Beschluss vom Oberlandesgericht Naumburg (1. Zivilsenat) - 1 W 66/12
Tenor
Auf die sofortige Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Landgerichts Halle vom 14. August 2012 teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:
Dem Antragsteller wird für den ersten Rechtszug Prozesskostenhilfe bewilligt, soweit er vom Antragsgegner die Zahlung einer billigen Entschädigung von mindestens 5.500,00 EUR sowie die Feststellung der hälftigen Ersatzpflicht des Antragsgegners für materielle Schäden begehrt. Zur Wahrnehmung seiner Rechte im Rechtsstreit wird dem Antragsteller Rechtsanwältin K. aus M. beigeordnet. Das weitergehende Prozesskostenhilfegesuch wird zurückgewiesen.
Die weitergehende sofortige Beschwerde wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens werden nicht erstattet.
Gründe
I.
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Der Antragsteller beabsichtigt, den Antragsgegner auf Schadensersatz in Anspruch zu nehmen (Schmerzensgeld von mindestens 5.500,00 EUR und Feststellung der Ersatzpflicht materieller Schäden), weil ihn dieser anlässlich eines Festes in der Nacht vom 29. zum 30. Mai 2009 im Zuge einer körperlichen Auseinandersetzung verletzt haben soll (Sprunggelenksfraktur rechts). Der Antragsgegner habe den Antragsteller mit der rechten Hand an den Hals gegriffen und ihn nach hinten geschoben. Hierdurch sei der Antragsteller zu Fall gekommen. Anschließend hätten Schmerzen im rechten Fuß den Antragsteller am Aufstehen gehindert.
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Der Antragsgegner behauptet, der Antragsteller sei stark angetrunken gewesen und habe ihn angegriffen. Beide Parteien hätten sich in einer Rangelei befunden und sodann von dritter Seite einen Stoß erhalten, sodass sie zu Boden gefallen seien. Die Einwirkung des Dritten sei dem Beklagten nach seiner Auffassung nicht zuzurechnen.
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Das Landgericht hat den Prozesskostenhilfeantrag mit Beschluss vom 14. August 2012 zurückgewiesen. Der Antragsteller habe unter Berücksichtigung der Ermittlungsvorgänge der Staatsanwaltschaft nicht hinreichend unter Beweis gestellt, dass die erlittene Verletzung auf den Antragsgegner zurückginge. Keiner der im Ermittlungsverfahren vernommenen Zeugen habe bekunden können, wie es zu dem Bruch des Sprunggelenkes gekommen sei.
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Gegen diese, seiner Bevollmächtigten am 27. August 2012 zugestellte Entscheidung wendet sich der Antragsteller mit der am 25. September 2012 eingegangenen sofortigen Beschwerde. Es sei nicht nachzuvollziehen, wie die notwendige Beweisaufnahme mit großer Wahrscheinlichkeit zum Nachteil des Antragstellers ausgehen solle. Außerdem könne der Zeuge Sp. bekunden, dass es der Antragsgegner gewesen sei, der sich dem Antragsteller in den Weg gestellt und ihn mit der flachen Hand nach hinten gedrückt und zu Fall gebracht habe.
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Der Antragsgegner verteidigt den angefochtenen Beschluss. Der jetzt benannte Zeuge habe ihm erklärt, sich nicht mehr erinnern zu können, da er zu betrunken gewesen sei.
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Das Landgericht hat der Beschwerde nicht abgeholfen und die Sache mit Beschluss vom 9. November 2012 dem Oberlandesgericht zur Entscheidung vorgelegt. Mit dem jetzt benannten Zeugen passe der Antragsteller sein Vorbringen dem angefochtenen Beschluss an, was die Einzelrichterin weder zur Bewilligung von Prozesskostenhilfe noch zur Durchführung einer Beweisaufnahme veranlasse. Der Antragsteller schildere den Sachverhalt jetzt anders.
II.
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Die zulässige sofortige Beschwerde hat in der Sache überwiegend Erfolg. Dem Antragsteller ist für seine Klage auf Schadensersatz unter Berücksichtigung eines hälftigen Mitverschuldens (§§ 823 Abs. 1, 249 Abs. 2 Satz 1, 253 Abs. 2, 254 Abs. 1 BGB) Prozesskostenhilfe zu bewilligen (§§ 114 Satz 1, 121 Abs. 1 BGB). Das Landgericht hat den Begriff der hinreichenden Erfolgsaussicht des § 114 Satz 1 ZPO verkannt, den Sachverhalt unvollständig gewürdigt, möglicherweise den falschen Beweismaßstab zugrunde gelegt und sich nicht damit auseinander gesetzt, dass sich der Antragsteller auf einen typischen Geschehensablauf stützen kann.
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Die Prüfung der Erfolgsaussichten darf nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung in das summarische Verfahren der Prozesskostenhilfe zu verlagern und dieses an die Stelle der Hauptsache treten zu lassen. Das Prozesskostenhilfeverfahren soll den Rechtsschutz ermöglichen und ihn nicht bieten. Dort, wo eine Beweisaufnahme ernsthaft in Betracht kommt, ist sie dem Hauptsacheverfahren mit dem dort geltenden Grundsatz der Unmittelbarkeit (vgl. § 355 Abs. 1 Satz 1 ZPO) vorbehalten. Deshalb ist eine zur Zurückweisung des Prozesskostenhilfegesuchs führende Beweisantizipation nur solange zulässig, wie konkrete und nachvollziehbare Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Beweisaufnahme mit großer Wahrscheinlichkeit zum Nachteil des Antragsstellers ausgehen wird (BVerfG NJW 2003, 2976, 2977; 2010, 288 f.), und deshalb eine vernünftig und wirtschaftlich denkende Partei, die den Prozess selbst finanzieren müsste, wegen des absehbaren Misserfolgs von einer Prozessführung absähe (OLG Köln NJW-RR 2001, 791). Diese Voraussetzungen stellt das Landgericht nicht fest und sie liegen auch nicht vor.
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Vielmehr würdigt die Einzelrichterin die aus der Ermittlungsakte hervorgehenden Aussagen der Zeugen verhältnismäßig umfangreich, ohne dass diese Sicht der Dinge auch nach Durchführung einer eigenen Beweisaufnahme des Prozessgerichts zwingend erscheint. Denn die sich aus der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme ergebenden Möglichkeiten, Zeugen direkt zu befragen, mit Vorhalten zu konfrontieren und sich ein Bild von ihrer Glaubwürdigkeit zu verschaffen sowie die Parteien anzuhören, bieten bessere und unter Umständen zu einem anderen Ergebnis führende Erkenntnismöglichkeiten. Dem Antragsteller soll die Prozesskostenhilfe gerade die Gelegenheit geben, sein Vorbringen unter Ausschöpfung aller im Verfahren der Zivilprozessordnung zur Verfügung stehenden Sachaufklärungsmöglichkeiten zu beweisen. Hinreichende Erfolgsaussichten bestehen daher schon dann, wenn das Gericht nach einer Beweisaufnahme zu einer umfangreichen Beweiswürdigung gezwungen sein wird.
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Aber unabhängig davon überzeugen die Ausführungen des Landgerichts bereits deshalb nicht, weil der Inhalt der Beschuldigtenvernehmung des Antragsgegners vom 10. Juni 2009 unberücksichtigt blieb. Dort hat der Antragsgegner den vom Antragsteller geschilderten Sachverhalt zumindest insoweit bestätigt, als beide Parteien bei einer Rangelei ohne Einwirkung eines Dritten zu Fall kamen. Zur vom Landgericht vermissten Kausalität zwischen der Einwirkung des Antragsgegners und der Verletzung des Antragstellers hat der Antragsgegner bekundet, dass das Bein des Antragstellers vor der Rangelei noch in Ordnung gewesen sei. Danach habe der Antragsteller die Verletzung aufgewiesen. Dies führt zur Anwendung des Anscheinsbeweises, der gerade in Bezug auf den Ursachenzusammenhang in Betracht kommt (Zöller/Greger, ZPO, 29. Aufl., vor § 284 Rdn. 30) und dem Antragsteller auch die Darlegung erleichtert.
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Der Beweis des ersten Anscheins greift bei typischen Geschehensabläufen ein, in denen ein bestimmter Tatbestand nach der Lebenserfahrung auf eine bestimmte Ursache für den Eintritt eines bestimmten Erfolges hinweist, wobei bereits bei der Bestimmung des typischen Lebenssachverhalts zu berücksichtigen ist, dass für andere Ursachen keine Anhaltspunkte bestehen (BGH NJW 2010, 1072 f.). War der Antragsteller vor dem Kontakt mit dem Antragsgegner noch gesund und konnte er anschließend nicht mehr aufstehen und laufen, spricht die Lebenserfahrung dafür, dass sich der Antragsteller die Verletzung während und infolge der Rangelei mit dem Antragsgegner zuzog. Es wäre danach Sache des Antragsgegners, konkrete Anhaltspunkte für ein abweichendes Geschehen darzulegen. Das ist keineswegs der vermeintliche Stoß eines Dritten. Dieser hob den Tatbeitrag des Antragsgegners nicht auf. Für die Schadensersatzverpflichtung genügt Mitursächlichkeit. Im Übrigen gilt § 830 Abs. 1 Satz 2 BGB.
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Sollte sich bei einer Beweisaufnahme sogar die vom Antragsteller behauptete Tätlichkeit des Antragsgegners bestätigen, wäre damit bereits die haftungsbegründende Kausalität im Sinne von § 823 Abs. 1 BGB bewiesen. Welche Folgen die Körperverletzung hervorrief, also insbesondere die durch den Sturz vermittelte Fraktur, wäre dann eine im Rahmen des § 287 Abs. 1 ZPO zu beantwortende Frage der Haftungsausfüllung (BGH NZV 2004, 27, 28; Zöller/Greger, § 287 Rdn. 3).
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Nach den bisher vorgetragenen Umständen trifft den Antragsteller allerdings zumindest ein hälftiges Mitverschulden an der eigenen Verletzung (§ 254 Abs. 1 BGB). Er war, was den Strafakten zu entnehmen ist (Anzeige des Antragstellers, Aussage des Zeugen K. und Beschuldigtenvernehmung des Antragsgegners), alkoholisiert, konnte seine Bewegungen also nicht mehr ausreichend koordinieren und ist der Auseinandersetzung mit dem Antragsgegner nicht aus dem Weg gegangen, wenn er sie nicht sogar suchte. Angesichts der erlittenen Verletzung, ihrer Behandlung, ihres Heilungsverlaufs und der fortbestehenden Spätfolgen ist das vorgestellte Schmerzensgeld von mindestens 5.500,00 EUR dennoch nicht von vornherein unangemessen. Die begehrte Feststellung kann hingegen nur die Hälfte des Schadens umfassen.
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Nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen ist der Antragsteller nicht in der Lage, die Kosten der Prozessführung ganz, zum Teil oder in Raten aus seinem Einkommen oder Vermögen aufzubringen (§§ 114 Satz 1, 115 Abs. 1 Sätze 1 bis 6, Abs. 2, Abs. 3 Satz 1 ZPO i.V.m. Ziff. 2 PKHB 2012).
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Die Beiordnung seiner Bevollmächtigten beruht auf § 121 Abs. 1 ZPO.
III.
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Die Auslagenentscheidung entspricht § 127 Abs. 4 ZPO.
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Referenzen
- BGB § 253 Immaterieller Schaden 1x
- BGB § 254 Mitverschulden 2x
- ZPO § 121 Beiordnung eines Rechtsanwalts 1x
- BGB § 121 Anfechtungsfrist 1x
- BGB § 830 Mittäter und Beteiligte 1x
- ZPO § 355 Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme 1x
- BGB § 249 Art und Umfang des Schadensersatzes 1x
- ZPO § 287 Schadensermittlung; Höhe der Forderung 1x
- ZPO § 127 Entscheidungen 1x
- §§ 114 Satz 1, 121 Abs. 1 BGB 1x (nicht zugeordnet)
- ZPO § 114 Voraussetzungen 1x
- BGB § 823 Schadensersatzpflicht 2x