Urteil vom Verwaltungsgericht Hamburg (6. Kammer) - 6 K 4501/19

Tenor

Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 11. Juni 2012 und des Widerspruchsbescheids vom 24. November 2016 – soweit diese entgegenstehen – verpflichtet, die der Klägerin zu 1) am 2. März 2010 erteilte Aufenthaltserlaubnis gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 i.V.m. § 8 Abs. 1 AufenthG zu verlängern.

Soweit dem Kläger zu 2) in dem Bescheid vom 11. Juni 2012 die Abschiebung nach Italien angedroht wird, werden dieser und der Widerspruchsbescheid vom 24. November 2016 aufgehoben.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Der Kläger zu 2) und die Beklagte tragen die Kosten des Verfahrens je zur Hälfte.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% der festzusetzenden Kosten abwenden, falls nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des zu vollstreckenden Betrags leistet.

Die Berufung und die Sprungrevision werden zugelassen.

Tatbestand

1

Die Kläger wenden sich gegen die Versagung einer Aufenthaltserlaubnis.

2

Die Klägerin zu 1), togoische Staatsangehörige, reiste nach eigenen Angaben im September 2009 in das Bundesgebiet ein und brachte im November 2009 in Hamburg den Kläger zu 2) zur Welt. Vorgeburtlich – im Oktober 2009 – erkannte der togoische Staatsangehörige V die Vaterschaft für den Kläger zu 2) an und gab mit der Klägerin zu 1) eine gemeinsame Sorgeerklärung ab. Im Dezember 2009 wurde er als Vater in die Geburtsurkunde des Klägers zu 2) eingetragen und diesem ein bis Dezember 2015 gültiger deutscher Kinderreisepass ausgestellt.

3

Im März 2010 beantragte die Klägerin zu 1) die Erteilung eines Aufenthaltstitels und gab als Aufenthaltszweck „Arbeiten“ an. Sie legte dabei u.a. ein im Jahr 2006 in Italien ausgestelltes Identifikationsdokument für Flüchtlinge, ein bis Juni 2008 gültiges italienisches Reisedokument für Konventionsflüchtlinge („Documento di viaggio – Convenzione del 28 luglio 1951“) sowie einen im Mai 2008 ausgestellten italienischen Aufenthaltstitel („Permesso di soggiorno“) vor. Die Beklagte erteilte ihr daraufhin eine bis März 2011 gültige Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG, deren Verlängerung die Klägerin zu 1) im Februar 2011 beantragte.

4

Nach Anfechtung der Vaterschaft durch V stellte das Amtsgericht Hamburg-Wandsbek durch Beschluss vom 1. Februar 2011 fest, dass dieser nicht der Vater des Klägers zu 2) ist.

5

Im Mai 2011 beantragte der Kläger zu 2) die Erteilung eines Aufenthaltstitels und gab als Aufenthaltszweck „Familienzusammenführung“ an. Mit Schreiben aus Juni 2011 beantragte der Klägervertreter für den Kläger zu 2) die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 38 Abs. 5 i.V.m. § 38 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG.

6

Nach Anhörung der Kläger lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 11. Juni 2012 die Verlängerung bzw. Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ab, forderte die Kläger zur Ausreise auf und drohte ihnen die Abschiebung nach Italien an. Zur Begründung verwies sie darauf, dass hinsichtlich der Klägerin zu 1) die Voraussetzungen des § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG nicht mehr vorlägen, da die deutsche Staatsangehörigkeit des Klägers zu 2) infolge der Vaterschaftsanfechtung rückwirkend entfallen sei. Mangels sozialer und wirtschaftlicher Integration im Bundesgebiet sei der Klägerin zu 1) auch nach § 36 Abs. 2 AufenthG keine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen: Zum einen bestünden Anhaltspunkte, dass sie V über dessen Vaterschaft für den Kläger zu 2) aus aufenthaltstaktischen Gründen getäuscht habe; zum anderen beziehe sie seit mehreren Jahren Leistungen nach dem SGB II. Da die Aufenthaltserlaubnis der Mutter nicht zu verlängern sei, könne dem Kläger zu 2) keine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 32 AufenthG erteilt werden. Gleiches gelte im Hinblick auf § 38 Abs. 1 AufenthG, denn der Kläger zu 2) sei nicht ehemaliger Deutscher, sondern aufgrund der Rückwirkung der Vaterschaftsanfechtung so zu behandeln, als hätte er nie die deutsche Staatsangehörigkeit besessen. Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus § 38 Abs. 5 AufenthG: Der Kläger zu 2) genieße keinen Vertrauensschutz wegen einer irrtümlichen Behandlung als Deutscher, da er von den deutschen Behörden zunächst – bis zur Feststellung des Nicht-Bestehens der Vaterschaft des V – zu Recht als Deutscher behandelt worden sei.

7

Gegen den Bescheid wandten sich die Kläger mit Widerspruch vom 3. Juli 2012 und machten im Wesentlichen geltend, die Klägerin zu 1) habe jedenfalls einen Anspruch analog § 25 Abs. 2 AufenthG, weil sie in Italien als Flüchtling anerkannt und die Verantwortung für sie nach Art. 2 des Europäischen Übereinkommens über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge (EATRR) auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen sei. Maßgeblich sei dabei, dass sich die Klägerin zu 1) seit Januar 2010 und damit seit über zwei Jahren legal im Bundesgebiet aufhalte. Einer Entscheidung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge bedürfe es insoweit nicht, denn nach § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG gelte das aus Satz 1 der Vorschrift folgende Abschiebungsverbot auch für außerhalb des Bundesgebiets anerkannte Flüchtlinge. Im Hinblick auf Art. 6 EATRR sei auch dem Kläger zu 2) eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen. Im Übrigen setze § 38 Abs. 5 AufenthG keine irrtümliche Behandlung als Deutscher voraus; Vertrauensschutz trete auch im Fall einer rechtmäßigen Behandlung als Deutscher ein. Schließlich sei § 38 Abs. 1 AufenthG entsprechend auf den Fall des rückwirkenden Verlusts der Staatsangehörigkeit anzuwenden, sodass sich der Kläger zu 2) auf die Vorschrift berufen könne.

8

Mit Schreiben aus April 2014 teilte die Beklagte den Klägern mit, dass der Widerspruch nach vorläufiger Prüfung zurückzuweisen sei. Eine entsprechende Anwendung des § 38 Abs. 1 AufenthG auf den Fall des Klägers zu 2) scheide mangels vergleichbarer Interessenlage aus, da dessen deutsche Staatsangehörigkeit infolge der Vaterschaftsanfechtung und nicht – wie in dem von den Klägern herangezogenen, durch das Bundesverwaltungsgericht entschiedenen Fall – durch Rücknahme der Einbürgerung entfallen sei. Für einen etwaigen Anspruch gemäß bzw. analog § 25 Abs. 2 AufenthG fehle es an einer Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, die insbesondere auch nicht nach dem EATRR entbehrlich sei. Außerdem erfülle die Klägerin zu 1) die allgemeine Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG nicht.

9

Im Mai 2014 ergänzten die Kläger ihren Vortrag dahin, dass im Hinblick auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungskonformität der behördlichen Vaterschaftsanfechtung (1 BvL 6/10) von einem Fortbestehen der deutschen Staatsangehörigkeit des Klägers zu 2) auszugehen sei. Aus der Entscheidung ergebe sich, dass § 17 Abs. 2 und 3 StAG keine dem Gesetzesvorbehalt des Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG genügende Grundlage für den Verlust der Staatsangehörigkeit sei. Weiter habe die Klägerin zu 1) einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Zweck der Erwerbstätigkeit; einer Zustimmung der Bundesagentur für Arbeit bedürfe es gemäß § 32 Abs. 3 BeschV nicht. Die Passlosigkeit könne der Klägerin zu 1) nicht entgegengehalten werden, da ihr aufgrund des Übergangs der Verantwortung nach dem EATRR ein Reiseausweis für Flüchtlinge auszustellen sei.

10

Die Beklagte trat dem mit Schreiben aus Dezember 2014 entgegen: Dass der anfechtungsbedingte Wegfall der Staatsangehörigkeit nicht ausdrücklich gesetzlich geregelt sei, führe nicht zu einem Verstoß gegen Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG, zumal die Verbindung zwischen dem rückwirkenden Wegfall der Vaterschaft und demjenigen der Staatsangehörigkeit in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung anerkannt sei. In diesem Zusammenhang sei auch zu berücksichtigen, dass der Verlust der Staatsangehörigkeit im Fall einer vom Vater ausgehenden Vaterschaftsanfechtung aufgrund eines vom Kind beeinflussbaren bzw. diesem zurechenbaren Umstands eintrete – anders als im vom Bundesverfassungsgericht entschiedenen Fall der behördlichen Anfechtung. Soweit die Klägerin zu 1) einen Anspruch nach § 18 Abs. 2 AufenthG geltend macht, lägen die Erteilungsvoraussetzungen nicht vor.

11

Nach weiterem Schriftverkehr zwischen den Beteiligten wies die Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 24. November 2016 zurück und verwies auf die Gründe des angefochtenen Bescheids sowie die zwischenzeitlichen Hinweisschreiben.

12

Am 21. Dezember 2016 haben die Kläger Klage erhoben. Zur Begründung stützen sie sich im Wesentlichen auf die schon im Widerspruchsverfahren vorgetragenen Gesichtspunkte und sehen ihre Auffassung, dass die deutsche Staatsangehörigkeit des Klägers zu 2) fortbestehe, vor allem durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in der Sache 2 BvR 1327/18 bestätigt.

13

Zwischenzeitlich wurden beiden Klägern ein bis Dezember 2021 gültiges italienisches Reisedokument („Documento di viaggio“) mit dem Zusatz „Titolare di status di rifugiato“ ausgestellt, der Klägerin zu 1) außerdem ein ebenfalls bis Dezember 2021 gültiger italienischer Aufenthaltstitel („Permesso di soggiorno“).

14

Die Kläger beantragen,

15

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 11. Juni 2012 und des Widerspruchsbescheids vom 24. November 2016 zu verpflichten, die der Klägerin zu 1) am 2. März 2010 erteilte Aufenthaltserlaubnis gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 i.V.m. § 8 Abs. 1 AufenthG zu verlängern und bezüglich des Klägers zu 2) den Bescheid vom 11. Juni 2012 und den Widerspruchsbescheid vom 24. November 2016 aufzuheben,

16

hilfsweise, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 11. Juni 2012 und des Widerspruchsbescheids vom 24. November 2016 zu verpflichten, dem Kläger zu 2) eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen.

17

Die Beklagte beantragt,

18

die Klage abzuweisen,

19

und bezieht sich auf die Gründe der angegriffenen Entscheidung.

20

Die Sachakten der Beklagten haben bei der Entscheidung vorgelegen und waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe

21

Die Klage hat in Teilen Erfolg: Hinsichtlich des Begehrens der Klägerin zu 1) ist sie in vollem Umfang, hinsichtlich des vom Kläger zu 2) verfolgten Begehrens teilweise zulässig und begründet; im Übrigen ist sie jedenfalls unbegründet.

I.

22

Soweit sich die Klägerin zu 1) gegen die Versagung der Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis wendet, ist die nach § 42 Abs. 1 Alt. 2 VwGO statthafte und auch im Übrigen zulässige Klage begründet: Der Bescheid vom 11. Juni 2012 ist insoweit rechtswidrig und verletzt die Klägerin zu 1) in ihren Rechten, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO. Die Klägerin zu 1) hat einen Anspruch auf Verlängerung der ihr am 2. März 2010 erteilten Aufenthaltserlaubnis gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 i.V.m. § 8 Abs. 1 AufenthG.

23

1. Die Klägerin zu 1) ist als Mutter des Klägers zu 2) personensorgeberechtigter Elternteil eines minderjährigen ledigen Deutschen im Sinne von § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG. Zwar hat das Amtsgericht Hamburg-Wandsbek durch Beschluss vom 1. Februar 2011 festgestellt, dass V nicht Vater des Klägers zu 2) ist, § 1599 Abs. 1 i.V.m. § 1592 Nr. 2 BGB. Das zwischen dem Kläger zu 2) und V bestehende Verwandtschaftsverhältnis ist hierdurch rückwirkend entfallen (vgl. zur Rückwirkung Reuß, in: BeckOGK BGB, Stand: 1.2.2020, § 1599 Rn. 113). Ein Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit des Klägers zu 2) ist aber mangels hinreichender gesetzlicher Grundlage, derer es nach Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG bedarf, nicht eingetreten. Eine solche ergibt sich weder aus § 17 Abs. 2 und 3 Satz 1 Var. 3 StAG (a) noch aus § 4 StAG und/oder § 1599 Abs. 1, § 1592 BGB (b) oder aus dem Zusammenwirken der genannten Vorschriften (c).

24

a) Bezüglich § 17 Abs. 2 und 3 Satz 1 Var. 3 StAG ist bereits zweifelhaft, ob es sich überhaupt um eine Rechtsgrundlage für den Verlust der Staatsangehörigkeit handelt (vgl. OVG Bremen, Urt. v. 10.3.2020, 1 LC 171/16, juris Rn. 34; VG Lüneburg, Urt. v. 28.11.2019, 6 A 112/18, juris Rn. 27 ff.). § 17 Abs. 2 StAG regelt (nur) bestimmte Rechtsfolgen eines gemäß § 17 Abs. 1 Nr. 7 StAG eintretenden Verlusts, nicht jedoch den Verlust selbst. Entsprechendes gilt für § 17 Abs. 3 Satz 1 Var. 3 StAG, der einen Verlust der Staatsangehörigkeit infolge Feststellung des Nichtbestehens der Vaterschaft nach § 1599 BGB lediglich voraussetzt, indem er den Anwendungsbereich des Absatzes 2 auf diesen Fall ausdehnt. Auch die Materialien zu § 17 Abs. 2 und 3 StAG lassen keine Absicht erkennen, mit den Normen eine selbstständige Verlustgrundlage zu schaffen; vielmehr dokumentieren sie die gesetzgeberische Annahme, die deutsche Staatsangehörigkeit des betroffenen Kindes entfalle im Anwendungsfall des § 17 Abs. 3 Satz 1 Var. 3 StAG aufgrund einer „außerhalb des Staatsangehörigkeitsgesetzes“ erfolgenden Entscheidung, nämlich der Feststellung gemäß § 1599 BGB (vgl. BT-Drs. 16/10528, S. 6 f. (Zitat: S. 7)). Dem entspricht es, dass diese Fallgruppe nicht in § 17 Abs. 1 StAG aufgenommen wurde.

25

Selbst wenn § 17 Abs. 2 und 3 Satz 1 Var. 3 StAG eine gesetzliche Verlustgrundlage darstellt, genügt diese aber jedenfalls nicht den Anforderungen des Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG (ebenso im Ergebnis OVG Bremen, Urt. v. 10.3.2020, 1 LC 171/16, juris Rn. 35 ff.; s. auch OVG Schleswig, Beschl. v. 11.5.2016, 4 O 12/16, juris Rn. 14). Hiernach bedarf es zu einem unfreiwilligen Verlust der Staatsangehörigkeit einer gesetzlichen Grundlage. Diese muss den Verlust derart bestimmt regeln, dass die für den Einzelnen und die Gesellschaft gleichermaßen bedeutsame Funktion der Staatsangehörigkeit als verlässliche Grundlage gleichberechtigter Zugehörigkeit zum Staatsvolk nicht beeinträchtigt wird. Zur Verlässlichkeit des Staatsangehörigkeitsstatus gehört dabei auch die Vorhersehbarkeit eines Verlusts und damit ein ausreichendes Maß an Rechtssicherheit und -klarheit im Bereich der staatsangehörigkeitsrechtlichen Verlustregelungen. Um den strengen Anforderungen des Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG zu genügen, ist danach eine ausdrückliche Regelung des Staatsangehörigkeitsverlusts erforderlich (vgl. BVerfG, Beschl. v. 17.12.2013, 1 BvL 6/10, juris Rn. 81 = BVerfGE 135, 48; Beschl. v. 17.7.2019, 2 BvR 1327/18, juris Rn. 33; auch Urt. v. 24.5.2006, 2 BvR 669/04, juris Rn. 50 = BVerfGE 116, 24).

26

In Anwendung dieser Maßstäbe hat das Bundesverfassungsgericht zu § 17 Abs. 2 und 3 StAG Folgendes ausgeführt (Beschl. v. 17.12.2013, 1 BvL 6/10, juris Rn. 83):

27

Zwar hat die staatsangehörigkeitsrechtliche Folge der behördlichen Vaterschaftsanfechtung im Februar 2009 mittelbar Niederschlag im Gesetz gefunden, indem der Gesetzgeber in § 17 Abs. 2 und 3 StAG für den Staatsangehörigkeitsverlust drittbetroffener Kinder eine Altersgrenze festgesetzt und dabei die Behördenanfechtung ausdrücklich von der Geltung dieser Altersgrenze ausgenommen hat. Diese Bestimmung impliziert, dass die Behördenanfechtung zum Verlust der Staatsangehörigkeit führt. Den strengen Anforderungen, die der Gesetzesvorbehalt an die Regelung der Staatsangehörigkeit stellt, genügt diese nur mittelbare Regelung jedoch nicht.

28

Nichts anderes gilt für eine etwaige Anwendung des § 17 Abs. 2 und 3 Satz 1 Var. 3 StAG als Grundlage für den Staatsangehörigkeitsverlust infolge einer nicht-behördlichen Vaterschaftsanfechtung nach § 1600 Abs. 1 Nr. 1 BGB. Zwar ist der Staatsangehörigkeitsverlust des Kindes in diesem Fall „nur“ Nebenfolge und nicht – wie im Fall der behördlichen Anfechtung nach § 1600 Abs. 1 Nr. 5 BGB a.F. – zielgerichtet bezweckt, um den aufenthaltsrechtlichen Status der Kindesmutter zu beseitigen (vgl. dazu BVerfG, Beschl. v. 17.7.2019, 2 BvR 1327/18, juris Rn. 34). Die Staatsangehörigkeit des Kindes ist aber unabhängig von der Unterscheidung zwischen behördlicher und nicht-behördlicher Vaterschaftsanfechtung in ihrer Verlässlichkeit bzw. in ihrem Bestand berührt, denn in beiden Fällen tritt der Verlust als in Art und Intensität im Wesentlichen gleiche Rechtsfolge ein (vgl. OVG Bremen, Urt. v. 10.3.2020, 1 LC 171/16, juris Rn. 27; auch BVerfG, aaO). Dem lässt sich auch nicht entgegenhalten, eine vom Vater ausgehende Vaterschaftsanfechtung sei vom Kind beeinflussbar bzw. diesem zurechenbar: Nach der von der Beklagten insoweit in Bezug genommenen bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung liegt zwar grundsätzlich keine Entziehung der Staatsangehörigkeit nach Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG vor, soweit die Eltern mittelbar Einfluss auf den Staatsangehörigkeitsverlust des Kindes nehmen können (vgl. BVerfG, Beschl. v. 17.12.2013, 1 BvL 6/10, juris Rn. 39). Gleichwohl ist der Verlust an Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG zu messen und dabei insbesondere zu berücksichtigen, dass das Kind diesen nur im Rahmen des entsprechenden familiengerichtlichen Verfahrens (§§ 169 ff. FamFG) beeinflussen kann (vgl. BVerfG, aaO). Dass die Staatsangehörigkeit des Kindes einem in formeller Hinsicht erleichterten Verlustzugriff ausgesetzt wäre, wenn nur die Herbeiführung des vom Gesetzgeber jeweils normierten Verlustgrundes außerhalb der staatlichen Sphäre liegt, trifft danach nicht zu.

29

b) Eine Verlustgrundlage besteht auch nicht – je für sich genommen – in § 4 StAG oder in den bürgerlich-rechtlichen Vorschriften über die Vaterschaftsanfechtung und deren Rechtsfolgen (vgl. OVG Bremen, Urt. v. 10.3.2020, 1 LC 171/16, juris Rn. 32 f.). Erstere Bestimmung regelt die Voraussetzungen für den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit und nicht deren Verlust. Auch § 1599 Abs. 1, § 1592 BGB betreffen nicht die staatsangehörigkeitsrechtlichen Folgen, die sich aus dem rückwirkenden Entfallen des Verwandtschaftsverhältnisses ergeben.

30

c) Zu keinem anderen Ergebnis führt schließlich das Zusammenwirken von § 17 Abs. 2 und 3 Satz 1 Var. 3, § 4 StAG und § 1599 Abs. 1, § 1592 BGB bzw. eine dahin lautende – ungeschriebene – Rechtsregel, dass der Bestand der Staatsangehörigkeit vom Fortbestehen der rechtlichen Erwerbsvoraussetzungen abhängt (so auch OVG Bremen, Urt. v. 10.3.2020, 1 LC 171/16, juris Rn. 39; VG Lüneburg, Urt. v. 29.11.2018, 6 A 112/18, juris Rn. 21 ff.; a.A. OVG Lüneburg, Beschl. v. 12.9.2019, 8 ME 66/19, juris Rn. 47 ff. mit Verweis auf BVerwG, Urt. v. 19.4.2018, 1 C 1/17, juris Rn. 19). Maßgeblich hierfür ist, dass die genannten Vorschriften mangels ausdrücklicher Regelung des Staatsangehörigkeitsverlusts keine hinreichend rechtssichere und klare Grundlage darstellen, derer es nach Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG bedarf. Gleiches gilt für eine bloße – wenngleich allgemeine – Rechtsüberzeugung. Dabei verkennt die Kammer nicht, dass der Betroffene den Verlust der Staatsangehörigkeit bei rückwirkendem Entfallen von deren Erwerbsvoraussetzungen auf Grundlage der bisherigen Rechtsprechung mit gewisser Sicherheit vorhersehen konnte (hierauf abstellend OVG Lüneburg, aaO Rn. 49). Allein hierdurch ist dem Gesetzesvorbehalt des Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG jedoch nicht genügt: Erforderlich ist die Vorhersehbarkeit des Staatsangehörigkeitsverlusts aufgrund einer ausdrücklichen Entscheidung des unmittelbar demokratisch legitimierten Parlaments. Eine solche Entscheidung kann wegen der Bedeutung des Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG auch nicht durch die implizite Anerkennung einer bestimmten Rechtsprechungspraxis „ersetzt“ werden, zumal es sich bei der Zugehörigkeit zum Staatsvolk um einen wesentlichen Bereich demokratischer Gestaltung handelt (vgl. zu Letzterem BVerfG, Urt. v. 30.6.2009, 2 BvE 2/08 u.a., juris Rn. 249 = BVerfGE 123, 267). Die Entscheidung über die Voraussetzungen dieser Zugehörigkeit der rechtsprechenden Gewalt zu überantworten, ist dem Gesetzgeber von Verfassungs wegen verwehrt.

31

2. Die Klägerin zu 1) erfüllt auch die allgemeine Voraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG: Das ihr in Italien ausgestellte, bis Dezember 2021 gültige Reisedokument für Flüchtlinge („Documento di viaggio“) mit dem Zusatz „Titolare di status di rifugiato“ ist gemäß § 3 Abs. 1, Abs. 3 Nr. 1 AufenthV als Passersatz im Sinne von § 3 Abs. 1 Satz 1 AufenthG zugelassen.

II.

32

Soweit der Kläger zu 2) mit seinem Hauptantrag die Aufhebung des Bescheids vom 11. Juni 2012 und des Widerspruchsbescheids vom 24. November 2016 begehrt, ist die nach § 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO statthafte Klage zulässig (1.) und teilweise begründet (2.). Im Übrigen – bezüglich des mit dem Hilfsantrag verfolgten Verpflichtungsbegehrens – ist die Klage jedenfalls unbegründet (3.).

33

1. Dass der Kläger zu 2) zunächst nur das nunmehr in den Hilfsantrag gefasste Verpflichtungsbegehren verfolgt hat, steht der Zulässigkeit der Klage nicht entgegen. Zwar liegt in der Beschränkung des Hauptbegehrens auf die (isolierte) Aufhebung des Bescheids vom 11. Juni 2012 eine Klageänderung. In Anbetracht des primären Klagegrundes des Klägers zu 2) – der Annahme seiner fortbestehenden deutschen Staatsangehörigkeit – erweist sich diese aber als sachdienlich, § 91 Abs. 1 VwGO. Ob die Zulässigkeit einer derartigen „Herauslösung“ des Kassations- aus dem Leistungsbegehren auch bzw. schon aus § 173 Satz 1 i.V.m. § 264 Nr. 2 ZPO folgt, bedarf danach keiner Entscheidung.

34

Der Kläger zu 2) hat auch ein Rechtsschutzbedürfnis hinsichtlich der isolierten Aufhebung des angefochtenen Bescheids. Zwar dürfte sich seine Rechtsstellung durch die Aufhebung der in dem Bescheid enthaltenen Versagungsentscheidung und/oder der Abschiebungsandrohung nicht unmittelbar verbessern, denn als deutscher Staatsangehöriger ist der Kläger zu 2) weder auf eine Aufenthaltserlaubnis für das Bundesgebiet angewiesen noch der Gefahr einer Abschiebung ausgesetzt. Andererseits können besagte Regelungen für sich genommen den Anschein erwecken, als sei der Kläger zu 2) nicht deutscher Staatsangehöriger bzw. ausreisepflichtig. Diesen Anschein zu beseitigen, stellt ein legitimes Rechtsschutzziel dar, bezüglich dessen die Verpflichtungsklage nicht rechtsschutzintensiver ist.

35

2. Der Bescheid vom 11. Juni 2012 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger zu 2) in seinen Rechten, soweit diesem die Abschiebung nach Italien angedroht wird, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO: Als deutscher Staatsangehöriger ist der Kläger zu 2) schon nicht – wie für den Erlass einer Abschiebungsandrohung erforderlich (vgl. nur Kluth, in: ders./Heusch, BeckOK AuslR, Stand: 25. Ed. (1.8.2019), § 59 AufenthG Rn. 7) – ausreisepflichtig. Dem weitergehenden Aufhebungsbegehren bleibt der Erfolg hingegen versagt, denn die in dem Bescheid enthaltene Versagungsentscheidung ist mangels Anspruchs des Klägers zu 2) auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nicht rechtswidrig. Dass beide Regelungen in einer die Aufhebung nur der Abschiebungsandrohung ausschließenden Weise miteinander verbunden wären, ist nicht ersichtlich; insbesondere kann die – obgleich „ins Leere“ gehende – Versagungsentscheidung auch ohne die Abschiebungsandrohung rechtmäßigerweise fortbestehen (vgl. in diesem Zusammenhang nur BVerwG, Urt. v. 6.11.2019, 8 C 14/18, juris Rn. 13 m.w.N.).

36

3. Aus den nämlichen Gründen – Fehlen eines Anspruchs auf Erteilung eines Aufenthaltstitels – war schließlich auch dem hilfsweise verfolgten Verpflichtungsbegehren des Klägers zu 2) nicht zu entsprechen.

III.

37

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1, § 159 Satz 1 VwGO i.V.m. § 100 Abs. 1 ZPO; dass der Kläger zu 2) mit seinem Aufhebungsbegehren teilweise durchzudringen vermochte, war aufgrund der streitwertrechtlichen Irrelevanz der in dem Bescheid vom 11. Juni 2012 enthaltenen Abschiebungsandrohung (vgl. Nr. 8.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit) nicht gemäß § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO zu berücksichtigen. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 Satz 1 und 2, § 709 Satz 2 ZPO.

IV.

38

Berufung und Sprungrevision waren gemäß § 124a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 Nr. 3 und § 134 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zuzulassen. Die Frage, ob sich aus dem Zusammenwirken von § 17 Abs. 2 und 3 Satz 1 Var. 3, § 4 StAG und § 1599 Abs. 1, § 1592 BGB – ggf. in Verbindung mit einer ungeschriebenen, allgemein anerkannten Rechtsregel – eine hinreichende gesetzliche Grundlage für den Verlust der Staatsangehörigkeit nach rückwirkendem Entfallen der Erwerbsvoraussetzungen infolge einer vom Vater ausgehenden Vaterschaftsanfechtung ergibt, wird in der obergerichtlichen Rechtsprechung uneinheitlich beurteilt und ist bislang weder durch das Bundesverwaltungs- noch durch das Bundesverfassungsgericht entschieden worden. Sie betrifft auch revisibles Recht, ist hier entscheidungserheblich und kann in einer über den Einzelfall hinausgehenden Weise beantwortet werden.

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