Urteil vom Landgericht Bielefeld - 4 O 172/18
Tenor
1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin ein Schmerzensgeld in Höhe von 75.000,00 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 22.09.2018 sowie vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 4.403,71 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 22.09.2018 zu zahlen.
2. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin sämtliche weiteren Schäden zu ersetzen, die auf der fehlerhaften Behandlung im H.-Krankenhaus im Jahr 2017, insbesondere im Rahmen des Krankenhausaufenthaltes vom 06.10.2017 bis zum 11.11.2017, beruhen. Dies gilt für materielle Ansprüche nur, soweit diese nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind und für immaterielle Ansprüche nur, soweit diese derzeit noch nicht vorhersehbar sind.
3. Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
4. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages.
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für Recht erkannt:
21. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin ein Schmerzensgeld in Höhe von 75.000,00 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 22.09.2018 sowie vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 4.403,71 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 22.09.2018 zu zahlen.
32. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin sämtliche weiteren Schäden zu ersetzen, die auf der fehlerhaften Behandlung im H.-Krankenhaus im Jahr 2017, insbesondere im Rahmen des Krankenhausaufenthaltes vom 06.10.2017 bis zum 11.11.2017, beruhen. Dies gilt für materielle Ansprüche nur, soweit diese nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind und für immaterielle Ansprüche nur, soweit diese derzeit noch nicht vorhersehbar sind.
43. Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
54. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages.
6Tatbestand:
7Die Klägerin begehrt - vertreten durch ihre Eltern - ein Schmerzensgeld sowie die Feststellung der weiteren Einstandspflicht wegen einer vermeintlich fehlerhaften ärztlichen Behandlung in der Zeit vom 06.10.2017 bis zum 11.11.2017 in dem von der Beklagten getragenen H.-Krankenhaus O..
8Am 28.09.2017 wurde die Klägerin als reifes Neugeborenes mit APGAR-Werten von 9/10/10 ohne Auffälligkeiten in der 40 + 2. Schwangerschaftswoche geboren. Das Geburtsgewicht betrug 3.500 g, der Kopfumfang 36,0 cm und die Körperlänge 53 cm. Zuvor hatte während der Schwangerschaft ein Schwangerschaftsdiabetes bestanden. Postpartal traten keine Probleme auf.
9Am 06.10.2017 stellte die Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin R. (O.) die Diagnose „Virusinfektion; V. a. Apnoe“ und verordnete eine Krankenhausbehandlung aufgrund folgender Untersuchungsergebnisse:
10„seit ein paat Ragen [sic!] Probleme mit dem Trinken, röchelt, verschleimt, heute nach dem Stillen massiv gespuckt, schlapp, nicht geschrien, Augen verdreht, blass, Mutter hat Vd. Atemstillstand“ (Anlage K 1).
11Am 06.10.2017 wurde die Klägerin um 18:53 Uhr mit Verdacht auf eine Neugeborenen-Infektion und Pneumonie stationär im H.-Krankenhaus O. aufgenommen. Bei der Aufnahme war sie ausweislich des Aufnahmeberichts (Anlage K 2) sowie des Arztbriefes vom 15.12.2017 (Anlage K 3) stabil. Es bestand eine heisere Stimme, der Rachenraum war geringfügig gerötet, die Schleimhäute waren feucht. Es bestanden ein trockener Husten und eine leicht beschleunigte Atmung. Die Untersuchung des Herzens und des Abdomens war unauffällig. Das Gewicht hatte mit 3.410 g das Geburtsgewicht noch nicht wieder erreicht. Nach Angaben der Mutter der Klägerin wurde die Klägerin voll gestillt; sie spucke häufig, würde häufig schreien und habe zu Hause eine röchelnde Atmung gezeigt.
12Nach der stationären Aufnahme zeigte die Klägerin bereits einen Sauerstoffbedarf. Im Labor fand sich eine leichte Erhöhung des C-reaktiven Proteins auf 14,8 mg/l sowie des II-6 auf 27 pg/ml. Im Blutbild fand sich bei normaler Leukozytenzahl von 14,4 g/l eine leichte Linksverschiebung (10 % Stabkernige und 58 % Segmentkernige). Es wurde - neben den Diagnosen eines rezidivierenden Erbrechens, eines gastroösophagealen Refluxes, einer Gedeihstörung, einer hypochlorämischen metabolischen Alkalose (Elektrolytstörung), einer Hyponatriämie (Natriummangel) und einer Hypokaliämie (Kaliummangel) - die Diagnose einer Pneumonie mit respiratorischer Partialinsuffizienz gestellt. Da sich die Klägerin im Neugeborenenalter befand, wurde eine kombinierte antibiotische Therapie mit Ampicillin und Tobramycin gestartet.
13Im weiteren Verlauf fand sich weder vom Verlauf noch vom Keimspektrum her ein Hinweis auf einen Zusammenhang mit Keimen aus dem Genitalbereich der Mutter, sondern die Klägerin zeigte klinisch das Bild einer am ehesten viralen Pneumonie. Die Untersuchung auf das RS-Virus war negativ. Klinisch zeigte die Klägerin in den ersten Tagen weiterhin einen kontinuierlichen Sauerstoffbedarf, auskultatorisch zeigte sich ein sogenanntes Knistern über der Lunge, welches pathognomonisch für eine sogenannte Bronchiolitis ist. Dabei handelt es sich um eine Entzündung in den allerkleinsten Bronchiolen, die einer Pneumonie in etwa gleichzusetzen ist. Das Röntgenbild der Lunge zeigte am 10.10.2017 beidseitig Infiltrate. Therapeutisch wurden Inhalationen mit hypertoner Kochsalzlösung durchgeführt, ferner wurde eine Infusionstherapie verabreicht, außerdem wurde zunächst über fünf Tage eine antibiotische Therapie mit Ampicillin und Tobramycin durchgeführt. Ferner erhielt die Klägerin abschwellende Nasentropfen und ein kontinuierliches Monitoring von Sättigung und Herzfrequenz. Die Mutter wollte gerne weiter stillen, so dass die Klägerin zusätzlich zur Infusion Muttermilch trank.
14Der Sauerstoffbedarf der Klägerin war schwankend, bestand aber fort. Unter der Diagnose der Bronchiolitis wurden der Klägerin auch intermittierend Inhalationen mit Adrenalin verabreicht. Aufgrund des persistierenden Sauerstoffbedarfs und unter dem Eindruck des Röntgenbildes am 10.10.2017 wurde die Klägerin mit einem sogenannten High-Flow-Beatmungsgerät versorgt. Dabei handelt es sich um eine nicht invasive Beatmung, die die Atemarbeit für die Patienten verringert und die Belüftungssituation in der Lunge verbessert. Da der Schnelltest auf RS-Viren negativ war, wurde eine PCR-Untersuchung auf andere typische respiratorische Erreger veranlasst, die keinen ursächlichen Keim erbrachte. Die Antibiotikatherapie wurde bei zunächst nur zögerlicher klinischer Verbesserung am 12.10.2017 auf Cefuroxim umgesetzt. Im Labor war das C-reaktive Protein als Marker für die Entzündungsreaktion gut rückläufig und war am 13. und 17.10.2017 bereits negativ, passend zu einer am ehesten viralen Infektion. Die Beatmung mit dem High-Flow-Gerät wurde am 17.10.2017 beendet.
15Bezüglich der Ernährungssituation zeigte sich nach der Aufnahme unter Infusionstherapie und Still-Ernährung, dass die Klägerin mehrfach täglich kleinere und auch größere Mengen spuckte. Zunächst nahm die Klägerin an Gewicht zu, am 08.10.2017 betrug das Gericht 3.510 g, im weiteren Verlauf nahm die Klägerin jedoch wieder ab. Abdomensonographisch fand sich ein recht ausgeprägter gastroösophagealer Reflux. Im Rahmen der Zusammenschau eines schweren pulmonalen Infektes mit Bedarf einer nicht invasiven Beatmung und einer Sauerstoffzufuhr bis 40 %, der erhöhten Atemarbeit sowie des häufigen Spuckens, entschieden sich die Mitarbeiter der Beklagten zu einer zunächst teilparenteralen Ernährung mit Glukose, Aminosäuren, Elektrolyten und Fetten. Gleichzeitig erhielt die Klägerin weiterhin eine Muttermilch-Ernährung, die versuchsweise angedickt wurde. So trank die Klägerin am 15.10.2017 beispielsweise insgesamt 225 ml dazu. Die Frequenz des Spuckens der Klägerin und ihres Erbrechens nahm während der zweiten Woche des stationären Aufenthalts ab. Da gleichzeitig eine langsame, aber weitere Gewichtsabnahme zu verzeichnen war - die Klägerin wog am 18.10.2017 3.300 g -, erhielt sie am 18.10.2017 einen zentralvenösen Katheter (Einschwemmkatheter), um hyperosmolare Nahrungslösungen infundieren zu können. Da die Klägerin sehr unruhig und hungrig wirkte, wurde weiterhin eine geringe orale Nahrungsmenge erlaubt. Klinisch war das Bild nach Beurteilung der Beklagten mit einer sogenannten hypertrophen Pylorusstenose vereinbar.
16Die Klägerin war hungrig, spuckte zum Teil große Mengen und hatte große Magenreste. Die Peristaltik war lebhaft. Aus diesem Grunde wurden wiederholt Abdomensonographien durchgeführt. Es zeigten sich jedoch sowohl am 16., 18. und 20.10.2017 keine Hinweise auf eine Verdickung des Pylorus, so dass nach Beurteilung der Beklagten eine Pylorusstenose letztlich ausgeschlossen werden konnte.
17Da klinisch nach Einschätzung der Beklagten das Bild eines Passagehindernisses im Bereich des Duodenums (Zwölffingerdarm) vermutet werden musste, wurde eine Magen-Darm-Passage mit wasserlöslichem Kontrastmittel veranlasst. Es zeigte sich ein deutlich dilatierter Magen und nach 15 Minuten nur eine spärliche Kontrastierung des Duodenums und proximalen Jejunums (oberer Teil des Dünndarms). Eine Stunde nach Kontrastmittelgabe fand sich immer noch ein deutlich gefüllter Magen, allerdings fanden sich signifikante Kontrastmittelmengen jetzt bis zum Ileum, sodass sich eine Flüssigkeitspassage bis in die unteren Dünndarmregionen zeigte.
18Nach eingehender Befunddiskussion der ärztlichen Mitarbeiter mit den Radiologen und Ärzten der Abdominalchirurgie wurde von den ärztlichen Mitarbeitern mit den Eltern der Klägerin diskutiert, dass die sonographischen und Röntgenbefunde am ehesten für eine subtotale Enge im Bereich des Duodenums sprachen. Aus diesem Grund wurde von den behandelnden Ärzten eine laparoskopische Operation empfohlen, um nach Überwindung der vermeintlichen Lungenentzündung eine Ursache für die außerdem vorliegende ausgeprägte Essstörung zu finden.
19Am 21.10.2017 wurde eine explorative Laparotomie durchgeführt. Ausweislich des Arztbriefes (Anlage K 3) wurden Ladd'sche Bänder gelöst sowie eine hypertrophe Pylorusstenose wie auch eine Duodenalstenose ausgeschlossen. Es habe sich auch kein Volvulus gefunden. Im Bereich des Duodenums seien fibröse Bänder gesehen worden, die vom Quercolon zum rechten Oberbauch gezogen seien, sodass hierdurch eine Passagestörung erklärt werde. Hierbei handele es sich um Ladd’sche Bänder, die mit der Schere durchtrennt worden seien. Bei der weiteren Inspektion des Magen-Darm-Traktes fand sich im Bereich des Dünndarmmesenteriums noch ein betonter Lymphknotenbesatz.
20Postoperativ wurde die Klägerin auf der Neugeborenen-Intensivstation betreut. Hier wurde eine total parenterale Ernährung fortgesetzt. Am 24.10.2017 wurde die Klägerin auf die Normalstation zurückverlegt. Das EKG und das Sättigungsmonitoring wurden fortgesetzt, auch die parenterale Ernährung wurde fortgesetzt. Das Gewicht der Klägerin betrug am 24.10.2017 3.670 g. Nach der Operation wurde die Nahrungsmenge langsam gesteigert, am 25.10.2017 betrug die Nahrungsmenge 8 x 25 ml, am 29.10.2017 6 x 35 ml. Die respiratorische Situation war unauffällig. Auch die Ernährungssituation schien sich zu konsolidieren. Am 31.10.2017 lag das Körpergewicht der Klägerin bei 3.865 g. Grundsätzlich bestand auf Seiten der Beklagten zu diesem Zeitpunkt die Hoffnung, dass nur ein protrahierter Nahrungsaufbau nötig sein würde. Bei der subtilen Beobachtung fiel jedoch auf, dass immer noch Spuckereignisse vorkamen und die Klägerin trotz deutlich besserer Zufriedenheit nicht richtig gesund wirkte. Die Nahrung wurde unter der Vorstellung einer möglicherweise zugrundeliegenden Nahrungsunverträglichkeit auf Neocate, eine Vollhydrolysatnahrung, die nicht weiter verdaut werden muss, umgestellt.
21Außerdem diskutierten die behandelnden Ärzte der Klägerin den Fall mit den Ärzten der Gastroenterologie. Unter der Vorstellung, dass zusätzlich zu den gelösten Ladd‘schen Bändern auch intraluminal eine subtotale Stenose im Magen-Darm-Trakt vorliegen könnte, wurde mit den Eltern der Klägerin die Möglichkeit einer Endoskopie des oberen Gastrointestinaltrakts diskutiert. Am 30.10.2017 wurden die Eltern der Klägerin in Bezug auf eine voraussichtlich am 02.11.2017 stattfindende Ösophago-Gastro-Duodenoskopie (ÖGD) aufgeklärt; hierzu kam es jedoch im Ergebnis nicht.
22Am 31.10.2017 entwickelte die Klägerin erstmals Fieber bis 38,3 °C. Es wurde eine antibiotische Behandlung mit Ampicillin, Vancomycin und Tobramycin durchgeführt. Zu diesem Zeitpunkt erbrach die Klägerin wieder häufiger und setzte zerhackte Stühle ab. Das C-reaktive Protein sowie das II-6 waren leicht angestiegen. Da der zentrale Venenkatheter zu diesem Zeitpunkt bereits den 13. Tag eingelegt war, kam auch eine Katheter-assoziierte Infektion als Ursache in Frage. Da die Klägerin weiterhin eine zumindest teil-parenterale Ernährung benötigte, wurde der zentrale Venenkatheter jedoch zunächst noch belassen. Bei Fortbestehen der subfebrilen Temperatur bis 38 °C wurde der zentrale Venenkatheter am 03.11.2017 entfernt, um eine Katheterinfektion sicher auszuschließen. Die Blutkulturen blieben steril, auch die Katheterspitze zeigte keinen Keimzuwachs. Im weiteren Verlauf stiegen die Infektionsparameter bis zum 07.11.2017 leicht an und waren am 09.11.2017 wieder leicht abgefallen. Die Ursache für die Infektion blieb unklar, die bereits antibiotische Therapie wurde bis zum 07. bzw. 08.11.2017 fortgeführt. Außerdem erhielt die Klägerin weiterhin eine zumindest teil-parenterale Ernährung zusätzlich zu den oralen Trinkmengen von ca. 300 ml/Tag.
23Aufgrund der für die Beklagte ungewöhnlichen Krankheitsgeschichte nahmen deren Mitarbeiter Kontakt mit der Medizinischen Hochschule K. (MHK) auf. Die Diskussion der Befunde und des Krankheitsverlaufs mit den dortigen Ärzten der Kinderklinik erbrachte, dass möglicherweise auch eine seltene Stoffwechselstörung dem protrahierten Krankheitsverlauf zugrunde liegen könnte. Aus diesem Grund sollte die Klägerin in der MHK eingehender untersucht werden. Die Möglichkeit der Verlegung wurde mit den Eltern der Klägerin ausführlich diskutiert, wobei Verlegung auch von der Aufnahmekapazität der MHK abhing, schließlich aber am 11.11.2017 erfolgte.
24Vom 11.11.-09.12.2017 war die Klägerin im Zentrum Kinderheilkunde und Jugendmedizin, Klinik für Pädiatrische Nieren-, Leber- und Stoffwechselerkrankungen der MHK stationär aufhältlich (Anlage K 5). Eine Kernspintomographie des Schädels mit Spektroskopie erfolgte am 29.11.2017, ein MRT des Abdomens am 30.11.2017. Am 06.12.2017 erfolgte eine endoskopische Untersuchung durch die Ösophago-Gastro-Duodenoskopie (ÖGD). Dabei zeigte sich ein ausgeprägter Befund mit aufgehobener Motilität, Wandstarre und pathologischem Schleimhautrelief in allen einsehbaren Abschnitten des oberen Gastrointestinaltraktes. Weiterhin bestanden eine hochgradige Duodenalstenose und eine schwerste ulzerierende Ösophagitis (Speiseröhrenentzündung) bei vollständiger Cardiainsuffizienz (Undichtigkeit des Verschlussmechanismus am Mageneingang). Aufgrund der schwerst ulzerierenden Ösophagitis erhielt die Klägerin großzügig Analgetika zur Schmerzbekämpfung. Ferner wurde eine Hautbiopsie mit Fibroblastenkultur angelegt, um Stoffwechselerkrankungen und genetische Erkrankungen abzuklären. Es bestätigte sich der Verdacht auf eine oder mehrere Engstellen im Bereich des Dünndarms. Zudem wurden ausweislich des Entlassungsberichts (Anlage K 5) eine Entwicklungsstörung und eine muskuläre Hypotonie diagnostiziert sowie ein persistierendes Foramen ovale und eine periphere Pulmonalstenose.
25Vom 09.12.2017-01.01.2018 wurde die Klägerin stationär im Zentrum für Chirurgie, Klinik für Kinderchirurgie der MHK zur weiteren Diagnostik und Therapie aufgrund der noch unklaren Ursache der ausgeprägten Obstruktion behandelt (Anlage K 6). Die Befunderhebung erfolgte per MRT. Am 12.12.2017 erfolgte eine offen chirurgisch durchgeführte Duodenoduodenostomie mit vorangegangener Rektumsaugbiopsie vom 11.12.2017. Dabei wurde ausweislich des Entlassungsberichts vom 31.01.2018 (Anlage K 6) festgehalten, dass die explorative Laparotomie in O. vom 21.10.2017 keinen Hinweis auf eine externe Kompression des Duodenums gezeigt habe. Die nunmehr durchgeführte bildgebende und endoskopische Diagnostik habe eine hochgradige Obstruktion des Duodenums mit begleitender Gastritis und Ösophagitis gezeigt. Zudem hätten sich eine Duodenalstenose und eine Duodenalatresie (angeborene Entwicklungsstörung, bei der das Lumen des Zwölffingerdarms nicht durchgängig ist) gezeigt.
26Ausweislich des Entlassungsberichts vom 31.01.2018 waren auf Grund der präoperativ schweren entzündlichen Veränderungen weitere Verlaufsendoskopien geplant.
27Mit Schriftsatz ihrer Prozessbevollmächtigten vom 22.06.2018 forderte die Klägerin die Beklagte zur Zahlung von Schadensersatz sowie zur Anerkennung der weiteren Ersatzpflicht bis zum 20.07.2018 auf. Hierbei bezifferte sie ein begehrtes Schmerzensgeld auf 75.000,00 EUR, ihren Eltern entstandene Fahrtkosten auf 1.850,35 EUR sowie ihr Feststellungsinteresse auf 50.000,00 EUR (Anlage K 8). Mit Schreiben ihrer Prozessbevollmächtigten vom 23.08.2018 wies die Beklagte die erhobenen Ansprüche zurück (Anlage K 9).
28Zwischen dem 15.03.2018 und dem 28.04.2021 stellte sich die Klägerin mehrfach in der Klinik für Kinderchirurgie der MHK ambulant und stationär vor (Anlagen K 11 bis K 19). Kurz vor dem Verhandlungstermin am 11.03.2022 musste die Klägerin eine weitere stationäre Behandlung bzw. Kontrolle in der MHK absolvieren. Dabei zeigte sich, dass (nach wie vor) eine Entzündung im Bereich des Übergangs von Speiseröhre und Magen besteht. Zudem leidet die Klägerin an den damit verbundenen Beschwerden, sie hat Schmerzen, kann nicht alles essen und muss Medikamente einnehmen.
29Die Klägerin behauptet, dass ihre Behandlung in der Klinik der Beklagten in der Zeit vom 06.10.2017 bis zum 11.11.2017 fehlerhaft gewesen sei. Angesichts ihrer Beschwerden (Magen-Darm-Probleme) seien Befunde behandlungsfehlerhaft nicht ausreichend bzw. verspätet erhoben worden, namentlich die Befunde des persistierenden Foramen ovale sowie der Pulmonalstenose. Die Ösophago-Gastro-Duodenoskopie (ÖGD) wäre bei Anwendung der ärztlichen Sorgfalt zwingend Ende Oktober/Anfang November 2017 durchzuführen gewesen. Neben dieser ÖGD wäre bei Anwendung der ärztlichen Sorgfalt zwingend auch die entsprechende Kernspintomographie/MRT geboten gewesen. Sofern die vorstehenden Untersuchungen (ÖGD und/oder MRT) in der Klinik der Beklagten nicht durchführbar gewesen wären, hätte die frühere Verlegung in ein Spezialzentrum erfolgen müssen. Die am 21.10.2017 durchgeführte explorative Laparotomie sei nicht indiziert gewesen und zudem nicht sach- und fachgerecht durchgeführt worden. Es sei nicht geboten gewesen, die sog. Ladd‘schen Bänder durchzuschneiden, da weder eine externe Kompression des Duodenums noch eine verdrehte Fehlstellung des Darms, die eigentlich typisch für ein auf die Ladd‘schen Bänder zurückzuführendes Kompressionsproblem sei, vorgelegen hätten. Der Chirurg habe behandlungsfehlerhaft die eigentliche Fehlbildung übersehen und den Schnitt senkrecht statt waagerecht gesetzt. Nach der Operation sei als Komplikation der nosokomiale Krankenhauskeim aufgetreten. Auch entspreche die Dokumentation in der Klinik der Beklagten hinsichtlich der Operation vom 21.10.2017 nicht den Anforderungen an die medizinisch gebotene Dokumentation. Anstatt ferner über einen Monat lang im Rahmen des stationären Krankenhausaufenthalts eine enterale Ernährung mit lediglich parenteraler zeitweiser Unterstützung zu versuchen, wäre eine voll-parenterale Ernährung über einen zentralen Venenkatheter (ZVK) geboten gewesen.
30Die Klägerin behauptet weiter, sie habe auf Grund der beschriebenen Behandlungsfehler diverse Beeinträchtigungen erlitten. So habe sich ihr gesamter oberer Verdauungstrakt schwer entzündlich verändert, insbesondere im Wege einer schwersten ulzerierenden Ösophagitis und einer Gastritis. Diese beruhten auf der unterlassenen Befunderhebung eines MRT und ÖGD sowie der verfehlten Therapie. Es seien mehrere Geschwüre aufgetreten, deren narbenlose Abheilung nicht möglich sei, da eine solche narbenlose Abheilung das Vorhandensein einer intakten Basalzellschicht im Stratum germinativum voraussetze. Auf Grund der vorliegenden Ulcera und der schwersten Ausprägung der Ösophagitis liege somit ein Dauerschaden vor. Zudem habe die Klägerin eine Dystrophie erlitten, die gravierend auch auf der unterlassenen voll-parenteralen Ernährung beruhe. Außerdem leide sie an einer Neurodermitis, die bereits einen dreiwöchigen Aufenthalt in einer Kinderklinik erforderlich gemacht habe. Insgesamt seien auf Grund der Behandlungsfehler allein bis zum Zeitpunkt der Klageerhebung drei weitere Krankenhausaufenthalte und zwei weitere Gastroskopien erforderlich gewesen. Nach wie vor werde sie medikamentös behandelt. Eine etwaige Grunderkrankung wäre bei ordnungsgemäßer ärztlicher Vorgehensweise nicht zum Tragen gekommen.
31Die Klägerin behauptet weiter, ihren Eltern seien Fahrtkosten von zusammen 1.850,35 EUR sowie vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 4.403,71 EUR nach einem Gegenstandswert von 126.850,35 EUR und einer 2,2-fachen Geschäftsgebühr entstanden.
32Die Klägerin meint, die unterlassenen Befunderhebung eines MRT und ÖGD sowie die verfehlte Therapie stellten grobe Behandlungsfehler dar. Für ihre schwersten Gesundheitsschädigungen sei jedenfalls ein Schmerzensgeld in Höhe von 75.000,00 EUR angemessen, insbesondere im Hinblick auf die erlittenen Beeinträchtigungen sowie die Tatsache, dass sie ihre ersten drei Lebensmonate mangelernährt in intensiver stationärer Behandlung verbracht habe.
33Die Klägerin meint zudem, die Beklagte habe die medizinisch gebotene Dokumentation unterlassen, da die Patientenakte hinsichtlich der Operation vom 21.10.2017 keinen eigenständigen Operationsbericht enthalte, sondern sich lediglich im Entlassungsbericht vom 15.12.2017 (Anlage K 3) Ausführung dazu fänden, sodass schon keine Dokumentation im adäquaten zeitlichen Zusammenhang vorliege und diese damit unverwertbar sei. Darüber hinaus entspreche der vermeintlich in den Entlassungsbrief integrierte Operationsbericht auch inhaltlich nicht den Anforderungen an die medizinisch gebotene Dokumentation. Er enthalte nicht einmal die Angabe, welche Personen operiert und assistiert hätten.
34Die Klägerin beantragt,
351. die Beklagte zu verurteilen, an sie ein dem gerichtlichen Ermessen unterstelltes Schmerzensgeld, das nach klägerischer Vorstellung 75.000,00 EUR nicht unterschreiten sollte, nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit sowie vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 4.403,71 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen;
362. festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin sämtliche weiteren Schäden zu ersetzen, die aus der fehlerhaften Behandlung im H.-Krankenhaus im Jahr 2017, insbesondere im Rahmen des Krankenhausaufenthaltes vom 06.10.2017 bis zum 11.11.2017, beruhen; dies gilt für materielle Ansprüche nur soweit diese nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind und für immaterielle Ansprüche nur soweit diese derzeit noch nicht vorhersehbar sind.
37Die Beklagte beantragt,
38die Klage abzuweisen.
39Die Beklagte behauptet, die Behandlung der Klägerin sei stets sach- und fachgerecht erfolgt und habe dem medizinischen Facharztstandard entsprochen.
40Im Zeitpunkt der am 21.10.2017 durchgeführten explorativen Laparotomie habe eine schwere Gedeihstörung bei der Klägerin vorgelegen. Versuche, die Nahrung anzudicken, und andere konservative Behandlungsmaßnahmen seien erfolglos gewesen. Radiologisch und sonographisch habe sich ein Passagehindernis im Bereich des proximalen Duodenums gezeigt ohne Hinweis auf eine hypertrophe Pylorusstenose. Damit habe eindeutig die Indikation für die Durchführung der Laparotomie vorgelegen. Diese sei auch sach- und fachgerecht durchgeführt worden. Auch intraoperativ habe sich kein erklärendes Korrelat gefunden. Zudem seien nach der Operation keine Komplikationen aufgetreten.
41Es stelle auch keinen Befunderhebungsfehler der Beklagten dar, dass die zunächst für den 02.11.2017 geplante Ösophago-Gastro-Duodenoskopie nicht durchgeführt worden sei, weil die Klägerin zwischen Aufklärung und geplantem Termin eine fieberhafte Infektion mit Verschlechterung des Allgemeinzustandes, insbesondere auch unter Beteiligung ihrer Atemwege, erlitten habe. Deshalb sei die elektive diagnostische Maßnahme bei einem derart kleinen Kind zu risikoreich gewesen und habe verschoben werden müssen. Auf Grund der erforderlichen Vollnarkose sei am 02.11.2017 auch eine Kernspintomographie nicht indiziert gewesen.
42Auch die von der Beklagten während des stationären Aufenthalts durchgeführte Versorgung sei medizinisch fachgerecht erfolgt, insbesondere sei eine ausreichende Kalorienzufuhr während des stationären Aufenthalts der Klägerin im H.-Krankenhaus durchweg sichergestellt worden. Die gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Klägerin seien als schicksalhaft zu betrachten. Soweit die Klägerin behaupte, an einer Neurodermitis zu leiden, liege die Ursache dafür jedenfalls nicht in einem Behandlungsfehler der Beklagten. Die Kernspintomographie des Schädels mit Spektroskopie in der MHK am 29.11.2017 deute zudem auf anlagebedingte Grunderkrankungen hin.
43Die Beklagte meint, die Patientenakte der Klägerin sei umfassend und entspreche dem medizinischen Facharztstandard. Das anvisierte Schmerzensgeld in Höhe von 75.000,00 EUR sei jedenfalls übersetzt. Auch seien die außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten der Klägerin überhöht, weil der Gegenstandswert auch ein Feststellungsinteresse in Höhe von 50.000,00 EUR umfasse und die angesetzte 2,5-fache Geschäftsgebühr überhöht sei.
44Die Klage ist der Beklagten am 21.09.2018 zugestellt worden.
45Die Kammer hat Beweis erhoben über die Behauptungen der Parteien durch Einholung eines Gutachtens des Sachverständigen Prof. Dr. D. W. (E.) vom 18.04.2021, wegen dessen Einzelheiten auf die Bl. 172 ff. der eA. Bezug genommen wird. Darüber hinaus hat die Kammer den Sachverständigen im Verhandlungstermin am 11.03.2022 ergänzend angehört; wegen der Einzelheiten wird insoweit auf das entsprechende Verhandlungsprotokoll Bezug genommen.
46Entscheidungsgründe:
47Die Klage ist zulässig und begründet. Der Klägerin stehen die mit der Klage geltend gemachten Ansprüche gem. §§ 630a, 280 Abs. 1, 278, 249, 253 Abs. 2 BGB bzw. §§ 823 Abs. 1, 831, 249, 253 Abs. 2 BGB zu. Die Beklagte hat während des stationären Aufenthalts der Klägerin erhebliche Behandlungsfehler begangen, die als grob zu bewerten sind. Hiervon ist die Kammer nach der durchgeführten Beweisaufnahme überzeugt.
48Der Sachverständige Prof. Dr. W. führt in seinem Gutachten vom 18.04.2021 aus, dass die Behandlung der Klägerin im Klinikum der Beklagten in der Zeit vom 06.10.-11.11.2017 nicht den Regeln der ärztlichen Heilkunde entsprochen habe. Die Hauptsymptome des Kindes, die zur stationären Aufnahme geführt hätten, seien vor allem das schwallartige Erbrechen und das häufige Spucken nach den Mahlzeiten sowie die in der Anamnese angegebenen Stillprobleme von Geburt an gewesen, wodurch keine ausreichende Ernährung möglich gewesen sei. Diese bereits initial eindeutigen Hinweise auf eine Passagestörung im obere Magen-Darm-Trakt hätten unverständlicherweise in der Kinderklinik der Beklagten nicht die erforderliche Beachtung gefunden, sondern es sei vielmehr zunächst ausschließlich eine vermeintliche Neugeboreneninfektion behandelt worden. Jedoch seien in den vorliegenden Unterlagen keine eindeutigen Anzeichen für eine schwere pulmonale Infektion zu finden.
49Es seien, so der Sachverständige weiter, eindeutig Befunde unvollständig oder verspätet erhoben worden. Es erscheine völlig unverständlich, dass erst nach sechs Tagen stationärer Behandlung am 12.10.2017 die erste Ultraschalluntersuchung erfolgt sei. Dabei sei ein deutlicher gastro-ösophagealer Reflux (GÖR) dargestellt worden. In Anbetracht der Symptome hätte dies bereits bei Aufnahme differentialdiagnostisch neben infektiösen Ursachen in Erwägung gezogen und unmittelbar abgeklärt werden müssen. Zudem hätte nach Erkennen des GÖR unmittelbar die Suche nach Hinweisen auf eine Passagestörung in erster Linie am Pylorus (Magenausgang) bzw. im Bereich des Duodenums (Zwölffingerdarm) als Ursache erfolgen müssen. Im Befund zu dieser ersten Ultraschalluntersuchung werde allerdings zu dieser diagnostisch äußerst wichtigen und entscheidenden Frage nicht einmal Stellung genommen. Erst in der Ultraschalluntersuchung am 16.10.2017, d. h. 10 Tage nach Aufnahme, finde erstmals der Pylorus neben einem starken GÖR Erwähnung. Erst am 13.10.2017 (7. stationärer Tag) könne außerdem eine Anordnung zum Legen einer Magensonde gefunden werden, was in Anbetracht der Symptomatik mit schwallartigem Erbrechen fachlich unverständlich und eindeutig zu spät sei. Wäre bereits initial entsprechend der Hauptsymptomatik eine qualifizierte Ultraschalluntersuchung des Abdomens erfolgt, hätte sich viel früher herausgestellt, dass die pulmonale Symptomatik durch Aspirationen von Milch und Mageninhalt eher sekundär und Folge des GÖR infolge einer Passagestörung gewesen sei. Diese Kausalkette gehöre zum Basiswissen in der Kindermedizin. In diesem Zusammenhang hätte, falls eine qualifizierte Ultraschalldiagnostik unmittelbar nach der stationären Aufnahme nicht zur Diagnosestellung geführt hätte, auch die Magen-Darm-Passage viel früher erfolgen müssen, wobei sie im vorliegenden Fall erst am 18.10.2017 (12. stationärer Tag) durchgeführt worden sei. Bei den Ultraschalluntersuchungen und bei der Magen-Darm-Passage in der Kinderklinik der Beklagten sei immer wieder auf den auffallend großen Magen hingewiesen worden. Bei der Röntgendurchleuchtung sei zudem nur ein äußerst spärlicher Übertritt des Kontrastmittels in den Dünndarm beschrieben worden. Außerdem seien erhebliche Folgeschäden des langwährenden GÖR auf die Schleimhaut der Speiseröhre des Kindes beschrieben. All dies habe auf das Vorliegen einer hochgradigen Duodenalstenose hingewiesen. Im Rahmen der Thorax-Röntgenuntersuchung am 10.10.2017 hätte aufgrund der bei der Klägerin vorliegenden Magen-Darm-Probleme deren Oberbauch mit untersucht werden und mit großer Wahrscheinlichkeit die Diagnose gestellt werden können und müssen. In der Regel hätte das auch mit einer Ultraschalluntersuchung gelingen müssen.
50Der Sachverständige Prof. Dr. W. führt weiter aus, dass auf Grund der Symptome der Klägerin seitens der Beklagten zwingend eine Störung der Passage im Bereich des Duodenums hätte ausgeschlossen werden müssen. Die vorliegenden Befunde der Ultraschalluntersuchungen und der Befund der Magen-Darm-Passage (MDP) am 18.10.2017 hätten trotz ersichtlicher Unsicherheit in der Beurteilung durch die Untersuchenden aus der Sicht des Sachverständigen eindeutig auf eine Duodenalstenose hingewiesen. Das könne allerdings nur mit einer ausreichenden kinderchirurgischen bzw. kinderradiologischen Expertise und entsprechender Erfahrung aus den Symptomen und den, wenn auch aus der Sicht des Sachverständigen eher unvollständigen und teilweise fehlerhaften, Befunden der Ultraschalluntersuchungen und der MDP am 18.10.2017 geschlossen werden. In dieser Hinsicht erscheine der Befund der MDP in der Kinderklinik der MHK am 17.11.2017 sehr aufschlussreich. Diese Untersuchung sei bei der Befundung mit der MDP vom 18.10.2017 in O. verglichen worden. In dem Befund heiße es, dass sich wie in der Voruntersuchung eine kontrastmittelgefüllte Erweiterung des proximalen Duodenums zeige. Ein unmittelbarer Weitertransport des Kontrastmittels könne nicht beobachtet werden. Hier sei also mit der MDP eindeutig die Diagnose gestellt worden. Das hätte demnach auch bereits am 17.10.2017 in O. erkannt werden können. Laut Arztbrief aus O. werde die MDP zwar dahingehend befundet, dass sich ein deutlich dilatierter Magen fülle und sich insbesondere das präpylorische Antrum kräftig aufweite, wobei sich im Verlauf von ca. 15 Minuten nur eine spärliche Kontrastierung des Pylorus und des nachfolgenden Duodenums zeige. In der Zusammenschau mit den zuvor erstellten Ultraschallbefunden, die mehrfach den Pylorus als nicht verengt bzw. weit beschrieben hätten, hätte nach Beurteilung des Sachverständigen doch schon im Hause der Beklagten auffallen müssen, dass es sich hier offensichtlich um eine Duodenalstenose gehandelt habe. Eine Ursache für diesen offensichtlichen Diagnostikfehler könne, so der Sachverständige, sein, dass der Pylorus bei Fällen mit hochgradiger Duodenalstenose durch den Rückstau meist erweitert sei und bei der Sonografie und der MDP der Magen und das Duodenum vor der Stenose nicht sicher voneinander abgrenzbar seien und fast ineinander übergingen. Dann wäre aber bei Anwendung der ärztlichen Sorgfalt eine weiterführende Diagnostik geboten gewesen, insbesondere unter Hinzuziehung kinderchirurgischer Expertise. Aufgrund der deutlich geringeren Invasivität wäre zudem eine MRT geeignet und geboten gewesen.
51Der Sachverständige Prof. Dr. W. gelangt weiter zu dem Ergebnis, dass die Klägerin früher in ein Spezialzentrum hätte verlegt werden müssen. Es sei völlig unverständlich, dass die Klägerin erst am 11.11.2017 und somit nach 36 Tagen stationärer Behandlung bei der Beklagten verlegt worden sei. Es habe ganz offensichtlich an einer interdisziplinären Beurteilung der Symtomatik und der Befunde sowie an einer interdisziplinären Beratung über erforderliche diagnostische Schritte bzw. das therapeutische Procedere inkl. der OP gefehlt. Am Ende des Verlegungsbriefes der Beklagten würden die Symptome und die Befunde in erschreckender Weise nahezu absolut verkannt und wiesen eine differentialdiagnostische Ahnungslosigkeit auf. Hier heiße es lediglich, dass kein Hinweis auf einen Immundefekt oder ein gastrointestinales Passagehindernis gefunden worden sei. In Kenntnis der Symptomatik, die offenkundig mindestens seit Geburt bestanden habe, und der Befunde wäre das frühzeitige Hinzuziehen einer kinderchirurgischen und kinderradiologischen Expertise bzw. die Verlegung in ein Kinderzentrum mit diesen strukturellen Voraussetzungen geboten gewesen.
52Die Entscheidung für eine explorative Laparotomie am 21.10.2017 erscheine, so der Sachverständige weiter, angesichts der vorliegenden Symptomatik und der Befunde auch ohne weitere Diagnostik schlüssig, so dass die OP grundsätzlich indiziert gewesen sei. Mehrere und eindeutige Hinweise aus den Ultraschalluntersuchungen hätten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auf eine für die Erkrankung des Kindes ursächliche mechanische Passagestörung im Bereich des Duodenums hingewiesen.
53Der Sachverständige Prof. Dr. W. führt aus, dass die explorative Laparotomie am 21.10.2017 nicht sach- und fachgerecht durchgeführt worden sei. Es wäre nicht geboten gewesen, die Ladd'schen Bänder zu durchtrennen. Allerdings könne es sich bei den durchtrennten Bändern gar nicht um die sog. Ladd'schen Bänder gehandelt haben. Denn nur im Fall einer Malrotation (angeborene Lageanomalie des Darmes) bildeten sich diese bindegewebigen Stränge zwischen dem Zökum, welches in diesem Fall im rechten Oberbauch liege (und nicht wie normalerweise im rechten Unterbauch), und der seitlichen Bauchwand. Nur in diesem Fall könne es aus topografischer Sicht zu einer Kompression des dann auch anders positionierten Duodenums kommen. Demzufolge sei bei der Klägerin aus fachlicher Sicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auszuschließen gewesen, dass bei ihr sog. Ladd'sche Bänder als Ursache der Passagestörung vorgelegen hätten. Das hätte der Operateur erkennen und wissen müssen. Die eigentliche Fehlbildung habe der Chirurg behandlungsfehlerhaft übersehen, wobei die Schnittführung als solche unerheblich sei. Intraoperativ sei aber die weitere Suche nach einer relevanten Passagestörung im Bereich des Duodenums unbedingt geboten gewesen. Da derartige Passagestörungen in verschiedenen Formen vorliegen könnten, hätte der Chirurg - um mit gebotener Sorgfalt und Sicherheit eine Duodenalatresie bzw. -stenose ausschließen zu können - auf Grund der Symptome und der bis dahin vorliegenden Befunde das Duodenum oberhalb der Einmündung des Pankreasganges (Bauchspeicheldrüsengang) eröffnen und mit einer Sonde die Durchgängigkeit prüfen müssen.
54Zudem wäre, so der Sachverständige, bei der Versorgung der Klägerin eine voll-parenterale Ernährung über einen zentralen Venenkatheter (ZVK) geboten gewesen. Diese sei jedoch erst am 18.10.2017, d. h. am 12. Tag des stationären Aufenthalts, gelegt worden.
55Im Ergebnis, so der Sachverständige, lägen fünf Behandlungsfehler vor, die jeweils einen Verstoß gegen elementare Regeln der ärztlichen Heilkunst darstellten, der schlechterdings nicht unterlaufen dürfe. Dies seien im Einzelnen
561. die insgesamt behandlungfehlerhafte Verzögerung einer symptomgerechten Diagnostik und Therapie,
572. insbesondere die behandlungsfehlerhafte Durchführung der OP am 21.10.2017,
583. die fachlich unverständliche zu späte Entlastung des Magens durch eine Magensonde am 13.10.2021 (7. stationärer Tag),
594. die behandlungsfehlerhafte Fortsetzung der enteralen Ernährung anstatt einer vollbilanzierten parenteralen Ernährung und
605. die behandlungsfehlerhafte Unterlassung einer Verlegung des neugeborenen Kindes in eine medizinische Einrichtung mit nachweisbarer kinderchirurgischer und kinderradiologischer Expertise bzw. einer Kooperation mit einer solchen.
61Diese Fehler hätten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verursacht, dass
62- 63
sich insgesamt die Heilung in unverantwortlich großem Maße verzögert habe und die Beschwerden der Klägerin unnötig verlängert worden seien,
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die pulmonale Symptomatik durch weitere Aspirationen von Nahrung verlängert worden sei,
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die refluxbedingten Schädigungen der Schleimhaut, schwerste entzündliche Veränderungen des gesamten oberen Verdauungstrakts, insbesondere eine schwere ulzerierende Ösophagitis und eine Gastritis entstanden seien und noch verstärkt worden seien,
- 66
mehrere Ulcera, deren narbenlose Abheilung nicht möglich sei, entstanden seien, so dass aufgrund der vorliegenden Ulcera und der schwersten Ausprägung der Ösophagitis ein Dauerschaden eingetreten sei,
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der gesamte Krankheitsverlauf inkl. der Dystrophie (Mangelernährung) und der Entwicklungsverzögerung relevant verlängert worden sei und
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nach den bis zur Erstattung des schriftlichen Gutachtens vorliegenden Unterlagen insgesamt drei weitere Krankenhausaufenthalte und zwei weitere Gastroskopien erforderlich gewesen seien.
Die Wahrscheinlichkeit einer ursächlichen Verknüpfung der aufgeführten Behandlungsfehler mit der Entstehung einer Neurodermitis und einer nach wie vor erforderlichen medikamentösen Behandlung seien demgegenüber mit dem vorliegenden Gutachten nicht zu klären. Bei fachgerechter Diagnostik und Therapie wären die oben aufgelisteten Beschwerden und nachhaltigen Folgeerscheinungen mit größter Wahrscheinlichkeit nicht eingetreten.
70Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 11.03.2022 hat der Sachverständige Prof. Dr. W. seine Angaben ergänzt und ist auf die Fragen der Parteien im Einzelnen eingegangen. Er hat insbesondere noch einmal betont, dass es am 21.10.2017 intraoperativ erforderlich gewesen sei, (auch) den Zwölffingerdarm zu untersuchen, und zwar allein deshalb, weil in diesem Bereich häufig eine mögliche Duodenalstenose auftreten könne. Er habe medizinisch keine sinnvolle Erklärung dafür, warum dies bei dem Eingriff vom 21.10.2017 unterblieben sei. Er halte auch daran fest, dass die Diagnostik in der Klinik der Beklagten im Hinblick auf die Passagestörung verspätet durchgeführt worden sei. Im Hinblick auf die ursprüngliche Verdachtsdiagnose der Pneumonie habe sich die Frage gestellt, warum ein Kind in diesem jungen Alter eine Lungenentzündung haben könne. Eine mögliche und bekannte Ursache einer Lungenentzündung bei einem sehr kleinen Kind sei eine sogenannte Aspirationspneumonie. Es habe deshalb die Frage gestellt werden müssen, ob und gegebenenfalls warum die Klägerin Reflux habe. Nach Bestätigung des Refluxes sei die Frage nach der Ursache dann hinweisend bzw. hinleitend zu einer möglichen Passagestörung. Zu deren Abklärung hätte, so der Sachverständige, eine Ultraschalluntersuchung zur Verfügung gestanden, die auch überhaupt keinen Schaden bei der Klägerin verursacht hätte und unproblematisch hätte durchgeführt werden können. Die schließlich bei der Beklagten durchgeführte Ultraschalluntersuchung habe einen riesengroßen Magen gezeigt, was auf Probleme mit dem Nahrungstransport hinweise. Ein Magen mit einer solchen Vergrößerung sei medizinisch das Hauptsymptom einer Duodenalstenose.
71Der Sachverständige Prof. Dr. W. hat schließlich auf die Frage nach möglichen Folgen für die Klägerin angegeben, dass er diese, jedenfalls, was die Prognose angehe, kaum zuverlässig beurteilen könne. Die Fehlbildung als solche sei bereits im Mutterleib vorhanden gewesen, verbunden mit der Folge, dass Magenein- und Magenausgang erweitert seien. Ein Schaden an der Speiseröhre werde dadurch aber deshalb noch nicht entstanden sein, weil die Magensäureproduktion erst nach der Geburt beginne. Dass die Klägerin nach wie vor unter Reflux leide, sei in seinen Augen deshalb eher Folge der verzögerten Behandlung und Operation. Wesentliches Behandlungsziel bei einer solchen Fehlbildung sollte sein, den Reflux möglichst frühzeitig zu verhindern, und zwar durch eine Operation. Ausweislich weiterer Unterlagen der MHK (Anlage K 11) sei die Speiseröhre der Klägerin vernarbt. Ursächlich hierfür sei das Entzündungsgeschehen in der Speiseröhre. Da Narben die Tendenz hätten, zu schrumpfen, könne es im weiteren Verlauf erforderlich sein, die Speiseröhre zu weiten. Zudem führten die Narben dazu, dass die Peristaltik der Speiseröhre nicht mehr ordnungsgemäß funktioniere, so dass es zu sogenannten Stasen kommen könne. Sofern der Reflux noch vorhanden sei, müsse dieser nach Möglichkeit im Wege einer Folgeoperation beseitigt werden. Schließlich sei es, so der Sachverständige Prof. Dr. W., schwierig, die Beschwerden und Befunde, die sich aus diesen Arztbriefen ergäben, punktgenau auf die Behandlung in der Klinik der Beklagten bzw. das gesamte Behandlungsgeschehen zurückzuführen. Nach seiner Erfahrung gelinge es aber häufig, Kinder mit einer Duodenalstenose so zu behandeln, dass ein so schweres Krankheitsbild, wie es bei der Klägerin bestehe, nicht auftrete. Dies führe ihn medizinisch zu der Annahme, dass die beschriebenen Befunde am ehesten auf die verzögerte Beseitigung der Ursache des Refluxes zurückzuführen seien. Medizinisch sei es einfach wichtig, die Ursache des Refluxes so frühzeitig zu beseitigen, dass es infolge des Refluxes nicht zu einer schweren Beeinträchtigung der Speiseröhre komme.
72Die Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. W. sind in sich schlüssig und frei von Widersprüchen. Der Sachverständige hat in beeindruckender Deutlichkeit das Vorliegen von fünf Behandlungsfehlern festgestellt und seine Ergebnisse anschaulich, auch unter Beifügung entsprechender Schaubilder nebst Erklärungen, präsentiert. In der mündlichen Verhandlung hat er ergänzende Ausführungen gemacht und ist auf sämtliche Nachfragen der Parteien dezidiert eingegangen. Nach eigener Überprüfung schließt sich die Kammer den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen vollumfänglich an. Der Sachverständige ist Chefarzt und Direktor der Klinik für Kinderchirurgie, Neugeborenenchirurgie und Kinderurologie des Vivantes-Klinikums Neukölln (E.). An seiner fachlichen Kompetenz bestehen keinerlei Zweifel.
73Die Kammer hält für die von der Klägerin erlittenen Beeinträchtigungen ein Schmerzensgeld in Höhe von 75.000,00 EUR für angemessen. Hierbei berücksichtigt die Kammer, dass der Sachverständige Prof. Dr. W. fünf Behandlungsfehler festgestellt hat, von denen jeder für sich genommen schon als grob einzustufen ist. Die Klägerin hat massive Beeinträchtigungen erlitten, welche sie zum Großteil ein Leben lang begleiten werden. Damit geht eine entsprechend lange Dauer der Leidenszeit einher. Auch war die lange stationäre Behandlung im Hause der Beklagten nicht nur unnötig, sondern auch vermeidbar. Dies stellte sich für die Klägerin als neugeborenes Kind besonders gravierend dar, weil sie nicht in der elterlichen Obhut versorgt werden konnte, sondern dem Geschehen im Hause der Beklagten in einem sehr jungen Alter auch in besonderem Maße ausgesetzt war. Zugleich war sie hierdurch von der gewohnten und vertrauten häuslichen Umgebung getrennt, was eine erhebliche Beeinträchtigung darstellte. Auch wird die Klägerin Zeit ihres Lebens immer wieder auf Kontrolluntersuchungen angewiesen sein. Prognostisch lässt sich, wie der Sachverständige überzeugend ausgeführt hat, auf Grund des jungen Alters der Klägerin noch gar nicht abschätzen, welche möglichen Folgebeeinträchtigungen sie ggf. einmal später treffen können. Denkbar seien jedenfalls mögliche Folgeoperationen zur Beseitigung des Refluxes oder zur Weiterung der Speiseröhre in Folge der beschriebenen Vernarbung, wobei die damit verbundenen Unsicherheiten die Klägerin ebenfalls belasten (werden).
74Der Anspruch auf Erstattung der vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten ist ebenfalls in voller Höhe begründet. Der vorgerichtliche Gegenstandswert wurde zutreffend mit 126.850,35 EUR angegeben. Die Beklagte ist den Ausführungen der Klägervertreter, wonach die Bearbeitung der Angelegenheit aus den dargelegten Gründen besonders umfangreich und somit der Ansatz einer 2,2-fachen Geschäftsgebühr angemessen gewesen seien, nicht substanziell entgegen getreten.
75Die Klägerin hat nach den oben stehenden Ausführungen gem. § 256 ZPO auch ein schutzwürdiges rechtliches Interesse an der Feststellung der Schadensersatzverpflichtung für etwaige künftige materielle und/oder noch nicht vorhersehbare immaterielle Schäden.
76Die geltend gemachten Zinsansprüche beruhen auf §§ 288 Abs. 1, 291 BGB.
77Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 91 Abs. 1, 709 S. 1 und 2 ZPO.
78Der Streitwert wird auf 126.850,35 EUR festgesetzt.
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- BGB § 291 Prozesszinsen 1x
- BGB § 249 Art und Umfang des Schadensersatzes 1x
- ZPO § 256 Feststellungsklage 1x