leben unverzichtbare Elemente der Kommunikation und des kulturellen Angebots. Gerade in den Sommermonaten finden regelmäßig auf ihnen Veranstaltungen statt, die für die örtliche Gemeinschaft einen besonderen Stellenwert haben und stark frequentiert werden. Sie gehen regelmäßig über die Tageszeit hinaus und überschreiten die zulässigen (nächtlichen) Immissionsrichtwerte, insbesondere wenn sie mit Musikdarbietungen verbunden sind, oft erheblich.
70Vgl. Ministerium für Umwelt und Naturschutz, Landwirtschaft und Verbraucherschutz des Landes Nordrhein-Westfalen - Leitfaden zur umweltgerechten Durchführung von Volksfesten und ähnlichen Traditionsveranstaltungen, vom 17.12.2009, wonach bei größeren Menschenansammlungen ohne Musikdarbietungen bereits von einem Mittelungspegel von 65 dB(A) auszugehen ist.
71Insoweit können Eigentümer und Nutzer von Grundstücken, die an derartige Plätze angrenzen, nicht bei jeder dort stattfindenden Veranstaltung die Einhaltung der entsprechenden Immissionsrichtwerte nach der TA Lärm beanspruchen. Der Normgeber hat durch die Freizeitlärmrichtlinie bzw. den Freizeitlärmerlass anerkannt, dass trotz erheblicher Immissionswertüberschreitungen das private Interesse der Nachbarschaft an der Einhaltung der Nachtruhe im Einzelfall nach Abwägung der widerstreitenden Interessen zurückstehen kann.
72Dass die Beklagte die Durchführung des Schützenfestes der St. I. Schützenbruderschaft unter Beachtung der in der Ausnahmegenehmigung vom 05.11.2019 formulierten Nebenbestimmungen als „zumutbar“ i.S.d. der Freizeitlärmrichtlinie ansieht, ist auch im Ergebnis nicht zu beanstanden. Der Beklagte hat seine Entscheidung nach Abwägung der im Einzelfall zu berücksichtigenden Umstände getroffen. Hierbei hat er zum einen berücksichtigt, dass es sich bei dem Schützenfest der St. I. Schützenbruderschaft um eine herausragende Veranstaltung von besonderer sozialer Adäquanz und Akzeptanz handelt. Die besondere Bedeutung der Schützenvereine in der Stadt S. wird bereits durch die im Stadtgebiet vorhandenen sieben Schützenvereine deutlich, die über eine lange Tradition und eine ansehnliche Mitgliederzahl – die Schützenbruderschaft St. I. existiert seit 1928 und hat allein derzeit ca. 300 Mitglieder – verfügen. Die Verbundenheit der Schützenvereine untereinander zeigt sich darin, dass traditionell Mitglieder jedes örtlichen Schützenvereins das Schützenfest auch jedes anderen Vereins besuchen. Nach den Angaben eines in der mündlichen Verhandlung anwesenden Schützenbruders wird hierfür pro Verein ein Bus mit ca. 50 Sitzplätzen geordert, sodass bei jedem Schützenfest – auch bei dem der St. I. Schützenbruderschaft – allein mit 300 „auswärtigen“ Gästen zu rechnen ist. Die Zahlen wurden durch den Beigeladenen als Veranstalter in der mündlichen Verhandlung bestätigt. Nach dessen Angaben verfügt allein das Festzelt über 450 Sitzplätze. Hinzukommen die Besucher, die sich außerhalb des Zeltes an Bier- und Verpflegungsständen aufhalten, sodass eine Anzahl von 500 – 600 Besuchern realistisch seien dürfte. Dass dieses Schützenfest für das Gemeinschaftsleben in der Stadt S. , insbesondere dem Ortsteil O. , besondere Bedeutung hat, steht danach für das Gericht außer Frage. Ebenso hat das Gericht keinen Zweifel daran, dass auf Grund der Nähe der Wohnbebauung, der Anzahl der Teilnehmer und der zu einem Schützenfest gehörenden musikalischen Begleitung durch eine Tanzkapelle die Einhaltung eines Immissionsrichtwertes von 55 dB(A) nach 24.00 Uhr realistischer Weise nicht ohne den Charakter des Festes beeinträchtigende Maßnahmen zur Schallreduzierung zu erreichen ist.
73Der Beklagte hat außerdem im Rahmen der Abwägung zu Recht berücksichtigt, dass es sich bei dem Schützenfest der St. I. Schützenbruderschaft im Jahr 2020 um die einzige auf dem Marktplatz geplante Veranstaltung handelte, bei der die zulässigen Immissionsrichtwerte nach der TA Lärm überschritten werden und eine Ausnahmegenehmigung erteilt wurde. Mit der vom Beigeladenen erteilten Ausnahmegenehmigung vom 05.11.2019 wurden nur an zwei Tagen des dreitägig geplanten Schützenfestes – Samstag, den 11.07.2020 und Montag, den 13.07.2020 – Störungen der Nachtruhe zugelassen. Weitere lärmintensive Veranstaltungen mit Ausnahmegenehmigungen zu Lasten der Anlieger waren weder für 2020 geplant noch haben sie – soweit ersichtlich – stattgefunden.
74Lärmbelästigungen durch Veranstaltungen auf dem Marktplatz in der Nachtzeit, die die Immissionsrichtwerte nach Nr. 4.4.2 der Freizeitlärmrichtlinie überschreiten, wären die Kläger demnach im Jahre 2020 nicht einmal an 1 % der Jahrestage ausgesetzt gewesen. Vor dem Hintergrund der nach Ziffer 4.4.2 Absatz 3 zu berücksichtigenden besonderen Umstände des Einzelfalles ist die Beklagte zu Recht davon ausgegangen, dass dies den Klägern zumutbar gewesen wäre.
75Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 3 VwGO. Die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig, weil er keinen Sachantrag gestellt und sich damit nicht am Kostenrisiko beteiligt hat.
76Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
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