Urteil vom Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht (12. Kammer) - 12 A 12/16

Tenor

Der Bescheid der Beklagten vom 23.07.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20.11.2015 wird insoweit aufgehoben, als die Zuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren für nicht notwendig erklärt wurde. Die Beklagte wird verpflichtet, die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Widerspruchsverfahren bezüglich des Bescheids der Beklagten vom 02.04.2015 für notwendig zu erklären.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils zu vollstreckenden abzuwenden, wenn nicht der Kläger zuvor Sicherheit in110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt die Verpflichtung der Beklagten, die Zuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren für notwendig zu erklären.

2

Der Kläger ist pensionierter Beamter der Bundespolizei. Zuletzt stand er als Polizeivollzugsbediensteter im Dienst der Beklagten. Wegen Dienstunfähigkeit wurde er, der seit Ende 2011 durchgehend erkrankt war, mit Verfügung vom 24.04.2013 zum Ablauf des 31.05.2013 in den Ruhestand versetzt.

3

Mit Bescheid vom 02.04.2015 traf die Beklagte eine Regelung zur finanziellen Abgeltung des wegen Krankheit vor Eintritt in den Ruhestand nicht in Anspruch genommenen Urlaubs des Klägers. zur Begründung verwies sie auf ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, welches am 31.01.2013 (Az. 2 C 10.12) entschieden habe, dass Beamte nach Maßgabe des Europäischen Gerichtshofs einen Anspruch auf Abgeltung des unionsrechtlich gewährleisteten Mindesturlaubs (20 Tage / Urlaubsjahr) hätten, den sie krankheitsbedingt bis zum Eintritt/Versetzung in den Ruhestand nicht mehr hätten nehmen können, sofern er nicht verfallen oder verjährt sei. Ansprüche verfielen 15 Monate nach Ende des Urlaubsjahres. Die Verjährungsfrist betrage gemäß § 195 BGB drei Jahre, beginnend mit dem Ende des Jahres, in dem die Beamtin/der Beamte in den Ruhestand trete (entsprechend § 199 Abs. 1 BGB).

4

Nach Prüfung der Rechts- und Erlasslage bestehe für den Kläger folgender Anspruch: Sein Resturlaub aus dem Jahr 2011 werde nicht berücksichtigt, da er mit Ablauf des 31.03.2013 (15 Monate nach Ende des Urlaubsjahres) bereits verfallen sei. Für das Jahr 2012 stehe dem Kläger der unionsrechtlich gewährleistete Mindesturlaub von 20 Tagen und für das Jahr 2013 der anteilige Mindesturlaub für fünf Monate - mithin 8,33 Tage - zu. Dies ergebe insgesamt 28,33 Tage abzugeltenden Urlaubs.

5

Unter dem 04.05.2013 legitimierte sich der Prozessbevollmächtigte des Klägers gegenüber der Beklagten als dessen Verfahrensbevollmächtigter und erhob namens und in Vollmacht des Klägers Widerspruch gegen den Bescheid. Während die Berechnung der Abgeltungstage für die Jahre 2012 und 2013 korrekt und nicht zu beanstanden sei, sei der Bescheid in Bezug auf den Urlaubsabgeltungsanspruch für das Jahr 2011 abzuändern, soweit darin angenommen werde, der Resturlaub aus 2011 sei bereits verfallen. Es sei nämlich zu unterscheiden zwischen Verfall des Urlaubsanspruchs und dessen Verjährung. Der Urlaubsanspruch des Beamten verfalle 18 Monate nach Ende des Urlaubsjahres. Der Urlaubsanspruch für 2011 sei daher erst am 30.06.2013 verfallen. Die im Bescheid vom 02.04.2015 zugrunde gelegte Verfallfrist von 15 Monaten sei nicht nachzuvollziehen. Verwiesen werde in diesem Zusammenhang auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zum Aktenzeichen 2 C 10.12 sowie auf das Rundschreiben des Bundesministeriums des Innern vom 22.04.2014 (Az. D230106/26).

6

Da der Kläger am 01.06.2013 in den Ruhestand getreten sei, sei der Urlaubsanspruch zu diesem Zeitpunkt noch nicht verfallen gewesen und habe sich in einen Abgeltungsanspruch umgewandelt. Dieser Anspruch sei auch nicht verjährt. Verjährung trete erst am 31.12.2016 ein.

7

Mit Bescheid vom 26.06.2015 half die Beklagte dem Widerspruch vom 04.05.2015 ab und hob ihren Bescheid vom 02.04.2015 hinsichtlich des Urlaubsjahres 2011 auf. Die Beklagte teilte weiter mit, dass Aufwendungen im Vorverfahren nicht erstattet würden (Ziffer 3).

8

Zur Begründung hieß es: Der Widerspruch sei begründet. Gemäß der gültigen Erholungsurlaubsverordnung (EUrlV) vom 29.11.2014 unterliege Erholungsurlaub, der wegen Dienstunfähigkeit nicht habe in Anspruch genommen werden können, unterschiedlichen Verfallsfristen. Der unionsrechtlich gewährte Mindesturlaub in Höhe von 20 Tagen verfalle 15 Monate nach Ende des Urlaubsjahres. Der Verfall trete daher jeweils mit Ablauf des 31. März des auf das Urlaubsjahr folgenden übernächsten Jahres ein. Der den Mindesturlaub übersteigende Urlaub verfalle 12 Monate nach Ende des Urlaubsjahres.

9

Der Kläger sei mit Ablauf des 31.05.2013 zur Ruhe gesetzt worden. Daher sei die EUrlV nicht anzuwenden. Zu diesem Zeitpunkt sei mangels nationaler Rechtsnorm nach Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und des Bundesverwaltungsgerichts zu verfahren gewesen und eine Verfallsfrist von 18 Monaten zugrunde zu legen. Dem Kläger habe im Urlaubsjahr 2011 ein unionsrechtlich gewährter Mindesturlaub von 20 Tagen zugestanden. Ausweislich seines Urlaubsnachweises habe er im Jahr 2011 10,18 Tage Urlaub genommen. Somit verblieben 9,82 Tage Urlaub. Dieser werde ihm finanziell abgegolten, da er weder verfallen noch verjährt sei. Es ergebe sich folgender finanziell abzugeltender Anspruch: für das Urlaubsjahr 2011 9,82 Urlaubstage, für 2012 20 Urlaubstage und für 2013 8,33 Urlaubstage, in der Summe mithin 38,15 Urlaubstage.

10

Mit anwaltlichem Schreiben vom 07.07.2015 wurden der Beklagten die Rechtsanwaltsgebühren des vom Kläger für das Widerspruchsverfahren mandatierten Bevollmächtigten bekanntgegeben. Die Beklagte wurde unter Hinweis auf die Kostentragungspflicht des § 80 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) aufgefordert, die entsprechend den Nummern 2300, 7002 und 7008 des Vergütungsverzeichnisses zum Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (VV-RVG) berechnete Kostennote über 147,56 € innerhalb der nächsten Tage auszugleichen.

11

Mit Bescheid vom 23.07.2015 änderte die Beklagte ihre Entscheidung vom 26.06.2015 dahingehend ab, dass Ziffer 3 aufgehoben wurde. Gleichzeitig erklärte sie die Zuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren für nicht notwendig.

12

Nach der im Gesetz in § 80 Abs. 2 VwVfG zum Ausdruck gebrachten Einschätzung des Gesetzgebers sei im Widerspruchsverfahren eine Vertretung des Widerspruchsführers durch Rechtsanwälte in der Regel nicht erforderlich.

13

Nach den persönlichen Verhältnissen des Widerspruchsführers (Polizeiobermeister a.D.) und der Einfachheit der Sache sei ihm zuzumuten gewesen, das Vorverfahren selbst zu führen.

14

Unter dem 01.08.2015 erhob der Kläger Widerspruch.

15

Die Vertretung durch einen Rechtsanwalt im Widerspruchsverfahren sei notwendig gewesen. Es treffe nicht zu, dass der Gesetzgeber in § 80 Abs. 2 VwVfG zum Ausdruck bringe, dass eine Vertretung durch Rechtsanwälte im Widerspruchsverfahren in der Regel nicht erforderlich sei. Vielmehr werde darauf abgestellt, ob es dem Widerspruchsführer zuzumuten sei, das Widerspruchsverfahren alleine und ohne anwaltlichen Beistand zu betreiben.

16

Dies sei vorliegend nicht der Fall gewesen. Er sei Polizeiobermeister a.D. Sein Aufgabenbereich habe sich nicht auf den Bereich Beamtenbezüge erstreckt. Er sei auch kein Jurist. Auch von einem einfach gelagerten Sachverhalt könne nicht ausgegangen werden. Bei der Frage von Beamtenbezügen handele es sich grundsätzlich um eine schwierige Materie. Hinzu komme, dass es vorliegend speziell um die Frage der Anrechnung und Verjährung von Urlaubstagen gegangen sei, wenn dieser aufgrund von Krankheit nicht mehr habe genommen werden können. Zu beachten sei hierbei, dass ihm nach den bisherigen Grundsätzen ein Anspruch nicht zugestanden habe. Erst aufgrund der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts habe sich eine Änderung der Rechtsprechung ergeben. Das Rundschreiben des Bundesministeriums des Innern sei ihm nicht bekannt gewesen. Selbst der zunächst zuständige Sachbearbeiter der Beklagten habe offensichtlich in der Bearbeitung seine Schwierigkeiten gehabt, da zunächst ja eine falsche Entscheidung getroffen worden sei.

17

Mit Widerspruchsbescheid vom 20.11.2015 wies die Beklagte den Widerspruch vom 01.08.2015 zurück und verteidigte ihren Bescheid vom 23.07.2015, wonach die Zuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren nicht notwendig gewesen sei.

18

Bei einem erfolgreichen Widerspruch habe gemäß § 80 Abs. 1 VwVfG die Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen habe, demjenigen, der Widerspruch erhoben habe, die notwendigen Aufwendungen zu erstatten. Davon abgekoppelt seien nach § 80 Abs. 2 VwVfG jedoch die Kosten für Rechtsanwälte oder sonstige Bevollmächtigte. Diese seien nur erstattungsfähig, wenn die Zuziehung eines Bevollmächtigten notwendig gewesen sei. Bei der Grundregelung des § 80 Abs. 1 VwVfG, wonach bei erfolgreichem Widerspruch dem Widerspruchsführer "die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen zu erstatten seien", habe der Gesetzgeber die Frage der Erstattungsfähigkeit der Gebühren und Auslagen eines Rechtsanwalts ersichtlich ausgeklammert und einer besonderen Entscheidung vorbehalten, wie die Spezialregelungen des § 80 Abs. 2 und Abs. 3 Satz 2 VwVfG zeigten. Nach der im Gesetz in § 80 Abs. 2 VwVfG zum Ausdruck gebrachten Einschätzung des Gesetzgebers sei eine Vertretung des Widerspruchsführers durch Rechtsanwälte im Widerspruchsverfahren in der Regel nicht erforderlich. Hieraus folgere das Bundesverwaltungsgericht in ständiger Rechtsprechung, dass die notwendige Vertretung durch einen Rechtsanwalt im Vorverfahren nicht als Regel, sondern als Ausnahme konzipiert sei. Notwendig sei die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten dann, wenn es der Partei nach ihren persönlichen Verhältnissen und wegen der Schwierigkeit der Sache nicht zuzumuten sei, das Vorverfahren selbst zu führen.

19

Einem Polizeibeamten im mittleren Dienst würden die grundlegenden Abläufe eines Widerspruchsverfahrens in der Ausbildung vermittelt. Der Widerspruchsführer sei Polizeivollzugsbeamter im statusrechtlichen Amt eines Polizeiobermeisters gewesen. Polizeibeamte nähmen eine Sonderstellung bei den Beamten ein. Sie könnten bei ihrem Handeln sowohl repressiv als auch präventiv vorgehen. Insbesondere das präventive Handeln sei dem originären Verwaltungsrecht zuzurechnen, das die Einhaltung von materiellen und formellen Anforderungen gebiete. Es handele sich hierbei um Grundsätze, die im gesamten öffentlichen Recht anzuwenden seien. Der Widerspruchsführer sei - anders als der Durchschnittsbürger - durch seine Ausbildung, Arbeit und Informationsaustausch mit Kollegen mit den Grundzügen des Verwaltungsrechts und des (rechtmäßigen) Behördenhandelns in Berührung gekommen. Allein dieses Wissen reiche aus, um gegen den Bescheid der finanziellen Urlaubsabgeltung vorzugehen. Beamtenrechtliche Spezialkenntnisse seien hierzu nicht notwendig. Ein Widerspruch im Sinne des § 69 VwGO sei, selbst wenn es an der Bezeichnung "Widerspruch" fehle, in jeder Erklärung zu sehen, aus der der Wille des Betroffenen hervorgehe, sich mit einer bestimmten Verwaltungsentscheidung nicht zufrieden zu geben und deren Änderung zu erstreben. Somit sei es einem ausgebildeten Polizeivollzugsbeamten sehr wohl zuzumuten, eine Willenserklärung zur Änderung eines behördlichen Bescheides auch ohne Hinzuziehung eines Rechtsanwalts zu formulieren.

20

Der Kläger hat am 23.12.2015 Klage erhoben.

21

Er hält die Zuziehung eines Bevollmächtigten im hier streitgegenständlichen Vorverfahren für notwendig.

22

Zwar sei eine anwaltliche Vertretung im verwaltungsrechtlichen Verfahren nicht vorgeschrieben, der Bürger sei jedoch berechtigt, sich in jedem Stadium eines Verfahrens anwaltlich vertreten zu lassen. Dieses Recht habe auch ihm zugestanden. Seine Entscheidung sei auch nicht mutwillig gewesen. Wie die angefochtene Entscheidung der Beklagten vom 02.04.2015 zeige, handele es sich bei der Berechnung der Abgeltung von Urlaubsansprüchen um eine schwierige rechtliche Materie. Andernfalls hätte die Beklagte auch keine fehlerhafte Entscheidung getroffen. Er habe in der Vergangenheit seinen Urlaub immer genommen, so dass er mit der Frage der Abgeltung von Urlaubsansprüchen bisher nicht konfrontiert gewesen sei. Zudem habe er keine Kenntnisse über die Urlaubsberechnung, insbesondere nicht über den Verfall und die Verjährung von Urlaubsansprüchen. Es sei daher nicht zu beanstanden, dass er sich zur Überprüfung des Bescheids der Beklagten vom 02.04.2015 und zur Durchführung des Widerspruchsverfahrens anwaltlicher Hilfe bedient habe. Die hierfür entstandenen Kosten seien von der Beklagten zu zahlen. Schließlich habe sie die anwaltliche Inanspruchnahme durch ihre fehlerhafte Entscheidung verursacht.

23

Der Kläger beantragt (sinngemäß),

24

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 23.07.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20.11.2015 zu verpflichten, die Zuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren bezüglich des Bescheids der Beklagten vom 02.04.2015 für notwendig zu erklären.

25

Die Beklagte beantragt,

26

die Klage abzuweisen.

27

Sie tritt dem klägerischen Begehren entgegen und verweist zur Begründung auf die Ausführungen in ihren Bescheiden.

28

Durch Beschluss vom 06.04.2016 ist der Rechtsstreit dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen worden.

29

Die Beteiligten haben mit Schriftsätzen vom 18.12.2015 und vom 01.03.2016 ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt.

30

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

31

Die Klage, über die mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden werden kann (§ 101 Abs. 2 VwGO), ist gemäß § 88 VwGO entsprechend dem Begehren und dem Vortrag des Klägers dahingehend auszulegen, dass die Beklagte verpflichtet wird, die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Widerspruchsverfahren des Klägers gegen den Bescheid der Beklagten vom 02.04.2015 für notwendig zu erklären.

32

Die so verstandene Klage ist zulässig und begründet.

33

Die angefochtenen Bescheide sind rechtwidrig und verletzten den Kläger in seinen Rechten; er hat einen Anspruch darauf, dass die Beklagte die Zuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren für notwendig erklärt, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.

34

Gemäß § 80 Abs. 1 Satz 1 VwVfG hat der Rechtsträger, dessen Behörde den angefochtenen Verwaltungsakt erlassen hat, demjenigen, der Widerspruch erhoben hat, die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen zu erstatten, soweit der Widerspruch erfolgreich ist. Die Gebühren und Auslagen eines Rechtsanwalts oder eines sonstigen Bevollmächtigten im Vorverfahren sind nach § 80 Abs. 2 VwVfG allerdings nur dann erstattungsfähig, wenn die Zuziehung eines Bevollmächtigten notwendig war. § 80 Abs. 2 VwVfG bildet insoweit keine "selbstständige Anspruchsgrundlage", sondern knüpft als Spezialregelung zu § 80 Abs. 1 VwVfG an die im Abhilfe- bzw. Widerspruchsbescheid zu treffende Kostengrundentscheidung an, deren Bestandteil sie ist (vgl. Mann/Sennekamp/Uechtritz, VwVfG, Kommentar, 2014, § 80, Rn. 35).

35

Die Voraussetzungen von § 80 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwVfG liegen vor.

36

Bei der Frage, ob die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren notwendig war, handelt es sich um eine reine Rechtsfrage, die vollständig der gerichtlichen Prüfung unterliegt. Die Verwaltungsbehörde hat insoweit keinen Ermessensspielraum (vgl. Kopp/Ramsauer, VwVfG, Kommentar, 16. Auflage, 2015, § 80, Rn. 39).

37

Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Thematik der "Notwendigkeit" der Zuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren ist nicht einheitlich, sondern geprägt von einer jahrzehntelangen Kontroverse zwischen unterschiedlichen Senaten (vgl. Mann/Sennekamp/Uechtritz, VwVfG, Kommentar, 2014, § 80, Rn. 38 ff. m.w.N.). Sie kann wie folgt zusammengefasst werden:

38

Zwar ist die notwendige Vertretung durch einen Rechtsanwalt oder sonstigen Bevollmächtigten im Vorverfahren nicht die Regel, sondern die Ausnahme (vgl. BVerwG, Urteil vom 17.12.2001 - 6 C 19/01 - juris). Gleichwohl hängt - ungeachtet der grundsätzlichen Entscheidung des Gesetzgebers in § 80 Abs. 2 VwVfG und § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO, im Vorverfahren eine Vertretung des Widerspruchsführers durch Rechtsanwälte oder sonstige Bevollmächtigte in der Regel weder für üblich noch erforderlich zu halten - die Notwendigkeit der Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren stets von der Prüfung im Einzelfall ab (vgl. BVerwG, Beschluss vom 21.08.2003 - 6 B 26/03 - juris). Für die Auslegung und Anwendung von § 80 Abs. 2 VwVfG bzw. § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO ist also weniger das Begriffspaar "Regel/Ausnahme" als vielmehr die Feststellung aussagekräftig, wonach die Erstattungsfähigkeit von Anwaltskosten im Vorverfahren - anders als diejenige im gerichtlichen Verfahren (§ 162 Abs. 2 Satz 1 VwGO) - nicht automatisch, sondern je nach Lage des Einzelfalls nur unter der Voraussetzung der konkreten Notwendigkeit anzuerkennen ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 17.12.2001 - a.a.O.). Aus dem Begriff der "Notwendigkeit" der Zuziehung eines Bevollmächtigten folgt allerdings nicht, dass die Erstattungsfähigkeit im Widerspruchsverfahren auch zwingend eine Ausnahme bleiben muss. Eine Beschränkung auf Ausnahmefälle findet im Gesetzeswortlaut keinen hinreichenden Anhaltspunkt (vgl. BVerwG, Urteil vom 24.05.2000 - 7 C 8/99 - juris). Die Notwendigkeit der Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren beurteilt sich letztlich jedenfalls unter Würdigung der jeweiligen Verhältnisse vom Standpunkt einer verständigen Partei, die bemüht ist, die Kosten so niedrig wie möglich zu halten (vgl. BVerwG, Beschluss vom 03.07.2000 - 11 A 1/99, 11 KSt 2/99 - juris). Maßgebend ist, ob sich ein vernünftiger Bürger mit gleichem Bildungs- und Erfahrungsstand bei der gegebenen Sachlage eines Rechtsanwalts oder sonstigen Bevollmächtigten bedient hätte. Notwendig ist die Zuziehung eines Rechtsanwalts dann, wenn es der Partei nach ihren persönlichen Verhältnissen und wegen der Schwierigkeit der Sache nicht zuzumuten war, das Vorverfahren selbst zu führen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 08.12.2009 - 1 WB 61/09 - juris).

39

Ausgehend von diesen Maßstäben war es dem Kläger nicht zuzumuten, das Vorverfahren ohne Beteiligung eines rechtskundigen Bevollmächtigten alleine durchzuführen.

40

Es mag zwar sein, dass es dem Kläger noch möglich und zumutbar war, in eigener Person und ohne Hilfestellung eines Bevollmächtigten (fristgemäß) eine schlichte Willenserklärung gegenüber der Beklagten abzugeben, aus der hervorgegangen wäre, dass er sich gegen den Bescheid der Beklagten vom 02.04.2015 wenden möchte, insbesondere weil der Begriff "Widerspruch" hierbei - wie die Beklagte richtig festgestellt hat - nicht explizit verwendet werden muss. Dieser Umstand betrifft jedoch nur die formellen Anforderungen hinsichtlich eines Widerspruchs.

41

Die Frage, ob der Widerspruch in der konkreten Situation jedoch auch in materieller Hinsicht erfolgversprechend ist, konnte sich der Kläger trotz seines ihm attestierten Vorwissens als Beamter nicht ohne weiteres selbst beantworten. Hierfür bedurfte es vertiefter Kenntnisse im Bereich des Beamtenrechts. Der Kläger hat unwidersprochen vorgetragen, dass er in der Vergangenheit seinen ihm zustehenden Jahresurlaub regelmäßig genommen habe, so dass er mit der Problematik einer finanziellen Abgeltung nicht beanspruchten Urlaubs bis zur seiner Ruhestandsversetzung auch nicht konfrontiert gewesen war.

42

Zudem konnte er nicht sicher sein, ob und gegebenenfalls inwieweit die letztlich eingetretene Dienstunfähigkeit zu einer Modifikation seiner Ansprüche hätte führen können. Weiterhin bedurfte es der Kenntnis von deutscher und europäischer Rechtsprechung. Es galt schließlich, die Begriffe "Verfall" und "Verjährung" auseinander zu halten, deren jeweilige Rechtsfolge an unterschiedliche Fristen geknüpft war. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass von der Beklagten für den Kläger Urlaubsabgeltungsansprüche aus den Jahren 2011, 2012 und 2013 festgesetzt wurden und es für ihn in der Folge um einen nicht unerheblichen Geldbetrag ging, war es aus der Sicht eines vernünftigen Bürgers mit dem Bil- dungs- und Erfahrungsstand des zumindest in dieser Hinsicht nicht vollends rechtskundigen Klägers gerechtfertigt, sich zur Sicherung und Durchsetzung seiner Rechte schon im Widerspruchsverfahren der Hilfe eines Rechtsanwalts zu bedienen. Es konnte dem Kläger nicht zugemutet werden, auf anwaltliche Hilfe zu verzichten. Es würde den Kenntnisstand eines (pensionierten) Beamten des mittleren Dienstes überstrapazieren, wenn von ihm verlangt würde, die streitgegenständliche Rechtsproblematik selbstständig zu überblicken und das entsprechende Widerspruchsverfahren alleine durchzuführen.

43

Auch wenn für die Beurteilung der Notwendigkeit der Zuziehung eines Rechtsanwalts auf den Zeitpunkt dessen Bevollmächtigung abzustellen ist (vgl. BVerwG, Beschluss vom 21.12.2011 - 1 WB 51/11 -juris), also eine ex ante-Prognose hinsichtlich der Notwendigkeit vorgenommen wird, wird diese Notwendigkeit in der hier vorliegenden Konstellation durch die zunächst fehlerhafte Berechnung der Urlaubsabgeltungsansprüche des Klägers durch die Beklagte selbst in einer ex post-Betrachtung jedenfalls bestätigt. Die Ansicht der Beklagten, dem Kläger sei es zuzumuten gewesen, das Vorverfahren aufgrund seiner persönlichen Verhältnisse, seiner Vorkenntnisse und der Einfachheit der Sache selbst zu führen, erscheint unter diesen Umständen auch widersprüchlich. Sofern die Beklagte von einem einfach gelagerten Sachverhalt ausgeht, hätte jedenfalls sie selbst grundsätzlich auch in der Lage sein müssen, die Rechtslage - unter Berücksichtigung der einschlägigen Rechtsprechung - zutreffend einzuschätzen und im Ergebnis zu einer von Anfang an korrekten Entscheidung zu gelangen. Dies ist ihr jedoch nicht gelungen. Vielmehr bedurfte es des Widerspruchs durch den Bevollmächtigten des Klägers, um den Fehler hinsichtlich der finanziellen Abgeltung des übrigen Jahresurlaubs aus 2011 zu bemerken und schließlich zu korrigieren.

44

Schließlich hilft auch die von Beklagten in ihrem Widerspruchsbescheid zitierte Entscheidung der Kammer (Urteil vom 27.08.2014 - 12 A 219/11 - juris) nicht weiter; denn der dort zu beurteilende Sachverhalt ist mit dem vorliegenden nicht vergleichbar.

45

Die Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 709 Satz 2, 711 ZPO.


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