Beschluss vom Verwaltungsgericht Minden - 10 L 10/15.A
Tenor
Die aufschiebende Wirkung der Klage im Verfahren 10 K 29/15.A gegen die im Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 19. November 2014 enthaltene Abschiebungsanordnung wird angeordnet.
Die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden, trägt die Antragsgegnerin.
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G r ü n d e :
2Der Antrag,
3die aufschiebende Wirkung der Klage im Verfahren 10 K 29/15.A gegen die im Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 19. November 2014 enthaltene Abschiebungsanordnung anzuordnen,
4ist zulässig und begründet.
5I. Der Antrag ist nicht verfristet. Zwar hat der Antragsteller den am 6. Januar 2015 beim Verwaltungsgericht eingegangenen Antrag entgegen § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylVfG nicht innerhalb einer Woche ab Bekanntgabe der Abschiebungsanordnung am 23. Dezember 2014 gestellt. Jedoch hat das Bundesamt den Kläger entgegen der unmittelbar geltenden Bestimmung des Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (ABl. L 180, S. 31, sog. Dublin III-VO) nicht über sein Recht, einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung zu stellen, und die hierfür geltende Frist belehrt. Aufgrund der unterbliebenen Belehrung war der Antrag gemäß § 58 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 1 VwGO binnen eines Jahres ab Bekanntgabe zu stellen. Diese Frist ist gewahrt.
61. Der Bescheid vom 19. November 2014 gilt dem Antragsteller als am 23. Dezember 2014 zugestellt und damit als an diesem Tag bekanntgegeben. Folglich wahrt der Eingang des Antrags beim Verwaltungsgericht am 6. Januar 2015 die einwöchige Antragsfrist des § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylVfG nicht. Diese Frist endete gemäß §§ 57 VwGO, 222 ZPO, 187 Abs. 1, 188 Abs. 2 BGB mit Ablauf des 30. Dezember 2014.
7§§ 1 Abs. 1, 3 Abs. 2 Satz 1 VwZG bestimmen, dass §§ 177 bis 182 ZPO für von einer Bundesbehörde veranlasste Zustellungen durch die Post mit Zustellungsurkunde entsprechend gelten. § 181 Abs. 1 Sätze 3 und 4 ZPO sehen vor, dass ein - wie hier - durch Niederlegung zugestelltes Schriftstück mit der Abgabe der schriftlichen Mitteilung über die Niederlegung als zugestellt gilt. Danach wäre die Zustellung des Bescheids bereits am 26. November 2014 erfolgt, weil der Postzusteller die schriftliche Mitteilung über die Niederlegung des Bescheids ausweislich der im Verwaltungsvorgang enthaltenen Postzustellungsurkunde bereits an diesem Tag in den Briefkasten der Gemeinschaftseinrichtung, in der der Antragsteller laut telefonischer Auskunft des Ordnungsamts der Stadt Altenbeken wohnt, eingelegt hat. Jedoch hat der Postzusteller ausweislich des vom Antragsteller vorgelegten Umschlags und entgegen § 181 Abs. 1 Satz 5 ZPO nicht dieses Datum auf dem Umschlag in dem für die Eintragung des Zustelldatums vorgesehenen Kästchen ("zugestellt am") vermerkt, sondern den 23. Dezember 2014. Dies ist, wie sich aus der Mitteilung der Postagentur Mol (Bl. 6 der Gerichtsakte) ergibt, das Datum des Tages, an dem der Antragsteller den Bescheid bei der Postagentur abgeholt hat. Außerdem befindet sich außerhalb des für die Eintragung des Zustelldatums vorgesehenen Kästchens der Vermerk "BEN 26/11/14". Dieser Vermerk war aufgrund der eindeutigen Angabe des Zustelldatums an der dafür vorgesehenen Stelle nicht als Eintragung eines (weiteren) Zustelldatums zu erkennen.
8Unterlässt der Postzusteller es, das Datum der Zustellung auf dem Umschlag zu vermerken, liegt ein Verstoß gegen eine zwingende Zustellungsvorschrift i.S.d. § 8 Halbsatz 1 Alt. 2 VwZG vor. Dies hat zur Folge, dass die Zustellungsfiktion des § 181 Abs. 1 Satz 4 bzw. § 180 Satz 2 VwGO nicht eingreift, sondern das zuzustellende Schriftstück gemäß § 8 Halbsatz 1 Alt. 2 VwZG erst dann als zugestellt gilt, wenn es dem Empfangsberechtigten tatsächlich zugegangen ist.
9Vgl. BFH, Beschluss vom 7. Februar 2013 - VIII R 2/09 -, BFHE 241, 107 (juris Rn. 40 ff.), sowie BFH, Großer Senat, Beschluss vom 6. Mai 2014 - GrS 2/13 -, BFHE 244, 536 (juris Rn. 63 ff.); a.A. Häublein, in: Münchener Kommentar zur ZPO, 4. Auflage 2013, § 181 Rn. 13 (Frist beginnt nicht zu laufen); Stöber, in: Zöller, ZPO, 30. Auflage 2014, § 182 Rn.19 (Zustellung wirksam, aber Wiedereinsetzung zu prüfen).
10Sowohl bei § 181 Abs. 1 Satz 4 ZPO als auch bei § 180 Satz 2 ZPO handelt es sich nicht um eine bloße Ordnungsvorschrift. Zum Schutz des Zustellungsempfängers, der die an die Zustellung geknüpften Rechtsfolgen gegen sich gelten lassen muss, ist es erforderlich, dass ihm der Tag der Zustellung zutreffend und eindeutig mitgeteilt wird. Dies gilt nicht nur für den Fall, dass der Postzusteller es überhaupt unterlässt, den Tag der Zustellung auf dem Umschlag zu vermerken, sondern auch dann, wenn - wie hier - der Datumsvermerk in dem dafür vorgesehenen Kästchen von dem beurkundeten Datum der Zustellung abweicht.
11Vgl. BVerwG, Urteil vom 7. November 1979 - 6 C 47.78 -, NJW 1980, 1482 (juris Rn. 17) zu § 195 Abs. 2 Satz 2 ZPO a.F.
122. Die Überschreitung der Antragsfrist des § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylVfG führt jedoch nicht zur Unzulässigkeit des Antrags. Da das Bundesamt den Antragsteller nicht über sein Recht, einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung zu stellen, und die hierfür geltende Frist belehrt hat, war der Antrag binnen eines Jahres ab Bekanntgabe zu stellen. Diese Frist ist mit Eingang des Antrags beim Verwaltungsgericht am 6. Januar 2015 gewahrt.
13Zwar hat der Gesetzgeber in § 34a Abs. 2 AsylVfG keine dem § 36 Abs. 3 Sätze 2 und 3 AsylVfG vergleichbare Regelung zum Erfordernis einer Rechtsbehelfsbelehrung und den Rechtsfolgen des Fehlens einer solchen Belehrung übernommen.
14Vgl. Funke-Kaiser, in: GK-AsylVfG, Band 2, Stand: Juni 2014, § 34a Rn. 100.
15Eine entsprechende Verpflichtung ergibt sich jedoch aus der unmittelbar geltenden Bestimmung des Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 VO 604/2013. Diese Verordnung und nicht deren Vorgänger, die Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 (ABl. L 50, S. 1, sog. Dublin II-VO), findet hier Anwendung, weil der Antragsteller seinen Asylantrag, d.h. seinen Antrag auf internationalen Schutz i.S.d. Art. 2 lit. b) VO 604/2013, am 2. Juni 2014 und damit nach dem 1. Januar 2014 als dem gemäß Art. 49 Unterabs. 2 Sätze 1 und 2 VO 604/2013 für die Eröffnung des Anwendungsbereichs dieser Verordnung maßgeblichen Zeitpunkt gestellt hat.
16Gemäß Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 VO 604/2013 enthält die Überstellungsentscheidung, nach deutschem Recht also die Abschiebungsanordnung gemäß § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG, eine Rechtsbehelfsbelehrung "einschließlich des Rechts, falls erforderlich, aufschiebende Wirkung zu beantragen, und der Fristen für die Einlegung eines Rechtsbehelfs …". Diese in der deutschen Fassung sprachlich missglückte Norm ist - wie sich z.B. aus der englischen und französischen Fassung eindeutig ergibt - dahingehend zu verstehen, dass zu überstellende Personen sowohl über die Möglichkeit, einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung zu stellen, als auch über die Frist, innerhalb derer ein solcher Antrag zu stellen ist, zu belehren sind. Die dem Bescheid vom 19. November 2014 beigefügte Rechtsbehelfsbelehrung enthält - entgegen der sonstigen Übung des Bundesamts - keine derartige Belehrung.
17Die unterbliebene Belehrung hat zur Folge, dass der Antrag gemäß § 58 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 1 VwGO binnen eines Jahres zu stellen war. Dabei bedarf keiner Entscheidung, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen Anträge gemäß §§ 80 Abs. 5, 80a VwGO als Rechtsmittel oder als ein anderer Rechtsbehelf im Sinne dieser Norm anzusehen sind.
18Vgl. Czybulka, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 3. Auflage 2010, § 58 Rn. 23 ff.; Kopp/Schenke, VwGO, 20. Auflage 2014, § 58 Rn. 5; Jörg Schmidt, in: Eyermann, VwGO, 11. Auflage 2000, § 58 Rn. 3.
19Denn Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 VO 604/2013 stellt einen gegen eine Abschiebungsanordnung i.S.d. § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG gerichteten Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung im Hinblick auf die Erteilung einer Rechtsbehelfsbelehrung ausdrücklich einer gegen die Abschiebungsanordnung gerichteten Klage gleich, so dass sich ein solcher Antrag wie eine solche Klage als sonstiger Rechtsbehelf i.S.d. § 58 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 1 VwGO darstellt. Zudem folgt aus der Gleichstellung in Bezug auf die Erteilung einer Rechtsbehelfsbelehrung die Notwendigkeit, derartige Anträge und Klagen auch in Bezug auf die Folgen eines Fehlens der Belehrung gleich zu stellen. Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 VO 604/2013 bliebe in Bezug auf einen solchen Antrag praktisch wirkungslos, wenn das Fehlen einer Belehrung über die Möglichkeit, einen solchen Antrag zu stellen, sowie über die hierfür einzuhaltende Frist folgenlos bliebe. Schließlich entspricht die Anwendung des § 58 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 1 VwGO auf Anträge nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG der Konzeption des § 36 Abs. 3 Sätze 2 und 3 AsylVfG; § 36 Abs. 3 Satz 3 AsylVfG bestimmt, dass § 58 VwGO auf Anträge auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung gemäß § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG, die gemäß § 36 Abs. 3 Satz 2 AsylVfG in die Rechtsbehelfsbelehrung einzubeziehen sind, entsprechend anzuwenden ist.
20II. Die Frist für die Erhebung der Klage, deren aufschiebende Wirkung das Gericht anordnet, ist ebenfalls gewahrt. Dabei kann offen bleiben, ob diese Frist zwei Wochen (§ 74 Abs. 1 Halbsatz 1 AsylVfG)
21- so z.B. VG Stuttgart, Urteil vom 26. Mai 2014 - A 12 K 12/14 -, Abdruck S. 3 -
22oder in Anknüpfung an die gemäß § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylVfG einwöchige Frist für die Stellung eines Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO eine Woche (§ 74 Abs. 1 Halbsatz 2 AsylVfG) ab Zustellung des Bescheids vom 19. November 2014 beträgt.
23So z.B. VG Ansbach, Urteil vom 8. April 2014 - AN 11 K 14.30189 -, juris Rn. 15.
24Denn jedenfalls hat das Bundesamt in der dem Bescheid beigefügten Rechtsbehelfsbelehrung den Antragsteller dahingehend belehrt, dass die Klage innerhalb von zwei Wochen zu erheben ist. Sowohl diese Frist als auch die im Falle einer etwaigen unrichtigen Belehrung ggf. geltende Jahresfrist (§ 58 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 1 VwGO) sind gewahrt. Wie sich aus den Ausführungen unter I.1 ergibt, wurde der Bescheid vom 19. November 2014 dem Antragsteller am 23. Dezember 2014 zugestellt, so dass der Eingang der Klageschrift beim Verwaltungsgericht am 6. Januar 2015 fristgerecht erfolgt ist.
25III. Die im Verfahren nach § 34a Abs. 2 AsylVfG i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmende Interessenabwägung geht zugunsten des Antragstellers aus.
261. Für die vorzunehmende Interessenabwägung gelten die im Rahmen des § 80 Abs. 5 VwGO anwendbaren allgemeinen Grundsätze. Dementsprechend ist das Interesse des Antragstellers an einer Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen die streitgegenständliche Abschiebungsanordnung gegen das öffentliche Interesse an deren alsbaldiger Vollziehung abzuwägen. Im Rahmen dieser Abwägung sind die Erfolgsaussichten der Klage maßgeblich zu berücksichtigen.
27Dagegen setzt die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage anders als in Fällen der Unbeachtlichkeit oder der offensichtlichen Unbegründetheit des Asylantrags (§ 36 Abs. 1 und 4 Satz 1 AsylVfG) nicht voraus, dass ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids bestehen. Im Gegensatz zu § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG enthält § 34a Abs. 2 AsylVfG keine entsprechende Einschränkung. Ein Antrag, § 34a Abs. 2 AsylVfG entsprechend zu fassen, fand im Gesetzgebungsverfahren keine Mehrheit.
28Vgl. VG Trier, Beschluss vom 18. September 2013 - 5 L 1234/13.TR -, juris Rn. 5 ff. mit ausführlicher Darstellung des Ablaufs des Gesetzgebungsverfahrens; VG Darmstadt, Beschluss vom 9. Mai 2014 - 4 L 491/14.DA.A -, juris Rn. 2.
292. Zum Zeitpunkt des Erlasses der vorliegenden Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylVfG) ist offen, ob die streitgegenständliche Abschiebungsanordnung rechtswidrig ist und den Antragsteller, dem ausweislich der Mitteilung des italienischen Innenministeriums vom 3. Oktober 2014 in Italien der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt wurde, in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
30a) Der Klärung im Hauptsacheverfahren bedarf zunächst die Rechtsfrage, ob - wie die Beklagte meint - § 26a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG auf den vorliegenden Fall Anwendung findet oder der gegenüber dieser Norm vorrangige § 27a AsylVfG.
31Zum Verhältnis dieser beiden Normen vgl. Funke-Kaiser, in: GK-AsylVfG, Band 2, Stand: Juni 2014, § 27a Rn. 12 f. und 56 ff.; unklar ("sonstiger sicherer Drittstaat") Hail-bronner, Ausländerrecht, Band 3, Stand: September 2014, § 27a Rn. 6.
32Welche der beiden Vorschriften anwendbar ist, dürfte insbesondere davon abhängen, ob auf Ausländer, denen in einem anderen Mitgliedstaat bereits die Flüchtlingseigenschaft oder der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt wurde, die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 bzw. deren Vorgänger, die Verordnung (EG) Nr. 343/2003, Anwendung findet.
33Bejahend: VG Stuttgart, Urteil vom 28. Februar 2014 - A 12 K 383/14 -, juris Rn. 15; a.A. BVerwG, Urteil vom 17. Juni 2014 - 10 C 7.13 -, InfAuslR 2014, 400 (juris Rn. 26; Flüchtlingseigenschaft); Funke-Kaiser, in: GK-AsylVfG, Band 2, Stand: Juni 2014, § 27a Rn. 34 (Flüchtlingseigenschaft und subsidiärer Schutz); Marx, AsylVfG, 8. Auflage 2014, § 27a Rn. 11 (Flüchtlingseigenschaft und subsidiärer Schutz); Filzwieser/Sprung, Dublin III-Verordnung, 2014, Art. 2 K 22 (Flüchtlingseigenschaft und subsidiärer Schutz, soweit das Asylverfahren abgeschlossen ist); Pelzer, Beilage zum Asylmagazin 7-8/2013, S. 29, 31 (Flüchtlingseigenschaft und subsidiärer Schutz).
34b) Ebenfalls der Klärung im Hauptsacheverfahren bedarf, ob die Verhältnisse in Italien einer Überstellung des Antragstellers dorthin entgegen stehen. Aufgrund der dem Gericht vorliegenden Unterlagen bestehen belastbare Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsteller im Falle seiner Überstellung nach Italien dort einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.d. Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GR-Charta) bzw. des inhaltsgleichen Art. 3 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) ausgesetzt sein wird.
35aa) Asylbewerber, die in der Regel vollständig auf staatliche Hilfe angewiesen sind, sind einer solchen Behandlung ausgesetzt, wenn sie sich in einer mit der menschlichen Würde unvereinbaren Situation ernsthafter Entbehrungen und Not behördlicher Gleichgültigkeit gegenüber sehen.
36Vgl. EGMR, Urteil vom 4. November 2014 - 29217/12 (Tarak-hel/Schweiz) -, HUDOC Rn. 98; s.a. BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013 - 10 C 15.12 -, BVerwGE 146, 12 (juris Rn. 24); United Kingdom Supreme Court, Urteil vom 19. Febru-ar 2014 - EM (Eritrea) and others v the Secretary of the State for the Home Department, [2014] UKSC 12 -, Rn. 62.
37Das Gleiche muss für Personen gelten, denen die Flüchtlingseigenschaft oder der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt oder denen nationaler Abschiebungsschutz gewährt wurde, weil sich diese Personen in Bezug auf ihre tatsächliche soziale Lage im Aufnahmestaat in vielen Aspekten in einer vergleichbaren Situation wie Asylbewerber befinden. Insbesondere verfügen sie in der Regel weder über Familienangehörige oder Bekannte im Aufnahmestaat noch über ausreichende Kenntnisse der dortigen Landessprache. Vor allem diese beiden Aspekte schränken diese Personen darin ein, ihren Lebensunterhalt unabhängig von staatlicher Hilfe zu bestreiten.
38Vgl. VG Minden, Beschluss vom 15. März 2013 - 10 L 123/13.A -, Abdruck S. 4.
39Dabei ist auch zu berücksichtigen, ob staatliche Stellen es durch ihr vorsätzliches Handeln oder Unterlassen betroffenen Personen praktisch verwehren, von ihren gesetzlich verankerten Rechten auf eine Unterkunft und annehmbare materielle Bedingungen Gebrauch zu machen.
40Vgl. EGMR, Urteil vom 4. November 2014 - 29217/12 (Tarak-hel/Schweiz) -, HUDOC Rn. 96.
41Sind Kinder betroffen, ist entscheidend auf ihre besondere Verletzlichkeit abzustellen, der der Vorrang gegenüber dem Gesichtspunkt ihres Status als illegaler Einwanderer einzuräumen ist.
42Vgl. EGMR, Urteil vom 4. November 2014 - 29217/12 (Tarak-hel/Schweiz) -, HUDOC Rn. 99.
43Im Rahmen der Prognose, ob Ausländer im Falle ihrer Überstellung in einen anderen Staat mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt sein werden, ist nicht allein auf die Rechtslage in diesem Staat abzustellen; maßgeblich ist vielmehr deren Umsetzung in die Praxis.
44Vgl. EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 - 30696/09 (M.S.S./ Belgien und Griechenland) -, NVwZ 2011, 413 und HUDOC Rn. 359; Hailbronner, Ausländerrecht, Band 3, Stand: Juni 2014, § 34a AsylVfG Rn. 21.
45bb) Aufgrund der dem Gericht vorliegenden Unterlagen liegen belastbare Anhaltspunkte dafür vor, dass der Antragsteller im Falle seiner Rückkehr nach Italien auf längere Zeit Obdachlosigkeit und existenzbedrohender materieller Armut ausgesetzt sein wird. Bezüglich Italiens gilt, dass sich die Situation für anerkannte Schutzberechtigte in der Regel schwieriger als für Personen darstellt, die sich dort noch im Asylverfahren befinden.
46Vgl. borderline-europe e.V., Gutachten Dezember 2012, S. 52.
47Dies beruht darauf, dass anerkannte Schutzberechtigte im Gegensatz zu Asylbewerbern weitgehend von staatlichen Leistungen ausgeschlossen sind. Zwar erhalten anerkannte Schutzberechtigte eine Aufenthaltserlaubnis, mit der sie dieselben Rechte wie italienische Staatsangehörige genießen, insbesondere freien Zugang zum Arbeitsmarkt und kostenfreien Zugang zur öffentlichen Gesundheitsversorgung. Dementsprechend sind anerkannte Schutzberechtigte selbst für eine Unterkunft und die Bestreitung ihres Lebensunterhalts verantwortlich. Ein Anspruch auf weitere Sozialleistungen besteht grundsätzlich nicht.
48Vgl. Auswärtiges Amt, Auskünfte vom 21. Januar 2013, Punkt 7, sowie vom 24. Mai 2013, Antwort zu Frage 12; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Italien: Aufnahmebedingungen, Oktober 2013; S. 47; bordermonitoring.eu, Vai Via - zur Situation der Flüchtlinge in Italien: Ergebnisse einer einjährigen Recherche, S. 21 f.
49Ein der deutschen Rechtslage vergleichbares System der Sozialhilfe gibt es in Italien nicht. Für die Festsetzung von Sozialhilfeleistungen sind grundsätzlich die Regionen zuständig, in bestimmten Regionen wie z.B. der Emilia Romagna oder der Toskana, die Kommunen. Öffentliche Fürsorgeleistungen weisen daher deutliche Unterschiede je nach regionaler und kommunaler Finanzkraft auf. Sozialhilfe kann Personen gewährt werden, die nicht über Mindesteinkünfte zur Bestreitung grundlegender Bedürfnisse verfügen. Die Ausgaben für die Sicherung des Lebensunterhalts machen oft nur einen kleinen Teil der Gesamtsumme aus; stärker ins Gewicht fallen spezifische Sach- und Geldleistungen oder Familienleistungen, die je nach Einkommen und Kinderzahl gestaffelt sind.
50Vgl. Deutsche Botschaft Rom, Sozialpolitische Information Italien, Januar 2012, S. 24 f.
51Allerdings sind entsprechende Leistungen in jüngster Zeit wie z.B. in Mailand gekürzt worden; Rom soll Berichten zufolge gar keine Sozialleistungen mehr gewähren.
52Schweizerische Flüchtlingshilfe, Italien: Aufnahmebedingungen, Oktober 2013; S. 48.
53Zudem stehen Sozialhilfeleistungen nur denjenigen zu, die ihren Wohnsitz in der betreffenden Gemeinde haben. Berichten zufolge verweigern viele Gemeinden die Neuregistrierung von Personen, die hilfebedürftig sind. Dadurch bleiben sie hinsichtlich des Bezugs von Sozialhilfeleistungen an ihren ursprünglichen Wohnort gebunden.
54Schweizerische Flüchtlingshilfe, Bewegungsfreiheit in Italien für mittellose Personen mit Schutzstatus, 4. August 2014, S. 3 ff.
55Im Gegensatz zu Asylbewerbern haben anerkannte Schutzberechtigte keinen Zugang mehr zu Erstaufnahmeeinrichtungen für Asylbewerber (sog. CARAS) oder zu aus dem Europäischen Flüchtlingsfonds finanzierten Unterkünften (sog. FER-Projekte). Ihnen stehen nur Unterkünfte aus dem Zweitaufnahmesystem (sog. SPRAR-System) offen. Dies gilt allerdings dann nicht, wenn sie eine SPRAR-Unterkunft bereits einmal vorzeitig verlassen haben. Hinzu kommt, dass die Kapazität des SPRAR-Systems nicht ausreichend ist und nur für eine geringe Anzahl berechtigter Personen eine - zudem in der Regel auf sechs Monate beschränkte - Unterkunft bietet.
56Vgl. borderline-europe e.V., Gutachten Dezember 2012, S. 52; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Italien: Aufnahmebedingungen, Oktober 2013, S. 21 ff.
57Die unzureichende Kapazität des italienischen Aufnahmesystems führt dazu, dass zahlreiche Ausländer, und zwar sowohl Asylbewerber als auch anerkannte Schutz-berechtigte, obdachlos sind oder unter unzumutbaren Bedingungen in besetzten Gebäuden oder slumartigen Siedlungen leben. Dabei handelt es sich nicht um Einzelfälle, sondern um ein weit verbreitetes Schicksal. Auch Frauen, alleinerziehende Mütter, Familien und psychisch Kranke sind von diesem Risiko betroffen.
58bordermonitoring.eu, Vai Via - zur Situation der Flüchtlinge in Italien: Ergebnisse einer einjährigen Recherche, S. 21 f.; Der Spiegel, 17. Juni 2013 (Nr. 25), S. 34: Mogadischu in Apulien; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Italien: Aufnahmebedingungen, Oktober 2013; S. 35 f. und 40 bis 42; Frankfurter Rundschau, Die Vergessenen, 9. Oktober 2013.
59Angesichts der aufgrund der Wirtschaftskrise relativ hohen Arbeitslosigkeit in Italien schätzte borderline-europe e.V. es schon im Dezember 2012 als fast unmöglich ein, als Flüchtling mit wenigen Sprachkenntnissen finanziell auf eigenen Füßen zu stehen.
60Vgl. Gutachten, S. 52.
61Laut einer Studie von Juni 2012 sollen damals etwa 45 % der anerkannten Schutzberechtigten ohne Arbeit gewesen sein.
62Vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Italien: Aufnahmebedingungen, Oktober 2013, S. 43.
63Daran dürfte sich angesichts der gegenüber 2012 nochmals gestiegenen Arbeitslosigkeit (Gesamtquote im August 2014 12,2 % bei einer Quote von 40,2 % für die Gruppe der unter 25-Jährigen)
64- vgl. http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/jugendarbeitslo sigkeit-in-italien-erreicht-im-august-rekordstand-a-925511.html (abgerufen am 30. Dezember 2014) -
65nichts geändert haben.
66Der Antragsteller hat im gerichtlichen Verfahren eine eidesstattliche Versicherung vorgelegt, der zufolge er von den italienischen Behörden trotz Erkrankung an Tuberkulose weder eine angemessene medizinische noch eine ausreichende sonstige Unterstützung erhalten habe, insbesondere sei ihm trotz seiner Erkrankung keine Unterkunft zur Verfügung gestellt worden. Da nach den vorstehenden Ausführungen nicht davon ausgegangen werden kann, dass ihm in Italien staatliche Leistungen zur Verfügung stehen, ist nach derzeitigem Sach- und Streitstand nicht ersichtlich, wie es ihm im Falle seiner Überstellung nach Italien gelingen sollte, die notwendigen finanziellen Mittel für eine Unterkunft und die Bestreitung seines Lebensunterhalts aufzubringen, zumal sich die Lage sowohl auf dem Wohnungs- als auch auf dem Arbeitsmarkt aufgrund der auch in Italien steigenden Anzahl von Asylanträgen weiter verschärfen dürfte und er seinen Angaben zufolge immer noch nicht gesund ist und weiterhin regelmäßiger medizinsicher Kontrollen bedarf.
67Im Vergleich zu 2013 als etwa 28.000 Asylanträge zu verzeichnen waren
68- vgl. Asylmagazin 4/2014, S. 103 -,
69sind bis Ende November 2014 in Italien bereits knapp 59.000 Asylanträge registriert worden.
70Vgl. http://ec.europa.eu/eurostat/tgm/table.do?tab=table&init= 1&language=en&pcode=tps00189&plugin=1 (abgerufen am 5. Februar 2015).
71Dies entspricht allein bis Ende November 2014 einem Anstieg von 110 % gegenüber dem gesamten Vorjahr. Damit wird 2014 auch der bisherige Höchststand in der jüngeren Vergangenheit von etwa 37.000 Asylanträgen im Jahr 2011
72- vgl. Associazione per gli Studi Giuridici sull' Immigrazione (ASGI), Parlamento, governo e ue potenzino subito il sistema itialiano per il diritto d'asilo - Raccomandazioni e richieste dell' ASGI, 12. April 2014, S. 2, http://www.asgi.it/wp-content/up loads/public/1_0014 asilo_asgidocumenti.pdf (abgerufen am 22. Dezember 2014) -
73bei weitem überschritten.
74Anhaltspunkte dafür, dass Italien sein Aufnahmesystem der steigenden Anzahl von Asylanträgen angepasst, insbesondere die Zahl der Unterkunftsplätze angemessen erhöht hat, liegen dem Gericht nicht vor. Vielmehr hat UNHCR bereits im April 2014 zusätzliche Aufnahmehilfen angemahnt
75- vgl. UNHCR, Italy rescues 6.000 people crossing Mediterranean in four days, 11. April 2014, http://www.unhcr.org/5347 d8fa9.html (abgerufen am 22. Dezember 2014) -
76und im Juni 2014 eine Verteilung der in internationalen Gewässern geretteten und in Italien an Land gegangenen Flüchtlinge angeregt, um das italienische Asylsystem zu entlasten.
77Vgl. Reuters, EU should share out refugees rescued at sea, 13. Juni 2014, http://www.trust.org/item/20140613154221-5bt33 /?source=jtOtherNews1 (abgerufen am 22. Dezember 2014).
78Dementsprechend konstatiert auch das Bundesverfassungsgericht das Vorliegen belastbarer Anhaltspunkte für das Bestehen von Kapazitätsengpässen bei der Versorgung nach Italien überstellter Ausländer mit einer tauglichen Unterkunft
79- vgl. Beschluss vom 17. September 2014 - 2 BvR 732/14 -, AuAS 2014, 244 (juris Rn. 15) -,
80und hält es der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, der schon für 2013 eine eklatante Diskrepanz zwischen der Anzahl der Asylanträge und der Anzahl der verfügbaren Unterkunftsplätze feststellt, nicht für ausgeschlossen, dass eine erhebliche Anzahl von Asylbewerbern in Italien ohne Unterkunft bleibt oder in überfüllten Einrichtungen ohne Privatsphäre oder sogar in Einrichtungen mit ungesunden Bedingungen oder in Einrichtungen, in denen Gewalt droht, untergebracht wird.
81Vgl. EGMR, Urteil vom 4. November 2014 - 29217/12 (Tarak-hel/Schweiz) -, HUDOC Rn. 110 und 115.
82c) Außerdem ist nach derzeitigem Sach- und Streitstand fraglich, ob die Abschiebung des Antragstellers nach Italien durchgeführt werden kann.
83Voraussetzung für den Erlass einer auf § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG gestützten Abschiebungsanordnung ist auch, dass die Durchführbarkeit der Abschiebung in den Zielstaat (hier: Italien) feststeht.
84Vgl. Funke-Kaiser, in: GK-AsylVfG, Band 2, Stand: Juni 2014, § 27a Rn. 20; Hailbronner, Ausländerrecht, Band 3, Stand: Juni 2014, § 34a AsylVfG Rn. 16.
85Dies ergibt sich unmittelbar aus dem Wortlaut des § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG. Erforderlich ist insbesondere, dass die Übernahmebereitschaft des Staates, in den eine Person überstellt werden soll, abschließend geklärt ist. Dies setzt allerdings nicht ausnahmslos voraus, dass der Zielstaat einer Überstellung ausdrücklich zugestimmt hat. Besteht eine gesicherte Verwaltungsübung mit dem Zielstaat, dass unter bestimmten Voraussetzungen und bei Vorliegen bestimmter Beweismittel hinsichtlich eines Voraufenthalts im Zielstaat die betreffende Person ohne Weiteres unverzüglich übernommen wird, so reicht dies aus.
86Vgl. Funke-Kaiser, in: GK-AsylVfG, Band 2, Stand: Juni 2014, § 27a Rn. 20.
87Aus dem vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) vorgelegten Verwaltungsvorgang ist nicht ersichtlich, dass Italien der Überstellung ausdrücklich zugestimmt hat. Vielmehr hat das Dublin-Referat des italienischen Innenministeriums sich in seinem Schreiben vom 27. November 2014 darauf berufen, im vorliegenden Fall nicht zuständig zu sein, und hat es das Bundesamt an eine andere, näher bezeichnete Stelle verwiesen. Dass sich das Bundesamt an diese Stelle gewandt und diese der Überstellung des Antragstellers zugestimmt hat, geht aus dem vorgelegten Verwaltungsvorgang nicht hervor. Erkenntnisse dazu, ob zwischen Italien und der Bundesrepublik Deutschland eine gesicherte Verwaltungsübung besteht, dass Italien Ausländer unter den Voraussetzungen, wie sie im vorliegenden Fall gegeben sind, ohne Weiteres unverzüglich übernimmt, liegen dem Gericht nicht vor. Ein Indiz gegen eine solche Verwaltungspraxis ist der Umstand, dass das Dublin-Referat des italienischen Innenministeriums das Bundesamt an eine andere Stelle verwiesen hat.
883. Ist nach den vorstehenden Ausführungen derzeit offen, ob die streitgegenständliche Abschiebungsanordnung rechtswidrig ist und den Antragsteller in seinen Rechten verletzt, überwiegt angesichts der durch die Abschiebungsanordnung betroffenen Rechte des Antragstellers - insbesondere seiner Rechte auf körperliche Unversehrtheit sowie auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums - das Interesse des Antragstellers an einem vorläufigen Verbleib im Bundesgebiet und damit an einer Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen die streitgegenständliche Abschiebungsanordnung das öffentliche Interesse an deren alsbaldiger Vollziehung durch Überstellung des Antragstellers nach Italien.
89Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 155 Abs. 1 Satz 1, 159 Satz 1 VwGO, 100 Abs. 1 ZPO, 83b AsylVfG.
90Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).
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