Urteil vom Oberlandesgericht Hamm - 26 U 119/20
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das am 4. September 2020 verkündete Urteil der 2. Zivilkammer des Landgerichts Siegen wird zurückgewiesen.
Die Kosten der Berufungsinstanz werden der Beklagten auferlegt.
Das angefochtene Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in dieser Höhe leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
1
Gründe
2I.
3Der am 00.00.0000 geborene Kläger nimmt die Beklagte wegen einer vermeintlich fehlerhaften ärztlichen Behandlung im März/April 2014 auf Schmerzensgeld (mind. 80.000,00 €), Schadensersatz (Pflege- und Betreuungsmehraufwand 40.430,00 €, Fahrtauslagen 1.265,68 €, Heilmittelkosten 170,00 €, Dokumentenauslagen 101,33 €), Erstattung vorgerichtlicher Anwaltskosten (4.748,10 €) sowie Feststellung zukünftiger Ersatzpflicht in Anspruch.
4Der Kläger befand sich nach seiner Geburt zunächst vom 00.00.0000 bis zum 17.04.2014 wegen Frühgeburtlichkeit (32+5 SSW; 1.380 g) und eines Atemnotsyndroms 2. Grades in stationärer Behandlung in der Klinik der Beklagten. Eine Versorgung erfolgte u.a. mit einer Dauertropfinfusion am rechten Arm. Am 19.03.2014 erlitt der Kläger nach zunächst stabilem Allgemeinzustand eine katheterassoziierte Infektion des rechten Armes mit nachfolgender Sepsis, welche ab diesem Tag antibiotisch behandelt wurde. In der Blutkultur wurde Staphylococcus Aureus nachgewiesen.
5Am 22.03.2014 zeigte sich eine Weichteilschwellung des linken Beins. Eine Thrombose wurde mittels Sonographie ausgeschlossen, wobei der genaue Zeitpunkt dieser Sonographie streitig ist.
6Am 31.03.2014 wurde bei einer Sonographie eine Hüftluxation ausgeschlossen.
7Am 02.04.2014 erfolgte eine Sonographie des linken Oberschenkels und der Hüfte. Dabei wurde sonographisch und radiologisch eine Osteomyelitis am oberen Lemur mit (fraglicher) Fraktur diagnostiziert. Es wurde empfohlen, in einer Woche eine Kontrollsonographie durchzuführen und die antibiotische Therapie großzügig fortzusetzen.
8Am 06.04.2014 und 07.04.2014 erfolgten Röntgenkontrollen des linken Beins, des linken Ober- und Unterschenkels und des Fußes. Im Bereich der linken Oberschenkelwachstumsfuge und der Metaphyse (Knochenabschnitt zwischen Knochenschaft und Wachstumsfuge) wurde eine unruhige und verwaschene Corticalis-Struktur (Knochengewebe) nachgewiesen.
9Am 06.04.2014 waren die Infektionsparameter noch nicht im Referenzbereich, das CRP lag erst ab dem 14.04.2014 im Referenzbereich. Am 17.04.2014 wurde der Kläger in das E-Krankenhaus L verlegt, wo eine Fortsetzung der antibiotischen Therapie bis zum 22.04.2014 erfolgte. Am 28.04.2014 wurde der Kläger entlassen.
10Der Kläger hat vorgetragen, bei Kontrolluntersuchungen des MVZ X und einem MRT vom 07.07.2016 habe sich herausgestellt, dass sich bei Zustand nach Säuglingscoxitis an der linken Hüfte eine Pseudarthrose ausgebildet habe und der Hüftkopf stark deformiert sei. Außerdem seien eine Beinverkürzung um ca. 1,5 cm links und ein Beinschiefstand festgestellt worden. Er habe sich vom 15.01.2017 bis zum 23.10.2017 zum Zwecke der Durchführung einer offenen operativen Hüftgelenkseinstellung mit Pfannendachplastik links in der Orthopädischen Klinik E befunden, wo am 16.07.2017 eine siebenstündige Operation stattgefunden habe. Im Anschluss sei für vier Wochen ein Becken-Bein-Gips angelegt worden, mit welchem er nur habe liegen können. Während eines weiteren stationären Aufenthalts vom 15.11.2017 bis 17.11.2017 seien in einer zweistündigen Operation der K-Draht entfernt und ein Gipswechsel auf Spargips durchgeführt worden, den er vier Wochen habe tragen müssen. Am 14.12.2017 sei die Gipsabnahme erfolgt.
11Der Kläger hat behauptet, die Behandlung durch die Beklagte sei behandlungsfehlerhaft gewesen. Die zuvor empfohlene sonographische Kontrolluntersuchung des linken Oberschenkels sei ausgeblieben. Außerdem liege ein Hygienefehler vor, da die behandelnde Person bei Legen eines Zugangs oder einer Blutabnahme zumindest einmal die Handschuhe ausgezogen habe. Die pädiatrische Behandlung sei nicht mit der gebotenen ärztlichen Sorgfalt erfolgt. Es sei nach vorangegangener Sepsis und generalisierter, stark ödematöser Schwellung des linken Beins am 10. Tag des stationären Aufenthalts eine zeitnahe bildgebende Diagnostik zum Ausschluss einer Osteomyelitis unterblieben. Nach dem erstmaligen Auftreten der klinischen Symptome seien keine Bildgebung zur weiteren Diagnostik und zum Ausschluss einer sekundären septischen Arthritis und keine Punktion des Gelenks erfolgt. Nachdem am 02.04.2014 die akute hämatogene Osteomyelitis diagnostiziert worden sei, seien weitere sonographische Verlaufskontrollen unterblieben. Die antibiotische Behandlung sei nicht ausreichend gewesen. Bei ordnungsgemäßer Behandlung hätte das Gelenk ohne Beeinträchtigung zur Ausheilung gebracht werden können. Bedingt durch die Knochenentzündung sei es zu einer Gelenkentzündung gekommen, welche zu einer massiven Deformierung des Gelenks geführt habe. Die Beweglichkeit des linken Hüftgelenks sei eingeschränkt. Er habe Schwierigkeiten beim Anziehen des linken Schuhs, da er das Bein nicht hochziehen könne. Beim Treppensteigen mache er Zwischenschritte, es sei ein Hinken erkennbar und das linke Bein sei insgesamt schmerzempfindlicher. Es hätten 46 Kontroll- bzw. Folgeuntersuchungen stattgefunden. Er müsse mit der Aussicht auf weitere Folgeeingriffe leben und sei in seiner Sportfähigkeit sowie Berufswahl beeinträchtigt. Es sei zu befürchten, dass bei Abschluss des Wachstums eine Beinlängendifferenz von bis zu 7 cm entstehen könne und Becken und Wirbelsäule in Mitleidenschaft gezogen würden, weshalb voraussichtlich bis zum Erwachsenenalter Physiotherapie durchgeführt werden müsse.
12Die Beklagte hat behauptet, die Behandlung sei lege artis erfolgt. Es handele sich um einen schicksalhaften Verlauf infolge der Frühgeburtlichkeit des Klägers. Eine Sonographie des linken Beins sei am Abend des 23.03.2014 erfolgt. Außerdem habe die Verlaufskontrolle am 07.04.2014 stattgefunden. Weder Sonographie noch Röntgenbild hätten Hinweise auf das Vorliegen einer Arthritis ergeben. Eine Hüftgelenksbeteiligung sei nicht erkennbar gewesen. Zudem wären Durchführbarkeit und Erfolg der als Standardtherapie geltenden Punktion und Spülung des Gelenks bei einem Frühgeborenen zweifelhaft, wenn nicht gar kontraindiziert gewesen.
13Das Landgericht hat die Beklagte gestützt auf ein kinderorthopädisches Fachgutachten im Wege des Teil- und Grundurteils zur Zahlung eines Schmerzensgeldes von 110.000,00 € verurteilt und die Ersatzpflicht der Beklagten für alle weiteren materiellen und derzeit nicht vorhersehbaren immateriellen Schäden festgestellt. Daneben hat es die Klage dem Grunde nach als gerechtfertigt angesehen. Bei der Behandlung des Klägers sei es zu einem groben Befunderhebungsfehler dahingehend gekommen, dass eine seitenvergleichende Sonographie der Hüftgelenke weder am 25.03.2014 noch in der Folgezeit erfolgt sei. Spätestens bei den am 25.03.2014 vorliegenden Symptomen - Überwärmung und Schwellung des linken Oberschenkels - sowie der fortgesetzten Dokumentation der Schmerzempfindlichkeit bei Bewegung hätte eine Ultraschalldiagnostik des linken und rechten Hüftgelenks im Seitenvergleich veranlasst werden müssen, um eine Kapseldistension festzustellen und eine Hüftgelenksentzündung ausschließen zu können. Bei Erkennung der Hüftgelenksentzündung hätte nach der Lehrmeinung eine Punktion vorgenommen und in Abhängigkeit des Ergebnisses über eine Intervention entschieden werden müssen. Der Behandlungsfehler sei kausal für die Arthritis im Hüftgelenk und in der Folge auch für die Hüftgelenksdeformierung mit viertgradiger Hüftkopfnekrose, die Beinlängendifferenz, die Bewegungseinschränkung sowie die weiteren Operationen im Oktober und November 2017. Insoweit komme dem Kläger eine Beweislastumkehr zugute, da ein grober Behandlungsfehler vorliege. Das Unterlassen der Sonographie zur Abklärung eines möglichen Gelenkinfekts sei angesichts der Zunahme der Beschwerden trotz Antibiose spätestens ab dem 29.03.2014 als so schwerwiegend zu werten, dass es einen groben Behandlungsfehler darstelle. Es sei wahrscheinlich, dass der Kläger bei ordnungsgemäßer Behandlung beschwerdefrei gewesen wäre. Die Beklagte könne sich auch nicht darauf berufen, dass selbst bei Vornahme der Befunderhebung eine Punktion des Hüftgelenks nicht indiziert gewesen wäre. Nach Angabe des Sachverständigen sei eine Punktion oder chirurgische Intervention eindeutig erforderlich gewesen. Angesichts der vom Kläger bereits unmittelbar nach der Geburt erlittenen Krankheitsgeschichte mit mehreren Krankenhausaufenthalten und den bereits jetzt spürbaren körperlichen Einschränkungen, welche sich in Zukunft noch ausweiten würden, eine dauerhafte Behandlung sowie wahrscheinlich weitere Operationen erforderlich machen würden, und unter Berücksichtigung der schwerwiegenden Verletzung der Behandlungspflichten sei ein Schmerzensgeld von 110.000,00 € gerechtfertigt. Hinsichtlich der drohenden immateriellen Zukunftsschäden und weiteren materiellen Schäden könne der Kläger die Schadensersatzfeststellung beanspruchen. Hinsichtlich der übrigen, der Höhe nach bezifferten Schadensersatzansprüche sei die Klage dem Grunde nach gerechtfertigt.
14Hiergegen richtet sich die Berufung der Beklagten, die vollständige Abweisung der Klage begehrt. Bei dem Kläger, einem extremst Frühgeborenen mit einem Geburtsgewicht von 1.380 g sei infolge der Staphylococcus-Sepsis eine schwerste Erkrankung aufgetreten. Im Rahmen dieser Erkrankung habe die über die allgemeine Ödemneigung hinausgehende Schwellung des linken Beins klinisch nicht so weit im Vordergrund gestanden, dass über die einmalige sonographische Untersuchung hinaus weitere Diagnostik angestrebt worden sei. Im Jahr 2014 hätten keine Standards für die streitgegenständliche Behandlung bestanden. Insoweit sei mit der Beauftragung eines kinderorthopädischen Sachverständigen auch ein Verstoß des Landgerichts gegen den Grundsatz der fachgleichen Beurteilung zu konstatieren, nachdem vorliegend eine kinderchirurgische Behandlung stattgefunden habe. Es bestünden zudem erhebliche Zweifel, ob der Sachverständige überhaupt über eine hinreichende Fachkompetenz und Expertise in der Behandlung von Frühgeborenen, insb. mittels Punktion des Hüftgelenks, verfüge. So beziehe sich das schriftliche Gutachten auf nicht vergleichbare Fälle von regulär Neugeborenen und Kleinkindern und spiegele damit die Besonderheiten des Falles in keiner Weise wieder. Es sei danach ein fachkompetenter Kinderchirurg zu beauftragen. Zudem sei ein ergänzendes neonatologisches Gutachten bzgl. der weiteren Entwicklung des Klägers und der Kausalität der Folgeschäden einzuholen. Soweit es bei dem Kläger infolge der Sepsis zu einer Komplikation im Sinne einer Osteomyelitis und wohl auch septischen Arthritis gekommen sei, sei das Hüftgelenk des Klägers in ausreichender Dosierung antibiotisch behandelt worden. Der Sachverständige habe verkannt, dass auch ausweislich der Fachliteratur eine Antibiotikabehandlung bei Frühgeborenen hinreichend sei. Die antibiotische Behandlung stelle die tragende Basis der Behandlung dar, wohingegen Gelenkpunktion und Aspiration nur ergänzende Maßnahmen darstellten. Vorliegend hätte die Durchführung einer Punktion die ohnehin schon aufgrund der Sepsis lebensbedrohliche Situation des Klägers mitunter noch verschärft. Bei extremst Frühgeborenen, noch dazu mit lebensbedrohlicher Sepsis, existiere auch kein einheitlicher medizinischer Standard bezüglich einer Hüftgelenkspunktion, die möglicherweise gar kontraindiziert gewesen wäre. Auch das vom Sachverständigen angegebene Zeitfenster für die Punktion sei keineswegs allgemeine Lehrmeinung. Es sei damit überhaupt nicht klar, ob und wann hier hätte punktiert werden müssen und ob bei Einhaltung des Zeitrahmens das Hüftgelenk noch hätte gerettet oder das Outcome verbessert werden können. Es bleibe angesichts der Schwierigkeit der Diagnosestellung bei Frühgeborenen auch weiterhin fraglich, ob am 25.03.2014 respektive 29.03.2014 tatsächlich eine weitere Befunderhebung hätte erfolgen müssen. Hier sei sicherlich nicht von einem groben Befunderhebungsfehler auszugehen. Das gewählte Schmerzensgeld sei deutlich übersetzt und habe den schicksalhaften Vorbeeinträchtigungen aufgrund extremer Frühgeburtlichkeit und Sepsis nicht Rechnung getragen.
15Die Beklagte beantragt,
16das erstinstanzliche Urteil des Landgerichts Siegen, 2 O 270/18, abzuändern und die Klage vollumfänglich abzuweisen;
17Der Kläger beantragt,
18die Berufung zurückzuweisen.
19Der Kläger verteidigt die angefochtene Entscheidung. Die Beantwortung der in Rede stehenden Beweisfragen, ob und wann zum Ausschluss einer Hüftentzündung eine bildgebende Diagnostik angezeigt sei sowie ob die unterlassene Befunderhebung kausal für die Beschwerden sei, falle zumindest auch in das Fachgebiet eines Kinderorthopäden. Insoweit gehe es nicht um die Beurteilung eines chirurgischen Eingriffs. Dabei falle insbesondere die Durchführung und Auswertung bildgebender Diagnostik an der Säuglingshüfte in das Fachgebiet des Kinderorthopäden. Um die Frage der medizinisch gebotenen Befunderhebung beantworten zu können, bedürfe es auch keiner besonderen Erfahrung bei der speziellen Problematik der Punktion des Hüftgelenks eines Frühgeborenen. Bei der Beurteilung der Entwicklung einer eitrigen Sepsis handele es sich um eine klassische Kausalkette, für die es auch keines neonatologischen Gutachtens bedürfe. Der Sachverständige habe sich auch mit der Frage der Frühgeburtlichkeit befasst.
20Der Senat hat die Eltern des Klägers persönlich angehört. Ferner hat der Sachverständige M sein Gutachten mündlich erläutert und ergänzt. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten der Beweisaufnahme wird auf das Sitzungsprotokoll vom 03.09.2021 und den Berichterstattervermerk vom selben Tag verwiesen.
21Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes, insbesondere des genauen Wortlautes der erstinstanzlich gestellten Anträge, wird auf die angefochtene Entscheidung und die zu den Gerichtsakten gereichten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
22II.
23Die Berufung der Beklagten ist zulässig, aber nicht begründet.
24Zu Recht hat das Landgericht der Klage mittels eines Grund- und Teilurteils weitgehend stattgegeben und die Beklagte gemäß §§ 630a, 630b, 278, 280, 249, 253 Abs. 2 BGB bzw. gemäß §§ 823 Abs. 1, 831, 249, 253 Abs. 2 BGB zur Zahlung eines Schmerzensgeldes von 110.000,00 € verurteilt, die Ersatzpflicht der Beklagten für alle weiteren materiellen und derzeit nicht vorhersehbaren immateriellen Schäden festgestellt sowie darüber hinaus die Klage dem Grunde nach als gerechtfertigt angesehen.
25Der Senat stützt sich dabei aus den nachfolgenden Gründen auf die erstinstanzliche Begutachtung durch den gerichtlichen Sachverständigen M sowie dessen umfassende Ausführungen bei seiner Anhörung vor dem Senat. Der Sachverständige hat sich bereits erstinstanzlich dezidiert mit den vorhandenen Krankenunterlagen und dem zu begutachtenden Sachverhalt auseinandergesetzt. Er hat auch im Rahmen seiner ergänzenden Anhörung durch den Senat seine Feststellungen und fachlichen Beurteilungen unter Berücksichtigung sämtlicher Befunde und der einschlägigen Literatur überzeugend vertreten. Dabei hat er sich ausführlich mit den vorliegenden Privatgutachten befasst und seine medizinische Bewertung insb. insoweit überzeugend begründet, als sie teilweise von der Auffassung des Privatgutachters U abweicht.
26Es verbleibt nach der ergänzenden Beweisaufnahme auch unter Berücksichtigung des Berufungsvorbringens dabei, dass der Beklagten ein grober Befunderhebungsfehler zur Last zu legen ist. Die Ärzte der Beklagten haben es in vorwerfbarer Weise am 25.03.2014 und in der Folgezeit unterlassen, bei dem Kläger eine seitenvergleichende Sonographie vorzunehmen, weshalb in der Folge dann die medizinisch erforderliche Punktion des Hüftgelenks unterblieben ist.
271.
28Dabei ist dem Landgericht zunächst entgegen der Auffassung der Beklagten kein Verstoß gegen den Grundsatz der fachgleichen Beurteilung zur Last zu legen.
29Die Auswahl des Sachverständigen steht im Ermessen des Gerichts (§ 404 Abs. 1 S. 1ZPO). Es liegt jedoch eine fehlerhafte Ermessensausübung vor, wenn das Gericht einen Sachverständigen aus einem falschen Sachgebiet ausgewählt hat. Prinzipiell ist bei der Auswahl auf die Sachkunde in demjenigen medizinischen Fachgebiet abzustellen, in das die Behandlung fällt. Dafür können die fachärztlichen Weiterbildungsordnungen herangezogen werden. Soweit eine Behandlung mehrere Fachbereiche berührt, kommt es darauf an, welchem Fachbereich die konkrete Beweisfrage zuzuordnen ist (vgl. BGH Urt. v. 18.11.2008 - VI ZR 198/07 m.w.N.; juris).
30Der Kläger ist auf der Kinderintensivstation der Beklagten behandelt worden. Der abschließende Arztbrief vom 17.04.2014 ist entsprechend vom Chefarzt der Fachabteilung für Kinder- und Jugendmedizin, Neonatologie und pädiatrischen Intensivmedizin unterzeichnet worden (vgl. Anl. K1, Bl. 31 d.A.).
31Richtig ist, dass im Zuge der Behandlung der entstandenen Sepsis die pädiatrischen Intensivmediziner die Befunde mit der Kinderchirurgie besprochen haben. Es liegt aber gleichwohl keine Behandlung vor, die ausschließlich von einem Kinderchirurgen zu beurteilen ist. Eine über die reine Antibiose hinausgehende echte chirurgische Behandlung ist nicht erfolgt. Die Bewertung der Hüftgelenksinfektion eines Neugeborenen und ihre Behandlung stellt nach Angabe des Sachverständigen vielmehr „ein Gemeinschaftsprodukt“ dar, bei dem Intensivmediziner, Kinderärzte, Kinderorthopäden und Kinderchirurgen eine Rolle spielen (s. Bl. 489 d.A.). Zu der Entscheidung über eine Punktion und Behandlung sind die Kinderorthopäden nach Angabe des Sachverständigen in gleicher Weise berufen wie die Kinderchirurgen.
32Unter diesen Umständen ist die Auswahl eines Kinderorthopäden als Sachverständigen nicht ermessensfehlerhaft. Der Sachverständige hat im Senatstermin nochmals bekräftigt, dass er die konkrete Behandlungssituation aus seiner fachlichen Sicht beurteilen kann. Der vorzunehmende Eingriff ist typisch für einen Kinderorthopäden. Indikationsstellung und Durchführung des Eingriffs können ebenso durch einen Kinderorthopäden erfolgen wie durch einen Kinderchirurgen. Die Beantwortung der in Rede stehenden maßgeblichen Beweisfragen, inwieweit zum Ausschluss einer Hüftentzündung eine bildgebende Diagnostik angezeigt war, welche Behandlung sodann zu erfolgen hatte sowie ob die unterlassene Befunderhebung kausal für die Beschwerden geworden ist, fällt – wie der Kläger zutreffend anführt - damit zumindest auch in das Fachgebiet eines Kinderorthopäden. Es geht insoweit gerade nicht um die Beurteilung eines rein chirurgischen Eingriffs. Insoweit hat auch der pädiatrische MDK Gutachter T die bakterielle Arthritis als „orthopädischen Notfall“ bezeichnet, der sofortiger chirurgischer Intervention bedarf (vgl. Bl. 91 d.A.).
33Das Landgericht hat zudem vor Einholung des Gutachtens und Bestellung des Sachverständigen den Parteien extra eine Liste der ÄKWL übermittelt, die Sachverständige aus verschiedenen Fachgebieten enthielt (Bl. 275 d.A.). Die Beklagte hat darauf ausdrücklich mitgeteilt, dass keine Bedenken gegen die vorgeschlagenen Sachverständigen bestehen und die Auswahl dem Landgericht überlassen (vgl. SS v. 07.3.2019, Bl. 303 d.A.).
342.
35Nach der ergänzenden Beweisaufnahme verbleibt es sodann dabei, dass der Beklagten ab dem 25.03.2014 zumindest ein einfacher, jedenfalls ab dem 31.03.2014 aber ein grober Befunderhebungsfehler zur Last zu legen ist.
36Bei dem Kläger ist es nach der Geburt schicksalhaft zu einer akuten Staphylococcen-Sepsis gekommen. In deren Folge hat sich eine Osteomyelitis (bakterielle Entzündung des Knochens) des linken Femurs entwickelt, bis es schließlich durch Ausbreitung und Durchbruch der Bakterien ins Hüftgelenk als weiterer Komplikation zu einer septischen Arthritis (bakterielle Entzündung des Gelenks) gekommen ist. Bei der Diagnostik diese Erkrankung spielt neben der klinischen Beurteilung und den Entzündungsparametern die Bildgebung eine wesentliche Rolle.
37a) Dabei wurde zunächst die durch eine Verweilkanüle im Oberarm hervorgerufene Staphylococcen-Sepsis rechtzeitig erkannt und sodann fachgerecht mittels zutreffend dosierter Antibiotika therapiert. Daraufhin besserte sich die klinische Situation des Klägers zunächst und die Blutwerte normalisierten sich.
38In der Folge entwickelten sich dann mit dem 21.03.2014 eine zunehmende Funktionsbeeinträchtigung des linken Beins und eine zunehmende ödematöse Schwellung.
39b) Nach Angabe des Sachverständigen liegt ein Befunderhebungsfehler der Beklagten darin, dass eine seitenvergleichende Sonographie der Hüftgelenke des Klägers am 25.03.2014 und in der Folgezeit unterblieben ist. Spätestens bei den am 25.03.2014 vorliegenden klinischen Symptomen - Überwärmung und Schwellung des linken Oberschenkels - sowie der fortgesetzten Dokumentation der Schmerzempfindlichkeit bei Bewegung hätte eine Ultraschalldiagnostik des linken und rechten Hüftgelenks im Seitenvergleich veranlasst werden müssen, um eine Kapseldistension festzustellen und eine Hüftgelenksentzündung ausschließen zu können.
40Der Sachverständige hat im Rahmen seiner ergänzenden Ausführungen im Senatstermin bestätigt, dass ausweislich der Dokumentation der Beklagten am 25.03.2014 klare klinische Anzeichen vorlagen, die Anlass für einen Ultraschall gaben. Wird bei derartigen klinischen Anzeichen nicht diese diagnostische Methode gewählt, wird der medizinische Standard verlassen, weil am 25.03.2014 die Symptomatik bereits seit mehreren Tagen bestand. Es liegt insoweit eine tägliche Dokumentation des schmerzhaften Hüftgelenks vor.
41Auch der pädiatrische Gutachter des MDK T hat angesichts der ab dem 23.03.2014 vorliegenden generalisierten, stark ödematösen Schwellung des linken Beins das Unterlassen einer zeitnahen bildgebenden Diagnostik in Form einer Sonographie des linken Beins mit anschließenden Verlaufskontrollen gerügt und als „schlechterdings nicht nachvollziehbar“ erachtet (pädiatrisches Gutachten des MDK v. 16.08.2017, Anl. K17, Bl. 49 ff d.A.). Selbst der von der Beklagten beauftragte kinderchirurgische Privatgutachter U ist zu dem Ergebnis gelangt, dass jedenfalls am 28.03.2014 klassische Coxitis-Symptome offensichtlich wurden und „unwiderruflich die Indikation zur Ausführung eines qualifizieren Ultraschalls mit Hüftgelenksbeurteilung angezeigt gewesen“ ist (vgl. Gutachten v. 06.04.2020 anl. B2, S. 17, Bl. 474 d.A.). Entsprechend hat der Sachverständige darauf verwiesen, dass insoweit letztlich keine Abweichung zu den weiteren Gutachten besteht.
42Soweit sich die Beklagte in der Berufung weiterhin gegen die Annahme eines Befunderhebungsfehlers wehrt und angibt, angesichts der schwerwiegenden Staphylococcus-Sepsis habe die über die allgemeine Ödemneigung hinausgehende Schwellung des linken Beins „klinisch nicht so weit im Vordergrund“ gestanden, dass über die einmalige sonographische Untersuchung hinaus weitere Diagnostik angestrebt worden sei, vermag dies die Beklagte angesichts der lebenslangen schwerwiegenden Folgen der septischen Arthritis ersichtlich nicht im Ansatz zu entlasten. Der Sachverständige hat sehr deutlich gemacht, dass es hier „ultimativ auf eine schnelle Behandlung ankam“, weil es gerade bei Frühchen infolge einer Sepsis zu einer massiven Drucksteigerung im Hüftgelenk kommen kann. Gerade deshalb musste im Streitfall unbedingt ein Ultraschall veranlasst werden.
43c) Ohne Erfolg wendet sich die Beklagte gegen die Bewertung des Landgerichts, soweit dieses einen groben Befunderhebungsfehler angenommen hat.
44Ein grober Befunderhebungsfehler ist ein Fehler, bei dem eindeutig gegen bewährte ärztliche Behandlungsregeln oder gesicherte medizinische Erkenntnisse verstoßen wird und der aus objektiver ärztlicher Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weil er einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf (vgl. BGH Urt. v. 13.01.1998 - VI ZR 242/96, VersR 1998, 457; vgl. zum groben Behandlungsfehler: BGH Urt. v. 11.06.1996 - VI ZR 172/95; VersR 1996, 1148; BGH Urt. v. 03.07.2001 - VI ZR 418/99, NJW 2001, 2795). Gestützt auf die ergänzenden Ausführungen des Sachverständigen ist die unterlassene Befunderhebung jedenfalls ab dem 31.03.2014 zur Überzeugung des Senats als ein solcher grober Befunderhebungsfehler in Form der Unterlassung elementar gebotener diagnostischer Maßnahmen anzusehen.
45Der Sachverständige hat insoweit erstinstanzlich differenzierend ausgeführt, dass die Hüftgelenksentzündung etwa um den 25.03.2014 entstanden ist und dass insoweit angesichts der problematischen Gesamtumstände der klägerischen Erkrankung für den 25.03.2014 noch von einem einfachen Fehler auszugehen ist (vgl. Protokoll v. 14.08.2020 S. 3, Bl. 490 d.A.). Spätestens für den 31.03.2014 ist das Unterlassen einer weiteren Abklärung aber als derart „krasses Fehlerverhalten“ einzustufen, dass es nicht mehr verständlich ist, weil es bis dahin - trotz laufender Antibiose - eine ständige Zunahme der Beschwerden insb. der Schmerzempfindlichkeit und der Berührungsempfindlichkeit gegeben hat (vgl. Protokoll v. 14.08.2020 S. 4, Bl. 491 d.A.).
46Der Sachverständige hat im Senatstermin dargelegt, dass bereits am 25.03.2014 aus medizinischer Sicht kein Grund ersichtlich gewesen ist, keinen Ultraschall zu veranlassen. Zu diesem Zeitpunkt lagen bereits seit vier Tagen Beschwerden und Funktionsbeeinträchtigungen vor, zu denen nun ein ödematöser Zustand des linken Beins hinzutrat. Am 25.03.2014 lagen danach klinische Zeichen für eine Entzündung des Hüftgelenks vor. Dabei hat er zudem darauf abgestellt, dass an diesem Tag gerade ein Konsil zur diagnostischen Abklärung der Beschwerden des Klägers einberufen worden ist.
47Soweit die Beklagte einen groben Behandlungsfehler unter Verweis auf die Besonderheiten des vorliegenden Falles und der Seltenheit des Krankheitsbildes, welches zudem noch durch die Sepsis und die dadurch bedingte Ödembildung verschleiert worden sei, in Abrede stellt, vermag dies allenfalls für den 25.03.2014 verfangen. Auch wenn nach Angabe des Sachverständigen bereits an diesem Tag - anders als an den vier Tagen davor - hinreichende klinische Anzeichen für eine Gelenksentzündung vorgelegen haben, hätte er es bei einem Arzt seiner Station angesichts der Besonderheiten des konkreten Falles bei einem ernsten Gespräch bewenden lassen. Jedenfalls am 31.03.2014 liegt aber nach der medizinischen Bewertung des Sachverständigen eindeutig ein krasses Fehlverhalten vor, weil die ganzen Tage seit dem 25.03.2014 trotz fortlaufend dokumentierter Beschwerden nichts passiert ist und inzwischen jedem auffallen musste, dass das Hüftgelenk im Rahmen der Sepsis weitere Auffälligkeiten entwickelt hat. Am 31.03.2014 lag danach bereits eine erkennbare symptomatische Druckschädigung des Gelenks vor.
48Dieser Bewertung schließt sich der Senat an. Die Ärzte der Beklagten haben ganz offensichtlich sämtliche klinischen Beschwerden der Sepsis zugeschrieben und bis Anfang April eine Osteomyelitis und septische Arthritis überhaupt nicht in Erwägung gezogen. Insoweit hat der Sachverständige aber bereits erstinstanzlich nachdrücklich dargelegt, dass es trotz der Seltenheit der Erkrankung eine „klassische Kausalkette“ darstellt, wenn die Sepsis zu einer Osteomyelitis führt und diese ihrerseits eine bakterielle Infektion des Hüftgelenks nach sich zieht. Insoweit deutete dann die klinische Symptomatik vom 25.03.2014 darauf hin, dass ein entsprechender Befund im Hüftgelenk vorhanden war. Dies hat er im Senatstermin nochmals bestätigt. Jedenfalls ab dem 31.03.2014 liegt somit aufgrund der fortschreitenden Beschwerdesituation ein Fehler vor, bei dem eindeutig gegen bewährte ärztliche Behandlungsregeln oder gesicherte medizinische Erkenntnisse verstoßen wird und der aus objektiver ärztlicher Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weil er einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf.
49Schließlich hat auch der pädiatrische MDK-Gutachter T in Übereinstimmung mit dem Sachverständigen einen groben Befunderhebungsfehler angenommen (s. Bl. 96 d.A.). Der kinderchirurgische Privatgutachter U hat zur Frage eines groben Behandlungsfehlers keine konkreten Ausführungen gemacht, so dass insoweit kein Widerspruch vorliegt.
503.
51Nach der vom Senat ergänzend durchgeführten Beweisaufnahme ist weiter zugunsten des Klägers davon auszugehen, dass sämtliche festgestellten Beeinträchtigungen der Gelenkfunktion und deren Folgen auf die von der Beklagten zu vertretende unterlassene seitenvergleichende Sonographie zurückzuführen sind. Insoweit greift zu seinen Gunsten eine Beweislastumkehr.
52a) Dabei stellt es, wie soeben dargelegt, einen groben Befunderhebungsfehler dar, dass die Beklagte nicht spätestens am 31.03.2014 die dringend indizierte Untersuchung veranlasst hat. Ist die Unterlassung der Befunderhebung selbst schon als grober Behandlungsfehler zu werten, kommt es bezüglich der kausalen Folgen eines solchen Befunderhebungsfehlers zu einer Beweislastumkehr.
53b) Überdies ist unabhängig von der Annahme eines groben Behandlungsfehlers bereits ab dem 25.03.2014 hinsichtlich der Folgen des bereits zu diesem Zeitpunkt vorliegenden einfachen Befunderhebungsfehlers zugunsten des Klägers von einer Beweislastumkehr auszugehen.
54Eine Beweislastumkehr ist auch bei einem einfachen Befunderhebungsfehler gerechtfertigt, wenn die unterlassene Befunderhebung mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zu einem reaktionspflichtigen Befund geführt hätte und sich die Verkennung des Befundes als fundamental oder das Verhalten des Arztes auf der Basis dieses Ergebnisses als grob fehlerhaft darstellen würde (vgl. BGH Urt. v. 13.02.1996 - VI ZR 402/94, VersR 1996, 633; BGH Urt. v. 13.01.1998 - VI ZR 242/96, VersR 1998, 457).
55Diese Grundsätze greifen im Streitfall ein. Hätte man die indizierte seitenvergleichende Sonographie bereits am 25.03.2014 durchgeführt, wäre die Hüftgelenksinfektion nach Angabe des Sachverständigen mit einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 50 % bereits an diesem Tag zu erkennen gewesen. Nach den ergänzenden Ausführungen des Sachverständigen hätte man im Ultraschall an diese Tag sogar mit nahezu 100 %iger Wahrscheinlichkeit Entzündungsanzeichen im Hüftgelenk gefunden. Es wäre nach Angabe des Sachverständigen sodann ein fundamentaler Fehler gewesen, das entzündete Hüftgelenk seinem Schicksal zu überlassen.
56c) Die Beklagte kann sich nicht darauf berufen, dass die ohnehin durchgeführte Antibiose auch für den Fall eine fachgerechte Behandlung dargestellt hätte, wenn die Hüftgelenksinfektion tatsächlich bereits am 25.03.2014 erkannt worden wäre. Es war vielmehr ein chirurgischer Eingriff in Form einer Punktion oder Arthrotomie erforderlich.
57aa) Der Sachverständige ist zu der Bewertung gelangt, dass bei Erkennung der Hüftgelenksentzündung eine Punktion hätte vorgenommen und sodann in Abhängigkeit des Ergebnisses über eine Intervention hätte entschieden werden müssen. Er hat eine diagnostische Punktion eindeutig für erforderlich erachtet und dargelegt, dass als zweiter Schritt eine therapeutische Spülung in Betracht gekommen wäre, die gleichzeitig mit einer Druckentlastung einhergeht. Ein entzündetes Hüftgelenk seinem Schicksal zu überlassen, hat er als fundamentales Fehlverhalten eingestuft.
58Der Sachverständige hat im Rahmen seiner ergänzenden Ausführungen im Senatstermin überzeugend dargelegt, dass mit einer alleinigen Antibiose der medizinische Standard verlassen wird. Grund hierfür ist, dass man gerade beim Hüftgelenk ein ungünstiges Resultat erhält, wenn man nicht punktiert und das Gelenk entlastet. Vielmehr muss Eiter im Gelenk nach dem gültigen medizinischen Standard entweder durch eine Punktion oder einen Schnitt entfernt werden. Demgegenüber vermochte eine reine Antibiotikagabe im Streitfall nicht zum Erfolg zu führen. Im Fall des Klägers war eine Druckschädigung des Gelenks im Röntgenbild vom 06.04.2014 eindeutig erkennbar, nachdem es zuvor zu einer Durchwanderung der Entzündung vom Knochen in das Gelenk gekommen ist. Diese Drucksteigerung im Hüftgelenk hat nach Angabe des Sachverständigen später den Hüftkopf weitgehend zerstört. Vor dem Hintergrund, dass die Schädigung ausschließlich durch den Druck entstanden ist, wäre hier eine Punktion des Gelenks und ein Ablassen der Flüssigkeit durch eine dünne Nadel erforderlich gewesen. Bei Bedarf hätte man noch eine Drainage für eine weitere Druckentlastung legen können.
59Der Sachverständige ist auch dabei verblieben, dass die spezifische Situation in Bezug auf die Frühgeburtlichkeit des Klägers und dessen Sepsis keine Infragestellung der Indikation der Punktion bedingt. Zunächst war die Punktionsindikation angesichts der deutlichen Symptomatik unabhängig vom Alter des Klägers gegeben. Der Sachverständige hat insoweit auf die schwerwiegenden Folgen einer Druckschädigung abgestellt und dargelegt, dass der Kläger am 25.03.2014 in passablem Allgemeinzustand gewesen ist und gute Bedingungen für eine Punktion vorgelegen haben. Er hat unter Bezugnahme auf die Behandlungsdokumentation dargelegt, dass zuvor bereits eine gute Therapie der Sepsis des Klägers erfolgt ist, so dass am 25.03.2014 kein lebensbedrohlicher, kritischer Zustand mehr vorgelegen hat. Die Laborwerte hatten sich entsprechend bereits verbessert, zudem war der Kläger auf der Intensivstation, wo ihm bereits ein Zugang gelegt worden war. Auch bei dem Kläger als Frühchen und unter Berücksichtigung der Sepsis war demnach das Risiko einer Punktion akzeptabel.
60Dabei hat der Sachverständige auf die bei Neugeborenen sehr dünne Literaturlage verwiesen, ist aber trotz der Vorhalte der Ausführungen des Privatgutachters U dabei verblieben, dass eine antibiotische Behandlung nicht ausreichte und zumindest eine Punktion zwingend geboten gewesen ist. U hat im Wesentlichen eine Analyse der einschlägigen Fachliteratur vorgenommen und dargelegt, dass die Entscheidung der Behandlung von Frühgeborenen mangels Übertragbarkeit der Ergebnisse von älteren Kindern individuell erfolgen müsse. Konkret hat er dann auf die Besonderheiten des frühgeborenen Klägers mit vorausgegangener Weichteilinfektion verwiesen. Er hat eine Punktion aber nicht etwa als kontraindiziert angesehen, sondern vor allem darauf verwiesen, dass chirurgische Maßnahmen wie eine Punktion am 02.04.2014 keinen Sinn mehr ergeben hätten, weil zu diesem Zeitpunkt die Wahrscheinlichkeit der Rettung des Hüftkopfes gen Null ginge. Mit diesem Gutachten hat sich der Sachverständige bereits erstinstanzlich im Rahmen seiner Anhörung ausführlich auseinandergesetzt. Seiner Bewertung nach bestand zunächst Handlungsbedarf bereits am 25.03.2014; zu diesem Zeitpunkt noch mit einer hohen Erfolgswahrscheinlichkeit. Dabei hat er bzgl. der Frage der diagnostischen Verzögerung bei Frühchen eingeräumt, dass ihm insoweit keine persönlichen Erfahrungswerte vorliegen. Eine durchschnittlichen Diagnosedauer eines Hüftgelenksinfekts von vier Tagen korrespondiert seinen Angaben nach aber ohne weiteres mit den Gegebenheiten des Streitfalls, wonach ab dem 21.03.2014 zunächst noch unklare Beschwerden dokumentiert sind und dann am 25.03.2014 klinische Zeichen für einen Entzündung des Gelenks vorgelegen haben. Hinsichtlich der teils abweichenden Literatur hat der Sachverständige darauf verwiesen, dass in den angeführten Studien teils unterschiedliche Gelenke behandelt worden sind und teils ein unterschiedliches Alter bewertet worden ist. Seinen Angaben nach passt die Studie von Lee am besten auf den vorliegenden Fall. Er ist unter Bezugnahme darauf dabei verblieben, dass gerade bei einem Hüftgelenk in einem derartigen Fall eine chirurgische Maßnahme erforderlich ist. Insoweit hat er auch auf die einschlägige Leitlinie für die Behandlung eines septischen Hüftgelenksdefekts verwiesen, wonach Eiter im Gelenk unabhängig vom Alter des Patienten immer zu sanieren ist.
61Korrespondierend hiermit hat auch der pädiatrische MDK-Gutachter T ausgeführt, dass die operative Therapie in allen Fällen mit begründetem klinischen Verdacht auf bakterielle Infektion indiziert ist, wobei die Punktion das häufigste Verfahren bei operativer Therapie darstelle („Bei V.a. eine septische Arthritis ist ein Gelenkpunktat obligat“).
62Es verbleibt somit dabei, dass es grob fehlerhaft gewesen wäre, auf den reaktionspflichtigen Befund einer Gelenksinfektion, nicht zumindest mit einer diagnostischen Punktion zu reagieren. Vor diesem Hintergrund wäre nach Angabe des Sachverständigen ein Prüfling in einer Facharztprüfung, der in einem solchen Fall lediglich eine alleinige Antibiose empfiehlt, durchgefallen.
63bb) Der Senat hat auch keinerlei Bedenken bezüglich der Fachkompetenz und Expertise des Sachverständigen in der Behandlung von Frühgeborenen, insb. mittels Punktion des Hüftgelenks. Der Sachverständige hat hierzu bereits erstinstanzlich ausführlich Stellung genommen und seine Expertise dargelegt. Er hat auch im Senatstermin überzeugend ausgeführt, dass er Erfahrung mit der Behandlung von Hüftgelenksinfektionen bei Frühgeborenen besitzt und selbst derartige Gelenkpunktionen in fünf Fällen bei einem Frühchen durchgeführt hat. Da die septische Arthritis bei Frühchen extrem selten ist und hierzu noch nicht einmal erschöpfende Fachliteratur existiert, stellt eine derartige Befassung zur Überzeugung des Senats einen ausreichenden Qualifikationsnachweis dar.
643.
65Die unterbliebene seitenvergleichende Sonographie und Punktion ist auch für die Gesundheitsbeeinträchtigung des Klägers ursächlich geworden.
66Bei dem Kläger hat sich unstreitig als Folge der Hüftgelenksentzündung eine schwere Hüftgelenksdeformierung mit viertgradiger Hüftkopfnekrose und Dezentrierung des Gelenks gebildet, die zu einer Beinlängenverkürzung und Bewegungseinschränkung geführt hat.
67Die unterlassene Befunderhebung war auch generell geeignet war, die gesundheitliche Befindlichkeit des Klägers in ihrer konkreten Ausprägung hervorzurufen. Dagegen hat die Beklagte nicht beweisen können, dass ein Kausalzusammenhang zwischen dem ihr vorzuwerfenden Behandlungsfehler und dem Primärschaden gänzlich unwahrscheinlich ist.
68Der Sachverständige hat dargelegt, dass diese Folgen zu 90 % bei rechtzeitiger Behandlung durch Punktion und zeitige Spülung bereits am 25.03.2014 nicht eingetreten wären. Bei Behandlung am 31.03.2014 bestand noch eine 25%ige Chance auf vollständige Heilung.
69Soweit der Privatgutachter U die Erfolgswahrscheinlichkeit einer Punktion nahezu gänzlich in Abrede gestellt hat, hat der Sachverständige bereits erstinstanzlich ausgeführt, dass der Privatgutachter für den Beginn seiner Berechnungen auf den Eintritt der Sepsis am 19.03.2014 abgestellt hat. Dies ist aber nicht richtig, weil für die Beurteilung der Erfolgsaussichten einer Punktion und anschließenden Spülung konkret auf den Beginn der Hüftgelenksinfektion abgestellt werden muss, der erst für den 25.03.2014 anzunehmen ist.
70Der Sachverständige hat im Senatstermin nochmals bestätigt, dass bei rechtzeitiger Druckentlastung schon am 25.03.2014 die Hüftgelenksnekrose mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit nicht eingetreten und stattdessen eine komplette Heilung eingetreten wäre.
71Demgegenüber war zum Zeitpunkt der Röntgenuntersuchungen vom 06./07.04.2014 die Druckschädigung im Gelenk bereits so weit fortgeschritten, dass weitere Maßnahmen praktisch keinen Sinn mehr gemacht hätten. Insoweit hat der Sachverständige darauf verwiesen, dass er mit den diesbezüglichen Ausführungen des Privatgutachters U übereinstimmt.
72b) Hinsichtlich der weiteren Folgen des Hüftkopfdefekts hat der Sachverständige angegeben, dass während der gesamten Wachstumsphase des Klägers begleitend durch die Beinlängendifferenz und die Bewegungsstörung ein zunehmender Beinlängenausgleich notwendig ist; ferner einer dauerhafte Physiotherapie zur Mobilitätserhaltung des Gelenks und Kräftigung der angrenzenden Muskulatur. Vor allem sind mit hoher Wahrscheinlichkeit ergänzende operative Maßnahmen erforderlich. Das Hüftgelenk wird nicht bis zum 50. oder gar 60. Lebensjahr des Kläges halten, wobei ein Gelenkersatz ggf. auch schon im jungen Alter erforderlich wird. Der Kläger wird sein Leben lang Probleme mit der Hüfte haben und wird zukünftig ein künstliches Hüftgelenk benötigen. Ist dabei die Operation bereits mit 20 Jahren erforderlich, liegt die Lebensdauer der Prothese etwa bei 10 Jahren. Erfolgt der Eingriff, wenn der Kläger älter als 40 Jahre ist, liegt die Lebensdauer bei etwa 15 Jahren. Dies lässt nach Angabe des Sachverständigen die Prognose zu, dass bei dem Kläger bis zu dreimal ein Hüftersatz erforderlich wird. Dazu kommt noch die Beinlängenverkürzung. Diese kann sich auf die Wirbelsäule auswirken. Auch insoweit ist ggf. später noch eine operative Korrektur nötig, z.B. die Verlängerung des linken Beins.
73Es besteht insoweit entgegen der Auffassung der Beklagten für die Beurteilung der gesundheitlichen Schäden und insb. der Spätfolgen keine Veranlassung zur Einholung eines ergänzenden neonatologischen Gutachtens. Während die bislang infolge der Hüftgelenksinfektion eingetretenen Schäden durch die Behandlungsunterlagen belegt und zudem im Berufungsverfahren unstreitig sind, findet die Weiterbehandlung des mittlerweile siebenjährigen Klägers in einem fachorthopädischen Zentrum statt. Der Sachverständige hat insoweit dargelegt, dass die Weiterbehandlung und die Beurteilung der Spätfolgen klassische orthopädische Fragen betrifft und damit ohne Weiteres in sein Fachgebiet als Kinderorthopäde fällt.
744.
75Schließlich greift die Beklagte ohne Erfolg die vom Landgericht festgesetzte Schmerzensgeldhöhe von 110.000,00 € an.
76Dem Kläger steht gegen die Beklagte ein Anspruch auf Ersatz materieller und immaterieller Schäden nach den § 249, 253 Abs. 2 BGB zu. Die Funktion des Schmerzensgeldes liegt nach ständiger Rechtsprechung darin, dem Verletzten einen materiellen Ausgleich für den erlittenen immateriellen Schaden und Genugtuung für das ihm zugefügte Leid zu gewähren. Das Schmerzensgeld muss dabei der Höhe nach unter umfassender Berücksichtigung aller maßgeblichen Umstände festgesetzt werden und in einem angemessenen Verhältnis zu Art und Dauer der Verletzungen stehen; dabei sind in erster Linie die Höhe und das Ausmaß der entstandenen Lebensbeeinträchtigung im schulisch/beruflichen und privaten Bereich zu berücksichtigen (vgl. Palandt-Grüneberg, BGB, 80. Auflage, § 253 Rdn. 4, 15 m.w.N.; OLG Hamm Urt. v. 02.02.20121 – 26 U 54/19, juris).
77Das Landgericht ist erheblich über die klägerseits geforderten zumindest 80.000,00 € hinausgegangen und hat dabei vor allem auf die lebenslangen schwerwiegenden Folgen für den Kläger abgestellt. Dies ist seitens des Senats nicht zu beanstanden.
78Bei der konkreten Bemessung des Schmerzensgeldes hat das Landgericht zunächst zutreffend sämtliche oben dargestellten gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Klägers in die Bewertung einbezogen und ihre Auswirkungen auf den Lebensalltag des Klägers eingehend berücksichtigt. Es hat insbesondere auch die zukünftige Entwicklung der Dauerschädigung im Hüftgelenk des Klägers in seine Erwägungen einbezogen. Dabei hat das Landgericht auch nicht die Vorbelastungen aufgrund der Frühgeburtlichkeit des Klägers und der schicksalhaften Sepsis unzureichend berücksichtigt. Es hat vielmehr bei seiner Bemessung ausdrücklich allein auf die Schädigung des Hüftgelenks und die daraus resultierenden gesundheitlichen Folgen für den Kläger abgestellt. Auch bei der Beurteilung der Spätfolgen hat es ersichtlich auf die Folgen der Beinlängenverkürzung und einer sich ggf. frühzeitig entwickelnden Coxarthrose abgestellt. Damit sind allein Beeinträchtigungen in die Schmerzensgeldbemessung eingeflossen, die sich von etwaigen Folgen der Frühgeburtlichkeit des Klägers und der anschließenden Sepsis abgrenzen lassen.
79Insoweit haben die Eltern des Klägers im Rahmen ihrer ergänzenden Anhörung durch den Senat ausführlich dargelegt, welche Folgen für den nunmehr sieben Jahre alten Kläger bislang in Bezug auf den Hüftgelenksdefekt eingetreten sind. Dabei stellt zur Zeit vor allem die Schuherhöhung eine sichtbare Beeinträchtigung für den Kläger dar. Dieser hat zudem nach den glaubhaften Ausführungen der Mutter Schmerzen, wenn er - wie im letzten Strandurlaub - längere Zeit ohne seine Schuherhöhung läuft. Der Kläger ist beim Sport gehandicapt und muss auch beim Spielen auf sein Bein achten.
80Vor diesem Hintergrund ist die Schmerzensgeldbemessung angesichts der bisherigen langwierigen Heilbehandung, der dauerhaften Behandlungsnotwendigkeit und der mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwartenden schwerwiegenden operativen Folgen in der Zukunft nicht zu beanstanden. Insoweit hat sich das Landgericht auch auf vergleichbare Fälle der obergerichtlichen Rechtsprechung (vgl. OLG Nürnberg Urt. v. 28.10.2011 – 5 U 838/11; OLG Karlsruhe Urt. v. 17.05.2018 – 7 U 32/17) berufen und sich mit dem festgesetzten Schmerzensgeld in dem von der Rechtsprechung gezogenen Rahmen bewegt.
81III.
82Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.
83Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf den §§ 708 Nr.10, 711 ZPO.
84Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat und auch keine Entscheidung des Revisionsgerichts zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordert.
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