Beschluss vom Hanseatisches Oberlandesgericht (2. Strafsenat) - 2 Ws 49/21

Tenor

Die sofortige Beschwerde des Verurteilten gegen den Beschluss des Landgerichts Hamburg, Große Strafkammer 5 als Strafvollstreckungskammer, vom 10. Mai 2021 wird auf Kosten des Beschwerdeführers verworfen.

Gründe

I.

1

Der Beschwerdeführer ist durch Urteil des Amtsgerichts Hamburg vom 22. Juli 2020 wegen Wohnungseinbruchsdiebstahls zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten verurteilt worden. Zudem hat das Amtsgericht seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet. Das Urteil ist seit dem 30. Juli 2020 rechtskräftig.

2

Der Beschwerdeführer befand sich in vorgenannter Sache vom 8. März 2020 bis zum 29. Juli 2020 in Untersuchungshaft und ab dem 30. Juli 2020 bis einschließlich 10. Februar 2021 in Organisationshaft. Seit dem 11. Februar 2021 befindet er sich im Vollzug der Maßregel in der Asklepios Klinik O..

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Die Staatsanwaltschaft hat mit Schreiben vom 22. Februar 2021, eingehend beim Landgericht Hamburg am 23. Februar 2021, beantragt, die Vollziehung der Strafe vor der Maßregel zu bestimmen.

4

Mit Beschluss vom 10. Mai 2021 hat die Große Strafkammer 5 als Strafvollstreckungskammer nachträglich den Vorwegvollzug der Strafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Hamburg vom 22. Juli 2020 angeordnet.

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Gegen diesen dem beigeordneten Verteidiger am 17. Mai 2021 zugestellten Beschluss hat dieser mit einem am selben Tag beim Landgericht Hamburg eingehenden Schreiben für den Verurteilten sofortige Beschwerde eingelegt.

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Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die sofortige Beschwerde zu verwerfen.

II.

7

Die nach §§ 463 Abs. 6 Satz 1, 462 Abs. 3 Satz 1 StPO statthafte und auch im Übrigen zulässige (§§ 306 Abs. 1, 311 Abs. 2 StPO) sofortige Beschwerde gegen die Änderung der Vollstreckungsreihenfolge hat in der Sache keinen Erfolg.

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1. Der angefochtene Beschluss ist ohne einen die Aufhebung der Entscheidung begründenden Verfahrensfehler ergangen.

9

a) Die nach §§ 462a Abs. 1 Satz 1, 463 Abs. 1 StPO zuständige Strafvollstreckungskammer hat die Entscheidung in der gemäß § 78b Abs. 1 Nr. 2 GVG gebotenen Besetzungdurch den Einzelrichter getroffen.

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b) Die nach §§ 463 Abs. 6 Satz 1, 462 Abs. 2 Satz 1 StPO erforderlichen Anhörungen des Verurteilten und der Staatsanwaltschaft sind erfolgt; der Verteidiger des Verurteilten hat für diesen Stellung genommen. Einer mündlichen Anhörung bedurfte es nicht (vgl. etwa HansOLG, Beschluss vom 10. März 2020, Az.: 6 Ws 72/19; Meyer-Goßner/Schmitt, § 462 Rn. 3).

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2. Die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer über die Umkehr der Vollstreckungsreihenfolge ist auch materiell rechtsfehlerfrei ergangen. Zu Recht hat das Landgericht gemäß §§ 67 Abs. 3 Satz 2, Abs. 2 Satz 4 StGB nachträglich bestimmt, dass die Strafe vor der Maßregel zu vollziehen ist.

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a) Gemäß § 67 Abs. 2 Satz 4 StGB soll das Gericht bestimmen, dass die Strafe vor der Maßregel zu vollziehen ist, wenn die verurteilte Person vollziehbar zur Ausreise verpflichtet und zu erwarten ist, dass ihr Aufenthalt im räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes während oder unmittelbar nach Verbüßung der Strafe beendet wird.Eine solche Anordnung kann das Gericht gemäß § 67 Abs. 3 Satz 2 auch nachträglich treffen.

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b) Diese Voraussetzungen der nachträglichen Umkehr der Vollstreckungsreihenfolge liegen hier vor.

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aa) Der Verurteilte ist polnischer Staatsangehöriger und vollziehbar ausreisepflichtig.

15

EU-Bürger besitzen nach § 11 FreizügG/EU einen Sonderstatus; sie sind gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU erst dann vollziehbar ausreisepflichtig, wenn die Ausländerbehörde unanfechtbar festgestellt hat, dass das Recht auf Einreise und Aufenthalt nicht besteht (MüKoStGB/Maier § 67 Rn. 98).

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Mit Verfügung vom 20. Juli 2018 hat das Einwohner-Zentralamt den Verlust des Rechts des Verurteilten auf Einreise und Aufenthalt in der Bundesrepublik festgestellt, was als Freizügigkeitsverlust nach §§ 6, 7 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU ein Einreise- und Aufenthaltsverbot für die Bundesrepublik für die Dauer von 5 Jahren ab nachgewiesener Ausreise zur Folge hat. Der Bescheid vom 20. Juli 2018, in welchem dem Beschwerdeführer zugleich die Abschiebung angedroht und mitgeteilt worden ist, dass diese im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit der Haftentlassung erfolgen soll, ist nach erfolglosem Rechtsmittelverfahren seit dem 19. November 2019 rechtskräftig.

17

bb) Es ist auch zu erwarten, dass der Aufenthalt des Verurteilten im räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes während oder unmittelbar nach Verbüßung der Strafe beendet wird.

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(1) Diese Erwartung kann namentlich dann bejaht werden, wenn der Erlass einer Verfügung nach § 456a Abs. 1 StPO bevorsteht, die Vollstreckungsbehörde mithin von der Vollstreckung der (restlichen) Freiheitsstrafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung absehen wird (etwa KG Berlin, Beschluss vom 6. Juli 2020, Az.: 5 Ws 204/19;Schönke/Schröder/Kinzig StGB § 67 Rn. 20). Im Übrigen ist nicht erforderlich, dass eine Ausreise bzw. Ausweisung in naher Zukunft sicher bevorsteht; es reicht aus, wenn dies nur wahrscheinlich ist (MüKoStGB/Maier StGB § 67 Rn. 101).

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(2) So verhält es sich vorliegend.

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Die Staatsanwaltschaft als Vollstreckungsbehörde wird kurzfristig von der Vollstreckung der Restfreiheitsstrafe und der Maßregel nach § 456a Abs. 1 StPO absehen und veranlassen, dass der Verurteilte sodann zeitnah abgeschoben werden wird.

21

Die Staatsanwaltschaft hat schon mit dem Antrag vom 22. Februar 2021 in Umsetzungder Ermessensrichtlinie der Freien und Hansestadt Hamburg, Justizbehörde, vom 27. Januar 1992, auf Änderung der Vollstreckungsreihenfolge und gleichzeitiger Mitteilung an das Klinikum – Nord über die bevorstehende Beendigung des Maßregelvollzugs unter Bezugnahme auf die Ausreiseverpflichtung des Verurteilten und sodann mit Verfügungen vom 18. März 2021 und 3. Mai 2021 hinreichend den Willen zum Ausdruck gebracht, eine Absehensentscheidung nach § 456a Abs. 1 StPO nach Änderung der Vollstreckungsreihenfolge und Umsetzung des Verurteilten in den Strafvollzug zu treffen.

22

Soweit die Staatsanwaltschaft mit Verfügung vom 3. Mai 2021 auf entsprechende Anfrage der Strafvollstreckungskammer zugleich ergänzend mitgeteilt hat, „von einer Anwendung des § 465a StPO ab Erreichung des 2/3 Termins ... ist auszugehen“, „eine Anwendung des § 465a StPO“ komme „erst dann zur Anwendung, wenn zum Zeitpunkt der geplanten Anwendung eine ausreichend günstige Legalprognose gestellt werden kann“, steht dieses der Erwartung einer Entscheidung nach § 456a StPO nicht entgegen: Da eine Entscheidung nach § 456a StPO anders als diejenigen gemäß § 57 StGB nicht dem Sicherungsinteresse der Allgemeinheit dient und der Kriminalprognose für die Entscheidung über das Absehen von weiterer Vollstreckung in der Regel keine Bedeutung zukommt (OLG Karlsruhe, NStZ-RR 2013, 227), versteht der Senat diese Ergänzung lediglich als vorbehaltenen Hinweis, dass bei einer ungünstigen Legalprognose mit konkreten Rückschlüssen darauf, der Verurteilte werde alsbald wieder nach Deutschland einreisen und hier neue Straftaten begehen (OLG Hamm, Beschluss vom 26. November 2019 – III- 1 VAs 96/19, - juris), in Durchführung der Ermessensrichtlinie der Freien und Hansestadt Hamburg, Justizbehörde, vom 27. Januar 1992 eine frühzeitige Anwendung des § 456a StPO nicht in Betracht kommen könnte.

23

cc) Der nachträglichen Umkehr der Vollstreckungsreihenfolge im Sinne der §§ 67 Abs. 3 Satz 2, 67 Abs. 2 Satz 4 StGB steht nicht entgegen, dass die den Verurteilten zur Ausreise verpflichtende Verfügung vom 20. Juli 2018 schon vor Ergehen des die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt anordnenden Urteils erlassen und rechtskräftig war.

24

Zwar darf eine Entscheidung des Ausgangsgerichts über die Vollstreckungsreihenfolge nicht nachträglich eingreifend korrigiert werden. Das ist jedoch nicht der Fall, wenn nachträglich Umstände zu Tage treten, die dem Tatgericht unbekannt waren und die eine Änderung der Vollstreckungsreihenfolge gebieten.

25

Hier hat das Ausgangsgericht sich mangels Kenntnis der schon damals rechtskräftigen Ausreiseverfügung mit den Voraussetzungen, unter denen nach § 67 Abs. 2 Satz 4 StGB der Vorwegvollzug der Strafe angeordnet werden soll, nicht auseinandergesetzt und insoweit keine Entscheidung getroffen. Unter diesen Bedingungen ist die nachträgliche Umkehr der Vollstreckungsreihenfolge gemäß § 67 Abs. 3 Satz 2 StPO - ebenso wie wenn die Voraussetzungen für eine Umkehr der regelhaften Vollstreckungsreihenfolge erst später entstehen - geboten; § 67 Abs. 3 Satz 2 StPO eröffnet dem Gericht trotz seines Wortlautes („kann“) keinen über die Soll-Regelung des § 67 Abs. 2 Satz 4 StGB hinausgehenden Ermessensspielraum (OLG Celle, Beschluss vom 27. Oktober 2008, Az.: 1 Ws 523/08; KG Berlin, Beschluss vom 6. Juli 2020, Az.: 5 Ws 204/19; Fischer, § 67 Rn. 19).

26

dd) Besondere Gründe, die im Rahmen der Ermessensentscheidung nach §§ 67 Abs. 3 Satz 2, Abs. 2 Satz 4 StGB ein Absehen von einer Umkehr der Vollstreckungsreihenfolge gebieten, liegen nicht vor.

27

Solche Gründe können gegeben sein, wenn der Zustand der betroffenen Person ihre therapeutische Betreuung zur Abwehr unmittelbarer gesundheitlicher Gefahren notwendig erscheinen lässt (BT-Drucks. 16/1110, S. 15) oder wenn der Abschluss einer schon weit fortgeschrittenen Therapie im Einzelfall noch vor Beendigung des Inlandsaufenthalts der verurteilten Person zu erwarten ist (so KG Berlin, a.a.O.).

28

Beides ist hier nicht der Fall.

29

Die Therapie des am 11. Februar 2021 in den Maßregelvollzug aufgenommenen Verurteilten befindet sich nach dem ärztlichen Bericht vom 3. Mai 2021 noch in der Eingangs- und Motivationsphase; ein erfolgreicher Therapieabschluss vor Durchführung der beabsichtigten Abschiebung erscheint demnach ausgeschlossen.

30

Auch die nach dem vorgenannten Bericht im Mai 2021 im Maßregelvollzug durchgeführte medikamentöse Umstellung zur Verbesserung psychotischer Symptome gebietet ebenfalls nicht, von der Umkehr der Vollstreckungsreihenfolge abzusehen. Die bereits eingeleitete entsprechende Medikation kann vom Verurteilten auch im Strafvollzug bzw. nach Abschiebung in seinem Heimatland fortgeführt werden; die Herausnahme aus dem Maßregelvollzug führt schon deshalb nicht zu einer unmittelbaren Gesundheitsgefahr.

III.

31

Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO.

IV.

32

Der Verfahrensgang gibt dem Senat Anlass für nachfolgende Hinweise:

33

1. Ein Beiordnungsantrag des Wahlverteidigers ist bereits unzulässig, wenn er diesen für sich selbst, nicht hingegen namens und in Vollmacht des Verurteilten gestellt hat. Einem Rechtsanwalt steht kein eigenes Recht auf Antragstellung zwecks eigener Beiordnung zu (ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. etwa Senat, Beschluss vom 24. Februar 2021, Az.: 2 Ws 11/21 m.w.N.).

34

2. Vor Erlass einer Entscheidung außerhalb der Hauptverhandlung ist der Staatsanwaltschaft gemäß § 33 Abs. 2 StPO rechtliches Gehör zu gewähren.

35

3. Gemäß § 34 StPO sind durch ein Rechtsmittel anfechtbare Entscheidungen mit Gründen zu versehen. Die floskelhafte Bejahung oder Verneinung der Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO stellt eine Begründung im gesetzlichen Sinne nicht dar (Senatsbeschluss vom 13. Dezember 2013, Az.: 2 Ws 261/13).

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4. Soweit es im Strafvollstreckungsverfahren an ausdrücklichen Vorschriften zur Verteidigerbestellung wie in § 463 Abs. 3 S. 5 StPO fehlt, finden die §§ 140 Abs. 2, 141, 143 StPO nur in den Fällen entsprechende Anwendung, wenn wegen der Schwere des Vollstreckungsfalles, wegen Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage im Vollstreckungsverfahren oder wegen Unfähigkeit des Verurteilten, seine Rechte sachgemäß wahrzunehmen, die Mitwirkung eines Verteidigers ausnahmsweise geboten ist (Senat, a.a.O.; Meyer-Goßner/Schmitt § 140 Rn. 33, 33a m.w.N.).

37

5. Gerichtliche Entscheidungen über die Bestellung eines Pflichtverteidigers sind gemäß § 142 Abs. 7 StPO mit der sofortigen Beschwerde anfechtbar. Da auch die Staatsanwaltschaft eine (insbesondere gesetzwidrige) Beiordnung anfechten kann (Meyer-Goßner/Schmitt, § 142 Rn. 63; vgl. auch HansOLG, Beschluss vom 14. Dezember 2018, Az.: 1 Ws 120/18 unter Hinweis auf deren „Wächterfunktion“), bedürfen diese Entscheidungen stets der Zustellung an den Beschwerdeberechtigten.

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