Beschluss vom Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt (3. Senat) - 3 O 26/12

Gründe

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Die Beschwerde gegen die Ablehnung der Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche Verfahren hat keinen Erfolg.

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Der Senat teilt die Rechtsaufassung des Verwaltungsgerichts, dass die von dem Kläger beabsichtigte Klage gegen die Anordnung erkennungsdienstlicher Maßnahmen keine hinreichende Aussicht auf Erfolg i. S. d. § 166 VwGO i. V. m. § 114 Satz 1 ZPO bietet.

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Rechtsgrundlage für die Anordnung erkennungsdienstlicher Maßnahmen ist vorliegend § 81 b 2. Alt. StPO. Danach dürfen Lichtbilder und Fingerabdrücke des Beschuldigten gegen seinen Willen aufgenommen sowie Messungen und ähnliche Maßnahmen an ihm durchgeführt werden, wenn es für die Zwecke des Erkennungsdienstes notwendig ist.

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1. Der Bescheid ist formell nicht zu beanstanden, insbesondere ist der Pflicht zur schriftlichen Begründung des Bescheides genügt. Gemäß § 1 Abs. 1 VwVfG LSA i. V. m. § 39 Abs. 1 VwVfG ist ein schriftlicher Verwaltungsakt mit einer Begründung zu versehen, in der die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Gründe mitzuteilen sind, die die Behörde zu ihrer Entscheidung bewogen haben; die Begründung einer (hier gegebenen) Ermessensentscheidung soll auch die Gesichtspunkte erkennen lassen, von denen die Behörde bei der Ausübung ihres Ermessens ausgegangen ist. Der Bescheid vom 16. Juni 2011 enthält zwar im Wesentlichen formularmäßige Ausführungen, verweist allerdings in einem individuell verfassten Absatz (Seite 3) auf die zurückliegenden Ermittlungen gegen den Kläger und dessen Rückfallgefährdung.

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2. Zum Zeitpunkt der Anordnung vom 16. Juni 2011 hatte der Kläger auch die Stellung eines Beschuldigten, da gegen ihn ein polizeiliches Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts einer Sachbeschädigung gemäß § 303 StGB lief. Dem Kläger ist zwar zuzustimmen, dass in dem angefochtenen Beschluss des Verwaltungsgerichts der nicht nachvollziehbare Zusatz „aufgrund einer Beleidigung vom 16.06.2011“ enthalten ist. Indes ergibt sich aus den Gründen der Entscheidung (BA S. 2, 2. Absatz, Satz 1, und S. 4 oben) und der streitgegenständlichen Anordnung vom 16. Juni 2011 ohne weiteres, dass das Ermittlungsverfahren wegen Sachbeschädigung das Anlassverfahren für die angeordnete erkennungsdienstliche Behandlung ist. Insoweit besteht auch kein Zweifel, dass sich die vom Verwaltungsgericht „festgestellte Tat“ auf dieses Anlassverfahren bezieht.

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Im Übrigen setzt die Anordnung erkennungsdienstlicher Maßnahmen nicht voraus, dass eine Täterschaft „festgestellt“ wurde; denn § 81 b 2. Alt. StPO setzt mit der Bezugnahme auf den Begriff des „Beschuldigten" lediglich die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens nach § 152 Abs. 2 StPO voraus und besagt insoweit, dass die Anordnung der erkennungsdienstlichen Behandlung nicht an beliebige Tatsachen anknüpfen und zu einem beliebigen Zeitpunkt ergehen kann, sondern sie aus einem gegen den Betroffenen als Beschuldigten eingeleiteten Straf- oder Ermittlungsverfahren hervorgehen muss (BVerwG, Urt. v. 19.10.1982 - BVerwG 1 C 29.79 -, zit. nach juris). Diese Voraussetzungen liegen hier vor, da zum Zeitpunkt des Erlasses der Anordnung vom 16. Juni 2011 gegen den Kläger ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Sachbeschädigung eingeleitet worden war.

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3. Zu Recht ist das Verwaltungsgericht auch davon ausgegangen, dass die erkennungsdienstliche Behandlung des Klägers „notwendig“ i.S. des § 81 b 2. Alt. StPO ist.

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Dabei ist bei der Prüfung der Notwendigkeit entgegen der Auffassung des Klägers nicht allein eine „Bewertung der Schwere der Anlasstat“ vorzunehmen. Vielmehr setzt eine Anordnung erkennungsdienstlicher Maßnahmen voraus, dass der anlässlich des Ermittlungsverfahrens gegen den Betroffenen festgestellte Sachverhalt nach kriminalistischer Erfahrung angesichts aller Umstände des Einzelfalls - insbesondere angesichts Art, Schwere und Begehungsweise der dem Betroffenen im strafrechtlichen Anlassverfahren zur Last gelegten Straftaten, seiner Persönlichkeit sowie unter Berücksichtigung des Zeitraums, währenddessen er strafrechtlich nicht (mehr) in Erscheinung getreten ist - Anhaltspunkte für die Annahme bietet, dass der Betroffene künftig oder anderwärts gegenwärtig mit guten Gründen als Verdächtiger in den Kreis potentieller Beteiligter an einer noch aufzuklärenden strafbaren Handlung einbezogen werden könnte und die erkennungsdienstlichen Unterlagen die dann zu führenden Ermittlungen - den Betroffenen schließlich überführend oder entlastend - fördern könnten (st. Rspr. OVG LSA, Beschl. v. 09.12.2010 - 3 O 464/10 -, m. w. N.; vgl. auch BVerwG, Beschl. v. 06.07.1988 - BVerwG 1 B 61.88 -, zit. nach juris). Dies schließt Feststellungen zum Tatverdacht betreffend die Anlasstat und ggf. auch zu den vorausgegangenen Straftaten sowie zur Deliktsart, Begehungsweise und Täterpersönlichkeit mit ein. Die Begründung muss insoweit nachvollziehbarer Weise zu erkennen geben, dass die Behörde von ihrem Beurteilungs- und Wertungsspielraum in sachgerechter und zweckentsprechender Weise Gebrauch gemacht hat (OVG LSA, Urt. v. 18.08.2010 - 3 L 372/09 -, zit. nach juris).

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Gemessen an diesen Grundsätzen ist die vom Verwaltungsgericht in der angefochtenen Entscheidung nachvollzogene Gefährdungsprognose rechtlich nicht zu beanstanden. Zutreffend hat das Verwaltungsgericht die kriminalpolizeiliche Einschätzung der Beklagten geteilt, dass in Würdigung der Gesamtumstände begründete Anhaltspunkte für die Annahme bestehen, dass der Kläger auch künftig Anlass zu polizeilichen Ermittlungen geben könnte. Die Beklagte hat nicht nur auf das noch nicht abgeschlossene Anlassverfahren abgestellt, sondern richtigerweise auch die Strafverfahren aus den Jahren 2006 bis 2010 sowie ein weiteres gegen den Kläger eingeleitetes Ermittlungsverfahren wegen Verstoßes gegen das Sprengstoffgesetz in die Prognose einbezogen. Diese nicht notwendig gleichgewichtigen Vorgänge tragen in ihrer Gesamtheit die Annahme einer der kriminalpolizeilichen Einschätzung entsprechenden inneren Einstellung bzw. charakterlichen Veranlagung des Klägers, sich gelegentlich zum Nachteil anderer über strafbewehrte Rechtsvorschriften hinwegzusetzen. In ihrer Gesamtheit lassen sich die dem Kläger zur Last gelegten Vorfälle deshalb auch nicht - wie die Vorinstanz zu Recht ausführt - als Bagatelldelikte abtun.

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Rechtlich nicht zu beanstanden ist auch die von der Beklagten angestellte und vom Verwaltungsgericht bestätigte Wiederholungsgefahr in dem Sinne, dass der Kläger künftig in ähnlicher oder anderer Weise erneut straffällig werden könnte. Dem Kläger ist zwar zuzustimmen, dass eine ohne Bezug auf die konkreten Umstände und die Person des Betroffenen allein aufgrund des Deliktstyps festgestellte allgemeine Wiederholungsgefahr möglicherweise den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verletzen würde. Ob insoweit die angeführte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die den Fall einer Fortdauer der Speicherung zur präventiv-polizeilichen Verbrechensbekämpfung betraf, auf den vorliegenden Fall übertragbar ist, kann hier dahinstehen, da sowohl die Beklagte als auch das Verwaltungsgericht im Rahmen ihrer Prognoseentscheidung nicht allein auf einen Deliktstyp abgestellt haben, sondern aufgrund einer umfassenden Bewertung der Gesamtumstände zu dem Ergebnis gekommen sind, dass nicht nur die Anlasstat und die vorhergehenden - in der Anordnung im Einzelnen spezifizierten - Ermittlungs- und Strafverfahren, sondern auch der Umstand, dass die letzte Verurteilung erst drei Monate zurückliegt, ein besonders gesteigertes Maß an krimineller Energie und Ignoranz gegenüber der Rechtsordnung zeigen und aus der polizeilichen Erfahrung eine hohe Gefahr von Wiederholungstaten begründen.

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Der von der Beklagten beabsichtigte Grundrechtseingriff ist zwar gravierend, aber dem Kläger zuzumuten, da die Wiederholungsgefahr angesichts des ihm in der Vergangenheit zur Last gelegten Verhalten als recht groß einzuschätzen ist und erhebliche Gefahren für die Geschädigten zu befürchten sind. Insoweit hat die Beklagte bei ihrer Entscheidung insbesondere auch von dem ihr eingeräumten Entschließungs- und Auswahlermessen in der nach § 40 VwVfG erforderlichen Weise Gebrauch gemacht; denn die streitgegenständliche Anordnung vom 16. Juni 2011 enthält auf Seite 3 Erwägungen dazu, ob die erkennungsdienstliche Maßnahme veranlasst ist. Darüber hinaus hat sich die Beklagte bei ihrer Ermessensentscheidung auf den Seiten 4 und 5 ihrer Anordnung auch in der erforderlichen Weise mit der Frage auseinandergesetzt, welche erkennungsdienstlichen Unterlagen über den Kläger benötigt werden, d. h. ob die im Einzelnen angeordneten Maßnahmen nach Art und Umfang tatsächlich veranlasst sind. Hierauf nimmt die angefochtene Entscheidung des Verwaltungsgerichts Bezug.

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Schließlich ist weder aus den Akten ersichtlich noch von dem Kläger substanziiert vorgetragen worden, dass aufgrund der Eigenart sämtlicher der von dem Kläger in der Vergangenheit verwirklichten bzw. ihm vorgeworfenen Delikte eine Identitätsfeststellung mittels erkennungsdienstlicher Unterlagen offensichtlich nicht geeignet wäre, einen Beitrag zur Aufklärung zukünftiger Straftaten zu leisten (z. B. bei sog. Beziehungstaten im häuslichen Bereich: BayVGH, Beschl. v. 31.01.2005 - 24 CS 04.2816 - und Urt. v. 03.05.2005 - 24 B 04.1735 -; beide zit. nach juris; oder SächsOVG, Beschl. v. 10.10.2000 - 3 BS 53/00 -, NVwZ-RR 2001, 238 hinsichtlich der Verletzung einer Unterhaltspflicht i. S. d. § 170 StGB). Da die durch die erkennungsdienstliche Behandlung (Anfertigung von Lichtbildern, Abnahme von Finger-, Handflächen- und Handkantenabdrücken, Anfertigung einer Personenbeschreibung, Messung von Gewicht, Körper- und Schuhgröße) gewonnenen Unterlagen geeignet sind, in Fällen, in denen der Täter nicht von vornherein zu ermitteln ist, den Kläger zu be- oder entlasten, war die Anordnung der erkennungsdienstlichen Behandlung auch insoweit aller Voraussicht nach rechtmäßig. Insoweit kann der Kläger der erkennungsdienstlichen Behandlung nicht entgegenhalten, dass es in der Vergangenheit keine Schwierigkeiten bei der Ermittlung der Person des Klägers gegeben habe; denn die Anordnung einer erkennungsdienstlichen Maßnahme setzt nicht voraus, dass der Betreffende schon einmal unter fremden Namen aufgetreten ist bzw. seine Identität verschleiert hat (NdsOVG, Urt. v. 28.06.2007 - 11 LC 372/06 -, zit. nach juris).

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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die außergerichtlichen Kosten der Beteiligten werden gemäß §§ 166 VwGO, 127 Abs. 4 ZPO nicht erstattet.

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Der Festsetzung eines Streitwertes bedarf es nicht, weil für die Beschwerde nach Ziffer 5502 der Anlage zu § 3 Abs. 2 GKG eine Festgebühr erhoben wird.

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Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 152 Abs. 1 VwGO.


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