Urteil vom Bundesarbeitsgericht (5. Senat) - 5 AZR 592/17

Tenor

1. Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Nürnberg vom 27. Juni 2017 - 6 Sa 16/17 - aufgehoben.

2. Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Revision - an eine andere Kammer des Landesarbeitsgerichts zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Die Parteien streiten über Vergütung und Urlaubsgeld wegen Annahmeverzugs, hilfsweise als Schadensersatz.

2

Die Klägerin ist bei der Beklagten seit Januar 2001 als „nichtvollbeschäftigte“ Arbeiterin mit einer regelmäßigen durchschnittlichen Arbeitszeit von 20 Wochenstunden beschäftigt. Sie war als Sortiererin im Modul Großbriefverteilung tätig. Auf das Arbeitsverhältnis finden kraft arbeitsvertraglicher Bezugnahme die für die Deutsche Post AG geltenden Tarifverträge Anwendung.

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Seit dem 26. Mai 2011 war die Klägerin längere Zeit krankheitsbedingt arbeitsunfähig. Sie erlitt Verletzungen an der rechten Schulter, dem rechten Arm und der rechten Hand. Mit Schreiben vom 18. Januar 2012 teilte der Postbetriebsarzt der Beklagten mit, aus arbeitsmedizinischer Sicht bestünden keine Bedenken gegen eine Tätigkeit der Klägerin im Bereich „integrierte Lese- und Verteilmaschine“ (ILVM). Die Klägerin war allerdings weiterhin durchgehend arbeitsunfähig krank. Unter dem Datum 17. April 2015 erstellte der Postbetriebsarzt - nach einer Untersuchung der Klägerin am 4. März 2015 - ein Leistungsbild, aus dem sich gesundheitliche Einschränkungen für eine Tätigkeit der Klägerin ergaben. Das vorhandene Leistungsvermögen ließ hiernach eine Tätigkeit entsprechend der bisherigen Beschäftigung nicht zu.

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Im Rahmen eines betrieblichen Eingliederungsmanagements (bEM) fand am 7. Dezember 2015 eine Besprechung statt. Diese ergab, dass „Schonarbeitsplätze“ nicht frei seien und in absehbarer Zeit auch nicht frei würden. Als eine für die Klägerin ggf. infrage kommende Beschäftigung wurde ein Arbeitsplatz im Bereich „integrierte Lesevideocodiermaschine-Videocodiertunnel“ identifiziert.

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Nach einer weiteren Eignungsuntersuchung vom 5. Januar 2016 kam der Postbetriebsarzt zu dem Schluss, die Klägerin sei aus gesundheitlichen Gründen auch auf diesem Arbeitsplatz nicht einsetzbar. Die Klägerin war anderer Auffassung und forderte mit Schreiben vom 8. Februar 2016 die Beklagte auf, ihr die im bEM benannte Tätigkeit zuzuweisen. Dabei verwies die Klägerin auf eine beigefügte Bescheinigung ihres behandelnden Facharztes, in der es heißt, sie könne „regelm. wiederkehrend“ bis zu vier Stunden täglich an fünf Tagen der Woche Lasten über 7 kg heben und tragen; zeitweise sei auch das Heben und Tragen von Lasten bis zu 10 kg - allerdings nur unterhalb von Überkopfhöhe - problemlos möglich; sie könne diese Arbeit bis zu vier Stunden täglich im Stehen verrichten. Die Beklagte reichte das Attest an den Postbetriebsarzt weiter, der am 22. April 2016 mitteilte, die Befunde hätten unter Berücksichtigung der Anforderungen am Arbeitsplatz keinen Einfluss auf das von ihm erstellte Leistungsbild und seine Beurteilung vom Januar 2016.

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Am 27. Juni 2016 erfolgte eine neuerliche Eignungsuntersuchung durch den Postbetriebsarzt. Dieser befand, die Belastbarkeit für eine dauerhafte Beschäftigung der Klägerin in dem im bEM benannten Bereich sei „nach wie vor nicht sicher gegeben“. Ein Arbeitsversuch sei angesichts eines „tendenziell gebesserten“ Gesamtzustands möglich, berge aber Risiken. Eine Wiedereingliederungsmaßnahme von mindestens drei Monaten werde dringend empfohlen. Die Klägerin lehnte dies ab und legte am 15. September 2016 ein neuerliches Attest ihres behandelnden Facharztes vom 9. September 2016 vor, in dem dieser bescheinigte, eine Wiedereingliederungsmaßnahme sei nicht erforderlich. Seit dem 2. November 2016 arbeitet die Klägerin als Sortiererin im Arbeitsbereich „ILVM/Videocodierung“.

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Mit ihrer am 11. Mai 2016 eingegangenen, mehrfach erweiterten Klage hat die Klägerin, soweit für das Revisionsverfahren von Bedeutung, Vergütung für die Zeit vom 15. Februar bis zum 31. Oktober 2016 und die Zahlung eines tariflichen Urlaubsgeldes aus Annahmeverzug verlangt. Sie hat die Auffassung vertreten, spätestens seit Mitte Februar 2016 sei sie für den benannten Arbeitsplatz arbeitsfähig gewesen. Die Beklagte habe es trotz Aufforderung unterlassen, sie dort zu beschäftigten und schulde ihr deshalb im Streitzeitraum Annahmeverzugsvergütung. Zumindest stehe ihr, wie die Klägerin erstmals vor dem Landesarbeitsgericht geltend gemacht hat, Vergütung als Schadensersatz zu, da die Beklagte die Nichtbeschäftigung zu vertreten habe. Soweit ihr Hilfen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) gewährt worden seien und deshalb Vergütungsansprüche auf das Jobcenter übergegangen seien, habe sie mit dem Leistungsträger zwischenzeitlich die Rückübertragung der Forderungen vereinbart. Sie sei deshalb berechtigt, in vollem Umfang Zahlung an sich zu verlangen. Hilfsweise sei sie berechtigt, die Ansprüche im Umfang eines erfolgten Forderungsübergangs für das Jobcenter einzuklagen.

8

Die Klägerin hat zuletzt - zusammengefasst - beantragt,

        

die Beklagte zu verurteilen, an sie 10.610,90 Euro brutto nebst Zinsen in näher bestimmter gestaffelter Höhe zu zahlen;

        

hilfsweise,

        

1.    

die Beklagte zu verurteilen, an sie 10.610,90 Euro brutto abzüglich vom Jobcenter geleisteter Aufwendungen in Höhe von 5.599,24 Euro netto nebst Zinsen in näher bestimmter gestaffelter Höhe zu zahlen;

        

2.    

die Beklagte zu verurteilen, zu Händen des Jobcenters N den Betrag von 5.599,24 Euro netto nebst Zinsen in näher bestimmter gestaffelter Höhe zu zahlen.

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Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat gemeint, die Klägerin sei im Streitzeitraum aus gesundheitlichen Gründen nicht leistungsfähig gewesen.

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Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Mit der vom Senat zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren weiter.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Revision ist begründet. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Klägerin gegen das die Klage abweisende Urteil des Arbeitsgerichts zu Unrecht zurückgewiesen. Auf der Grundlage des bisher festgestellten Sachverhalts kann der Senat nicht entscheiden, ob die Klage im Hauptantrag begründet ist. Das führt, einschließlich der Entscheidung über die Hilfsanträge, zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Landesarbeitsgericht zur neuen Verhandlung und Entscheidung (§ 562 Abs. 1, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Der Senat hat dabei von der in § 563 Abs. 1 Satz 2 ZPO eröffneten Möglichkeit Gebrauch gemacht.

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I. Die Klage ist im Hauptantrag zulässig, insbesondere hinreichend bestimmt iSv. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO.

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1. Die Klägerin hat erstinstanzlich aufgezeigt, in welcher konkreten Höhe sie Vergütung und Urlaubsgeld für welche Zeitabschnitte wegen Annahmeverzugs nach § 615 iVm. § 611 BGB beansprucht und insoweit den Streitgegenstand unverwechselbar festgelegt.

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2. Soweit die Klägerin erstmals mit der Berufungsbegründung geltend gemacht hat, die Klageforderungen stünden ihr gemäß § 280 Abs. 1 BGB auch als Schadensersatz zu, hat sie einen neuen Streitgegenstand in das Verfahren eingeführt und die Klage dementsprechend erweitert (vgl. BAG 27. Mai 2015 - 5 AZR 88/14 - Rn. 23 f., BAGE 152, 1). Das Landesarbeitsgericht hat die Klage abgewiesen und dabei über sämtliche Streitgegenstände sachlich entschieden. Damit hat es stillschweigend die Voraussetzungen einer Klageänderung in der Berufungsinstanz nach § 533 ZPO iVm. § 64 Abs. 6 Satz 1 ArbGG bejaht. Deren Zulässigkeit ist deshalb in entsprechender Anwendung von § 268 ZPO in der Revisionsinstanz nicht mehr zu prüfen (BAG 27. Mai 2015 - 5 AZR 88/14 - Rn. 24 mwN, aaO).

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3. Die Klage ist auch in Ansehung der Erweiterung des Streitgegenstands hinreichend bestimmt (zu den Anforderungen BAG 1. Juni 2006 - 6 AZR 59/06 - Rn. 10). Die Klägerin hat mit der Berufungsbegründung deutlich gemacht, dass sie den Schadensersatzanspruch in ein Hilfsverhältnis zum vorrangig verfolgten Annahmeverzugsanspruch gestellt wissen will. Nur für den Fall, dass das Gericht die Voraussetzungen des Annahmeverzugs verneint, soll der Anspruch auf Entgelt als Schadensersatz greifen.

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4. Die Klägerin verfolgt im Hauptantrag ihre Ansprüche aus einem behaupteten eigenen Recht. Damit ist sie ohne Weiteres prozessführungsbefugt. Die Berechtigung ihrer Behauptung ist eine Frage der Begründetheit der Klage (vgl. Zöller/Althammer ZPO 32. Aufl. Vor § 50 Rn. 16; Musielak/Voit/Weth ZPO 15. Aufl. § 51 Rn. 18).

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II. Ob und ggf. in welchem Umfang die Klage im Hauptantrag begründet ist, steht nicht fest.

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1. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, die Klägerin könne die geltend gemachte Vergütung weder aus Annahmeverzug noch als Schadensersatz verlangen. Zu seiner Überzeugung sei die Klägerin nicht vor dem 2. November 2016 für den allein in Betracht zu ziehenden Arbeitsplatz im Bereich „integrierte Lesevideocodiermaschine-Videocodiertunnel“ leistungsfähig gewesen. Insoweit folge das Berufungsgericht den Einschätzungen des Postbetriebsarztes als der in besonderem Maße sach- und fachkundigen Auskunftsperson. Dieser habe den im bEM identifizierten Arbeitsplatz mit seinen körperlichen und psychischen Anforderungen aus eigener Anschauung gekannt, die Klägerin als Arzt und Arbeitsmediziner im Rahmen von Eignungsuntersuchungen zur Erstellung eines Leistungsbildes selbst untersucht und in seine Bewertungen die Bescheinigungen des die Klägerin behandelnden Facharztes einbezogen. Die Klägerin habe die besondere Sach- und Fachkunde des Betriebsarztes nicht in Abrede gestellt. Vor diesem Hintergrund komme eine abweichende Wertung ihrer Leistungsfähigkeit nicht in Betracht. Die Einschätzungen des Postbetriebsarztes seien durch das Vorbringen der Klägerin nicht erschüttert, insbesondere nicht durch die vorgelegten Atteste ihres unzweifelhaft fachkundigen behandelnden Arztes. Diesem habe die nötige Sachkunde gefehlt, da er - anders als der Postbetriebsarzt - den fraglichen Arbeitsplatz nicht selbst in Augenschein genommen habe. Das von dem behandelnden Facharzt ausgestellte Attest besage zudem nicht, dass die Klägerin an dem bestimmten Arbeitsplatz dauerhaft leistungsfähig gewesen wäre. Danach habe es keiner weiteren Darlegungen der Beklagten zu den Einschätzungen des Postbetriebsarztes und auch nicht der Einholung eines Sachverständigengutachtens bedurft.

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2. Diese Würdigung hält der revisionsrechtlichen Nachprüfung nicht stand.

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a) Im Ausgangspunkt nicht zu beanstanden ist die Annahme des Landesarbeitsgerichts, dass die erhobenen Zahlungsansprüche unter allen geltend gemachten Rechtsgründen die Leistungsfähigkeit der Klägerin für die beanspruchte Beschäftigung voraussetzen, und es insoweit auf die im bEM identifizierte Tätigkeit ankommt.

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aa) Unbeschadet der sonstigen Anspruchsvoraussetzungen gerät der Arbeitgeber gemäß § 297 BGB nicht in Annahmeverzug, wenn der Arbeitnehmer außerstande ist, die vom Arbeitgeber aufgrund seines Direktionsrechts nach § 106 GewO wirksam näher bestimmte Tätigkeit aus in seiner Person liegenden Gründen zu bewirken (vgl. BAG 19. Mai 2010 - 5 AZR 162/09 - Rn. 16, BAGE 134, 296; 27. Mai 2015 - 5 AZR 88/14 - Rn. 19, BAGE 152, 1). Ist der Arbeitnehmer aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage, die zu bewirkende Arbeitsleistung zu erbringen, kann der Arbeitgeber auf Verlangen des Arbeitnehmers nach § 241 Abs. 2 BGB verpflichtet sein, ihn auf einen leidensgerechten Arbeitsplatz umzusetzen. Kommt er dem Verlangen schuldhaft nicht nach, kann dem Arbeitnehmer ein Schadensersatzanspruch wegen entgangener Vergütung aus § 280 Abs. 1 BGB zustehen. Dieser Anspruch setzt voraus, dass der Arbeitnehmer im maßgeblichen Zeitraum für die beanspruchte andere Tätigkeit objektiv leistungsfähig war (im Einzelnen BAG 19. Mai 2010 - 5 AZR 162/09 - Rn. 25 ff., aaO).

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bb) Soweit die Klägerin die Zahlung eines „tarifvertraglichen Urlaubsgelds“ verlangt, stützt sie ihren Anspruch - soweit ersichtlich - auf § 7 des Entgelttarifvertrags für Arbeitnehmer der Deutschen Post AG vom 18. Juni 2003 idF des Tarifvertrags Nr. 174 vom 4. Dezember 2014 (ETV-DP AG). Nach dieser Bestimmung erhält der Arbeitnehmer in jedem Kalenderjahr ein Urlaubsgeld, wenn er - abgesehen von hier nicht in Betracht kommenden Fallkonstellationen - mindestens für einen Teil des Monats Juli Anspruch auf das Monatsgrundentgelt gemäß § 2 ETV-DP AG hat. Danach hängt der Anspruch auf Urlaubsgeld davon ab, dass der Klägerin zumindest für einen Teil des Monats Juli 2016 ein Anspruch auf das tarifliche Monatsentgelt aus Annahmeverzug, hilfsweise als Schadensersatz zustand.

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cc) Die Frage nach der Leistungsfähigkeit der Klägerin stellt sich im Streitfall nur im Hinblick auf die im bEM benannte Tätigkeit. Gegenüber der tatbestandlichen Feststellung des Landesarbeitsgerichts, das vom Postbetriebsarzt erstellte Leistungsbild habe eine Tätigkeit im Rahmen ihrer bisherigen Beschäftigung nicht zugelassen, hat die Klägerin einen Tatbestandsberichtigungsantrag nach § 320 Abs. 1 ZPO nicht erhoben. Im Übrigen geht sie erkennbar selbst davon aus, dass ihr im Streitzeitraum eine Tätigkeit auf dem vor ihrer Erkrankung eingenommenen Arbeitsplatz gesundheitlich nicht möglich war. Hinsichtlich der im Rahmen des bEM angesprochenen Beschäftigungsmöglichkeiten auf sog. Schonarbeitsplätzen hat das Landesarbeitsgericht angenommen, solche Arbeitsplätze seien im Streitzeitraum nicht frei gewesen und die Klägerin habe ihre dortige Beschäftigung auch nicht verlangt. Gegen diese tatsächlichen Feststellungen und Wertungen wendet sich die Revision nicht.

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b) Das Landesarbeitsgericht hat, soweit es angenommen hat, die Klägerin sei im Streitzeitraum für den im bEM benannten Arbeitsplatz nicht leistungsfähig gewesen, den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG verletzt. Das rügt die Revision mit Recht.

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aa) Beruft sich der Arbeitgeber gegenüber einem Anspruch des Arbeitnehmers aus Annahmeverzug auf dessen Leistungsunfähigkeit iSv. § 297 BGB, erhebt er eine Einwendung (BAG 19. Mai 2004 - 5 AZR 434/03 - zu II 2 a der Gründe), für deren Voraussetzungen er als Gläubiger der Arbeitsleistung die Darlegungs- und Beweislast trägt (BAG 15. Mai 2013 - 5 AZR 130/12 - Rn. 27). Da der Arbeitgeber über den Gesundheitszustand des Arbeitnehmers regelmäßig keine näheren Kenntnisse hat, genügt er seiner primären Darlegungslast grundsätzlich schon dadurch, dass er Indizien vorträgt, aus denen auf eine Leistungsunfähigkeit im Annahmeverzugszeitraum geschlossen werden kann. Hat der Arbeitgeber solche Indizien vorgetragen, ist es Sache des Arbeitnehmers, die Indizwirkung der behaupteten Tatsachen zu erschüttern. Naheliegend ist es, insoweit die behandelnden Ärzte von der Schweigepflicht zu entbinden. Der Arbeitgeber ist dann für die Leistungsunfähigkeit beweispflichtig. Er kann sich auf das Zeugnis der den Arbeitnehmer behandelnden Ärzte und auf ein Sachverständigengutachten berufen. Trägt der Arbeitnehmer dagegen nichts vor oder lässt er sich nicht substantiiert ein, gilt die Behauptung des Arbeitgebers, der Arbeitnehmer sei während des Verzugszeitraums leistungsunfähig gewesen, als zugestanden (BAG 5. November 2003 - 5 AZR 562/02 - zu I 2 a der Gründe).

26

bb) Macht der Arbeitnehmer gemäß § 280 Abs. 1 BGB Vergütungsansprüche als Schadensersatz geltend, trägt er nach den allgemeinen Regeln grundsätzlich die Darlegungs- und Beweislast für die anspruchsbegründenden Voraussetzungen (BAG 27. Mai 2015 - 5 AZR 88/14 - Rn. 28, BAGE 152, 1). Dazu muss er darlegen und ggf. beweisen, über welches Leistungsvermögen er noch verfügt und dass dieses den Anforderungen an die beanspruchte Beschäftigung genügt. Hierauf hat sich der Arbeitgeber im Rahmen einer ihn treffenden sekundären Behauptungslast substantiiert einzulassen und darzulegen, aus welchen Gründen eine Beschäftigung des Arbeitnehmers zu den vorgeschlagenen Bedingungen nicht in Betracht kommt. Welche Einzelheiten diesbezüglich vom Arbeitgeber vorzutragen sind, bestimmt sich nach den Umständen des Einzelfalls unter Berücksichtigung der Darlegungen des klagenden Arbeitnehmers (vgl. BAG 10. Mai 2005 - 9 AZR 230/04 - zu B II 2 a bb der Gründe, BAGE 114, 299).

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cc) Der Arbeitgeber kann seiner primären Darlegungs- bzw. sekundären Behauptungslast grundsätzlich auch dadurch genügen, dass er eine gutachterliche Stellungnahme des Betriebsarztes über die Leistungsunfähigkeit des Arbeitnehmers vorlegt und sich - zumindest konkludent - dessen Einschätzungen zu eigen macht. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, dass es sich bei einer solchen Äußerung des Betriebsarztes um ein Privatgutachten handelt, das als qualifizierter Parteivortrag zu werten ist und dem in Bezug auf die Richtigkeit darin enthaltener Angaben nicht die Kraft eines Beweismittels iSd. §§ 355 ff. ZPO zukommt (BAG 10. März 2015 - 3 AZR 56/14 - Rn. 59; BGH 14. März 2018 - V ZB 131/17 - Rn. 17 mwN). Die gutachterliche Stellungnahme begründet dementsprechend - für sich genommen - nach § 416 ZPO lediglich Beweis dafür, dass der Betriebsarzt die in der Urkunde enthaltenen Erklärungen abgegeben hat, nicht aber, dass die ihr zugrunde gelegten Befunde und Schlussfolgerungen zutreffend sind. In einem gerichtlichen Verfahren unterliegt das von einem Betriebsarzt im Rahmen einer Eignungsuntersuchung gefundene Ergebnis zur Leistungsfähigkeit des Arbeitnehmers deshalb einer vollumfänglichen gerichtlichen Kontrolle (im Ergebnis auch BAG 27. September 2012 - 2 AZR 811/11 - Rn. 22; 7. November 2002 - 2 AZR 475/01 - zu B I 3 b dd der Gründe, BAGE 103, 277). Als Sachverständigengutachten im Sinne eines Beweismittels kann ein Privatgutachten grundsätzlich nur mit Zustimmung beider Parteien herangezogen werden (vgl. BGH 14. März 2018 - V ZB 131/17 - Rn. 17; 11. Mai 1993 - VI ZR 243/92 - zu II 3 b der Gründe).

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Eine eigene Beweisaufnahme des Gerichts, insbesondere die Einholung eines gerichtlichen Sachverständigengutachtens, wird durch ein Privatgutachten allenfalls dann entbehrlich gemacht, wenn der Tatrichter allein schon aufgrund des Parteivortrags ohne Rechtsfehler zu einer zuverlässigen Beantwortung der Beweisfrage gelangen kann (BGH 11. Mai 1993 - VI ZR 243/92 - zu II 3 b der Gründe). Eine - unterstellt - besondere Sachkunde des Betriebsarztes berechtigt zu keiner abweichenden Bewertung. Insbesondere kommt nicht in Betracht, die Anforderungen an das Maß eines vom Arbeitgeber zu führenden Beweises für die Richtigkeit der betriebsärztlichen Einschätzungen abzusenken. Dafür fehlt es an einer rechtlichen Grundlage und überdies an einer hinreichenden Distanz des vom Arbeitgeber beauftragten und bezahlten Arztes zu den Parteien (ähnlich BVerwG 5. Juni 2014 - 2 C 22.13 - Rn. 20, BVerwGE 150, 1, zum Beweiswert postbetriebsärztlicher Gutachten im Verfahren zur Feststellung der Dienstunfähigkeit eines Beamten bei der Deutschen Telekom AG).

29

dd) Daran gemessen durfte das Landesarbeitsgericht auf der Grundlage der vorgelegten Stellungnahmen des Postbetriebsarztes die Behauptung der Beklagten zu einer mangelnden Leistungsfähigkeit der Klägerin im Bereich „integrierte Lesevideocodiermaschine-Videocodiertunnel“ nicht für wahr erachten.

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(1) Im Rahmen von § 297 BGB hat die Beklagte ihrer primären Darlegungslast zunächst genügt, indem sie sich auf die Einschätzungen des Postbetriebsarztes berufen hat. Dessen Äußerungen boten, zumal ausgehend davon, dass die Klägerin selbst nicht behauptet hat, ihr Leistungsvermögen habe sich zwischen dem 15. Februar und dem 31. Oktober 2016 maßgeblich verändert, einen hinreichenden Anhaltspunkt dafür, dass die Klägerin im Streitzeitraum für eine Tätigkeit auf dem benannten Arbeitsplatz nicht bzw. nicht uneingeschränkt leistungsfähig war.

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(2) Dem auf die Behauptungen des Postbetriebsarztes gestützten Vorbringen ist die Klägerin hinreichend substantiiert entgegengetreten. Sie hat vorgetragen, sie sei spätestens ab dem 15. Februar 2016 gesundheitlich in der Lage gewesen, die - unstreitig - seit November 2016 tatsächlich ausgeübte Tätigkeit auf dem im bEM bezeichneten Arbeitsplatz zu verrichten. In der Berufungsbegründung hat sie sich mit den dort anfallenden Arbeitsvorgängen befasst und im Einzelnen dargelegt, warum sie auf der Grundlage des ihr durch den behandelnden Facharzt bescheinigten Leistungsvermögens den körperlichen Anforderungen auf dem benannten Arbeitsplatz gewachsen sei. Für die Richtigkeit ihres Vorbringens hat sie sich auf das Zeugnis ihres behandelnden Facharztes berufen und Beweis durch Einholung eines gerichtlichen Sachverständigengutachtens angetreten. Da die Klägerin medizinischer Laie ist, konnte von ihr nicht verlangt werden, weitere Einzelheiten vorzutragen. Sie durfte sich darauf beschränken, die ihr bekannten Einschätzungen ihres behandelnden Arztes mitzuteilen, diesen als Zeugen zu benennen und Sachverständigenbeweis anzutreten.

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(3) Das Vorbringen der Klägerin genügt gleichermaßen einer ihr im Rahmen des geltend gemachten Schadensersatzes obliegenden primären Darlegungslast, während die Beklagte in diesem Zusammenhang durch Darlegung der Einschätzungen und Stellungnahmen des Postbetriebsarztes hinreichend qualifizierten Gegenvortrag geleistet hat.

33

(4) Das Landesarbeitsgericht hätte deshalb in eine Beweisaufnahme eintreten und die wechselseitig angebotenen Beweise - durch Vernehmung des von der Beklagten haupt- bzw. gegenbeweislich benannten Postbetriebsarztes und des von der Klägerin haupt- bzw. gegenbeweislich benannten behandelnden Facharztes, jeweils als sachverständige Zeugen (§ 414 ZPO) - erheben müssen. Auf die Erteilung dafür erforderlicher Entbindungen von der Schweigepflicht der Ärzte hätte es, soweit es an solchen Erklärungen der Klägerin bislang fehlt, hinweisen müssen (§ 139 Abs. 1 Satz 2 ZPO). Darüber hinaus hätte es dem Antrag der Klägerin auf Einholung eines gerichtlichen Sachverständigengutachtens nachgehen müssen. Soweit das Landesarbeitsgericht sich stattdessen seine Überzeugung von der Leistungsunmöglichkeit der Klägerin auf der Grundlage der postbetriebsärztlichen Einschätzungen und Stellungnahmen gebildet hat, hat es streitiges Vorbringen als unstreitig behandelt.

34

(a) Das Landesarbeitsgericht konnte sich die Überzeugung von der Leistungsfähigkeit nicht aufgrund der gutachterlichen Einschätzungen des Postbetriebsarztes bilden. Dem steht schon entgegen, dass der damit verbundene Sachvortrag ausreichend bestritten war. Unabhängig davon hat das Berufungsgericht die gutachterlichen Äußerungen des Postbetriebsarztes ausdrücklich nicht daraufhin überprüft, ob sie hinsichtlich der Beurteilung der Leistungsfähigkeit der Klägerin vollständig, schlüssig und nachvollziehbar sind (zu den Anforderungen an die Würdigung medizinischer Gutachten: Musielak/Voit/Huber ZPO 15. Aufl. § 402 Rn. 12 f.; Müller JuS 2015, 33, 34). Das wäre anhand der bisher vorgelegten Äußerungen auch schwerlich möglich gewesen. Aus ihnen ergibt sich nicht, welche Befunde der Postbetriebsarzt im Rahmen der im Januar 2016 durchgeführten Eignungsuntersuchung erhoben hat und welche Mittel oder Methoden er seinen Schlussfolgerungen zugrunde gelegt hat.

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(b) Die vom Landesarbeitsgericht unterlassene Erhebung der von der Klägerin angebotenen Beweise findet im Prozessrecht keine Stütze.

36

(aa) Das Angebot der Vernehmung des die Klägerin behandelnden Arztes wird in den Entscheidungsgründen mit keinem Wort erwähnt. Das Beweisangebot wird auch nicht als offensichtlich untauglich, unzulässig oder unklar eingeordnet (vgl. BVerfG 19. Dezember 2016 - 2 BvR 1997/15 - Rn. 19). Das wäre auch objektiv unzutreffend. Sollte für die Nichterhebung des Beweises eine vom Landesarbeitsgericht im Zusammenhang mit den Bescheinigungen des behandelnden Arztes monierte fehlende bzw. unzureichende Sachkunde maßgeblich gewesen sein, läge darin eine den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör verletzende unzulässige vorweggenommene Würdigung des nicht erhobenen Beweises (vgl. BAG 5. November 2003 - 5 AZR 562/02 - zu I 2 d aa der Gründe; BGH 12. März 2013 - VIII ZR 179/12 - Rn. 12). Nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts hat die Prozessbevollmächtigte der Klägerin dem behandelnden Facharzt mit Schreiben vom 23. Dezember 2015 konkrete Fragen zur Leistungsfähigkeit der Klägerin auf dem im bEM benannten Arbeitsplatz gestellt, woraufhin dieser die im Rechtsstreit vorgelegte Bescheinigung vom 8. Februar 2016 erstellt hat. Es war Sache des Berufungsgerichts, sich durch Befragung des behandelnden Arztes oder durch Einholung einer schriftlichen Zeugenaussage nach § 377 Abs. 3 ZPO einen eigenen Eindruck darüber zu verschaffen, ob der Facharzt aufgrund vorhandener Kenntnisse über die Anforderungen des Arbeitsplatzes die Leistungsfähigkeit der Klägerin für die beanspruchte Tätigkeit beurteilen konnte.

37

(bb) Zu der als Beweis angeregten Einholung eines Sachverständigengutachtens heißt es im Berufungsurteil nur, es habe „keiner weiteren Darlegung der Beklagten zu dieser Einschätzung und infolge dessen auch keiner Erhebung eines Sachverständigengutachtens“ bedurft, weil die Einschätzungen des Postbetriebsarztes in seinen schriftlichen Äußerungen nicht erschüttert worden seien. Die Ablehnung der Beweiserhebung beruht danach auf der rechtsfehlerhaften Beurteilung der Qualität der postbetriebsärztlichen Stellungnahmen durch das Landesarbeitsgericht.

38

III. Das Berufungsurteil war daher - ohne dass es noch auf weitere Verfahrensrügen der Revision ankäme - aufzuheben (§ 562 ZPO). Der Senat kann in der Sache nicht selbst entscheiden (§ 563 Abs. 3 ZPO). Notwendige Voraussetzung der Begründetheit der Klage ist, dass die Klägerin im Streitzeitraum leistungsfähig war. Zur Feststellung der Leistungsfähigkeit hat das Landesarbeitsgericht die angebotenen Beweise zu erheben. Mit weiteren Voraussetzungen der geltend gemachten Ansprüche und dem Inhalt der behaupteten Vereinbarung mit dem Jobcenter zur Rückübertragung übergegangener Ansprüche hat sich das Landesarbeitsgericht nicht näher befasst. Es ist Sache des Berufungsgerichts, ggf. durch sachdienliche Hinweise nach § 139 Abs. 1 Satz 1 ZPO die erforderlichen Feststellungen zu treffen. Die Aufhebung und Zurückverweisung umfasst auch die Entscheidung über die Hilfsanträge.

39

IV. Der Senat hat von der Möglichkeit des § 563 Abs. 1 Satz 2 ZPO Gebrauch gemacht.

        

    Linck    

        

    Biebl    

        

    Berger    

        

        

        

    A. Christen    

        

   Ilgenfritz-Donné    

                 

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