Urteil vom Oberlandesgericht Hamm - 30 U 90/21
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das am 25.03.2021 verkündete Urteil des Einzelrichters der 3. Zivilkammer des Landgerichts Paderborn, Az. 3 O 518/20, wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt der Kläger.
Dieses Urteil und das angegriffene Urteil sind ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
Die Revision wird nicht zugelassen.
1
Gründe:
2I.
3Der Kläger nimmt die Beklagte nach dem Erwerb eines gebrauchten Automarke01 TypA (Diesel) im Jahre 2015 auf Schadensersatz in Form des Ersatzes des vermeintlichen Minderwerts von mindestens einem Viertel des Kaufpreises, vorliegend 7.250 €, sowie vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten in Anspruch.
4Von der Darstellung des Tatbestandes wird gemäß §§ 540 Abs. 3, 313a Abs. 1 S. 1, 544 Abs. 2 Nr. 1 ZPO abgesehen.
5II.
6Die Berufung ist zulässig.
7Entgegen der Auffassung der Beklagten liegt insbesondere kein Verstoß gegen
8§ 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 ZPO vor. Die Berufungsbegründung greift die Urteilsgründe des Landgerichts in noch hinreichender Weise an. Soweit das Landgericht ein sittenwidriges Handeln verneint, setzt der Kläger dem seine gegenteilige Auffassung entgegen (Bl. 18 ff. OLG). Soweit das Landgericht den Vortrag des Klägers nicht für substantiiert hält, formuliert der Kläger auch insoweit eine gegenteilige Auffassung (Bl. 27 ff. OLG) und verweist auf eine sekundäre Darlegungslast der Beklagten (Bl. 26 f. OLG). Zu „Bit 13“, „Bit 14“ und „Bit 15“ sowie zur „Defeat Device B“ enthält die Berufungsbegründung zwar keine Ausführungen. Da aber schon der Vortrag zu den anderen Abschalteinrichtungen die Voraussetzungen für einen Anspruch des Klägers ausfüllen könnte, führt dies nicht zur teilweisen oder gar vollständigen Unzulässigkeit der Berufung.
9III.
10Die Berufung ist jedoch nicht begründet.
11Zwar ist und war die Klage auch im Hinblick auf den ursprünglichen Klageantrag zu 1), der nunmehr der Berufungsantrag zu 2) ist, zulässig, ohne dass es der vom Landgericht vorgenommenen korrigierenden Auslegung im Hinblick auf § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO bedurft hätte (vgl. dazu BGH, Urt. v. 06.07.2021 – VI ZR 40/20 –, juris, Rn. 10).
12Das Landgericht hat aber zu Recht Ansprüche des Klägers verneint. Dem Kläger steht unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt ein Anspruch auf Schadensersatz wegen der von ihm behaupteten Ausstattung seines Fahrzeugs mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung zu. Einen solchen Anspruch kann der Kläger insbesondere nicht aus einem deliktischen Verhalten der Beklagten nach den §§ 823 ff. BGB herleiten.
131.
14Der Kläger kann sich nicht mit Erfolg darauf berufen, dass ihm von der Beklagten
15i.S.d. §§ 826, 31 BGB in einer gegen die guten Sitten verstoßenden Weise vorsätzlich ein Schaden zugefügt worden sei.
16a)
17Zwar kann in dem Inverkehrbringen eines Fahrzeugs, das mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung versehen ist, grundsätzlich eine sittenwidrige vorsätzliche Schädigung liegen. Hierzu ist indes zunächst darzutun, dass das Fahrzeug mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung versehen ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sind hierfür greifbare Anhaltspunkte anzuführen, auf die der Kläger seinen dahingehenden Verdacht stützt (vgl. BGH, Beschluss vom 28.01.2020
18– VIII ZR 57/19, NJW 2020, 1740 Rn. 10).
19Darüber hinaus ist weiterhin aber allein der in der Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung etwa zu sehende Gesetzesverstoß für sich genommen nicht bereits geeignet, ein Verhalten als besonders verwerflich erscheinen zu lassen (vgl. BGH, Beschluss vom 19.01.2021 – VI ZR 433/19, ZIP 2021, 297 Rn. 16; BGH,
20Beschluss vom 09.03.2021 – VI ZR 889/20, VersR 2021, 661 Rn. 26). Vielmehr muss eine besondere Verwerflichkeit des Verhaltens hinzutreten, die sich aus dem verfolgten Ziel, den eingesetzten Mitteln, der zutage getretenen Gesinnung oder den eingetretenen Folgen ergeben kann. Schon zur Feststellung der objektiven Sittenwidrigkeit kann es daher auf Kenntnisse, Absichten und Beweggründe des Handelnden ankommen, die die Bewertung seines Verhaltens als verwerflich rechtfertigen. Dabei ist das Kriterium der Prüfstandbezogenheit grundsätzlich geeignet, um zwischen nur unzulässigen Abschalteinrichtungen und solchen, deren Implementierung die Kriterien einer sittenwidrigen vorsätzlichen Schädigung erfüllen können, zu unterscheiden (BGH, Beschluss vom 13.10.2021 – VII ZR 179/21, juris Rn. 11; BGH, Beschluss vom 29.09.2021 – VII ZR 126/21, juris Rn. 12, 18, jew. m.w.N.).
21b)
22Nach Maßgabe dieser Grundsätze genügt allein die Verwendung eines sog. Thermofensters nach mittlerweile gefestigter Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs für die Annahme eines objektiv sittenwidrigen Verhaltens nicht,
23auch wenn zugunsten des Anspruchstellers die Unzulässigkeit dieser Einrichtung unterstellt wird (BGH, Beschluss vom 19.01.2021 – VI ZR 433/19, NJW 2021, 921 Rn. 16 ff.; BGH, Beschluss vom 09.03.2021 – VI ZR 889/20, NJW 2021, 1814 Rn. 25
24ff.; BGH, Urteil vom 13.07.2021 – VI ZR 128/20, juris Rn. 13 ff.). Es müssen vielmehr Umstände hinzutreten, die das Verhalten der für den Hersteller handelnden Personen als besonders verwerflich erscheinen lassen. Jedenfalls müssen die handelnden Personen bei der Entwicklung und/oder der Verwendung der temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems in dem Bewusstsein gehandelt haben, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden (BGH, Urteil vom 16.09.2021 – VII ZR 190/20, juris Rn. 16). Umstände hierfür hat der Kläger jedoch nicht bzw. nicht in prozessual beachtlicher Weise dargetan.
25aa)
26Eine prüfstandbezogene umgebungstemperaturabhängige Steuerung der Abgasrückführung lässt sich schon dem Vorbringen des Klägers nicht entnehmen, weil es schlicht widersprüchlich ist.
27Der Kläger trägt einerseits vor, das Thermofenster umfasse den Temperaturbereich von +20 °C bis +30 °C (z.B. Bl. 13 eA LG und Bl. 29 eA OLG). Andererseits beruft er sich zum Beleg seiner Angaben im Berufungsverfahren auf das Gutachten von K (Bl. 305 eA OLG), wonach eine Reduzierung der AGR erst ab Temperaturen
28„deutlich unter 20 °C“ (S. 12 des Gutachtens, Bl. 330 eA OLG), und zwar wohl unterhalb von +12 °C (siehe Messergebnisse S. 10 f. des Gutachtens, Bl. 328 f. eA OLG) erfolgen soll.
29Jedenfalls ist der diesbezügliche – und bestrittene (vgl. Bl. 145 eA LG) – Vortrag des Klägers als in unzulässiger Weise ins Blaue hinein erhoben zu bewerten und somit prozessual unbeachtlich. Konkrete Anhaltspunkte für den von ihm genannten Temperaturbereich von + 20 °C bis + 30 °C nennt der Kläger nämlich nicht. Vielmehr räumt er selbst an anderer Stelle ein, ihm sei nicht bekannt, bei welchen Temperaturen genau die Abschalteinrichtung auslöse (Bl. 312 eA LG). Soweit er zweitinstanzlich auf das Gutachten K Bezug nimmt, verhält sich dieses zum streitgegenständlichen Fahrzeugtyp ersichtlich nicht. Der Sachverständige hat seine Testfahrten vielmehr mit einem Automarke01 TypB (Diesel) durchgeführt. Aber selbst wenn man mit dem Klägervortrag annähme, dass die AGR-Rate schon unterhalb von +20 °C und oberhalb von +30 °C reduziert würde, wäre damit eine Prüfstandsbezogenheit, die ein verwerfliches Handeln indiziert, nicht verbunden. Das Thermofenster wirkt unstreitig im Realbetrieb und auf dem Prüfstand in selber Weise und schaltet auch außerhalb des Temperaturbereiches von +20 °C bis +30 °C die Abgasrückführung nicht vollständig ab, sondern reduziert sie zunächst. Das genügt für eine Prüfstandsbezogenheit nicht (vgl. BGH, Beschl. v. 15.09.2021 – VII ZR 2/21, juris, Rn. 14).
30bb)
31Dem Vorbringen des Klägers lassen sich auch keine konkreten Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass die Beklagte gegenüber dem Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) die Verwendung eines Thermofensters verschleiert haben könnte.
32Ein „Verschleiern“ setzt voraus, dass die Beklagte wissentlich Angaben unterlassen bzw. unrichtige Angaben im Typgenehmigungsverfahren gemacht hat, die noch dazu auf ein heimliches und manipulatives Vorgehen oder eine Überlistung des KBA und damit auf einen bewussten Gesetzesverstoß hindeuten (vgl. BGH, Urteil vom 16.09.2021 – VII ZR 190/20, juris, Rn. 26).
33Ein solches manipulatives Vorgehen ist jedoch gleichfalls schon dem Vortrag des Klägers nicht zu entnehmen. Er macht lediglich pauschal geltend, die Beklagte habe das KBA im Typengenehmigungsverfahren getäuscht (etwa Bl. 42 eA LG, Bl. 17, 18, 19, 313 eA OLG) und etwaige vorzulegende Unterlagen nicht vorgelegt (etwa Bl. 18 eA LG). Das genügt für ein Verschleiern nicht (vgl. auch BGH, Beschl. v. 13.10.2021
34– VII ZR 179/21 –, Rn. 16 f.). Dies gilt umso mehr angesichts des – unstreitigen – Vorbringens der Beklagten, dass dem KBA die temperaturabhängige Funktionsweise des Thermofensters seit langem bekannt gewesen sei und ein solches von diesem laufend genehmigt worden sei und genehmigt werde. Dabei habe sie, so die Beklagte weiter, auch die in der Praxis des KBA geforderten Angaben gemacht (Bl. 133, 137 eA LG). Die Offenlegung weiterer Details habe nicht dem Verständnis des Typgenehmigungsverfahrens seitens des KBA entsprochen. Im Antragsverfahren habe die Temperaturabhängigkeit der Abgasrückführung im Beschreibungsbogen gegenüber dem KBA ausdrücklich offengelegt (Bl. 137 eA LG). Angesichts dieses substantiierten Bestreitens der Beklagten hätte es für einen hinreichend substantiierten Vortrag des Klägers zu einem Verschleiern der Einrichtung gegenüber dem KBA schon näherer Darlegung bedurft, welche konkret geforderten Angaben die Beklagte nicht oder unzutreffend gemacht haben soll.
35Darüber hinaus erweist sich auch die Behauptung einer Täuschung des KBA als unzulässige Behauptung ins Blaue hinein. Denn der Kläger hat wiederum nicht dargelegt, worauf er seinen Verdacht der Täuschung und der nicht vorgelegten Unterlagen stützt. Im Übrigen wäre die Behörde nach dem Amtsermittlungsgrundsatz gemäß § 24 Abs. 1 S. 1 u. 2 VwVfG aber auch gehalten gewesen, etwaige erforderliche Angaben zu erfragen, um sich in die Lage zu versetzen, die Zulässigkeit der Wirkungsweise des Thermofensters zu prüfen (BGH, Beschluss vom 13.10.2021
36– VII ZR 99/21, BeckRS 2021, 38651 Rn. 17).
37cc)
38Entgegen der Auffassung des Klägers trifft die Beklagte auch keine sekundäre Darlegungslast hinsichtlich der Arbeitsweise des Thermofensters oder der Frage, welche Vorstellungen sich die Verantwortlichen der Beklagten hinsichtlich der
39Rechtmäßigkeit des Thermofensters gemacht haben. Die Annahme einer sekundären Darlegungslast setzt jedenfalls voraus, dass das Parteivorbringen der primär darlegungsbelasteten Partei zunächst hinreichende Anhaltspunkte enthält, die auf die Richtigkeit ihrer Behauptung hindeuten (vgl. BGH, Urteil vom 21.12.2021 – VI ZR 875/20, BeckRS 2021, 44363, Rn. 14). Daran fehlt es hier. Der Kläger hat keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür vorgetragen, dass die Verantwortlichen der Beklagten das Thermofenster für rechtswidrig gehalten oder das KBA bewusst getäuscht hätten.
40c)
41Auch der Vortrag des Klägers zu einer Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung (KSR)
42bzw. einer „Defeat Device A“ vermag eine Sittenwidrigkeit nicht zu begründen.
43Allein aufgrund des Vorhandenseins einer KSR kann, wenn diese – wie die Beklagte geltend macht – im Grundsatz auf dem Prüfstand und im Straßenbetrieb in gleicher Weise arbeitet, nicht ohne weiteres auf ein sittenwidriges Vorgehen geschlossen werden, sondern es müssten gleichfalls weitere Umstände hinzutreten, die das Verhalten der für den Motorhersteller handelnden Personen als besonders verwerflich erscheinen lassen (BGH, Beschluss vom 13.10.2021 – VII ZR 179/19, juris Rn. 15).
44aa)
45Eine Prüfstanderkennung ist nicht in prozessual erheblicher Weise vorgetragen.
46Der Vortrag des Klägers zu den Voraussetzungen, unter denen die KSR wirke, ist schon in sich widersprüchlich. Anfänglich hat der Kläger ausgeführt, die stärkere Kühlung werde nur dann aktiviert, wenn sich die Umgebungstemperatur über einen Zeitraum von sechs Stunden nicht stark verändere. Da sich die Temperatur „in unseren Breitengraden“ nahezu immer verändere, führe dies dazu, dass der Mechanismus im Normalbetrieb nicht greife (Bl. 12 eA LG). An späterer Stelle nimmt er dann Bezug auf das Gutachten L vom 12.11.2020 (Bl. 333 ff. eA OLG). Damit setzt er sich zu seinem früheren Vorbringen jedoch in Widerspruch, denn nach diesem Gutachten soll die Steuerung der KSR gerade nicht über eine sog. Vorkonditionierung des Fahrzeuges erfolgen, sondern über geringe Motordrehzahlen und einen geringen Luftmassenstrom auf dem Prüfstand. Soweit der Vortrag des Klägers dahingehend zu verstehen sein sollte, dass er nunmehr ausschließlich die im Gutachten beschriebenen Wirkungsbedingungen der KSR vortragen möchte, fehlt es an Anhaltspunkten dafür, warum die Ausführungen des Sachverständigen auch für das streitgegenständliche Fahrzeug gelten sollen. Das Gutachten ist zum Modell TypC (vgl. Gutachten S. 2, dritter Absatz) erstellt worden, nicht zu einem Automarke01 TypA, wie er hier streitgegenständlich ist. Die Betroffenheit des Fahrzeuges kann der Kläger auch nicht aus einem amtlichen Rückruf herleiten, denn ein solcher ist bis heute in Bezug auf das Fahrzeug des Klägers nicht erfolgt.
47Soweit der Kläger in der zweiten Instanz als Beleg für eine Prüfstandserkennung einen Bericht des (..) Rundfunks anführt (Bl. 304 f. eA OLG), genügt dies als hinreichender Anhaltspunkt nicht. Der Artikel ist nicht vorgelegt und kann auch im Internet nicht mehr abgerufen worden. Auch die Klägervertreterin kann diesen Artikel, wie dem Senat aus dem Verfahren 30 U 159/21 bekannt ist, nicht vorlegen und er ist auch sonst dem Senat nicht bekannt und nicht für ihn verfügbar.
48Auch das vom Kläger angeführte Gutachten M (vgl. Bl. 302 eA OLG) bietet keinen Anhaltspunkt für das Vorliegen einer Prüfstandserkennung in Bezug auf die KSR. In dem Gutachten heißt es, dass die KSR bei Automarke01 „eng an die Erkennung des Abgastests gekoppelt“ sei. Aus dem Zusatz „eng“ muss man schließen, dass der Gutachter gerade keine Kopplung an eine Prüfstandserkennung meint, sondern zum Ausdruck bringen möchte, die Schaltkriterien der KSR seien eng an die Kriterien des Prüfstandes angelehnt. Da der Begriff „eng“ aber schon eine Wertung enthält, die mangels genauer Beschreibung der Kriterien nicht überprüfbar ist, genügt dies nicht, um als Anhaltspunkt für eine Prüfstandsbezogenheit oder gar eine Kopplung an eine Prüfstandserkennungssoftware dienen zu können. Außerdem lässt das Gutachten, dessen Gegenstand eigentlich der Motor EA 288 von VW ist, nicht erkennen, woher der Sachverständige seine Erkenntnisse zu Fahrzeugen der Beklagten nimmt, so dass es ohnehin für einen substantiierten Vortrag insoweit offensichtlich untauglich ist.
49bb)
50Anhaltspunkte für eine Prüfstandbezogenheit der KSR lassen sich dem Vorbringen des Klägers ebenfalls nicht tragfähig entnehmen.
51Dass die KSR – wie die Beklagte einräumt (Bl. 152 eA OLG) – nur in der Phase des Motorwarmlaufs funktioniert, genügt dafür nicht. Ein Kaltstart mit anschließender Erwärmung des Motors erfolgt nämlich auch im normalen Fahrbetrieb.
52cc)
53Ferner ist auch nicht anzunehmen, dass die Beklagte dem KBA gegenüber im Typgenehmigungsverfahren die behauptete Funktionsweise der KSR verschleiert hätte.
54Der Kläger behauptet insoweit lediglich pauschal, die KSR sei dem KBA im Genehmigungsprozess bewusst nicht mitgeteilt und damit verschwiegen worden. Dies genügt für ein Verschleiern nicht (vgl. schon die Ausführungen zum Thermofenster), zumal die Beklagte auch hier vorträgt, sie habe die in der Praxis erwarteten und nach den gesetzlichen Formularen vorgesehenen Angaben zur Steuerung des Kühlsystems gegenüber dem KBA gemacht und es sei den Typgenehmigungsunterlagen zu entnehmen gewesen, dass die Motortemperatur über das Kühlsystem beeinflusst werde (Bl. 183 eA OLG).
55dd)
56Schließlich scheidet eine Sittenwidrigkeit auch deshalb aus, weil nicht von einer Grenzwertkausalität der KSR auszugehen ist, also davon, dass die Funktion der KSR für die Einhaltung der NOx-Grenzwerte im NEFZ ausschlaggebend ist.
57Im Falle einer fehlenden Grenzwertkausalität liegt schon keine unzulässige Abschalteinrichtung vor (OLG Düsseldorf, Urt. v. 22.07.2021 – 22 U 97/20, juris, Rn. 102). Jedenfalls mangelt es dann an Anhaltspunkten für den Vorwurf des sittenwidrigen Verhaltens (vgl. OLG Karlsruhe, Urteil vom 26.04.2022 – 8 U 235/21, BeckRS 2022, 10880, Rn. 31; OLG Schleswig, Beschluss vom 07.02.2022 – 7 U
5876/21, BeckRS 2022, 10559, Rn. 27, 29; OLG Bremen, Urteil vom 04.02.2022 – 2 U
5987/21, BeckRS 2022, 2576, Rn. 41 ff.; in diesem Sinne auch BGH, Beschluss vom 21.03.2022 – VIa ZR 334/21, juris, Rn. 24).
60Der Kläger hat vorliegend zwar unter Bezugnahme auf einen Z-Artikel zum TypD mit der Euro-Norm 5 eine Grenzwertkausalität behauptet und ausgeführt, sein Fahrzeug halte die Abgasnorm Euro 5 „ohne die unzulässigen Abschalteinrichtungen“ nicht ein (Bl. 11 f., 20 eA LG). Dieser Vortrag ist jedoch als in unzulässiger Weise ins Blaue hinein erhoben anzusehen und daher prozessual unbeachtlich. Dies gilt schon deshalb, weil der angeführte Z-Bericht jeglichen Bezug zum streitbefangenen Fahrzeugtyp vermissen lässt. Überdies kann aber auch nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs das Voranschreiten der allgemeinen Erkenntnislage die Substantiierungsanforderungen erhöhen (BGH, Beschl. v. 12.01.2022 – VIII ZR 424/21, RN. 36). Dies ist hier der Fall. Die Beklagte hat nämlich die Grenzwertkausalität unter Berufung auf Feststellungen des KBA bestritten (Bl. 148 eA LG, Bl. 98 eA OLG). Inzwischen ist außerdem gerichtsbekannt, dass das KBA die KSR nicht generell zum Anlass für einen verpflichtenden Rückruf nimmt, auch nicht bei denselben Motortypen, sondern nur dann, wenn sie beim konkreten Fahrzeugtyp für die Einhaltung der Grenzwerte von Bedeutung ist. Umgekehrt kann daher, wenn das KBA – wie vorliegend – auch nach geraumer Zeit keinen amtlichen Rückruf angeordnet hat, nur angenommen werden, dass das KBA die KSR – wie auch von der Beklagten dargelegt – nicht für grenzwertkausal hält. In solchen Fällen muss daher ein Kläger greifbare Anhaltspunkte dafür nennen, dass und weshalb gleichwohl eine Grenzwertkausalität vorliegen soll. Daran fehlt es hier.
61ee)
62Entgegen der Auffassung des Klägers scheidet auch hier, wie schon beim Thermofenster, eine sekundäre Darlegungslast hinsichtlich der genauen Funktionsweise der KSR und der Frage, welche Vorstellungen sich die Verantwortlichen der Beklagten hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der KSR gemacht haben, aus. Denn der Kläger hat keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür vorgetragen, dass die Verantwortlichen der Beklagten die KSR für rechtswidrig gehalten oder das KBA bewusst getäuscht hätten.
63d)
64Ein sittenwidriges Handeln der Beklagten ergibt sich auch nicht aus dem Vortrag des Klägers zur Kühlerjalousie. Er führt insoweit aus, sein Fahrzeug verfüge über eine Kühlerjalousie, die auf dem NEFZ-Prüfstand „nahezu permanent“ offengehalten werde, um die Motortemperatur weiter niedrig zu halten, während sie im Normalbetrieb erst ab einer Motortemperatur von +106 °C geöffnet werde. Durch die Öffnung der Kühlerjalousie werde außerdem die Abgasrückführung gekühlt, was zu einer weiteren Senkung der NOx-Werte nur im NEFZ führe (Bl. 311 f. eA LG).
65Die Beklagte bestreitet, dass die Kühlerjalousie Bestandteil des Emissionskontrollsystems sei und dass sie einen messbaren Einfluss auf die NOx- Emissionen habe (Bl. 174 eA OLG). Dieses Bestreiten ist, auch wenn es erst mit der Berufungserwiderung erfolgt ist, gemäß § 531 Abs. 2 Nr. 2 ZPO noch zu berücksichtigen. Es ist eine Reaktion auf den Vortrag des Klägers in dessen letztem erstinstanzlichen Schriftsatz vom 17.03.2021. Dieser Schriftsatz hat die Beklagte nicht so rechtzeitig erreicht, dass ihr – auch in Anbetracht seines Umfanges – eine Antwort noch vor oder in der mündlichen Verhandlung am 25.03.2021 zumutbar gewesen wäre. Auch nach der mündlichen Verhandlung konnte die Beklagte sich erstinstanzlich nicht mehr äußern, weil dem von ihr gestellten Antrag auf einen Schriftsatznachlass nicht stattgegeben wurde.
66Der Vortrag des Klägers ist prozessual unbeachtlich, weil er in unzulässiger Weise ins Blaue hinein erfolgt ist. Das Gutachten L vom 12.11.2020 vermag einen konkreten Anhaltspunkt für die Vermutung des Klägers nicht zu liefern. Es betrifft einen Automarke01 TypC (vgl. S. 2 des Gutachtens), also nicht den hier streitigen TypA. Selbst wenn beim begutachteten Fahrzeug über die Kühlerjalousie die Emissionen beeinflusst worden wären (was bestritten ist), könnte der Kläger daher aus dem Gutachten nicht folgern, dass auch im hier streitgegenständlichen Fahrzeug die Kühlerjalousie einen solchen Einfluss hätte.
67Im Übrigen ist eine Grenzwertkausalität der Öffnung der Kühlerjalousie lediglich pauschal und in prozessual unzulässiger Weise behauptet (siehe oben).
68e)
69Ein sittenwidriges Verhalten der Beklagten folgt auch nicht aus dem Vortrag des Klägers, in seinem Fahrzeug sei eine „Defeat Device B“ verbaut, die die Abgasreinigung stufenweise und betriebsabhängig im normalen Fahrbetrieb unter anderem auf Basis von Last, Drehzahl und Umgebungstemperatur reduziere. Dies habe zur Folge, dass das Fahrzeug im Normalbetrieb in Deutschland überwiegend ohne vollständig gereinigte Abgase betrieben werde (Bl. 4 eA LG). Die Beklagte bestreitet, dass eine „Defeat Device B“ in dem Fahrzeug verbaut sei (Bl. 131 eA LG). Der Vortrag des Klägers ist als in unzulässiger Weise in Blaue hinein erhoben anzusehen, weil er keine tatsächlichen Anhaltspunkte nennt, die ihn stützen. Im
70Übrigen scheint der Kläger im Berufungsverfahren aber auch an dem Vortrag zur
71„Defeat Device B“ nicht mehr festzuhalten. Jedenfalls trägt er in zweiter Instanz dazu nicht mehr vor.
72f)
73Auch soweit der Kläger erstinstanzlich zu Funktionen „Bit 13“, „Bit 14“ und „Bit 15“ vorgetragen hat, ist unklar, ob er an diesem Vortrag in der Berufungsinstanz, in der er auf diese Funktionen nicht mehr eingeht, überhaupt noch festhalten möchte. Jedenfalls ist der Vortrag bestritten (Bl. 147 eA LG) und als in unzulässiger Weise ins Blaue hinein erfolgt zu bewerten. Der Kläger nennt keine tatsächlichen Anhaltspunkte für die Richtigkeit seines Vortrags.
74g)
75Ein verwerfliches Handeln der Beklagten ergibt sich auch nicht aus den Ausführungen des Klägers zu staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen (Bl. 23 eA LG). Die Vorwürfe, die sich aus dem vom Kläger insoweit in Bezug genommenen Artikel der X Zeitung vom 22.03.2017 (Anlage K17, Bl. 96 ff. LG) ergeben, sind dafür schon zu unkonkret. Es ist nur von „illegaler Technik“ die Rede. Außerdem räumt der Autor des Artikels selbst ein, dass er über die genauen Vorwürfe nur spekuliert. Er schreibt nämlich: „Details nannte die Anklagebehörde bislang zwar nicht, aber der Fall ist offenbar ähnlich gelagert wie beim Volkswagen-Konzern“.
76Ein verwerfliches Handeln der Beklagten ist entgegen der Andeutung des Klägers (Bl. 5 und 316 eA LG) auch nicht deswegen gerechtfertigt, weil die Beklagte ein freiwilliges Software-Update für das streitgegenständliche Fahrzeug entwickelt und angeboten hat. Die Beklagte hat nämlich vorgetragen, sie habe das freiwillige Update entwickelt, um einen Beitrag zur Luftverbesserung zu leisten (Bl. 151 eA LG). Für davon abweichende Motive der Beklagten nennt der Kläger keine Anhaltspunkte, so dass seine Mutmaßung als unzulässig ins Blaue hinein erhoben und damit als prozessual unbeachtlich einzustufen ist (vgl. auch BGH, Urt. v. 26.04.2022 – VI ZR 435/20 –, Rn. 15).
77Ein verwerfliches Verhalten der Beklagten lässt sich auch nicht aus den Leitlinien der EU-Kommission vom 26.01.2017 ableiten. Diese Leitlinien sind zum einen rechtlich unverbindlich. Zum anderen wurden sie erst lange nach Herstellung des hier streitgegenständlichen Fahrzeuges erstellt und konnten daher der Beklagten zum fraglichen Zeitpunkt des Inverkehrbringens des Fahrzeuges nicht bekannt sein.
78h)
79Ein Anspruch des Klägers gegen die Beklagte scheidet überdies aber auch deshalb aus, weil ein dem Kläger verbliebener Schaden nicht feststellbar ist.
80Macht ein Kläger, wie hier, den sogenannten kleinen Schadenersatz geltend, muss er sich auf seinen Schaden die Summe aus Nutzungsentschädigung und Restwert
81des Fahrzeugs anrechnen lassen, soweit diese den tatsächlichen Wert des Fahrzeuges bei Abschluss des Kaufvertrages übersteigt. Maßgeblich für die Berechnung der Nutzungsentschädigung und des Restwertes ist der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (BGH, Urteil vom 24. Januar 2022 – VIa ZR 100/21
82–, juris, Rn. 22 f.). Diese Grundsätze führen im vorliegenden Fall dazu, dass kein Schaden des Klägers mehr verbleibt.
83Der Kläger hat sein Fahrzeug für 29.000 € mit einem Kilometerstand von 27.500 km erworben. Zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in der Berufungsinstanz war das Fahrzeug nach den Angaben des Klägers noch voll funktionstüchtig und die Laufleistung belief sich auf 282.381 km.
84Die durchschnittliche zu erwartende Gesamtlaufleistung des klägerischen Fahrzeuges, eines Automarke01 TypA, schätzt der Senat gemäß § 287 Abs. 1 ZPO auf 300.000 km. Dabei berücksichtigt er, dass es sich bei dem Fahrzeug um ein Fahrzeug der Oberklasse handelt. Soweit der Kläger ausführt, dass regelmäßig noch Fahrzeuge mit einem Kilometerstand von über 300.000 km einen Restwert von mehreren tausend Euro haben, trifft dies auch nach Meinung des Senats zwar zu. Der vom Kläger daraus gezogenen – und von der Beklagten bestrittenen (Bl. 162 eA LG) – Schlussfolgerung, die zu erwartende durchschnittlich Laufleistung müsse mindestens 400.000 km übersteigen, folgt der Senat indes nicht. Denn es ist auch allgemein bekannt, dass Fahrzeuge wie dasjenige des Klägers in nicht wenigen Fällen wegen Elektronikproblemen oder aufgrund von Motor- oder Getriebeschäden schon bei Laufleistungen von (teils deutlich) unter 300.000 km nicht mehr funktionstüchtig und auch nicht mehr mit wirtschaftlich vertretbarem Aufwand zu reparieren sind.
85Geht man von diesen Parametern aus, errechnet sich eine Nutzungsentschädigung
86von 27.124,05 € (= 29.000 € / [300.000 km – 27.500 km] x [282.381 km – 27.500
87km]).
88Den aktuellen Restwert schätzt der Senat auf mindestens 2.000 €, § 287 Abs. 1 ZPO. Grundlage für diese Schätzung sind neben dem Fahrzeugmodell und den Informationen aus der als Anlage K 2 vorliegenden Zulassungsbescheinigung Teil I die Angaben des Klägers. Ihnen zufolge ist das Fahrzeug noch uneingeschränkt im Straßenverkehr nutzbar. Zu vergleichbaren Fahrzeugen, deren Laufleistung sogar deutlich höher liege als bei seinem Fahrzeug, trägt der Kläger vor, ihr Restwert betrage mehrere tausend Euro. Zudem zieht der Senat die Erfahrung heran, die er als Spezialsenat für Ansprüche aus Kauf-, Tausch- und Schenkungsverträgen über Kraftfahrzeuge aus mehrjähriger Erfahrung gewonnen hat.
89Die Summe aus Restwert und Nutzungsentschädigung beläuft sich daher auf
90mindestens 29.124,05 € (27.124,05 € + mindestens 2.000 €).
91Diese Summe übersteigt den tatsächlichen Wert des Fahrzeugs im Moment des Kaufvertragsabschlusses, der nach den eigenen Angaben des Klägers höchstens 75 % des tatsächlichen Kaufpreises von 29.000 € (Bl. 344 eA LG), mithin höchstens 21.750 € betrug, um mindestens 7.374,95 € (= 29.124,05 € – 21.750 €).
92Zieht man diesen Betrag vom klägerseits behaupteten Minderwert und geltend gemachten Schaden ab, ergibt sich ein negativer Betrag (7.250 – 7.374,95 € =) – 124,95 €. Es verbleibt also kein Schaden.
93Falls der tatsächliche Wert des Fahrzeuges zum Zeitpunkt des Erwerbs, wie der Kläger behauptet, sogar noch unter 21.750 € gelegen hätte, würde dies zu keinem anderen Ergebnis führen. Da der tatsächliche Wert in der Rechnung einerseits positiv berücksichtigt wird (indem er den Schaden erhöht) und andererseits negativ (indem er von der Summe aus Restwert und Nutzungsentschädigung abgezogen wird), beeinflusst er das Ergebnis nicht, soweit – was hier der Fall ist – die Summe aus Nutzungsentschädigung und Restwert den tatsächlich gezahlten Kaufpreis übersteigt.
942.
95Der Kläger kann sein Schadensersatzverlangen schließlich auch nicht mit Erfolg auf andere deliktische Haftungsgrundlagen stützen.
96a)
97Es besteht kein Anspruch aus § 831 BGB, weil es aus den genannten Gründen an einer vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung eines Verrichtungsgehilfen der Beklagten fehlt.
98b)
99Ein Anspruch gemäß § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 263 Abs. 1 StGB scheitert bei dem hier vorliegenden Kauf eines Gebrauchtwagens jedenfalls an der erforderlichen Stoffgleichheit des erstrebten rechtswidrigen Vermögensvorteils mit einem etwaigen Vermögensschaden (vgl. BGH, Urteil vom 16.09.2021 – VII ZR 190/20, juris, Rn. 40; Urteil vom 30.07.2020 – VI ZR 5/20, juris, Rn. 23 ff.).
100c)
101Ein Schadenersatzanspruch des Klägers aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV, Art. 5 VO (EG) 715/2007 besteht ebenfalls nicht.
102aa)
103Auch wenn man unter Berücksichtigung der Schlussanträge des Generalanwalts N vom 02.06.2022 in der Rechtssache C-100/21 (BeckRS 2022, 12232) zugunsten des Klägers unterstellt, dass §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV Schutzgesetze i.S.d. § 823 Abs. 2 BGB seien, wäre eine weitere Voraussetzung für einen Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV, dass
104die Beklagte dem streitgegenständlichen Fahrzeug eine ungültige EG- Übereinstimmungsbescheinigung ausgestellt hätte (vgl. § 27 Abs. 1 EG-FGV). Dies käme allenfalls dann in Betracht, wenn das streitgegenständliche Fahrzeug eine unzulässige Abschalteinrichtung i.S.v. Art. 3 Nr. 10 i.V.m. Art. 5 Abs. 2 VO (EG) 715/2007 aufwiese. Schon dies hat der Kläger jedoch nicht hinreichend substantiiert dargelegt.
105Dass im Hinblick auf das Thermofenster oder die KSR ein Konstruktionsteil vorhanden wäre, das die Temperatur, die Fahrzeuggeschwindigkeit, die Motordrehzahl (UpM), den eingelegten Getriebegang, den Unterdruck im Einlasskrümmer oder sonstige Parameter ermittelt, um die Funktion eines beliebigen Teils des Emissionskontrollsystems zu aktivieren, zu verändern, zu verzögern oder zu deaktivieren, wodurch die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems unter Bedingungen, die bei normalem Fahrzeugbetrieb vernünftigerweise zu erwarten sind, verringert wird, ist aufgrund des klägerischen Vortrags nicht anzunehmen.
106(1)
107Hinsichtlich des Thermofensters hat der Kläger, wie oben ausgeführt, nicht in prozessual beachtlicher Weise ausgeführt, ab welcher Temperatur die AGR-Rate reduziert wird. Unabhängig davon, welche Temperaturen „bei normalem Fahrzeugbetrieb vernünftigerweise zu erwarten sind“, lässt sich daher nicht feststellen, ob die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems bei diesen Temperaturen verringert wird.
108(2)
109Im Hinblick auf die KSR hat der Kläger eine Grenzwertkausalität nicht dargelegt, so dass schon deswegen eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verneinen ist (siehe oben). Es fehlt aber auch an der prozessual beachtlichen Darlegung der Umstände, von denen die durch die KSR bewirkte Absenkung der Kühlmitteltemperatur abhängig ist (vgl. oben), so dass nicht festgestellt werden kann, ob die Absenkung an Bedingungen anknüpft, die bei normalem Fahrzeugbetrieb vernünftigerweise zu erwarten sind.
110bb)
111Der Senat kann auch das gemäß § 823 Abs. 2 Satz 2 BGB notwendige Verschulden der Beklagten nicht feststellen.
112(1)
113Für einen vorsätzlichen Verstoß gegen das Schutzgesetz ist, auch im Rahmen von
114§ 823 Abs. 2 BGB, der Gläubiger darlegungs- und beweisbelastet (vgl. BGH, Urt. v. 20.12.2011 – VI ZR 309/10 –, juris, Rn. 12). Wie oben (unter III. 1) festgestellt, hat der Kläger schon den vorsätzlichen Einbau einer unzulässigen Abschalteinrichtung
115nicht in erheblicher Weise dargetan. Erst Recht nicht dargetan ist damit die vorsätzliche Ausstellung von ungültigen Übereinstimmungsbescheinigungen.
116(2)
117Auch ein fahrlässiges Verhalten der Beklagten ist nicht gegeben.
118(a)
119Bei Schutzgesetzen, die – wie §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV bzw. § 37 Abs. 1 EG- FGV – kein besonderes Verschuldenserfordernis aufstellen, wird im Falle eines (an dieser Stelle zugunsten des Klägers unterstellten) objektiven Verstoßes gegen das Schutzgesetz ein Verschulden vermutet oder es besteht zumindest ein entsprechender Anscheinsbeweis: Wer gegen das Schutzgesetz verstößt, muss in aller Regel Umstände darlegen und beweisen, die geeignet sind, die aus der objektiven Gesetzesverletzung folgende Annahme seines Verschuldens auszuräumen (BGH, Urt. v. 13.12.1984 – III ZR 20/83 –, NJW 1985, 1774, 1775 m.w.N.).
120(b)
121Solche Umstände liegen hier jedoch unzweifelhaft vor.
122(aa)
123Maßstab für die Bestimmung der Fahrlässigkeit im Rahmen von § 823 Abs. 2 BGB ist
124§ 276 Abs. 2 BGB (BGH, Urt. v. 16.01.1968 – VI ZR 134/66 –, juris, Rn. 15; Wagner,
125in: MüKo BGB, 8. Aufl. 2020, § 823, Rn. 611). Gemäß dieser Vorschrift handelt fahrlässig, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt. Maßgeblich ist insoweit der Zeitpunkt, zu dem eine Schadensabwendung in Betracht kam (BGH, Urt. v. 17.03.1981 – VI ZR 191/79 –, NJW 1981, 1603, 1604).
126Fahrlässigkeit setzt unter anderem die Erkennbarkeit der Rechtswidrigkeit voraus. Ein Irrtum des Schuldners schließt Fahrlässigkeit nur aus, wenn er unvermeidbar war. An die Unvermeidbarkeit sind strenge Anforderungen zu stellen (BGH, Urt. v. 27.09.1989 – IVa ZR 156/88 –, juris, Rn. 8; BGH, Urt. v. 17.12.1969 – VIII ZR 10/68 –
127, juris, Rn. 9). Ein Rechtsirrtum ist nur ganz ausnahmsweise unvermeidbar, wenn der Schuldner nach sorgfältiger Prüfung der Sach- und Rechtslage mit einem Unterliegen im Rechtsstreit nicht zu rechnen brauchte (BGH, Urt. v. 27.09.1989 – IVa ZR 156/88
128–, juris, Rn. 8). Dies ist allerdings nicht dahingehend zu verstehen, dass eine dem Schuldner ungünstige Entscheidung der Rechtsfrage undenkbar gewesen sein müsste (BGH, Urt. v. 07.03.1972 – VI ZR 169/70 – NJW 1972, 1045, 1046). Es
129genügt zum Beispiel, wenn die zuständige Aufsichtsbehörde die Rechtsfrage zugunsten des Schuldners beantwortet hätte (BGH, Urt. v. 27.06.2017 – VI ZR 424/16 –, juris, Rn. 17). In diesem Fall sind auch die sonst zu fordernden (BGH, Urt.
130v. 17.12.1969 – VIII ZR 10/68 –, juris, Rn. 10) Erkundigungen des Schuldners über Bestand und Umfang seiner Verpflichtung entbehrlich (BGH, Urt. v. 27.06.2017 – VI
131ZR 424/16 –, juris, Rn. 17) und scheidet eine Haftung nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit dem Schutzgesetz aus (BGH, Urt. v. 27.06.2017 – VI ZR 424/16 –, juris, Rn. 16).
132(bb)
133Gemessen an diesen Maßstäben hat die Beklagte durch den Einbau der hier in Rede stehenden Funktionen in das Fahrzeug des Klägers und durch die Ausstellung einer Übereinstimmungsbescheinigung für dieses Fahrzeug nicht fahrlässig gehandelt. Zwar hat die Beklagte nicht vorgetragen, zur Rechtmäßigkeit der hier fraglichen Funktionen Rechtsrat eingeholt zu haben. Eine ausreichende Erkundigung der Beklagten bei der zuständigen Aufsichtsbehörde hätte aber die Rechtmäßigkeit der eingesetzten Funktionen bestätigt.
134(aaa)
135Die Beklagte hätte sich am zuverlässigsten über die Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit der von ihr verwendeten Funktionen Klarheit verschaffen können, indem sie die Funktionen vor dem Inverkehrbringen des klägerischen Fahrzeuges im März 2014 dem KBA erläutert und um eine Beurteilung gebeten hätte. Denn das KBA ist und war gemäß § 2 Abs. 1 EG-FGV i.V.m. Art. 3 Nr. 29 und Art. 4 Abs. 4 und Abs. 2 der Richtlinie 2007/46/EG diejenige Behörde, die in Deutschland für die Einhaltung der unionsrechtlichen Vorgaben zu sorgen hat.
136(bbb)
137Hätte die Beklagte das KBA um entsprechende Auskunft gebeten oder gegenüber dem KBA schon vor Erteilung der hier einschlägigen Typgenehmigung alle Funktionen offen gelegt, hätte das KBA die von der Beklagten im Fahrzeug des Klägers verwendeten Funktionen jedoch nicht als unzulässig beurteilt.
138Dieser Schluss ist im Hinblick auf das Thermofenster schon deshalb gerechtfertigt, weil dem KBA sowohl das Vorhandensein als auch die grundsätzliche Funktionsweise seit Jahren bekannt ist, ohne dass es dies zum Anlass einer Beanstandung nimmt. Auch die nationale Zulassungs- (Typgenehmigungs-) Behörde hat also – im Übrigen ebenso wie weitere europäische nationale Zulassungsbehörden, wie dem Senat aus anderen bei ihm anhängigen Verfahren bekannt ist – die maßgeblichen gesetzlichen Regelungen nicht anders verstanden als die Beklagte. Dies gilt selbst auch heute noch, obwohl dem KBA die hier fraglichen Funktionen nunmehr unstreitig im Detail bekannt sind, wie sich daraus ergibt, dass das KBA hinsichtlich des streitbefangenen Fahrzeugtypen weder einen Rückruf angeordnet noch sonstige Maßnahmen gegen die Beklagte ergriffen hat.
139Nichts anderes gilt hinsichtlich der KSR. Denn auch sie ist dem KBA zumindest nunmehr seit längerer Zeit bekannt und selbst das KBA nimmt – dies ist unstreitig und auch dem Senat aufgrund einer Vielzahl anderweitiger Verfahren bekannt – nicht
140hinsichtlich jeden Fahrzeugtyps insoweit eine unzulässige Abschalteinrichtung an. Jedenfalls in den Fällen, in denen seine Beurteilung – wie auch im Hinblick auf das streitbefangene Fahrzeug – mit der der Beklagten offenkundig übereinstimmt, scheidet daher ein fahrlässiges Handeln der Beklagten wie auch eine Haftung nach
141§ 823 Abs. 2 BGB aus.
142cc)
143Schließlich scheitert ein Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB, §§ 6 Abs.1, 27 Abs. 1 EG- ZPO im vorliegenden Fall an dem Vorliegen eines Schadens des Klägers.
144Insoweit wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Ausführungen zum Schaden im Rahmen von §§ 826, 31 BGB Bezug genommen.
1453.
146Mangels Hauptanspruch kann der Kläger auch keine Zinsen und keine vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten verlangen.
147III.
148Ein Schriftsatznachlass war dem Kläger nicht zu gewähren. Im Hinweis des Berichterstatters vom 14.06.2022 (Bl. 370 f. eA OLG) hat dieser lediglich den bis dahin erfolgten und den Parteien bekannten Vortrag gewürdigt. Seine Würdigung enthielt auch keine neuen oder überraschenden Aspekte. Auf die im Termin erteilten Hinweise war ein Schriftsatznachlass ebenfalls nicht zu gewähren. Der im Termin anwesende Kläger und der anwesende Unterbevollmächtigte der Klägervertreter hatten ausreichend Gelegenheit, sich zu sämtlichen dort angesprochenen Fragen zu äußern. Soweit tatsächliche Fragen angesprochen wurden, insbesondere der Restwert des klägerischen Fahrzeuges, handelte es sich nicht um Angelegenheiten, zu denen eine sofortige Äußerung nach den konkreten Umständen nicht erwartet werden konnte.
149IV.
150Scheidet somit ein Anspruch des Klägers aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. §§ 6 Abs. 1,
15127 Abs. 1 EG-FGV, Art. 5 VO (EG) 715/2007 selbst unter Zugrundelegung der Schlussanträge des Generalanwalts N vom 02.06.2022 in der Rechtssache C- 100/21 aus, sieht der Senat keinen Anlass für eine Aussetzung des Verfahrens in entsprechender Anwendung des § 148 ZPO.
152V.
153Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf den §§ 708 Nr. 10, 711, 713, 544 Abs. 2 ZPO.
154VI.
155Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die gesetzlichen Voraussetzungen des § 543 Abs. 2 S. 1 ZPO nicht vorliegen. Weder hat die Sache grundsätzliche Bedeutung noch erfordert die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts. Grundsätzliche Bedeutung kommt der Sache insbesondere auch nicht im Hinblick auf das beim Europäischen Gerichtshof anhängige Verfahren C-100/21 und die dort behandelten Fragen zu. Denn der Senat hat zugunsten des Klägers eine vom Generalanwalt N in seinen Schlussanträgen angenommene Schutzwirkung der §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV, Art. 5 VO (EG) 715/2007 unterstellt und die Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB nur einzelfallbezogen im Hinblick auf den hier unzureichenden Sachvortrag zur Unzulässigkeit der Abschalteinrichtungen und den im Hinblick auf die in Abzug zu bringende Nutzungsentschädigung fehlenden Schaden verneint. Mit dem weiteren Argument des Senats, dass dem Motorenhersteller keine Fahrlässigkeit anzulasten ist, wenn seine Rechtsauffassung sich mit derjenigen der maßgeblichen staatlichen Behörde deckt, befassen sich die Schlussanträge des Generalanwalts nicht.
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