Urteil vom Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz (1. Senat) - 1 C 11004/12


Tenor

Der am 25. August 2011 beschlossene Bebauungsplan Nr. ... I „Im Ungefüg“ der Antragsgegnerin wird für unwirksam erklärt.

Die Kosten des Verfahrens hat die Antragsgegnerin zu tragen.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Antragsgegnerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der festzusetzenden Kosten abwenden, wenn nicht der Antragsteller vor der Vollstreckung in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Der Antragsteller wendet sich gegen den Bebauungsplan der Antragsgegnerin „Nr. ... I – Im Ungefüg“ vom 25.08.2011. Er ist Miteigentümer des von ihm selbst bewohnten Hauses G...-Straße ..., ... N... Das Plangebiet liegt am nordwestlichen Ortsrand des Stadtteils F... in der Gemarkung W... (Flur ...) und hat eine Größe von etwa 3,2 ha. Das Grundstück des Antragstellers soll mit weiteren bislang bebauten und unbebauten Grundstücken Bestandteil des Plangebietes sein, indem die Bebauung des Ortsteils F... nach Norden hin weiter geführt wird und etwa 15 neue Bauplätze in einem „Allgemeinen Wohngebiet“ gemäß § 4 BauNVO unter Ausschluss der in Abs. 3 der Norm genannten Betriebe und Anlagen bereit gestellt werden sollen. Es ist vorgesehen, dass die neuen Baugrundstücke über die G...-Straße, die K...-Straße und den G...weg sowie über eine künftige weitere Stichstraße, die vom G...weg abführen soll, erschlossen werden. Das Bebauungsplangebiet befindet sich im Naturpark Rhein-Westerwald und ist entsprechend einem landespflegerischen Planungsbeitrag der Firma Biotop C... S... vom November 2003 in der Biotopkartierung erfasst als „großflächiger Komplex Streuobstwiesen und Magergrünland eines ehemals geschlossenen Obstwiesengürtels im Bereich des Neuwieder Beckenrandes“.

2

In einem ersten Planungsverfahren hatte die Antragsgegnerin den gleichnamigen Vorgängerbebauungsplan am 08.06.2006 als Satzung beschlossen und am 21.06.2006 ortsüblich öffentlich bekannt gemacht. Der ursprüngliche Aufstellungsbeschluss des Stadtrats der Antragsgegnerin stammte bereits vom 20.06.1996, die öffentliche Bekanntmachung vom 29.06.1996. Der Senat hat den Bebauungsplan vom 21.06.2006 mit Urteil vom 02.10.2007 (1 C 10503/07.OVG) für unwirksam erklärt, und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, die Abwägung betreffend den in der Nähe befindlichen Schießstand sei unzureichend. Denn der Bebauungsplan der Antragsgegnerin genüge im Hinblick auf mögliche Lärmimmissionen nicht den Anforderungen an eine ordnungsgemäße Konfliktbewältigung. Zugleich hat der Senat angeregt, hinsichtlich des Arten- und Naturschutzes eine fachliche Stellungnahme einzuholen.

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Am 05.03.2008 fasste der Stadtrat der Antragsgegnerin den Beschluss zur Einleitung eines ergänzenden Verfahrens und beschloss gleichzeitig, dass während der erneuten Offenlage Anregungen ausschließlich zu den geänderten Planinhalten vorgebracht werden könnten. Die erneute Offenlage erfolgte parallel mit der Beteiligung der Behörden in der Zeit vom 08.06. bis 07.07.2010, die Anhörung beschränkte sich auf die mit der Nachbarschaft der Schießstände verbundenen Immissionsschutzbelange sowie auf die naturfachliche Bewertung der in Anspruch genommenen Flächen sowie der vorgesehenen Ausgleichsflächen. Mit Satzungsbeschluss vom 25.08.2011 wurde der Bebauungsplan beschlossen und rückwirkend zum 21.06.2006 in Kraft gesetzt. Die öffentliche Bekanntmachung erfolgte in der Rhein Zeitung (Ausgabe Neuwied) vom 26.09.2011. Ergänzende Grundlage der Abwägung der Immissionsschutzbelange war nunmehr eine Erklärung der Schützengesellschaft W... vom 10.03.2010, in der sich der Erste Vorsitzende für den Verein verpflichtet, die Nutzungszeiten der Schießstandanlage in der Regel auf die Tageszeit bis 22:00 Uhr zu beschränken und im Falle einer Nutzung des Schießstandes nach dieser Zeit durch entsprechende geeignete lärmmindernde Maßnahmen (zum Beispiel Verwendung „lärmreduzierter Munition“) den entsprechenden Nachtrichtwert eines allgemeinen Wohngebietes von 40 dB(A) – gemessenen an der in ca. 140 m Entfernung vom Schießstand gelegenen Wohnbebauung – einzuhalten.

4

Die textlichen Festsetzungen - Stand Februar 2011 - entsprechen im Wesentlichen der Vorgängerfassung. Änderungen – kursiv gedruckt bzw. farbig umrandet aufgenommen – ergeben sich insbesondere hinsichtlich Ziffer 7.0 („Flächen oder Maßnahmen zum Schutz, zur Pflege und zur Entwicklung von Boden, Natur und Landschaft gemäß § 9 Abs. 1 Nr. 20 BauGB“). Danach ist die Rodung von Gehölzen im Plangebiet nur in dem Zeitraum vom 1. bis zum 15. Oktober zulässig. Ferner ist vor Beginn der Rodungsarbeiten sicherzustellen, dass die zu rodenden Bäume nicht mit Fledermäusen besetzt sind. Unter Ziffer 13.0 finden sich darüber hinaus "Empfehlungen“ für weitere Artenschutzhilfsmaßnahmen gemäß einem im Planungsverfahren eingeholten artenschutzrechtlichen Gutachten vom November 2009. Danach sind hinsichtlich der Rodung der Obstbäume bestimmte weitere Maßgaben zu beachten und finden sich weitere Empfehlungen hinsichtlich der Aufbringung des Mahdguts und der Pflege der landwirtschaftlichen Fläche am nordöstlichen Rand des Plangebietes (Rodelhang) im Hinblick auf eine extensive Nutzung.

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Mit seinem Normenkontrollantrag vom 21.09.2012 macht der Antragsteller im Wesentlichen geltend:

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Der Planung fehle die Erforderlichkeit nach § 1 Abs. 3 BauGB. Dies ergebe sich schon daraus, dass das Planverfahren bereits mit dem Aufstellungsbeschluss vom 20.06.1996 eingeleitet worden sei und es zur Aufstellung des Bebauungsplans eines Zeitraumes von nunmehr 16 Jahren bedurft habe. Im Hinblick auf die Bevölkerungsentwicklung der Stadt Neuwied und der Umlandgemeinden bis zum Jahre 2050 sei mit dem Rückgang der Bevölkerungszahlen auch ein Rückgang des Bedarfs an Baugrundstücken anzunehmen. Nach dem allgemein zugänglichen statistischen Material sei in Rheinland-Pfalz bis zum Jahr 2050 ein Überschuss von 86.231 Wohnungen zu erwarten, wobei überproportional größere Wohnungen oder Einfamilienhäuser betroffen wären. Dies habe zur Konsequenz, dass es keinen größeren Baulandbedarf für eine Einfamilienhausbebauung mehr in Neuwied gebe.

7

Der Erforderlichkeit der Planung stehe auch entgegen, dass die geplante Bebauung sich zwischen zwei seit Jahrzehnten betriebenen Schießständen befinde, die unmittelbar an das Bebauungsplangebiet angrenzten. Der Schießstand der Schützengesellschaft W... befinde sich in einer Entfernung von rund 170 m zum Planbereich, der Schießstand der Schützengilde F... nur 90 m, wobei beide Schießanlagen Bestandsschutz beanspruchten. Ein allgemeines Wohngebiet in unmittelbarer Nähe stehe dem entgegen und verstoße damit gegen das Gebot der Rücksichtnahme. Es stelle auch ein Abwägungsdefizit dar, dass als Maßnahme gegen die hiermit einhergehende Beeinträchtigung lediglich ausgeführt sei, dass zur Schallminderung eine nächtliche Nutzung der Schießanlage der Schützengesellschaft W... nach 22.00 Uhr durch entsprechende vertragliche Vereinbarungen untersagt werden solle. Die Immissionsgrenzwerte könnten daher nicht eingehalten werden, sodass eine dem Gebot der Rücksichtnahme entsprechende Regelung nicht ersichtlich sei. Die Erklärung der Schützengesellschaft W... e.V. beseitige dieses Defizit nicht, da sie keine vertragliche Vereinbarung enthalte und auch nicht als Regelung durchsetzbar wäre. Weder stünde damit fest, dass Schießsport nach 22.00 Uhr nicht betrieben werde, noch was unter dem Begriff „lärmreduzierter Munition“ zu verstehen sei.

8

Die Bebauungsplanung stelle sich im Ergebnis auch als abwägungsfehlerhaft im Hinblick auf den mit der Bebauung verbundenen Eingriff in die Natur- und Landschaftspflege dar. Bei den zur Bebauung vorgesehenen Flächen handele es sich um ökologisch wertvolle landwirtschaftliche Flächen sowie am Rande des Neuwieder Beckens selten gewordenen Streuobstwiesen von erheblicher floristischer und faunistischer Bedeutung. Dies sei auch im Hinblick auf die weitere Begutachtung hervorgehoben worden. Der Bebauungsplan widerspreche damit auch dem Schutzzweck der Landesverordnung über den Naturpark Rhein-Westerwald vom 18.08.1978.

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Kern des Bebauungsplanes sei es, die Baugrenze in einer exponierten Randhöhenlage des Neuwieder Beckens weiter in die freie Landschaft zu verschieben und damit in ein geschlossenes Ökosystem einzugreifen, was weder notwendig noch gerechtfertigt sei. Dabei könnten sowohl die faunistischen Untersuchungen mit Stand Januar 2003 als auch der landespflegerische Planungsbeitrag keine hinreichend qualifizierte Abwägungsgrundlage für den Bebauungsplan darstellen. Jahreszeitlich hinreichend aussagekräftige Daten seien nach wie vor nicht vorhanden, eine ausreichende Auseinandersetzung mit den zum Teil differierenden Daten aus den Feststellungen 2002 und 2009 sei nach wie vor nicht erfolgt. Weiterhin sei zu bemängeln, dass bisher kein eigenständiges landespflegerisches Maßnahmekonzept unter Berücksichtigung der vorliegenden Planungsabsichten entwickelt worden sei, dass im Rahmen der Abwägung zu berücksichtigen gewesen wäre. Streng geschützte Arten seien nicht hinreichend berücksichtigt worden, insbesondere mit Blick auf die Flächenreduktion, die Bedeutung der Solitäreichen, die Abschirmungspflanzung und die Ausgleichsempfehlungen. Hinsichtlich der Eingriffskompensation bleibe auch unberücksichtigt, dass es sich bei den Parzellen in W... bereits um Dauergrünlandflächen handele, so dass insgesamt eine vollwertige Kompensation nicht gegeben sei. Soweit Ausgleichsmaßnahmen in Engerser Feld angedacht seien, stellten diese keine Verbesserung für die lokal betroffenen streng geschützten Arten dar und seien somit ungeeignet. Diese Flächen hätten einen anderen Charakter, als die überplanten, und wiesen einen gänzlich anderen floristischen und faunistischen Siedlungscharakter auf, als die Hangflächen an der Beckenrandhöhenlage.

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Sowohl hinsichtlich der Landespflege, als auch hinsichtlich des Artenschutzes seien die eingeholten artenschutzrechtlichen Untersuchungen und Gutachten unzureichend. Bei der artenschutzrechtlichen Bestandsaufnahme seien insbesondere die Zauneidechse, die Blindschleiche, die Ringelnatter und die Schlingnatter zu berücksichtigen. Es sei nicht nachvollziehbar, dass eine qualifizierte Untersuchung dieser Artengruppen erfolgt sei, was schon die Erfassung und Beschreibung der betroffenen Habitatsflächen (Lage, Abgrenzung, Vernetzung) betreffe. Auch hinsichtlich der übrigen Arten – insbesondere Fledermäuse, Avifauna und Insekten – sei eine qualifizierte Bestandsaufnahme nach den Methoden des Bundesamtes für Naturschutz zur Erfassung von Arten der Anhänge IV und V der FFH-Richtlinie im geplanten Baugebiet unbedingt notwendig und bisher nicht erfolgt. Nach alledem seien hinsichtlich der Planung gravierende Abwägungsmängel festzustellen, die zur Aufhebung der Planung führen müssten. Es sei daher auch zu bezweifeln, ob der Bebauungsplan vor diesem Hintergrund bereits nach § 13 BauGB habe geändert werden können. Diese Norm diene in erster Linie nicht der Fehlerkorrektur von Bebauungsplänen, sondern der Fortschreibung einer bestehenden und rechtmäßigen Planung, was vorliegend nicht der Fall sei.

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Der Antragsteller beantragt,

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den Bebauungsplan der Stadt Neuwied Nr. ... I „Im Ungefüg“ im Stadtteil F... vom 25.08.2011/21.09.2011 für unwirksam zu erklären.

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Die Antragsgegnerin beantragt,

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den Normenkontrollantrag abzulehnen.

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Sie trägt vor, der Antragsteller sei bereits nicht antragsbefugt im Sinne von § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO, weil er kein subjektives Recht geltend machen könne. Der Antrag sei aber im Übrigen jedenfalls unbegründet. Soweit der Antragsteller die fehlende Erforderlichkeit der Planung geltend mache – Bevölkerungsentwicklung, Wohnbedarf und demografische Entwicklung – sei auf die Entscheidung des Senats im Urteil vom 02.10.2007 (1 C 10503/07.OVG) hinzuweisen. Hinsichtlich der im vorgenannten Urteil des Senats beanstandeten Konfliktbewältigung betreffend die von einem Schießstand ausgehenden Immissionen sei die Konfliktlage durch eine entsprechend konkrete Verpflichtungserklärung der Schützengesellschaft W... e.V. 1933 bearbeitet worden. Diese beziehe sich auf eine Begrenzung der Nutzungszeiten, die Einhaltung des Nachtrichtwertes von 40 dB(A) durch lärmmindernde Maßnahmen sowie die Verwendung lärmreduzierter Munition. Weitere betriebliche oder bauliche Lärmminderungsmaßnahmen kämen konkret in Betracht, was etwa auch die Überdachung der Schießbahn oder die Verwendung bestimmter Waffentypen betreffen könne. Welche Maßnahmen letztlich zum Einsatz kämen, sei mit der Verpflichtungserklärung nicht vorgegeben. Diese sei aber gegenüber der Antragsgegnerin abgegeben worden, sodass die damit korrespondierenden Rechte auch von ihr geltend gemacht und gegebenenfalls durchgesetzt werden könnten.

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Zu den Fragen von Landespflege und Artenschutz habe die Antragsgegnerin auf die Anregung des erkennenden Senats im Urteil vom 02.10.2007 ein fachlich qualifiziertes Büro mit der nochmaligen Untersuchung und Überprüfung des ursprünglichen landespflegerischen Landesbeitrages aus dem Jahre 2003 beauftragt. Auf der Grundlage der erneuten Prüfung sei der Bebauungsplan durch entsprechende textliche Festsetzungen und Empfehlungen sowie einen räumlich begrenzten Teilbereich grafisch geringfügig ergänzt worden. Hinsichtlich des Verfahrens sei darauf hinzuweisen, dass sich die Wiederholung von einzelnen Verfahrensschritten allein an der Reichweite von festgestellten Mängeln und der beabsichtigten Planänderung zu orientieren habe. Die erneute Öffentlichkeits- und Behördenbeteiligung habe analog zum vereinfachten Verfahren gemäß § 13 BauGB erfolgen können, da die Grundzüge der Planung nicht berührt gewesen seien. Die Beteiligung der Behörden und der Öffentlichkeit an der ergänzenden Planung sei schließlich durch eine einmonatige Offenlage gemäß § 3 Abs. 2 BauGB durchgeführt worden, die Stellungnahmen seien nur zu den Änderungsinhalten zulässig gewesen. Ergänzend sei auf die Ausführung der Planungsabteilung der Antragsgegnerin in der „Stellungnahme zu Punkt 2.7 – Abwägungsfehler hinsichtlich landespflegerischer und artenschutzrechtlicher Belange“ als Anhang zum Schriftsatz vom 04.04.2013 zu verweisen.

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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte einschließlich der Schriftsätze der Beteiligten sowie auf die beigezogenen Planungsakten der Antragsgegnerin (4 Ordner und 2 Pläne) und die Gerichtsakte 1 C 10503/07.OVG. Diese Unterlagen waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe

A.

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Der gemäß § 47 Abs. 1 Nr. 1 VwGO statthafte sowie unter Einhaltung der Jahresfrist des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO gestellte Normenkontrollantrag ist auch ansonsten zulässig. Die Antragsbefugnis eines Grundstückseigentümers wegen möglicher Eigentumsverletzung ist regelmäßig dann gegeben, wenn er sich - wie vorliegend - als Eigentümer eines im Plangebiet gelegenen Grundstücks gegen eine bauplanerische Festsetzung wendet, die unmittelbar sein Grundstück betrifft (vgl. BVerwG, Beschluss vom 22.08.2000, NVwZ 2000, 1413 m.w.N.).

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Unerheblich ist dabei, ob der Antragsteller zugleich Motive verfolgt, die ihm allein eine Antragsbefugnis im Normenkontrollverfahren nicht verleihen würden, wie etwa der Natur- und Landschaftsschutz, der Schutz seiner Aussicht oder das "Verschontbleiben" von Erschließungsbeitragskosten (zu letzterem: Urteil des Senats vom 09.11.2011 – 1 C 10021/11, ESOVG) im Zuge der Herstellung der bisher nur provisorisch errichteten Straßen. Der Hinweis der Antragsgegnerin auf die von dem Antragsteller während der Planaufstellung gerügten zukünftigen Ausbaumaßnahmen können daher die Zulässigkeit des Antrags nicht berühren.

B.

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Der Normenkontrollantrag ist auch begründet.

I.

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Die Begründetheit des Normenkontrollantrags folgt zunächst daraus, dass die Antragsgegnerin ihre Verfahrenswahl auf § 13 BauGB gestützt hat. So heißt es etwa in der Begründung zum Bebauungsplan (Seite 1):

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„Da die Änderungsinhalte die Grundzüge der Planung nicht berühren und auch die weiteren Voraussetzungen gem. § 13 Abs. 1 Nr. 1 (keine Umweltverträglichkeitspflicht) und Nr. 2 BauGB (keine Beeinträchtigung des Erhaltungszieles und des Schutzzwecks der Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung und der Europäischen Vogelschutzgebiete) erfüllt sind, kann der Rechtsfehler im Rahmen eines vereinfachten Änderungsverfahrens gem. § 13 BauGB geheilt werden.“

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§ 13 Abs. 1 BauGB lässt ein vereinfachtes Verfahren der Bauleitplanung unter anderem zur Ergänzung oder Änderung eines Flächennutzungs- oder Bebauungsplans zu, sofern hierdurch die Grundzüge der Planung nicht berührt werden. Der zu ändernde oder zu ergänzende Plan muss jedoch bereits in Kraft gesetzt sein (Krautzberger in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB § 13 Rn. 15;Gierke, in: Brügelmann, Baugesetzbuch, § 13, Rn. 19). Dies bedeutet, dass der Plan zum Zeitpunkt der Anwendung des Verfahrens von § 13 BauGB wirksam sein muss. Eine rückwirkende Inkraftsetzung im ergänzenden Verfahren gemäß § 214 Abs. 4 BauGB ist für die Anwendung von § 13 BauGB dagegen nicht ausreichend. Vielmehr ist § 214 Abs. 4 BauGB als eigenständige Regelung anzusehen, die unabhängig von § 13 BauGB zur nachträglichen Änderung eines vorläufig aufgehobenen Bebauungsplans dient. So stellt auch in den Fällen des § 214 Abs. 4 BauGB das Gesetz anders als in § 13 Abs. 1 BauGB nicht ausdrücklich auf die „Grundzüge der Planung“ ab; gleichwohl ist es nicht zulässig, durch das ergänzende Verfahren die „Identität der Satzung“ zu verändern (vgl. BT-Drucks. 13/6392, S. 38; Krautzberger in: Ernst/-Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB § 13 Rn. 17; Battis, in: Battis/Krautzberger/Löhr, § 214 Rn. 24 m.w.N.).

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Auch für eine analoge Anwendung des § 13 BauGB – auf die sich die Antragsgegnerin im Planaufstellungsverfahren gestützt hat – ist mangels eine unbeabsichtigten Regelungslücke kein Raum. Da die Frage nach der Reichweite des § 214 Abs. 4 BauGB ist seit längerem Gegenstand von Erörterungen in Literatur und Rechtsprechung ist, war die Regelungslücke dem Gesetzgeber zweifellos bekannt. Hätte er dies gewollt, hätte der Gesetzgeber daher ohne weiteres in § 214 Abs. 4 BauGB einen Verweis auf § 13 BauGB aufnehmen können. Dies ist aber nicht geschehen; eine analoge Anwendung des § 13 Abs. 1 BauGB scheidet daher aus.

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Anders ist etwa der Fall zu betrachten, wenn eine Gemeinde während eines Normenkontrollverfahrens ein ergänzendes Verfahren durchführt, nach dem im Eilverfahren ein Teil des Bebauungsplans suspendiert worden ist. Gegenstand des Normenkontrollantrags ist in diesem Fall der Bebauungsplan in der Gestalt, den er durch das ergänzende Verfahren gefunden hat (OVG Koblenz, Urteil vom 20.01.2011 – 1 C 11082/09, BauR 2011, 970). Die Änderung des Bebauungsplans während des Verfahren 1 C 11082/09.OVG gemäß § 13 BauGB war davon geprägt, dass der Senat den Bebauungsplan nur insoweit suspendiert hatte als eine Überschreitung der Geschossflächenzahlen (GFZ) nach § 17 Abs. 1 BauNVO infrage stand. Der im Übrigen als wirksam zu behandelnde Plan konnte daher nach Maßgabe von § 13 BauGB einer Änderung unterzogen werden.

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Demgegenüber ist im hier vorausgegangen Verfahren 1 C 10503/07.OVG der Plan rechtskräftig vollständig aufgehoben, der Senat hat dabei eine Änderung des Plans nach § 214 Abs. 4 BauGB für möglich erachtet, aber gerade nicht auf § 13 BauGB verwiesen. Das Normenkontrollgericht ist im Übrigen – ohne dass es vorliegend darauf ankäme – nicht befugt, in seiner Entscheidungsformel verbindlich auszusprechen, ob eine Heilungsmöglichkeit im ergänzenden Verfahren besteht oder nicht. Erst recht besteht hierzu keine Verpflichtung (vgl. BVerwG, Beschl. v. 14.07.2011 – 4 BN 8.11, ZfBR 2012, 36), so dass es sich nur um Empfehlungen handeln kann.

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Der Fehler war auch nicht gemäß § 214 Abs. 1 Nr. 2 Hs. 2 Alt.3 BauGB unbeachtlich. Danach tritt die Unbeachtlichkeit dann ein, wenn die Voraussetzungen für die Durchführung der Beteiligung verkannt worden sind. Aus der Verwendung der Wortfolge „…die Voraussetzungen …nach diesen Vorschriften verkannt worden sind…“ folgt, dass ein beachtlicher Fehler nur vorliegt, wenn sich die Gemeinde bewusst über die Bestimmungen hinwegsetzt und das vereinfachte Verfahren anwendet, obwohl ihr bekannt ist, dass die Voraussetzungen tatsächlich nicht gegeben sind (OVG Lüneburg, Urteil vom 23.08.1993 - 6 K 3108/91, UPR 1994, 114; Stock in: Ernst / Zinkahn / Bielenberg / Krautzberger, BauGB § 214 Rn 54; Lemmel in: Berliner Kommentar, BauGB § 214 Rn 32). Von einem „Verkennen“ kann daher nur dann die Rede sein, wenn die Planung auf einer objektiven Fehleinschätzung oder -beurteilung der Voraussetzungen durch die Gemeinde beruht; bei einem bewussten Verstoß gegen die gesetzlichen Anforderungen werden diese nicht verkannt, sondern nicht beachtet. Da es hier - wie bereits ausgeführt - der Antragsgegnerin bewusst war, dass § 13 BauGB nicht unmittelbar Anwendung finden kann, kann demzufolge von einem Verkennen nicht ausgegangen werden. Die Voraussetzungen für eine ausnahmsweise Unbeachtlichkeit nach § 214 Abs. 1 Nr. 2 Hs. 2 Alt.3 BauGB liegen daher nicht vor; die Anwendung des § 13 BauGB ist ein beachtlicher Verfahrensfehler.

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Es ist auch nicht so, dass die Unterschiede in der Verfahrensart gänzlich folgenlos geblieben wären. Folge der Anwendbarkeit von § 13 BauGB ist das Absehen von einer Umweltprüfung nach § 2 Abs. 4 BauGB, von dem Umweltbericht nach § 2a BauGB, von der Angabe nach § 3 Abs. 2 Satz 2 BauGB, welche Arten umweltbezogener Informationen für die Planung verfügbar sind, sowie von einer zusammenfassenden Erklärung nach § 6 Abs. 5 Satz 3 und § 10 Abs. 4 BauGB. Gemäß § 2a BauGB bedarf es eines Umweltberichts, um die auf Grund der Umweltprüfung nach § 2 Abs. 4 BauGB ermittelten und bewerteten Belange des Umweltschutzes darzulegen. Der Umweltbericht bildet einen gesonderten Teil der Begründung und ist damit auch Grundlage der Abwägung. Die Erstellung eines Umweltberichts stellt im Grunde eine Prüfliste für die planende Gemeinde dar, die verhindert, dass wichtige Angaben aus den Gutachten und Erkenntnisquellen übersehen werden und in der Abwägung unberücksichtigt bleiben (vgl. etwa Schaetzell/Busse/Dirnberger, Praxis der Kommunalverwaltung (PdK-Bund), Der Umweltbericht, Nr. 3 zu § 2a BauGB). Gutachten und Erkenntnisquellen ersetzen mithin nicht eine zusammenfassende Abwägung von umweltrelevanten Belangen.

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Sachgerecht wäre daher ein Verfahren im Rahmen des § 214 Abs. 4 BauGB gewesen, welches zwar die bereits durchgeführten frühen Verfahrensschritte nicht wiederholt, jedoch die in den Gutachten gefundenen Feststellungen in einem zusammenfassenden Bericht bzw. einem Umweltbericht nach § 4a BauGB zusammenträgt und anschließend einer gesonderten Abwägung nach § 1 Abs. 7 BauGB zuführt, in der die Wertigkeit der Flächen für den Gebietsschutz und den Artenschutz dem Bedarf der Antragsgegnerin an Ausweisung von Bauland gegenüberstellt werden. Dies wurde bereits im Urteil des Senats vom 02.10.2007 vorgezeichnet; denn mit der Wendung

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„… wäre vor Fassung eines neuen Satzungsbeschlusses zu bedenken, gegebenenfalls zu der vom Antragsteller vorgebrachten Kritik hinsichtlich der bisherigen Einschätzungen betreffend den Arten- und Naturschutz eine fachliche Stellungnahme einzuholen und diese bei der Abwägung zu berücksichtigen.“

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wurde klargestellt, dass keinesfalls auf eine umfassende Abwägung zu verzichten sei und die Vorlage der naturschutzfachlichen Gutachten eben nicht als bloßer – formaler – Verfahrensfehler zu heilen wäre. Die Begründung in der Beschlussvorlage vom 17.03.2011 erscheint aus der Sicht des Senats daher als nicht ausreichend. Denn es ist auf der Grundlage der Erkenntnisse aus den naturschutzfachlichen Gutachten keineswegs selbstverständlich, dass die dort festgestellten ökologisch werthaltigen Flächen einer Bebauung zugeführt werden müssen, sofern dies ausreichend kompensiert werden könnte. Vielmehr wäre es auch denkbar, dass die Gemeinde im Rahmen der ihr zustehenden Planungshoheit vor dem Hintergrund der Hochwertigkeit dieser Flächen von einer solchen Bebauung – gegebenenfalls auch teilweise – absieht oder die Planung entsprechend ändert und Alternativflächen ausweist oder nutzt (siehe zur Alternativprüfung auch OVG RP, Urteil vom 23.01.2013 – 8 C 10946/12, ESOVG). War nach alledem die Wahl des Verfahrens nach § 13 BauGB nicht planungsrechtlich unbeachtlich, so war der Plan bereits aus diesem Grunde unwirksam, ohne dass es auf eine gesonderte Kausalitätsprüfung angekommen wäre.

II.

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Es kann vor diesem Hintergrund offen bleiben, ob der Bebauungsplan den Anforderungen von § 2 Abs. 3 i.V.m. § 214 Abs. 1 Nr. 1 BauGB genügt.

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Voraussetzung einer ordnungsgemäßen Abwägung ist, dass die betroffenen Belange zunächst ordnungsgemäß ermittelt und eingestellt worden sind. Das nunmehr als Verfahrensnorm ausgestaltete Gebot des § 2 Abs. 3 BauGB tritt selbständig vor die (inhaltlichen) Anforderungen an die verhältnismäßige Gewichtung und den gerechten Ausgleich der konkurrierenden Belange gemäß § 1 Abs. 7 BauGB und das Gebot nach § 2 Abs. 2 BauGB (vgl. OVG RP, Urteile vom 06.05.2009, 1 C 10970/08.OVG; vom 31.07.2008, 1 C 10193/08.OVG; vom 18.06.2008, 8 C 10128/08.OVG; vom 29.01.2009, 1 C 10860/08.OVG, jeweils bei ESOVG). Ob die Planung Ergebnis einer gerechten Abwägung ist, ist letztlich wiederum nach der materiellen Beeinträchtigung des jeweiligen Antragstellers zu beurteilen (BVerwG, Urteil vom 29.04.2010 – 4 CN 3/08, BauR 2010, 1701), ein Defizit bei der Ermittlung des Sachverhalts kann dagegen bereits auf der Stufe der Ermittlung und Bewertung zur Aufhebung der Bauleitplanung führen.

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In der Folge des Urteils des Senats vom 02.10.2007 (1 C 10503/07.OVG) hat die Antragsgegnerin ein umfassendes artenschutzrechtliches Gutachten (20.11.2009) sowie eine Aktualisierung des landespflegerischen Planungsbeitrag vom 11.12.2009 vorgelegt. Beide Gutachten kommen zu dem Ergebnis, dass es sich bei dem Planbereichen um überwiegend hochwertige und auch artenreiche Flächen handelt. Es ist demnach nicht ersichtlich, dass die Ermittlungen im Ansatz unvollständig oder mit einer falschen Zielrichtung erfolgt wären. Zwar hat der Antragsteller zahlreiche Einwendungen erhoben, die insbesondere aus Literaturstudien resultieren. Dadurch hat er jedoch kein Ermittlungsdefizit darlegen können. Für diese Annahme wäre eine entgegengesetzte fachliche Begutachtung erforderlich gewesen, nicht ausreichend ist jedoch eine bloße – wenn auch detaillierte – eigene abweichende Stellungnahme. Demgegenüber hat der Gutachter der Antragsgegnerin in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat die Methodik seines Gutachtens erläutert und darauf hingewiesen, dass er für die jeweiligen Fachsparten (Flächenbewertung, Habitate, Avifauna, Fledermauskartierung) jeweils gesondert Fachleute hinzugezogen habe. Der Senat hat an der fachlichen Eignung des Gutachtens auch vor diesem Hintergrund keine durchgreifenden Zweifel. Die Bewertung dieser Feststellungen ist demgemäß eine Frage der Abwägung gemäß § 1 Abs. 7 BauGB, nämlich ob als hochwertig bewertete Außenbereichsflächen mit Wohnbebauung belegt werden sollen; der Senat hat bei der Erfassung der vorhandenen Arten bzw. der Bewertung der betroffenen Flächen dagegen keine durchgreifenden Bedenken, ohne dass dies hier einer schon abschließenden Entscheidung bedürfte. Dabei ist für eine etwaige weitere Prüfung auf Folgendes hinzuweisen:

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Die Prüfung, ob von einem Planvorhaben ggf. geschützte Tier- und Pflanzenarten betroffen sind, verpflichtet die planende Gemeinde nicht in jedem Fall, ein lückenloses Arteninventar zu erstellen und sämtliche denkbaren Maßnahmen zur Erforschung von Artenvorkommen zu ergreifen. Die Untersuchungstiefe hinsichtlich der für die Planung relevanten Bestandteile des Naturhaushalts im Sinne von § 1 Abs. 6 Nr. 7 a) BauGB hängt vielmehr maßgeblich von den naturräumlichen Gegebenheiten im Einzelfall ab. Naturschutzbezogene Bewertungen im Rahmen der Bauleitplanung sind mangels normativer Vorgaben bereits dann bei der gerichtlichen Prüfung nicht zu beanstanden, wenn sie naturschutzfachlich vertretbar sind (vgl. Stüer, DVBl 2010, 333 <335>; BVerwG, Urteil vom 12.03.2008 - 9 A 3.06, BVerwGE 130, 299). Der Umfang der für die Bauleitplanung bestehenden Ermittlungspflichten wird maßgeblich auch durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beeinflusst (OVG NRW, Urteil vom 30. 1. 2009 - 7 D 11/08.NE, ZfBR 2009, 583). Dabei ersetzt die Abwägung nach § 1 Abs. 7 BauGB nicht die Prüfung eventueller Verstöße gegen die artenschutzrechtlichen Verbote im Rahmen des § 44 BNatSchG.

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Gesicherte Ansatzpunkte dafür, dass im gegebenen Verfahren die Feststellungen der Gutachter auf der Grundlage der Begehungen vor Ort naturschutzfachlich nicht vertretbar wären, bestehen für den Senat derzeit nicht. Die Frage, inwieweit die im Bebauungsplan in den Textfestsetzungen Nr 7.0 und 13 getroffenen Vorkehrungen zum Artenschutz ausreichend und verhältnismäßig sind, ist primär nicht im Rahmen von § 2 Abs. 3 BauGB sondern im Rahmen der Abwägung nach § 1 Abs. 7 BauGB zu prüfen.

III.

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Der Senat muss vorliegend auch nicht abschließend zu Erforderlichkeit der Planung (§ 1 Abs. 3 Satz 1 BauGB) Stellung nehmen. Dabei hat das Urteils des Senats vom 02.10.2007 (1 C 10503/07.OVG) keine Bindungswirkung gemäß § 121 VwGO dergestalt, dass auch nunmehr in jedem Fall von der Erforderlichkeit der Planung auszugehen wäre. Was erforderlich ist, bestimmt sich im Grundsatz nach der planerischen Konzeption der Gemeinde, wobei es im planerischen Ermessen der Gemeinde liegt, welche städtebaulichen Ziele sie sich setzt. Ein aktueller Bauflächenbedarf muss nicht vorliegen, die Gemeinde darf grundsätzlich auch für einen Bedarf planen, der sich erst für die Zukunft abzeichnet (vgl. BVerwG, Beschluss vom 11.05.1999 - 4 BN 15.99, NVwZ 1999, 1338). Nicht erforderlich ist allerdings eine Planung, mit deren Verwirklichung in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist (vgl. BayVGH, Urteil vom 25.10.2005 - 25 N 04.642, BRS 69 Nr. 25). Der Senat hat in dem Vorgängerverfahren 1 C 10503/07.OVG im Jahre 2007 entschieden, die Antragsgegnerin habe

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„ … nachvollziehbar ausgeführt, dass die Ausweisung des Plangebiets auf der im Rahmen des aktuellen Verfahrens zur Fortschreibung des Flächennutzungsplans erstellten Bauflächenplanung beruhe, deren Leitwerte insbesondere aufgrund der erheblichen Änderungen im Verlauf der demografischen Entwicklung anhand jüngerer statistischer Daten und Prognosen einer erneuten Revision unterzogen und angepasst worden seien.“

39

Sofern diese Voraussetzungen weiterhin zutreffend sein sollten, würde die Erforderlichkeit der Planung nach § 1 Abs. 3 BauGB grundsätzlich nicht infrage stehen. Allerdings ist auch zu beachten, dass die Frage des Bauflächenbedarfs vor dem Hintergrund des demografischen Wandels in den letzten Jahren mehrfach Eingang in die Rechtsprechung gefunden hat, ohne dass freilich hierbei bisher abschließende Begrenzungen gezogen worden wären. So hat der 8. Senat des erkennenden Gerichts die Frage einer (fehlerhaften) Abwägung einer Wohnbaulandausweisung beim Vorhandensein von Baugrundstücken in der Innerortslage geprüft und dabei festgestellt, dass die Planungsbehörde den infrage gestellten Bedarf für Wohnbauflächen ausreichend ermittelt habe. Unter anderem habe sie eine Machbarkeitsstudie erstellen lassen, die Erfassung und Bewertung der Baulücken sowie eine Berechnung der Erschließungskosten beinhaltete (Urteil vom 23.01.2013 – 8 C 10946/12, ESOVG).

40

Auch hat sich der erkennende Senat mit der Frage der Erforderlichkeit einer Bauleitplanung im Sinne des § 1 Abs. 3 BauGB, nämlich der Neuausweisung eines Wohngebiets vor dem Hintergrund stagnierender Einwohnerzahlen eines Ortsteils und des demografischen Wandels befasst (Urteil vom 06.10.2011 – 1 C 11322/10, ESOVG). Vor diesem Hintergrund erscheint es nicht ausgeschlossen, dass sich die Frage der Erforderlichkeit der Ausweisung neuer Bauflächen – zumal in sensiblen ökologischen Bereichen – unter neuen Gesichtspunkten stellen kann. Es kann mithin die Frage aufgeworfen werden, ob besonders wertvolle Biotopflächen abwägungsfehlerfrei als Bauland ausgewiesen werden, wenn Alternativen im Lichte neuerer Entwicklungen nicht erneuert geprüft und der Baulandbedarf nur pauschal undifferenziert noch als fortbestehend angesehen wurde. Aus diesem Blickwinkel könnte auch die Erforderlichkeit nach § 1 Abs. 3 BauGB neu betrachtet werden. Dementsprechend ist es zwar zutreffend – wie im Urteil des Senats vom 06.10.2011 (1 C 11322/10.OVG) ausgeführt – dass der Antragsteller nicht der "Ersatzplaner" der Antragsgegnerin sein kann, die Erforderlichkeit ist nach Ablauf einiger Jahre jedoch erneut in den Blick zu nehmen.

IV.

41

Hinsichtlich der Ausweisung neuer Bauflächen ist dagegen nicht feststellbar, dass der Bebauungsplan den Zielen der Raumordnung widerspräche.

42

Nach § 1 Abs. 4 BauGB sind Bauleitpläne (§ 1 Abs. 2 BauGB) den Zielen der Raumordnung anzupassen. Die Anpassungspflicht der Gemeinden setzt das Bestehen von Zielen der Raumordnung nach § 3 Nr. 2 ROG voraus (vgl. etwa Hoppe, DVBl. 2001, 81 <85>). Der Regelungszweck des § 1 Abs. 4 BauGB besteht in der "Gewährleistung materieller Konkordanz" zwischen der übergeordneten Landesplanung und der gemeindlichen Bauleitplanung. Raumordnerische Zielvorgaben können eine Anpassungspflicht der Gemeinde nach § 1 Abs. 4 BauGB folglich nur auslösen, wenn sie hinreichend bestimmt (jedenfalls aber bestimmbar) und rechtmäßig sind. Aus diesem Grund können sie im Rahmen einer prinzipalen Normenkontrolle von Bebauungsplänen Gegenstand einer Inzidentüberprüfung sein (BVerwG, Beschluss vom 25. Juni 2007 - 4 BN 17/07). Die nach § 1 Abs. 4 BauGB von der Gemeinde zu beachtenden Ziele der Raumordnung unterliegen dabei nicht der Abwägung nach § 1 Abs. 7 BauGB (Söfker in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB § 2 Rn. 126). Die hier von dem Antragsteller geltend gemachten Bedarfskriterien im Hinblick auf einen zu fordernden Baulandbedarf und die allgemeine demografische Entwicklung haben im Landesentwicklungsprogramm zwar einen Niederschlag gefunden, nicht jedoch im Sinne einer verbindlichen Planungsvorgabe für die Kommunen. Insbesondere sind die Ziele 31 und 32 des Landesentwicklungsprogramms (LEP) IV für die Kommunen im Rahmen der Bauleitplanung keine abschließend abgewogenen und verbindlichen Vorgaben des Trägers der Raumordnung im Sinne von § 3 Nr. 2 i.V.m. § 7 Abs. 2 ROG (Urteil des Senats vom 06.10.2011, 1 C 11322/10.OVG – Pönterberg II).

V.

43

Der Bebauungsplan war jedoch auch wegen eines beachtlichen Abwägungsfehlers gemäß § 1 Abs. 7 BauGB i.V.m. § 214 Abs. 1 Nr. 1 BauGB für unwirksam zu erklären.

44

Das in § 1 Abs. 7 BauGB normierte Abwägungsgebot ist dann verletzt, wenn entweder eine (sachgerechte) Abwägung überhaupt nicht stattfindet, wenn in die Abwägung an Belangen nicht eingestellt wird, was nach Lage der Dinge eingestellt werden muss, wenn die Bedeutung der betroffenen privaten Belange verkannt wird oder wenn der Ausgleich zwischen den von der Planung berührten öffentlichen Belangen in einer Weise vorgenommen wird, der zur objektiven Gewichtigkeit einzelner Belange außer Verhältnis steht (st. Rspr. BVerwG seit Urteilen vom 12.12.1969, BVerwGE 34, 301, <309 ff> und vom 05.07.1974, BVerwGE 45, 315). Hingegen ist das Abwägungsgebot nicht verletzt, wenn sich die Gemeinde innerhalb dieses Rahmens in der Kollision zwischen verschiedenen Belangen für die Bevorzugung des einen und damit notwendig für die Zurückstellung eines anderen Belanges entscheidet. Das Vorziehen und Zurücksetzen bestimmter Belange innerhalb des vorgegebenen Rahmens ist die „elementare planerische Entschließung“ der Gemeinde über die städtebauliche Entwicklung und Ordnung und kein aufsichtlich oder gerichtlich nachvollziehbarer Vorgang. Die gerichtliche Kontrolle beschränkt sich im Rahmen des Abwägungsgebots daher auf die Frage, ob der Plangeber die abwägungserheblichen Gesichtspunkte zutreffend bestimmt hat und ob er auf der Grundlage des derart ermittelten Abwägungsmaterials die aufgezeigten Grenzen der ihm obliegenden Gewichtung eingehalten hat (vgl. BVerwG, a.a.O.).

45

Nach Maßgabe dieser Grundsätze verstößt die Planung gegen das Abwägungsgebot des § 1 Abs. 7 BauGB. Der Senat hat im vorangegangen Verfahren mit Blick auf die unweit des Plangebietes gelegene Schützenhalle ausgeführt:

46

„… Hiervon ausgehend genügt der Bebauungsplan der Antragsgegnerin nicht den Anforderungen an eine dem Abwägungsgebot des § 1 Abs. 7 BauGB genügende Konfliktbewältigung. Der Bebauungsplan selbst enthält keine Festsetzungen, mit denen dem Immissionskonflikt in auch nur irgendeiner Weise Rechnung getragen werden soll. Aber auch die von Antragsgegnerin offenbar beabsichtigte Verlagerung der Konfliktbewältigung auf die nachgelagerte Ebene des Planvollzugs genügt nicht den vom Bundesverwaltungsgericht aufgestellten Anforderungen. (…)“

47

Diesen Vorgaben des Senats aus dem Urteil vom 11.10.2007 wird mit der Erklärung der Schützengesellschaft W... vom 10.03.2010 nur unzureichend Rechnung getragen. Es ist zunächst nicht ersichtlich, wie genau die vereinsrechtliche Umsetzung nach Maßgabe der § 26ff BGB erfolgt sein soll. Der nachgereichten Erklärung (Auszug aus dem Vereinsregister) kann zwar entnommen werden, dass für die Beschlussfassung des Vorstands nach Maßgabe von § 28 BGB offenbar der Vorsitzende allein zuständig sein soll, so dass die Zuständigkeit des ersten Vorsitzenden hiernach nicht auszuschließen ist (vgl. Otto in: jurisPK-BGB, 6. Aufl. 2012, § 26 BGB, Rn. 30ff). Fraglich ist indessen, inwieweit die Erklärung vom 10.03.2010 überhaupt Verbindlichkeit entfalten kann. Es handelt sich um eine einseitige Erklärung des Vorsitzenden für den Verein, wonach dieser "in der Regel die Nutzungszeiten der Schießstandanlage auf die Tageszeit bis 22 Uhr beschränkt“. Zudem verpflichtet sich die Schützengesellschaft, künftig durch entsprechende geeignete lärmmindernde Maßnahmen den entsprechenden Nachtrichtwert eines allgemeinen Wohngebiets von 42 dB einzuhalten. Diese Erklärung ist aber nicht ausreichend, um den gebotenen Lärmschutz verpflichtend zu gewährleisten. Zum einen ist nicht ersichtlich, ob der Vorsitzende tatsächlich berechtigt war, eine solch weit reichende Einschränkung des Vereinsbetriebs ohne eine entsprechende ausdrückliche Billigung durch die Mitgliederversammlung bzw. einen gesonderten Vorstandsbeschluss herbeizuführen. Denn entsprechend dem Vereinsregisterauszug vom 22.04.2013 ist seine Vertretungsmacht auf die laufenden Geschäfte bis zu einem Betrag von „3.000 DM“ beschränkt, wozu bei sachgerechter Auslegung nicht die Einschränkung des regulären Vereinsbetriebs gehören kann. Eine solche Legitimation ist nicht Bestandteil des Verfahrens geworden.

48

Zum anderen ist – im Sinne eines selbständig tragenden Grundes – völlig unsicher, wie künftig die Einhaltung des Nachtrichtwerts von 40 dB(A) gewährleistet werden soll. Weder ist dargetan, dass der Schützenverein in der Lage wäre, dies durch geeignete Maßnahmen und Messtechniken nachzuweisen, noch wird die Geeignetheit der Mittel überhaupt ("Verwendung lärmreduzierter Munition") belegt. Der Erklärung des der Schützengesellschaft zum 10.03.2010 fehlt es damit neben der Gewährleistung einer Verbindlichkeit auch an der erforderlichen Bestimmtheit, eine Nachprüfbarkeit und letztlich auch daran, dass im Falle der Nichteinhaltung keinerlei Sanktionen möglich sind. Die Erklärung erfüllte hiernach nicht die Anforderungen, die der Senat in seinem Urteil vom 11.10.2007 aufgezeigt hat. Da die Schützengesellschaft und die Antragsgegnerin die vorgelegte Problematik erkannt haben und mit der Erklärung lösen wollten, handelt es sich nicht um ein Ermittlungsdefizit im Sinne von § 2 Abs. 3 BauGB, sondern um einen Abwägungsfehler nach Maßgabe von § 1 Abs. 7 BauGB in der Form der Abwägungsfehleinschätzung im Hinblick darauf, dass eine ausreichende Vorsorge gegen Lärmbeeinträchtigung eines neu zu errichtenden Baugebietes getroffen worden sei. Neben einer wirksamen, unwiderruflichen und sanktionsbewehrten Vereinbarung käme auch eine immissionsschutzrechtliche Vorgehensweise gegen den Verein in Betracht, um die Problematik nachhaltig in den Griff zu bekommen. Die Möglichkeiten hierfür hat der Vertreter der Antragsgegnerin in der mündlichen Verhandlung auch bereits teilweise skizziert, weitere Ausführungen hierzu bedarf es an dieser Stelle nicht.

49

Der Abwägungsfehler ist auch nicht unbeachtlich. Wie sich aus §§ 214 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 Satz 2 Hs. 2 BauGB ergibt, sind Fehler in der Abwägung dann erheblich, wenn der Mangel offensichtlich und auf das Abwägungsergebnis von Einfluss gewesen ist. Hierbei gilt es zunächst zu berücksichtigen, dass Mängel in der Ermittlung und Bewertung bzw. im Abwägungsvorgang auf das Abwägungsergebnis nur dann von Einfluss gewesen sind, wenn nach den Umständen des Einzelfalls die konkrete Möglichkeit eines solchen Einflusses besteht (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.08.1981 – 4 C 57/80, NJW 1982, 591 <592>). Hiervon ist vorliegend auszugehen. Der Umstand, dass gegen den Schützenverein nicht immissionsschutzrechtlich vorgegangen wird spricht dafür, dass eine vollständig verbindliche Einschränkung des Vereinsbetriebs möglicherweise auch planungsrechtlich nicht gewollt ist. Es ist daher Sache der Antragsgegnerin als Planungsträgerin selbst zu entscheiden, ob die Pläne im Hinblick auf den Lärmschutz zumindest modifiziert werden oder aber eine wirksame und kontrollierbare Regelung zur Beschränkung des Betriebs der Schießanlage der Nachtzeit erfolgen soll. Eine nachträgliche – möglicherweise auf Nachbarbeschwerden beruhende – immissionssteuernde Eingriffsregelung ist insofern nicht ausreichend, was der Senat schon in seinem vorhergehenden Urteil vom 02.10.2007 hingewiesen hat. Auf die dortigen Ausführungen kann daher im Übrigen verwiesen werden.

50

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1 VwGO.

51

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils wegen der Kosten folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

52

Die Revision wird nicht zugelassen, weil Gründe der in § 132 Abs. 2 VwGO bezeichneten Art nicht vorliegen.

53

Beschluss

54

Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 10.000,-- € festgesetzt (§§ 63 Abs. 2, 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Nr. 9.8.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungs-gerichtsbarkeit, NVwZ 2004, 1327).

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