Urteil vom Landesarbeitsgericht Niedersachsen (10. Kammer) - 10 Sa 954/21
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Arbeitsgerichts D-Stadt vom 9. September 2021 – 2 Ca 6/21 – abgeändert:
Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin 13.471,20 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 9. Juni 2020 zu zahlen.
Die Kosten des Rechtsstreits werden der Beklagten auferlegt.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
- 1
Die Parteien streiten um Zahlung von Urlaubsabgeltung. Hinsichtlich des erstinstanzlichen Vorbringens der Parteien nebst Anträgen sowie der Würdigung, die jenes Vorbringen dort erfahren hat, wird auf Tatbestand und Entscheidungsgründe des Urteils des Arbeitsgerichts D-Stadt vom 9. September 2021 (Bl. 30 bis 36 d.A.) Bezug genommen.
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Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Urlaubsansprüche der Klägerin für die Jahre 2017 bis 2019 seien auf Null gekürzt worden. Die arbeitsvertraglich in Bezug genommene Norm des § 26 Abs. 2c TVöD sei dahin auszulegen, dass er die nach § 17 Abs. 1 Satz 1 BEEG für die Ausübung der Kürzungsbefugnis des Arbeitgebers erforderliche Willenserklärung bereits enthalte. Nach ihrem Wortlaut verringere sich der Urlaubsanspruch für jeden Monat eines ruhenden Arbeitsverhältnisses automatisch, so dass es dafür einer weiteren Erklärung des Arbeitgebers nicht bedürfe. Der Auffassung des Bundesarbeitsgerichts, wonach der Arbeitgeber das Kürzungsrecht des § 17 Abs. 1 Satz 1 BEEG nicht vor der Erklärung des Arbeitnehmers, Elternzeit in Anspruch zu nehmen, ausüben könne, sei nicht zu folgen. Wer einseitig erkläre, dass sich für den Fall einer zukünftigen Elternzeit der Anspruch auf Erholungsurlaub kürzen solle, gebe damit eine in sich sinnvolle Erklärung ab. Die Ausübung eines Gestaltungsrechtes unter einer die Wirkung verschiebenden Potestativbedingung sei zulässig, wie etwa die Rechtsprechung zum arbeitsvertraglichen Verzicht auf die Rechte aus § 616 BGB oder zur Befristung eines Arbeitsverhältnisses auf das Erreichen des Renteneintrittsalters zeige. Auch Gestaltungsrechte könnten unter einer Bedingung vorgenommen werden, sofern - wie vorliegend - der Bedingungseintritt ausschließlich vom Verhalten des Erklärungsempfängers abhänge. Hierfür spreche auch der Grundsatz der Privatautonomie. Zu berücksichtigen sei schließlich, dass die Kürzung vorliegend auf einer arbeitsvertraglichen Regelung und nicht lediglich auf einer einseitigen Erklärung beruhe.
- 3
Gegen das ihr am 5. Oktober 2021 zugestellte Urteil des Arbeitsgerichts hat die Klägerin am 26. Oktober 2021 Berufung eingelegt und sie innerhalb der verlängerten Frist am 7. Dezember 2021 begründet.
- 4
Die Berufung führt aus: Das Kürzungsrecht nach § 17 Abs. 1 Satz 1 BEEG könne nur im laufenden Arbeitsverhältnis durch Erklärung des Arbeitgebers ausgeübt werden. Die Vorschrift sei nicht tarifdispositiv. Folgte man der Gegenauffassung, nähme man der Abgeltungsregelung des § 17 Abs. 3 BEEG den Anwendungsbereich. Die Norm des § 17 BEEG schränke die Vertragsfreiheit aus Gründen des Arbeitnehmerschutzes in verfassungskonformer Weise ein.
- 5
Die Klägerin beantragt,
- 6
unter Aufhebung (sic) des Urteils des Arbeitsgerichts die Beklagte zu verurteilen, ihr 13.471,20 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 9. Juni 2020 zu zahlen.
- 7
Die Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
- 9
Sie verteidigt das Urteil des Arbeitsgerichts nach Maßgabe ihrer Berufungsbeantwortung vom 13. Januar 2022 (Bl. 69 bis 74 d.A.) und macht insbesondere geltend: Mit Abschluss des Arbeitsvertrages unter Inbezugnahme der Vorschriften des TVöD habe die Beklagte durch Willenserklärung kundgetan, den Anspruch auf Erholungsurlaub für Zeiten, in denen das Arbeitsverhältnis ruht, vermindern zu wollen, und damit das ihr nach § 17 Abs. 1 Satz 1 BEEG zustehende Wahlrecht ausgeübt. Die Klägerin habe dem mit Abschluss des Arbeitsvertrages zugestimmt. Mithin sei der Urlaubsanspruch wirksam gekürzt worden. Auch nach diesem Ergebnis verbleibe der Norm des § 17 Abs. 3 BEEG ein Anwendungsbereich, etwa für vor der Elternzeit erworbene Urlaubsansprüche. Die Beklagte vertritt die Auffassung, der Gesetzgeber habe bewusst auf Vorgaben zu Form und Zeitpunkt der Kürzungserklärung verzichtet. Die Vorschrift des § 17 Abs. 1 Satz 1 BEEG bezwecke nicht den Arbeitnehmerschutz, sondern wahre die Interessen des Arbeitgebers.
- 10
Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien wird auf die gewechselten Schriftsätze Bezug genommen, die Gegenstand der Beratung und Entscheidung durch die Kammer waren.
Entscheidungsgründe
- 11
Die Berufung hat Erfolg.
I.
- 12
Die Berufung ist an sich statthaft (§§ 8 Abs. 2, 64 Abs. 1, 2b, 6 ArbGG, 511 Abs. 1 ZPO) sowie form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 66 Abs. 1 ArbGG, 517, 519 ZPO) und damit insgesamt zulässig.
II.
- 13
Die Berufung ist begründet. Die Klägerin hat Anspruch auf Urlaubsabgeltung für die Jahre 2017 bis 2019 in der geltend gemachten, rechnerisch nicht streitigen Höhe nebst Zinsen, denn die Beklagte hat den Urlaubsanspruch der Klägerin nicht durch eine Erklärung gemäß § 17 Abs. 1 Satz 1 BEEG für die Dauer der Elternzeit gekürzt. Die arbeitsvertraglich in Bezug genommene Tarifnorm des § 26 Abs. 2c TVöD enthält oder ersetzt eine solche Erklärung nicht.
1.
- 14
Aufgrund arbeitsvertraglicher Inbezugnahme (§ 2 des Arbeitsvertrages vom 30. Dezember 1997 - Bl. 4 d.A.) finden auf das Arbeitsverhältnis die Normen des Tarifvertrages für den öffentlichen Dienst (TVöD) Anwendung. Gemäß § 26 Abs. 2c TVöD vermindert sich die Dauer des Erholungsurlaubs einschließlich eines etwaigen Zusatzurlaubs für jeden vollen Kalendermonat um ein Zwölftel, während das Arbeitsverhältnis ruht.
2.
- 15
Die genannte Tarifnorm bewirkt nicht, dass die Beklagte für die Dauer der Elternzeit keinen tariflichen oder gesetzlichen Urlaub schuldet, ohne im bestehenden Arbeitsverhältnis und in Kenntnis des Beginns der Elternzeit ihr Recht, den Urlaubsanspruch zu kürzen, durch empfangsbedürftige Willenserklärung ausgeübt zu haben.
a)
- 16
Gemäß § 13 Abs. 1 BUrlG kann unter anderem von den §§ 1 und 3 Abs. 1 BUrlG auch durch Tarifvertrag nicht zu Lasten des Arbeitnehmers abgewichen werden. Dies wäre jedoch der Fall, legte man § 26 Abs. 2c TVöD in dem Sinne aus, dass die Norm auch das Ruhen des Arbeitsverhältnisses während der Elternzeit erfasste.
aa)
- 17
Aus § 17 Abs. 1 BEEG folgt, dass grundsätzlich auch während der Elternzeit Urlaubsansprüche entstehen. Zwar sind während dieser Zeit die beiderseitigen Hauptpflichten aus dem Arbeitsverhältnis suspendiert (BAG 23. Januar 2018 - 9 AZR 200/17 - Rn. 17 mwN; 26. September 2017 - 1 AZR 717/15 - Rn. 54; ErfK/Gallner, 22. Aufl. 2022, § 15 BEEG Rn. 25). Im Unterschied zu anderen Ruhenstatbeständen, die von vornherein zur Folge haben, dass Urlaubsansprüche nicht entstehen (vgl. zum unbezahlten Sonderurlaub nach § 28 TV-L: BAG 21. Mai 2019 - 9 AZR 259/18 - Rn. 11 bis 15; 19. März 2019 - 9 AZR 406/17 - BAGE 166, 176, Rn. 40), behält der Arbeitnehmer diesen Anspruch jedoch für die Elternzeit bis zu einer wirksamen Kürzungserklärung des Arbeitgebers. Dies ergibt sich aus § 17 Abs. 1 Satz 1 BEEG, denn entstünde für die Elternzeit nicht zunächst ein Urlaubsanspruch, so bedürfte es der dort geregelten Kürzungserklärung des Arbeitgebers nicht, um diesen Anspruch zum Erlöschen zu bringen.
bb)
- 18
Entfiele der Anspruch auf Erholungsurlaub für die Elternzeit schon kraft der Tarifnorm, so wäre dies für den Arbeitnehmer ungünstiger als die gesetzliche Regelung, weil der Mindesturlaub nach § 3 Abs. 1 BUrlG unterschritten würde: Vorliegend könnte die Klägerin für die Jahre 2017 bis 2019 auch ohne Vorliegen der Voraussetzungen gemäß § 17 Abs. 1 Satz 1 BEEG keinen Urlaub beanspruchen. Dieses Ergebnis wiche zu ihren Lasten von § 3 Abs. 1 BUrlG iVm. § 17 Abs. 1 Satz 1 BEEG ab, wonach für die Elternzeit in Ermangelung einer Kürzungserklärung Anspruch auf den Mindesturlaub besteht.
b)
- 19
Auch soweit der Urlaubsanspruch der Klägerin den gesetzlichen Mindesturlaub übersteigt, kann sich die Beklagte nicht mit Erfolg auf § 26 Abs. 2c TVöD berufen. Der Gesetzgeber unterscheidet in § 17 Abs. 1 Satz 1 BEEG nicht zwischen dem gesetzlichen Mindesturlaub und dem diesen übersteigenden Anspruch, sondern spricht einheitlich von „Erholungsurlaub“. Auch Sinn und Zweck der Norm sprechen gegen eine Differenzierung. Die gesetzliche Kürzungsbefugnis vermeidet ein Ansammeln von Urlaub gegen den Willen des Arbeitgebers für Zeiten, in denen die Arbeitspflicht elternzeitbedingt ruht (BAG 19. März 2019 - 9 AZR 495/17 - BAGE 166, 189, Rn. 17). Ein Arbeitgeber hat es für alle Bestandteile des Erholungsurlaubs gleichermaßen in der Hand, eine wirksame Kürzungserklärung abzugeben, sofern und soweit er Urlaub für die Elternzeit nicht gewähren möchte. Für eine Aufspaltung des Anspruchs in Mindest- und sonstigen Erholungsurlaub besteht daher keine Notwendigkeit.
c)
- 20
Die Norm des § 26 Abs. 2c TVöD lässt sich auch nicht als schon bei Begründung des Arbeitsverhältnisses gleichsam auf Vorrat ausgesprochene Kürzungserklärung des Arbeitgebers gemäß § 17 Abs. 1 Satz 1 BEEG auslegen.
aa)
- 21
Im bestehenden Arbeitsverhältnis kann der Arbeitgeber sein Kürzungsrecht vor, während und nach dem Ende der Elternzeit ausüben, nicht jedoch vor der Erklärung des Arbeitnehmers, Elternzeit in Anspruch zu nehmen (BAG 19. März 2019 - 9 AZR 362/18 - Rn. 35 mwN; ErfK/Gallner 22. Aufl. 2022 § 17 BEEG Rn. 4. Letzteres ist Ausfluss der dem Arbeitgeber eingeräumten Dispositionsbefugnis, von dem Kürzungsrecht nach § 17 Abs. 1 Satz 1 BEEG Gebrauch zu machen oder hiervon abzusehen. Der Arbeitgeber kann sein Wahlrecht erst dann sinnvoll ausüben, wenn er weiß, dass und für welchen Zeitraum Elternzeit in Anspruch genommen werden soll. Die Kürzungsbefugnis setzt somit ein Elternzeitverlangen nach § 16 Abs. 1 Satz 1 BEEG voraus, durch das der Umfang und die zeitliche Lage der Elternzeit festgelegt werden. Dieses Verständnis ist im Wortlaut des § 17 Abs. 1 Satz 1 BEEG angelegt, der auf jeden vollen Kalendermonat „der“ Elternzeit abstellt. Die Verwendung des bestimmten Artikels legt nahe, dass der Arbeitgeber den Urlaub nicht für „irgendeine“ sich noch nicht abzeichnende, sondern nur für eine konkret in Rede stehende Elternzeit kürzen kann (BAG 19. März 2019 - 9 AZR 362/18 - Rn. 35).
bb)
- 22
Da bei Abschluss des Arbeitsvertrages im Jahre 1997 nebst Inbezugnahme des Bundes-Angestelltentarifvertrages und den diesen ergänzenden, ändernden oder ersetzenden Tarifverträgen nicht bekannt war, dass die Klägerin ab dem Jahre 2017 Elternzeit beanspruchen würde, konnte die Beklagte das ihr gemäß § 17 Abs. 1 Satz 1 BEEG zustehende Wahlrecht, ob sie den Urlaubsanspruch kürzt, seinerzeit nicht wirksam ausüben. Danach kommt es nicht mehr darauf an, dass das Gesetz zum Elterngeld und zur Elternzeit erst im Jahre 2006 und der Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst im Jahre 2005 in Kraft getreten sind, also weit nach Abschluss des Arbeitsvertrages.
III.
- 23
Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 Satz 1 ZPO.
IV.
- 24
Die Zulassung der Revision folgt aus der grundsätzlichen Bedeutung der entscheidungserheblichen Rechtsfrage, § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG. Soweit ersichtlich, war das Verhältnis von § 17 Abs. 1 BEEG zu der Tarifnorm des § 26 Abs. 2c TVöD bisher nicht Gegenstand der obergerichtlichen oder höchstrichterlichen Rechtsprechung.
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Referenzen
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