Beschluss vom Oberlandesgericht Hamm - 5 Ws 99/22
Tenor
Die Beschwerde wird auf Kosten des Angeklagten als unbegründet verworfen.
1
G r ü n d e :
2I.
3Die Staatsanwaltschaft Essen hat gegen den Angeklagten B und zwei weitere Mitangeklagte unter dem 08.11.2021 Anklage zum Landgericht – große Strafkammer – Essen erhoben. Dem Angeklagten B wurde vorgeworfen, am 07.08.2019 in Essen gemeinschaftlich mit den beiden Mitangeklagten A und C einen schweren Raub begangen zu haben. Beiden Mitangeklagten wurde außerdem eine tateinheitlich begangene gefährliche Körperverletzung sowie dem Mitangeklagten C tatmehrheitlich dazu ein Wohnungseinbruchsdiebstahl vorgeworfen.
4Mit Beschluss vom 19.01.2022 hat die Strafkammer die Anklage der Staatsanwaltschaft Essen zur Hauptverhandlung zugelassen und hinsichtlich des Angeklagten B den Hinweis erteilt, dass auch eine Verurteilung wegen Beihilfe zum besonders schweren Raub (§§ 249 Abs. 1, 250 Abs. 2 Nr. 1, 27 StGB) in Betracht komme.
5Mit Verfügung vom selben Tag beraumte der Vorsitzende Termin zur Hauptverhandlung am 16.03.2022 mit Fortsetzung am 23.03.2022, 24.03.2022 und 30.03.2022 an. Nach Beginn der Hauptverhandlung am 16.03.2022 wurde diese – vor dem Hintergrund einer Quarantäneanordnung betreffend ein Kammermitglied – mit Beschluss der Kammer vom 23.03.2022 ausgesetzt und am selben Tag in geänderter Besetzung neu begonnen.
6Im Hauptverhandlungstermin vom 23.03.2022 hat die Kammer nach Entgegennahme der Einlassungen der Angeklagten und der Vernehmung von Zeugen einen Haftbefehl vom selben Tag gegen den Angeklagten B erlassen und in Vollzug gesetzt. Der Angeklagte befindet sich seit diesem Tag in dieser Sache in Untersuchungshaft. In dem Haftbefehl wird dem Angeklagten vorgeworfen, am 07.08.2019 in Essen gemeinschaftlich mit dem Mitangeklagten C einen schweren Raub in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung begangen zu haben. Der Haftbefehl stützt sich auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO.
7Mit Urteil vom 30.03.2022 hat die XXV. große Strafkammer des Landgerichts Essen den Angeklagten B wegen schweren Raubes zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und drei Monaten verurteilt. Zugleich hat die XXV. große Strafkammer den Haftbefehl der Kammer vom 23.03.2022 aus den Gründen seines Erlasses und des Urteils vom selben Tag aufrechterhalten und in Vollzug belassen.
8Der Angeklagte hat gegen das Urteil durch Schriftsatz seines Verteidigers vom 31.03.2022 Revision und mit weiterem Schriftsatz vom 07.04.2022 Beschwerde gegen den Haftfortdauerbeschluss vom 30.03.2022 eingelegt. Er rügt insbesondere die Annahme von Fluchtgefahr. Der Angeklagte habe seit dem Jahr 2016 eine Festanstellung. Zudem lebten seine Eltern und Geschwister in E. Er habe sich außerdem dem Verfahren bisher freiwillig gestellt.
9Die Kammer hat der Beschwerde mit Beschluss vom 08.04.2022 nicht abgeholfen. Zur Begründung hat sie im Wesentlichen ausgeführt, der sich aus der Strafhöhe ergebende Fluchtanreiz könne auch unter Berücksichtigung einer möglichen Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung nach einer Vollstreckung von Zwei-Dritteln durch die bestehenden Bindungen nicht hinreichend geschmälert werden, zumal der Angeklagte ledig und kinderlos sei und sich ohne weiteres einen neuen Lebensmittelpunkt suchen könne. Wegen der weiteren Ausführungen wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Gründe des Beschlusses Bezug genommen.
10Die Generalstaatsanwaltschaft hat mit Zuschrift vom 19.04.2022 beantragt, wie erkannt.
11Der Verteidiger hat mit Schriftsatz vom 28.04.2022 ergänzend Stellung genommen und insbesondere ausgeführt, der Angeklagte B sei bereits zu Beginn des Hauptverhandlungstermins am 23.03.2022 durch den Mitangeklagten A so belastet worden, dass sich seine Tatbeiträge abweichend von dem Hinweis der Kammer als täterschaftliche Beteiligung dargestellt hätten, dennoch habe er sich nach einer kurzen Unterbrechung wieder in der Hauptverhandlung eingefunden. Sodann sei er durch den weiteren Mitangeklagten C ebenfalls im Sinne einer täterschaftlichen Beteiligung belastet worden und nach einer weiteren Unterbrechung der Hauptverhandlung zur Mittagspause wiederum in die Hauptverhandlung zurückgekehrt. Vor diesem Hintergrund sei keine Fluchtgefahr anzunehmen.
12Das Landgericht hat die Urteilsgründe inzwischen vollständig abgesetzt. Hiernach hat der Angeklagte B im Sommer 2019 mit den Mitangeklagten C und A den Tatplan getroffen, am 13.07.2019 in das Haus des Geschädigten D einzubrechen und dort Bargeld zu stehlen. Aufgrund eines „Tipps“ seien sie davon ausgegangen, dass der 90-jährige Geschädigte, der regelmäßig im Casino spielte, große Mengen Bargeld in seinem Haus aufbewahre. Die Tatbeute habe zwischen den Angeklagten und dem Tippgeber nach Kopfteilen geteilt werden sollen. Entsprechend dem gemeinsamen Tatplan habe der Angeklagte A die Angeklagten B und C am 13.07.2019 zur Wohnung des Geschädigten gefahren, in die Letztere durch eine beschädigte Tür eingedrungen seien. Bei der anschließenden Durchsuchung hätten sie jedoch kein Bargeld gefunden und die Wohnung daher ohne Beute wieder verlassen. Da die Angeklagten aufgrund einer weiteren Information durch den „Tippgeber“ nunmehr davon ausgegangen seien, der Geschädigte müsse das Geld in seinem Auto aufbewahren und den Schlüssel bei sich tragen, hätten die sich sodann entschlossen, erneut in die Wohnung des Geschädigten einzudringen, dort auf den Geschädigten zu warten, diesen zu überwältigen und mit Klebeband zu fesseln, ihm die Schlüssel abzunehmen und mit diesen das Auto zu öffnen um das Bargeld an sich zu nehmen. Der Mitangeklagte A habe erneut fahren und draußen auf die Angeklagten B und C warten sollen. Die Beute habe wiederum nach Kopfteilen aufgeteilt werden sollen. Am Abend des 06.08.2019 seien die Angeklagten zunächst zum Casino in der F-straße 00 in E gefahren und hätten sichergestellt, dass der Geschädigte sich dort aufhielt. Sodann habe der Mitangeklagte A sie zur Wohnung des Geschädigten gefahren, wo die Angeklagten B und C entsprechend dem gemeinsamen Tatplan zunächst erneut das Haus durchsucht hätten. Als sie bemerkten, dass der Geschädigte zurückkehrte, hätten sie sich zunächst so positioniert, dass dieser sie nicht bemerkt habe, dann habe der Mitangeklagte C sich dem Geschädigten von hinten genähert, ihm die Hand auf den Mund gelegt und ihn unter Einsatz körperlicher Kraft zu Boden gebracht. Die Angeklagten B und C hätten sodann den am Boden liegenden Geschädigten D mit Klebeband gefesselt, um ihm Widerstand unmöglich zu machen, und seinen Mund verklebt, damit er nicht um Hilfe rufen konnte. Im Anschluss hätten sie den Geschädigten durchsucht. Der Mitangeklagte C habe den Autoschlüssel gefunden und sich zu dem Pkw begeben, den er sodann erfolglos durchsucht habe. Währenddessen habe der Angeklagte B den Geschädigten weiter durchsucht und in dessen Portemonnaie 1.500,00 Euro sowie eine EC-Karte gefunden. Beides habe er an sich genommen. Die Angeklagten hätten sodann den Tatort verlassen. Den Geschädigten hätten sie zurück gelassen. Dieser habe sich kurze Zeit später selbst befreien können. Er habe eine Kopfprellung und eine Schürfwunde erlitten. Das Bargeld, das weit hinter der erwarteten Tatbeute zurückgeblieben sei, hätten die Angeklagten letztlich dem Mitangeklagten C überlassen, damit dieser seine Schulden tilgen konnte.
13In einer dienstlichen Stellungnahme vom 16.05.2022 hat der beisitzende Richter der Kammer des Landgerichts erklärt, hinsichtlich des Angeklagten B habe sich im Rahmen des ersten Hauptverhandlungstages eine wesentliche Änderung der Beweislage ergeben, welche zum Erlass des Haftbefehls geführt habe. Nach Aktenlage hätten lediglich Hinweise darauf bestanden, dass dieser im Vorfeld des Raubes den Geschädigten am Casino beobachtet haben könnte. Entsprechend sei ihm in der Anklage lediglich eine Unterstützungshandlung vorgeworfen worden und ggf. eine Bestrafung wegen Beihilfe mit möglicher Aussetzung der Strafe zur Bewährung in Betracht gekommen. Dieser Verdachtslage habe auch das Einlassungsverhalten des Angeklagten B entsprochen, der lediglich die Überwachung des Geschädigten am Casino sowie die Beteiligung der bezüglich seiner Person nicht angeklagten Vortat vom 13.07.2019 eingeräumt habe. Im Rahmen der Hauptverhandlung am 23.03.2022 hätten die beiden Mitangeklagten ihn jedoch dahingehend belastet, dass dieser selbst am Tatort gewesen sei und an der Fesselung des Geschädigten und der Wegnahmehandlung mitgewirkt habe.
14Die Generalstaatsanwaltschaft und der Angeklagte bzw. dessen Verteidiger hatten ergänzende Gelegenheit zur Stellungnahme. Der Angeklagte hat mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 17.05.2022 seinen Vortrag vertieft und ergänzend ausgeführt, nicht unberücksichtigt bleiben könne, dass er sich in der Hauptverhandlung über die ihm gemachten Anklagepunkte hinaus geständig hinsichtlich der Beteiligung am 13.07.2019 eingelassen habe. Ferner habe sein Verteidiger ihn während der Unterbrechung der Sitzung auf die Möglichkeit einer Festnahme hingewiesen.
15II.
16Die gemäß §§ 304, 305 S. 2 StPO statthafte, nicht fristgebundene (Haft-) Beschwerde des Angeklagten ist zulässig, in der Sache jedoch unbegründet.
171)
18Durchgreifende verfahrensrechtliche Bedenken gegen die erlassene Haftanordnung sowie den Haftfortdauerbeschluss bestehen im Ergebnis nicht.
19a)
20Der in der Hauptverhandlung verkündete Haftbefehl vom 23.03.2022 sowie der Haftfortdauerbeschluss vom 30.03.2022 in Verbindung mit dem Nichtabhilfebeschluss vom 08.04.2022 sind ohne Verstoß gegen die Formvorschriften des § 114 StPO oder die besonderen Anhörungs- und Bekanntmachungspflichten der §§ 114a, 115 StPO ergangen.
21b)
22Der Haftbefehl vom 23.03.2022 genügt der durch § 114 Abs. 1 StPO gesetzlich vorgeschriebenen Schriftform, obwohl es an dessen Unterzeichnung durch den weiteren Berufsrichter fehlt.
23Gemäß § 114 Abs. 1 StPO wird die Untersuchungshaft durch schriftlichen Haftbefehl des Richters angeordnet. Dies erfordert grundsätzlich die richterliche Unterschrift unter dem Haftbefehl. Der Schriftform genügt es aber auch, wenn der Haftbefehl in der Hauptverhandlung verkündet und in das Sitzungsprotokoll aufgenommen wird (vgl. OLG Hamburg, Beschluss vom 12.04.2019 – 2 Ws 43/19 – juris; OLG Oldenburg, Beschluss vom 21.04.2006 – 1 Ws 233/06 – juris; Graf in: KK-StPO, 8. Aufl. 2019, § 114 Rn. 2; Schmitt in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl. 2021, § 114 Rn. 2).
24Soweit teilweise weitergehend gefordert wird, darüber hinaus sei auch bei Verkündung und Aufnahme des Haftbefehls in das Sitzungsprotokoll dessen Unterzeichnung durch die mitwirkenden Richter erforderlich (so OLG Celle, Beschluss vom 17.03.1998 – 1 Ws 56/98 – juris), kann der Senat dieser Auffassung nicht beitreten. Zwar müssen fraglos neben der Einhaltung der Schriftform auch im Falle der Verkündung eines Haftbefehls in der Hauptverhandlung die weiteren Förmlichkeiten des § 114 Abs. 2 und 3 StPO zu den inhaltlichen Anforderungen an den Haftbefehl – neben den weiteren Verfahrensvoraussetzungen – strikt eingehalten werden, weil allein ein formell ordnungsgemäßer Haftbefehl rechtmäßige Grundlage des mit der Inhaftierung verbundenen Eingriffs in das Freiheitsrecht des Angeklagten ist (so auch OLG Oldenburg a.a.O.; Graf in: KK-StPO a.a.O.). Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG bestimmt, dass die Freiheit der Person nur auf Grund eines förmlichen Gesetzes und nur unter Beachtung der darin vorgeschriebenen Formen beschränkt werden kann und erhebt damit die Pflicht, die Formvorschriften des Gesetzes an eine Freiheitsbeschränkung zu beachten zum Verfassungsgebot (BVerfG NStZ 2002, 157). Hieraus folgt jedoch keine zwingende Verpflichtung, den Haftbefehl neben dessen Verkündung und Aufnahme in das Sitzungsprotokoll zusätzlich zu unterzeichnen (entgegenstehend OLG Celle a.a.O.; ggf. ebenfalls so zu verstehen Krauß, in BeckOK-StPO, Stand: 01.01.2022, § 114 Rn. 2, der darauf hinweist, dass auch im Falle einer Verkündung die Förmlichkeiten des § 114 eingehalten werden müssen und die Verkündung nach § 114a StPO erfolgen könne, wenn der Haftbefehl noch nicht vollständig schriftlich abgefasst sei, sofern dies unverzüglich nachgeholt werde; Böhm/Werner in Münchener Kommentar, StPO, 1. Aufl. 2014, § 114 Rn. 15, der darauf hinweist, dass dem Schriftformerfordernis durch die Aufnahme des Haftbefehls in das Protokoll zunächst Genüge getan werde, die förmliche Abfassung jedoch aufgrund der Förmlichkeiten des § 114 Abs. 2 unverzüglich nachzuholen sei). Denn die Schriftform ist durch die Verkündung und Aufnahme in das Sitzungsprotokoll bereits gewahrt. Diese erfordert eine zusätzliche eigenhändige Unterschrift nicht. Das Merkmal der “Schriftlichkeit” schließt nicht unbedingt die handschriftliche Unterzeichnung ein. Entscheidend für das Prozessrecht ist nicht, welche Anforderungen das bürgerliche Recht (§ 126 BGB) an diesen Begriff stellt, sondern allein, welcher Grad von Formstrenge nach den maßgeblichen verfahrensrechtlichen Vorschriften sinnvoll zu fordern ist (BVerfG, Beschluss vom 19. 2. 1963 - 1 BvR 610/62 – beck online). So erfordert etwa die schriftliche Einlegung eines strafprozessualen Rechtsmittels – ebenso wie der Verzicht auf ein solches – eine (durch den Urheber selbst oder eine dazu ermächtigte Person) niedergeschriebene Erklärung und die eindeutige Erkennbarkeit des Erklärenden. Die Identität des Erklärenden - wie auch die Ernstlichkeit seiner Erklärung - ergibt sich regelmäßig aus der Unterschrift. Indessen ist die eigenhändige Unterzeichnung kein wesentliches Erfordernis der Schriftlichkeit. Es genügt vielmehr, dass aus dem Schriftstück in einer jeden Zweifel ausschließenden Weise ersichtlich ist, von wem die Erklärung herrührt und dass kein bloßer Entwurf vorliegt (BGH, Beschluss vom 23-06-1983 - 1 StR 351/83 – ergangen zum Rechtsmittelverzicht, beck online; Schmitt in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl. 2021, Einleitung Rn. 128).
25Diese Voraussetzungen sind bei einer Verkündung und Aufnahme des Haftbefehls in das Sitzungsprotokoll in Anwesenheit des weiteren Berufsrichters, durch welchen dieser erlassen wurde, erfüllt. Die Verkündung macht zweifelsfrei deutlich, dass die Haftanordnung beraten und beschlossen worden ist und es sich bei der Erklärung nicht lediglich um einen Entwurf handelt. Der beisitzende Richter hat zum Zeitpunkt der Verkündung auch durch die Möglichkeit eines unmittelbaren Eingreifens und der Unterbrechung ebendieser jederzeit Kontrolle darüber, dass der Inhalt des verkündeten Beschlusses dem gemeinsam getroffenen Beratungsergebnis entspricht. Auch die Garantiefunktion der Formvorschrift ist durch die Verkündung und Aufnahme in das Sitzungsprotokoll gewahrt, denn durch diese sind – auch ohne Unterschrift der den Haftbefehl erlassenden Richter – dessen Aussteller, nämlich die mit der Entscheidung betrauten Berufsrichter, hinreichend deutlich erkennbar. Dem steht nicht entgegen, dass die Verkündung in der Hauptverhandlung in Anwesenheit der Schöffen erfolgt, was zu dem Eindruck führen könnte, diese seien an der Beschlussfassung über die Haftanordnung beteiligt gewesen, obwohl diese nach teilweise vertretener Auffassung auch während laufender Hauptverhandlung – mit Ausnahme des gesetzlich geregelten Sonderfalls des § 268b StPO – stets ohne Schöffen zu treffen ist (str., so auch BGH, Beschluss vom 11.01.2011 – 1 StR 648/10 –; juris). Ausreichend für die Wahrung der Garantiefunktion der Schriftform ist jedoch, dass die Verkündung und Aufnahme des Haftbefehls in das Sitzungsprotokoll deutlich macht, dass es sich um einen Beschluss der (mit diesem befassten Teile der) entscheidenden Kammer handelt. Die Frage, ob die Kammer den Beschluss in richtiger Besetzung getroffen hat, ist anderweitig zu klären und würde sich auch bei erfolgter Unterzeichnung ebenso stellen, da Schöffen die Entscheidungen, an welchen sie beteiligt werden, grundsätzlich nicht unterschreiben.
26Es besteht ferner im Hinblick darauf, dass der Haftbefehl die Grundlage für den anschließenden Freiheitsentzug bildet, keine Notwendigkeit, über die dargestellten Grundsätze hinaus eine Unterzeichnung des Haftbefehls zu verlangen. Der Strafprozessordnung lässt sich ein ausnahmsloser Grundsatz dahingehend, dass Entscheidungen über den Freiheitsentzug zu unterzeichnen sind, nicht entnehmen. Vielmehr sieht § 268b S. 2 StPO für den Beschluss über die Fortdauer der Untersuchungshaft oder einstweiligen Unterbringung bei Urteilsfällung ausdrücklich vor, dass dieser mit dem Urteil zu verkünden ist. Und auch in dem Fall, dass eine Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe rechtskräftig wird, bevor das abgefasste Urteil vorliegt und unterschrieben wurde, und zuvor vollzogene Untersuchungshaft aufgrund dessen in Strafhaft übergeht, ist die Grundlage des Freiheitsentzugs fortan, bis zur Unterzeichnung des schriftlichen Urteils, ausschließlich das gemäß § 268 StPO verkündete Urteil.
27Vorliegend ist der Haftbefehl verkündet worden und die vollständige Aufnahme des Haftbefehls in die Sitzungsniederschrift in der Weise erfolgt, dass der Beschlusstext als Anlage zum Protokoll genommen worden ist.
28c)
29Der gemäß § 268b StPO bei Urteilsfällung zu fassende Beschluss über die Haftfortdauer ist gemäß § 268b S. 2 StPO verkündet worden. Der Nichtabhilfebeschluss vom 08.04.2022 ist von drei Berufsrichtern unterzeichnet und genügt damit der Form.
30d)
31Dem Beschwerdeführer ist auch – wie sich aus dem Sitzungsprotokoll vom 23.03.2022 ergibt – gemäß § 114a Abs. 1 StPO eine Abschrift des Haftbefehls ausgehändigt worden.
322)
33Der Angeklagte ist des schweren Raubes gemäß §§ 249, 250 Abs. 1 Nr. 1b StGB dringend verdächtig.
34Der dringende Tatverdacht folgt aus der entsprechenden Verurteilung durch das Landgericht Essen vom 30.03.2022 zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und drei Monaten.
35Die Haftentscheidung des Landgerichts Essen unterliegt aufgrund des Umstandes, dass bereits ein erstinstanzliches Urteil vorliegt, im Beschwerdeverfahren hinsichtlich des Vorliegens des dringenden Tatverdachtes lediglich einer eingeschränkten Überprüfung durch das Beschwerdegericht.
36Allein das Gericht, vor dem die Beweisaufnahme stattgefunden hat, ist in der Lage, deren Ergebnisse aus eigener Anschauung festzustellen und zu würdigen sowie auf dieser Grundlage zu bewerten, ob der dringende Tatverdacht weiterhin fortbesteht. Denn der Schuldspruch aufgrund einer Hauptverhandlung bietet regelmäßig eine höhere Richtigkeitsgewähr als eine anhand der Akten angestellte Prognose (vgl. KG, Beschluss vom 07.03.2014 - 4 Ws 21/14 - juris). Ist daher der Angeklagte nach abgeschlossener Beweisaufnahme verurteilt worden, ist der dringende Tatverdacht in der Regel bereits durch die verurteilende Erkenntnis hinreichend belegt. Diesen Verfahrensstand hat das Rechtsbeschwerdegericht regelmäßig zu berücksichtigen und kann daher von der diesbezüglichen Beurteilung des Landgerichts nur dann abweichen, wenn bereits jetzt erkennbar wäre, dass dessen Beweiswürdigung revisionsrechtlicher Prüfung nicht standhalten würde (vgl. BGH, Beschluss vom 28.10.2005 – StB 15/05; Hanseatisches OLG, Beschluss v. 16.10.2015 - 2 Ws 236/15; OLG Hamm, Beschluss v. 28.05.2019 - III - 5 Ws 215/19).
37Dies ist indes nicht der Fall. Zwar enthalten die Beschlüsse vom 30.03.2022 und vom 08.04.2022 keine inhaltliche Darstellung des Ergebnisses der Beweisaufnahme, sodass dem Senat die gebotene Prüfung des Rechtsmittels auf tragfähiger tatsächlicher Grundlage nicht möglich gewesen wäre. Es liegen jedoch inzwischen die vollständig abgefassten Urteilsgründe vor. Die Kammer hat im Rahmen der Urteilsgründe die den Angeklagten B belastenden Umstände, aus denen sich der dringende Tatverdacht ergibt, ausführlich und in nicht zu beanstandender Weise gewürdigt, insbesondere die Einlassung des Mitangeklagten C in Verbindung mit der Einlassung des weiteren Mitangeklagten A sowie die Aussage des Geschädigten D. Der Angeklagte B greift die Ausführungen der Kammer mit der Beschwerdebegründung auch nicht im Einzelnen an.
383)
39Es besteht der Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2. Nr. 2 StPO.
40Fluchtgefahr ist dann anzunehmen, wenn die Würdigung der Umstände des Falles es wahrscheinlicher macht, dass sich ein Beschuldigter dem Strafverfahren entzieht, als dass er sich ihm zur Verfügung halten werde (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl. 2021 § 112 Rn. 17). Bei der Prognoseentscheidung verbietet sich jede schematische Beurteilung anhand genereller Maßstäbe, insbesondere die Annahme, dass bei einer Straferwartung in bestimmter Höhe stets oder nie ein bedeutsamer Fluchtanreiz bestehe. Die zu erwartenden Rechtsfolgen allein können die Fluchtgefahr grundsätzlich nicht begründen; sie sind lediglich, aber auch nicht weniger, der Ausgangspunkt für die Erwägung, ob ein aus der Straferwartung folgender Fluchtanreiz unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände zu der Annahme führt, der Angeklagte werde diesem wahrscheinlich nachgeben und flüchtig werden (ständige Senatsrechtsprechung, vgl. nur Senatsbeschlüsse vom 05.11.2019 – III – 5 Ws 461/19 und vom 02.05.2017 – III-5 Ws 158/17).
41Nach der somit gebotenen Gesamtwürdigung der obwaltenden Umstände ist vorliegend Fluchtgefahr zu bejahen.
42a)
43Die für die Fluchtgefahr maßgebliche subjektive Straferwartung des Angeklagten B hat sich mit dem landgerichtlichen Urteil dahin konkretisiert, dass er mit der Verhängung einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und drei Monaten zu rechnen hat.
44Hinsichtlich der Straferwartung, die gleichermaßen wie der dringende Tatverdacht vorliegend allein aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung zu beurteilen ist, ist der Senat in seiner Prüfungskompetenz insoweit ebenfalls auf die Frage beschränkt, ob diese auf die in der Hauptverhandlung gewonnenen Tatsachen gestützt ist und auf einer vertretbaren Bewertung des Beweisergebnisses beruht (Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 18. Februar 2019 – 1 Ws 22/19 –, Rn. 17, juris; OLG Karlsruhe StV 2001, 118). So verhält es sich hier. Insbesondere sind im Beschwerdeverfahren keine Einwendungen gegen die Strafzumessung erhoben worden, die die Verhängung einer niedrigeren Gesamtfreiheitsstrafe erwarten ließen.
45Auch unter Berücksichtigung dessen, dass der Angeklagte nunmehr gut zwei Monate Untersuchungshaft verbüßt hat, stellt die verhängte Freiheitsstrafe von fünf Jahren und drei Monaten einen ganz erheblichen Fluchtanreiz dar. Ob zu gegebener Zeit eine bedingte Entlassung gemäß § 57 Abs. 1 StGB in Betracht kommt, ist derzeit ungewiss, wenn auch positiv zu werten ist, dass es sich um die erste Verurteilung des Angeklagten handelt.
46b)
47Im Rahmen der zu treffenden Prognoseentscheidung ist – wie das Landgericht zutreffend in seinem Nichtabhilfebeschluss ausgeführt hat – zu berücksichtigen, dass die persönlichen Bindungen des Angeklagten B nicht als so stark einzuschätzen sind, dass sie eine Flucht hindern könnten. Zwar leben die Eltern des Angeklagten sowie dessen Geschwister in E. Es ist dem ledigen und kinderlosen Angeklagten jedoch ohne weiteres möglich, seinen Lebensmittelpunkt zu verlagern, ohne dass dies einen Kontaktabbruch zu seiner Familie bedeuten muss. Auch berufliche Bindungen des Angeklagten führen nicht zu einer anderen Bewertung. Denn die seit dem Jahr 2016 bestehende unbefristete Festanstellung wird sich infolge der zu erwartenden Haftstrafe voraussichtlich nicht aufrechterhalten lassen.
48c)
49Daraus, dass sich der Angeklagte dem Strafverfahren bisher freiwillig gestellt hat, ergibt sich entgegen der Auffassung der Verteidigung nichts anderes. Zwar waren dem Angeklagten die Vorwürfe spätestens seit Erhebung der Anklage im November 2021 im Einzelnen bekannt. Er war jedoch mit der Eröffnung des Hauptverfahrens durch die Kammer mit Beschluss vom 19.01.2022 darauf hingewiesen worden, auch lediglich eine Verurteilung wegen Beihilfe zum besonders schweren Raub gemäß §§ 249 Abs. 1, 250 Abs. 2 Nr. 1, 27 StGB in Betracht kam. Vor diesem Hintergrund konnte er bis zum Hauptverhandlungstermin am 23.03.2022 davon ausgehen, zu einer deutlich niedrigeren als der verhängten Freiheitsstrafe – deren Vollstreckung ggf. zur Bewährung hätte ausgesetzt werden können – verurteilt zu werden. Diesem Ziel entsprach auch das Einlassungsverhalten des Angeklagten, der seinerseits hinsichtlich der Tat, wegen derer er angeklagt war, lediglich eine Beihilfehandlung in Form des Ausspähens des Opfers im Casino eingeräumt hat. Demgegenüber hat die nunmehr erfolgte – wenn auch nicht rechtskräftige – Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und drei Monaten wegen täterschaftlicher Begehung den für den Angeklagten bestehenden Fluchtanreiz erheblich verstärkt. Dass der Angeklagte B über die Anklage hinaus seine Beteiligung an der Tat vom 13.07.2019 eingeräumt hat, rechtfertigt – unabhängig davon, zu welchem genauen Zeitpunkt in der Hauptverhandlung dies stattgefunden hat – keine abweichende Bewertung. Denn zum einen hatte der Angeklagte infolge seiner Einlassung mangels entsprechender Anklage gegen ihn unmittelbar keine Verurteilung zu befürchten. Zum anderen stellte die Einlassung einen Begründungsversuch dafür dar, warum er hinsichtlich der angeklagten Tat lediglich die eingeräumten Beiträge geleistet habe, nämlich weil er aufgrund der ersten Tat „kalte Füße bekommen habe“, und ist daher nicht im Sinne einer umfassenden geständigen Einlassung und Akzeptanz der zu erwartenden Strafe zu verstehen.
50Auch daraus, dass der Angeklagte im Laufe des Hauptverhandlungstermins am 23.03.2022 nach Abgabe der Einlassungen durch die Mitangeklagten und Unterbrechung der Hauptverhandlung jeweils in diese zurückgekehrt ist, ergibt sich nicht die Erwartung, dass er sich dem Verfahren weiterhin zur Verfügung halten wird. Auch wenn – wovon der Senat ausgeht – der Verteidiger den Angeklagten darüber informiert hat, dass nach den Einlassungen der Mitangeklagten nunmehr wieder eine täterschaftliche Verurteilung und ggf. auch der Erlass eines Haftbefehls im Raum stand und diesem auch den einschlägigen Strafrahmen genannt hat, so war dem Angeklagten zum Zeitpunkt der Unterbrechungen der Hauptverhandlung zum einen die von der Kammer tatsächlich avisierte Strafhöhe noch nicht bekannt. Zum anderen war er erst sehr kurzfristig mit der veränderten prozessualen Situation konfrontiert worden. Dass er sich vor diesem Hintergrund nicht spontan zur Flucht entschlossen hat, räumt die Erwartung, dass er dies infolge der ihm nunmehr über einen längeren Zeitraum vor Augen stehenden Straferwartung tun wird, nicht aus. Zumal ihm die Planung einer längerfristigen Flucht innerhalb der kurzen zur Verfügung stehenden Zeit am 23.03.2022 kaum möglich gewesen ist.
51Nach Abwägung der geschilderten Umstände spricht daher zusammenfassend eine höhere Wahrscheinlichkeit für die Annahme, dass der Angeklagte B sich dem Strafverfahren zumindest für eine gewisse Zeit entziehen wird.
524)
53Die Anordnung sowie der weitere Vollzug der seit nunmehr gut drei Monat andauernden Untersuchungshaft sind angesichts der Höhe der – wenn auch nicht rechtskräftig – verhängten Strafe auch verhältnismäßig.
545)
55Auch mildere Maßnahmen nach §§ 116 ff. StPO - insbesondere die Aussetzung des Vollzuges gegen Meldeauflage – kommen nicht in Betracht. Vor dem Hintergrund des deutlichen Fluchtanreizes vermögen allein solche Auflagen nicht derart auf den Angeklagten einzuwirken, dass er sich der weiteren Durchführung des Verfahrens sicher und dauerhaft stellen wird.
566)
57Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 StPO.
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