Beschluss vom Verwaltungsgericht Augsburg - Au 4 S 20.30367

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen Nr. 1 und Nr. 2 des Bescheids der Antragsgegnerin vom 2.3.2020 wird angeordnet.

II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Gründe

I.

Der Antragsteller begehrt einstweiligen Rechtsschutz gegen einen Bescheid, mit dem die Flüchtlingseigenschaft widerrufen und der subsidiäre Schutzstatus zurückgenommen wurde.

Nach den Feststellungen der Antragsgegnerin ist der Antragsteller syrischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit. Mit Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 17. November 2017 wurde ihm auf seinen Asylantrag der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt. Auf seine Klage verpflichtete das Verwaltungsgericht Augsburg die Antragsgegnerin mit Urteil vom 9. Januar 2018 (Au 4 K 17.35643) dazu, dem Antragsteller die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Mit Bescheid des Bundesamts vom 7. März 2018 wurde dem Antragsteller die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt.

Mit Urteil des Amtsgerichts Augsburg vom 17. April 2019 (33 Ds 404 Js 138820/18 jug) wurde der Antragsteller wegen Körperverletzung in Tatmehrheit mit versuchter Körperverletzung in Tatmehrheit mit Körperverletzung in Tateinheit mit Beleidigung zu einer Jugendstrafe von zehn Monaten verurteilt. Deren Vollstreckung wurde zur Bewährung ausgesetzt. Ferner wurde ein Dauerarrest von zwei Wochen als Warnschussarrest verhängt. Mit Urteil des Amtsgerichts Augsburg vom 11. November 2019 (33 Ls 404 Js 124675/19 jug) wurde der Antragsteller der Leistungserschleichung in zwei Fällen für schuldig befunden und hierwegen unter Einbeziehung der Verurteilung durch das Amtsgericht Augsburg vom 17. April 2019 zu einer Jugendstrafe von einem Jahr verurteilt. Die Vollstreckung der Jugendstrafe wurde zur Bewährung ausgesetzt.

Mit Schreiben vom 20. Januar 2020 hörte des Bundesamt den Antragsteller zum beabsichtigten Widerruf der Flüchtlingseigenschaft gem. § 73 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG und zur beabsichtigten Rücknahme des subsidiären Schutzes gem. § 73b i.V.m. § 4 Abs. 2 Nr. 2 bzw. Nr. 4 Alt. 1 AsylG an.

Hierauf äußerte sich der Antragsteller mit Schreiben seiner Bewährungshelferin vom 18. Februar 2020. Die Vollstreckung der Jugendstrafe sei zur Bewährung ausgesetzt worden, was nur bei einer positiven Sozialprognose möglich sei. Insofern liege keine konkrete Wiederholungsgefahr vor. Auch habe der Antragsteller die Körperverletzung unter Alkoholeinfluss begangen. Dies mache die Tat nicht geringer; allerdings habe der Antragsteller gelernt, dass er Alkohol nicht oder nur in Maßen konsumieren solle, auch wenn dieser in Deutschland frei verfügbar sei. Er besuche Sprachunterricht und wolle sobald als möglich einer Arbeit nachgehen. Neben der Schule habe er einen Minijob aufgenommen. Der Antragsteller könne nicht (mehr) als Gefahr für die Allgemeinheit angesehen werden.

Mit Schreiben seiner Bevollmächtigten vom 24. Februar 2020 ließ der Antragsteller ferner ausführen, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen für einen Widerruf der Flüchtlingseigenschaft gem. § 73 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG nicht vorlägen. Die abgeurteilte Körperverletzung habe zu einer Jugendstrafe von weniger als einem Jahr geführt. Das Erschleichen von Leistungen falle nicht unter die in § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG genannten Taten. Auch sei eine Anwendung des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG nicht ermessensgerecht. Beim Antragsteller handele es sich nicht um ein kriminelles Individuum, sondern um einen noch unvernünftigen und unreifen jungen Erwachsenen, der sich die getroffenen Maßnahmen zur Lehre habe dienen lassen und der keine Gefahr mehr für die Allgemeinheit darstelle. Die Jugendstrafe sei zur Bewährung ausgesetzt worden, die Bewährungszeit laufe bisher einwandfrei. Eine Rücknahme des subsidiären Schutzes könne ebenfalls nicht erfolgen. Weder habe der Antragsteller angesichts des Strafmaßes für die Körperverletzung und der Aussetzung der Strafe zur Bewährung eine schwere Straftat begangen (§ 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AsylG), noch stelle der Antragsteller angesichts der gewährten und positiv verlaufenden Bewährung eine Gefahr für die Allgemeinheit i.S.d. § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 AsylG dar.

Mit Bescheid des Bundesamts vom 2. März 2020 widerrief die Antragsgegnerin die mit Bescheid vom 7. März 2018 gewährte Flüchtlingseigenschaft (1.) und nahm den mit Bescheid vom 17. November 2017 gewährten subsidiären Schutzstatus zurück (2.). Der subsidiäre Schutzstatus wurde nicht zuerkannt (3.). Ein Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Syriens wurde festgestellt (4.). Auf die Gründe des Bescheids wird gem. § 77 Abs. 2 AsylG Bezug genommen.

Der Antragsteller ließ am 13. März 2020 Klage zum Verwaltungsgericht Augsburg erheben (Au 4 K 20.30366). Gleichzeitig ließ er beantragen,

die aufschiebende Wirkung der Klage gem. § 80 Abs. 5 VwGO bezüglich der Ziffern 1. und 2. des Bescheids anzuordnen.

Zur Begründung wurde auf die Stellungnahme der Antragstellerbevollmächtigten vom 24. Februar 2020 verwiesen. Auf die dortigen Argumente sei das Bundesamt nicht ausführlich eingegangen bzw. dessen Ausführungen überzeugten nicht. Zudem überwögen die Interessen des Antragstellers, da er möglicherweise in eine Duldung „abrutsche“. Es bestehe die Gefahr, dass die Ausländerbehörde entsprechend der Feststellungen im streitgegenständlichen Bescheid eine Gefahr gem. § 25 Abs. 3 Satz 3 Nr. 4 AufenthG annehme.

Die Antragsgegnerin übermittelte ihre Akten, in der Sache äußerte sie sich nicht.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und die Behördenakten Bezug genommen.

II.

Der Antrag ist zulässig, insbesondere gem. § 75 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, Satz 2 AsylG statthaft, und begründet. Die Klage wird wohl in der Hauptsache Erfolg haben, weil bei summarischer Prüfung die Voraussetzungen für einen Widerruf der Flüchtlingseigenschaft gem. § 73 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 3 Abs. 4 AsylG und § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG sowie für eine Rücknahme des subsidiären Schutzstatus gem. § 73b Abs. 3 i.V.m. § 4 Abs. 2 AsylG nicht vorliegen. Der Bescheid vom 2. März 2020 ist daher insoweit voraussichtlich rechtswidrig und verletzt Antragsteller in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

1. Die Voraussetzungen für einen Widerruf der Flüchtlingseigenschaft gem. § 73 Abs. 1 AsylG dürften nicht vorliegen. Gem. § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen hierfür nicht mehr vorliegen. Aus § 3 Abs. 4 AsylG ergibt sich, dass einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt wird, wenn das Bundesamt gem. § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG absieht.

Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG dürften bereits tatbestandlich nicht vorliegen. Die Norm setzt voraus, dass der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 StGB ist.

Vorliegend dürfte es an einem Strafmaß fehlen, das sich aus der Anwendung der in § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG in Bezug genommenen Straftatbestände ergibt.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kommt der Widerruf der Asyl- und Flüchtlingsanerkennung wegen einer rechtskräftigen Verurteilung zu einer mindestens dreijährigen Freiheitsstrafe (§ 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG) bei einer Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe (§§ 53 bis 55 StGB) nur in Betracht, wenn eine der in die Gesamtstrafe einbezogenen Einzelstrafen eine mindestens dreijährige Freiheitsstrafe ist (BVerwG, B.v. 31.1.2013 - 10 C 17/12 - BVerwGE 146, 31 - LS1, juris).

Trotz des im Vergleich zu § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG abweichenden Wortlautes („oder mehrerer“) dürfte diese Rechtsprechung auf § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG zu übertragen sein (vgl. VG Freiburg, B.v. 8.8.2019 - A 14 K 2915/19 - juris Rn. 3 ff.; Koch in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Stand 15.8.2016, Rn. 56 und 54 zu § 60 AufenthG). Auch im Rahmen des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG dürfte daher im Falle der Bildung einer Gesamtstrafe bzw. einer sich aus mehreren Verurteilungen ergebenden Strafe zu fordern sein, dass zumindest eine Einzelstrafe eine mindestens einjährige Freiheits- oder Jugendstrafe ist.

§ 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG ist durch Art. 1 Nr. 3 des Gesetzes zur erleichterten Ausweisung von straffälligen Ausländern und zum erweiterten Ausschluss der Flüchtlingsanerkennung bei straffälligen Asylbewerbern vom 11. März 2016 eingefügt worden (BGBl I, S. 394). Den Gesetzesmaterialien (BT-Drs. 18/7537, insbes. S. 8 f.) lässt sich nichts dazu entnehmen, dass im Rahmen dieser neu geschaffenen Norm, was die Ermittlung des relevanten Strafmaßes angeht, andere Maßstäbe gelten sollten als im bisherigen § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG. Dieser Umstand spielt bei der Auslegung des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG umso mehr eine Rolle, als die Einleitung des Gesetzgebungsverfahrens mehrere Jahre (vgl. BT-Drs. 18/7537, S. 1) nach der genannten Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts erfolgte, so dass der Gesetzgeber ohne weiteres die Möglichkeit gehabt hätte, auf diese höchstrichterliche Rechtsprechung zu reagieren; zumindest hätte in den Gesetzesmaterialien klargestellt werden können, dass im Hinblick auf diese Rechtsprechung durch die abweichende Formulierung des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG im Vergleich zu § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG eine Änderung der Rechtslage beabsichtigt sei. Dies ist nicht geschehen. Vielmehr lässt sich den Gesetzesmaterialien entnehmen, dass der Gesetzgeber zwar eine zusätzliche Fallgruppe schaffen wollte, wegen der vom Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit ausgehen kann, dass dabei aber auf dem Verständnis der bisherigen Regelungen in § 60 Abs. 8 AufenthG aufgebaut wurde (vgl. BT-Drs. 18/7537, S. 9). Zudem wird in den Gesetzesmaterialien auf Art. 33 Abs. 2 GFK sowie Artikel 14 Absatz 4 der Richtlinie 2011/95/EU und deren Wortlaut verwiesen; diese sprechen - wie Art. 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG - von „einem“ Verbrechen oder Vergehen bzw. von „einer“ Straftat (vgl. BT-Drs. 18/7537, S. 8); auch dies spricht gegen ein von § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG abweichendes Verständnis des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG.

Im vorliegenden Fall ergibt sich die - überhaupt erst den Anwendungsbereich des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG eröffnende - Jugendstrafe von einem Jahr - ausgesprochen durch das Urteil des AG Augsburg vom 11.11.2019 - erst unter Einbeziehung der Verurteilung durch das AG Augsburg vom 17. April 2019 gem. § 31 Abs. 2 JGG. § 31 Abs. 2 JGG tritt an die Stelle der Bestimmungen des allgemeinen Strafrechts über tatmehrheitliche Konkurrenzen, insbesondere §§ 53, 55 StGB (vgl. Eisenberg/Kölbel, JGG, 21. Aufl. 2020, § 31 Rn. 3), so dass auch vorliegend im Sinne der genannten Rechtsprechung eine Gesamtstrafe gebildet wurde, bzw. es darauf ankommt, ob eine Einzelstrafe von mindestens einem Jahr ausgeurteilt wurde. Dies ist nicht der Fall. Der Antragsteller ist durch das AG Augsburg am 17. April 2019 zu einer Jugendstrafe von zehn Monaten verurteilt worden; angesichts der letztlich ausgesprochenen Jugendstrafe von einem Jahr im Urteil des AG Augsburg vom 11. November 2019 kann im Zuge des letztergangenen Urteils wegen der abgeurteilten Leistungserschleichung ebenfalls keine Strafe von mindestens einem Jahr ausgesprochen worden sein.

Selbst wenn man jedoch wegen des unterschiedlichen Wortlauts die Grundsätze aus § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG nicht auf § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG übertragen wollte, liegen die Voraussetzungen dieser Norm wohl nicht vor. Denn nach dem ausdrücklichen Gesetzeswortlaut muss die Verurteilung zu einer Jugendstrafe zu mindestens einem Jahr „wegen“ einer der in der Norm genannten Straftaten erfolgen. Auch die Gesetzesmaterialien verdeutlichen, dass die vom Gesetzgeber erweiterten Voraussetzungen, unter denen ein Asylsuchender eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellen kann, auf der Verurteilung der in § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG genannten Straftaten beruhen, mithin eine solche Gefahr gerade „wegen“ dieser Verurteilung anzunehmen sein kann (vgl. BT-Drs. 18/7537, S. 5). Ein solcher Fall liegt hier nicht vor. Zwar fallen die vom Antragsteller am 2. September 2018 begangenen Delikte von Körperverletzungen und einer versuchten Körperverletzung unter die in § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG genannten Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit. Bei den vom Antragsteller am 17. April 2019 - Tag der Hauptverhandlung hinsichtlich der Körperverletzungsdelikte - begangenen Leistungserschleichungen (§ 265a StGB) dürfte jedoch keine Straftat i.S.d. § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG vorliegen. Das durch § 265a StGB geschützte Rechtsgut ist das Individualvermögen desjenigen, der die in Anspruch genommene vermögenswerte Leistung erbringt (Hefendehl in: Münchener Kommentar zum StGB, 3. Aufl. 2019, § 265a Rn. 1). Das Vermögen ist jedoch in § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG nicht genannt (vgl. VG Augsburg, U.v. 30.11.2018 - Au 4 K 17.35378 - Rn. 54, n.v.; Dollinger in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, Rn. 62 zu § 60 AufenthG).

Weder dem Wortlaut - insbesondere der Formulierung „wegen“ - noch Sinn und Zweck des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG lässt sich ein Verständnis der Norm entnehmen, dass es ausreicht, wenn - wie es hier der Fall wäre - die verwirkte Strafe von mindestens einem Jahr nur zum Teil auf den dort genannten Straftaten beruht, und dass der zum Mindestmaß von einem Jahr fehlende Strafumfang durch in der Norm nicht genannte Taten gleichsam „aufgefüllt“ werden kann.

Da vorliegend „wegen“ einer nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG in Betracht kommenden Straftat (Körperverletzung / versuchte Körperverletzung) lediglich ein Strafmaß von unter einem Jahr ausgesprochen wurde, liegen wohl bereits die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG und damit die Voraussetzungen für einen Widerruf der Flüchtlingseigenschaft gem. § 73 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 3 Abs. 4 AsylG nicht vor.

Ob die - umfangreichen und durchaus nachvollziehbaren - Ermessenserwägungen im streitgegenständlichen Bescheid, insbesondere zur Gefahrenprognose, Rechtsfehler aufweisen, kann daher offen bleiben.

2. Auch die Voraussetzungen für eine Rücknahme des subsidiären Schutzstatus gem. § 73b Abs. 3 i.V.m. § 4 Abs. 2 AsylG liegen bei summarischer Prüfung nicht vor. Der Antragsteller hat wohl weder eine schwere Straftat begangen (§ 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG) noch stellt er eine Gefahr für die Allgemeinheit dar (§ 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 Alt. 1 AsylG).

2.1 Die vom Antragsteller begangenen Straftaten dürften trotz der vom Antragsteller angewandten nicht unerheblichen Gewalt wohl nicht im Sinne des § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG „schwer“ sein.

§ 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG geht zurück auf Art. 17 Abs. 1 b) der Richtlinie 2011/95/EU (Qualifikationsrichtlinie), die selbst ebenfalls keine Konkretisierung des Begriffs der schweren Straftat enthält. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist der Begriff der schweren Straftat als Ausschlussgrund restriktiv auszulegen. Bei der Würdigung der Schwere der fraglichen Straftat ist eine vollständige Prüfung sämtlicher Umstände des jeweiligen Einzelfalls vorzunehmen. Maßgeblich ist unter anderem die Art der Straftat, die verursachten Schäden, die Form des zur Verfolgung herangezogenen Verfahrens, die Art der Strafmaßnahme sowie, ob die fragliche Straftat in anderen Rechtsordnungen ebenfalls überwiegend als schwere Straftat angesehen werde (vgl. EuGH, U.v. 13.9.2018 - C-369/17 - juris Rn. 52, 56, 58).

Ferner kann auf Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum Begriff der „Straftat von erheblicher Bedeutung“ in § 25 Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 AufenthG (früher: § 25 Abs. 3 Satz 2 Buchst. b) AufenthG) zurückgegriffen werden, da dieser Begriff inhaltsgleich mit demjenigen der „schweren Straftat“ i.S.d. Art. 17 Abs. 1 b) RL 2011/95/EU ist (vgl. BVerwG, U.v. 25.3.2015 - 1 C 16/14 - juris Rn. 22). Eine solche Straftat erfordert ein Kapitalverbrechen oder eine sonstige Straftat, die in den meisten Rechtsordnungen als besonders schwerwiegend qualifiziert ist und entsprechend strafrechtlich verfolgt wird (BVerwG, a.a.O., Rn. 27).

Hieran gemessen ergibt sich summarisch geprüft folgendes: Die vom Antragsteller nach den Urteilen des Amtsgerichts Augsburg vom 17. April 2019 und vom 11. November 2019 begangenen Straftaten einer Beleidigung und einer Leistungserschleichung in zwei Fällen dürften von vornherein nicht - im Sinne des Ausschlussgrunds des Rechts auf internationalen Schutz - besonders schwerwiegend sein.

Hinsichtlich der vom Antragsteller am 2. September 2018 begangenen Körperverletzungen bzw. der versuchten Körperverletzung stellt sich zwar die vom Antragsteller ausweislich der Feststellungen im Urteil des Amtsgerichts angewandte Gewalt (insbesondere kraftvolles Drücken in die Augen des Geschädigten) durchaus als beachtlich dar, zumal der Antragsteller offenbar nur durch das Eingreifen Dritter an weiteren Gewalttätigkeiten gehindert wurde. Gleichwohl ist zu berücksichtigen, dass es zu einer Verurteilung lediglich wegen „einfacher“ (z.T. auch versuchter, § 23 Abs. 1 StGB) Körperverletzung gem. § 223 StGB gekommen ist, und danach offenbar kein Versuch einer schweren Körperverletzung gem. § 226 StGB vorlag (zum Versuch der Erfolgsqualifikation vgl. etwa Sternberg-Lieben/Schuster in Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, 30. Aufl. 2019, § 18 Rn. 10 ff.). Die Vollstreckung der Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Als Strafrahmen für eine Körperverletzung sieht § 223 StGB eine Geldstrafe oder eine Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren vor. Das Strafgesetzbuch stuft die Körperverletzung daher nicht als Verbrechen, sondern als Vergehen ein (§ 12 Abs. 1, Abs. 2 StGB). Bei dem vorliegenden Strafrahmen sieht das Strafgesetzbuch die zweitkürzeste Verfolgungsverjährung vor (§ 78 Abs. 3 Nr. 4 StGB). Auch wurde für eine Jugendstrafe (10 Monate) verhängt, die nicht allzu sehr über dem Mindestmaß von sechs Monaten, aber deutlichst unterhalb des Höchstmaßes von fünf Jahren liegt (§ 18 Abs. 1 JGG). Auf die Wertung des § 54 Abs. 1a AufenthG kann vorliegend ebenfalls nicht zurückgegriffen werden (vgl. dazu etwa VG München, B.v. 2.9.2019 - M 22 S 19.32826 - juris Rn. 21), da der Antragssteller, wie ausgeführt, nicht „wegen“ einer Straftat gegen die körperliche Unversehrtheit zu der Jugendstrafe von einem Jahr verurteilt wurde (§ 54 Abs. 1a Buchst. b) AufenthG), sondern wegen der Körperverletzungen bzw. der versuchten Körperverletzung eine Jugendstrafe von zehn Monaten ausgeurteilt wurde.

Bei der Gesamtwürdigung aller Umstände dürfte hier daher noch nicht von einer im Sinne des Ausschlussgrunds des § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG schweren Straftat auszugehen sein. Zur Klarstellung ist allerdings darauf hinzuweisen, dass diese Bewertung nicht als Relativierung der vom Antragsteller begangenen Straftaten anzusehen ist, sondern darauf beruht, dass die Annahme einer schweren Straftat flüchtlingsrechtlich nach Maßgabe des einschlägigen Unions- und Bundesrechts entsprechend schwerwiegender Umstände bedarf, die hier wohl noch nicht vorliegen.

2.2 Der Antragsteller dürfte im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) auch keine Gefahr für die Allgemeinheit i.S.d. § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 Alt. 1 AsylG darstellen. Die Antragstellerin verweist insoweit lediglich auf ihre Feststellungen zu § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG (S. 9 des streitgegenständlichen Bescheids). Dessen Voraussetzungen dürften aber, wie ausgeführt, nicht vorliegen. Andere Umstände, aus denen sich eine solche Gefahr ergibt, sind weder vorgetragen noch derzeit ersichtlich. Der Antragsteller hat vorgebracht, dass die Bewährungszeit bislang beanstandungslos verlief. Seit den Taten von 2. September 2018 sind mittlerweile etwa eineinhalb Jahre vergangen. Die Leistungserschleichungen (Benutzung der Straßenbahn ohne Fahrausweis) fanden anlässlich der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht Augsburg am 17. April 2019 betreffend die Taten vom 2. September 2018 statt, so dass insoweit noch ein gewisser Zusammenhang mit dem Geschehen von diesem Tag besteht.

Dem Antrag war damit mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO zu entsprechen. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).

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