Urteil vom Landgericht Hamburg (36. Zivilkammer) - 336 O 76/17

Tenor

1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin ein Schmerzensgeld in Höhe von 170.000,00 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 29.03.2018 zu zahlen.

2. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin alle weiteren vergangenen und zukünftigen materiellen sowie alle weiteren derzeit nicht vorhersehbaren immateriellen Schäden, welche aus der fehlerhaften Behandlung der Klägerin im Krankenhaus der Beklagten im Zeitraum vom 10.04.2015 bis 07.05.2015 resultieren, zu ersetzen, soweit die entsprechenden Ansprüche nicht auf den Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder übergehen werden.

3. Die Beklagte wird weiter verurteilt, die Klägerin von außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten i.H.v. 4.465,77 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 29.03.2018 freizustellen.

4. Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

5. Das Urteil ist für die Klägerin gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

1

Die Parteien streiten über Schadensersatz aus einer im Haus der Beklagten vom 27.03.2015 bis zum 07.05.2015 erfolgten stationären Behandlung der Klägerin, in deren Rahmen es zu einer Heparin-induzierten Thrombozytopenie vom Typ II (HIT II) mit nachfolgender Notwendigkeit einer Amputation beider Unterschenkel kam.

2

Bei der... .1971 geborenen Klägerin wurde spätestens im Jahr 2009 eine Mitralklappeninsuffizienz diagnostiziert und die Indikation zur operativen Rekonstruktion gestellt. Mitte März 2015 kam es zu einer Verschlechterung des Befindens der Klägerin mit Dyspnoe in Ruhe und Husten, woraufhin sie in die Klinik für Kardiologie des A.-Krankenhauses, einem Krankenhaus der Beklagten, eingewiesen wurde. Die stationäre Aufnahme erfolgte am 27.03.2015. Am 02.04.2015 erfolgte planmäßig im Rahmen einer fünfstündigen Operation eine Mitralklappenrekonstruktion (Operationsbericht Anlage K5). Hinsichtlich der Indikationsstellung und der Durchführung der Operation werden keine Behandlungsfehlervorwürfe erhoben.

3

Die Klägerin wurde postoperativ zunächst auf der kardiochirurgischen Intensivstation betreut, am 07.04.2015 erfolgte eine Verlegung auf die herzchirurgische Normalstation.

4

Im Rahmen der Behandlung hatte die Klägerin zur Thromboseprophylaxe Heparin erhalten. Im weiteren postoperativen Verlauf trat bei der Klägerin eine Heparin-induzierte Thrombozytopenie vom Typ II (HIT II) – eine durch Antikörperbildung gegen Heparin-Protein-Komplexe verursachte Verklumpung von Thrombozyten – auf, in deren Folge am 18.04.2015 zunächst eine Faszienspaltung an beiden Unterschenkeln und am 28.04.2015 eine Amputation beider Unterschenkel durchgeführt werden musste.

5

Der postoperative Verlauf gestaltete sich dabei im Einzelnen wie folgt:

6

Postoperativ kam es zunächst zu einem starken Abfall der Thrombozytenzahl. In dem kumulativen Laborbefund (Anlage K8) sind bis zum 08.04.2015 folgende Werte dokumentiert:

7

27.03.2015, 13:20 Uhr: 230.000/µl

8

01.04.2015, 14:57 Uhr: 194.000/µl

9

02.04.2015, 21:46 Uhr: 118.000/µl

10

03.04.2015, 06:04 Uhr: 142.000/µl

11

04.04.2015, 06:29 Uhr 102.000/µl

12

05.04.2015, 06:01 Uhr: 90.000/µl

13

06.04.2015, 06:00 Uhr: 105.000/µl

14

07.04.2015, 05:41 Uhr: 135.000/µl

15

07.04.2015, 21:28 Uhr: 129.000/µl

16

08.04.2015, 07:55 Uhr: 95.000/µl

17

Am 09.04.2015 klagte die Klägerin jedenfalls über Kopfschmerzen. Laborwerte wurden an dem Tag nicht erhoben, der Grund hierfür ist zwischen den Parteien streitig.

18

Am Freitag, dem 10.04.2015, gab die Klägerin Schmerzen in den Beinen an, ob sie bereits zuvor entsprechende Schmerzen geschildert hatte, steht zwischen den Parteien in Streit. Die Thrombozytenzahl fiel auf 18.000/µl (Entnahme 10.04.2015, 07:44 Uhr). Seitens der behandelnden Ärzte wurde der Verdacht auf eine HIT II gestellt und die Umstellung der Antikoagulation auf eine nicht-heparinbasierte Antikoagulation mit Argatroban erwogen, hiervon aber im Hinblick auf einen INR-Wert von 5,07 Abstand genommen. Aus welchem Grund eine weiterführende HIT-bezogene Diagnostik unterblieben ist, steht zwischen den Parteien in Streit.

19

Die Thrombozytenzahl entwickelte sich in der Folge wie folgt:

20

11.04.2015, 10:18 Uhr: 18.000/µl

21

11.04.2015, 20:42 Uhr: 18.000/µl

22

12.04.2015, 09:49 Uhr: 20.000/µl

23

13.04.2015, 07:25 Uhr: 41.000/µl

24

Am Montag, dem 13.04.2015, wurde seitens der behandelnden Ärzte ein gefäßchirurgisches Konsil eingeholt, das die Durchführung einer CT-Angiographie sowie einer Ultraschalluntersuchung empfahl, deren Ergebnis streitig ist. Differenzialdiagnostisch erwogen die behandelnden Ärzte zur Erklärung des Thrombozytenabfalls eine Sichelzellanämie, die sich aber in der Folge nicht bestätigen ließ.

25

Am Dienstag, dem 14.04.2015, war die Thrombozytenzahl auf 76.000/µl angestiegen (Entnahme 14.04.2015, 07:56 Uhr). Zudem wurde eine HIT-Diagnostik eingeleitet. Sowohl im immunologischen als auch funktionellen Test konnten relevante Antikörper gegen den Heparin/PF4-Komplex nachgewiesen werden, woraufhin die Diagnose einer HIT II gestellt wurde.

26

Am Donnerstag, dem 16.04.2015, wurde die Klägerin ausweislich der vorliegenden Behandlungsunterlagen zunächst auf die Intermediate-Care-Station B2 und von dort aus auf die kardiologisch-internistische Intensivstation C2 verlegt. Dort erfolgte dann eine kontinuierliche Gabe von Argatroban, woraufhin der INR-Wert wieder anstieg.

27

Am 18.04.2015 kam es zu einer drastischen Verschlechterung der klinischen Situation der Klägerin mit zunehmender Schwellung, Blasenbildung und kompletter Fußheberparese beidseits sowie Anstieg der Kreatininkinase (CK) als Ausdruck des Muskelzerfalls, so dass am 18.04.2015 unter der Verdachtsdiagnose eines Kompartmentsyndroms eine Fasziotomie (Faszienspaltung) aller Kompartimente beider Unterschenkel sowie der zentralen und interossären Kompartimente beider Füße durchgeführt wurde.

28

Trotzdem gelang es nicht, die Durchblutungssituation in den Beinen zu verbessern. Eine am 27.04.2015 durchgeführte CT-Becken-Bein-Angiographie zeigte einen Abbruch sämtlicher Unterschenkelarterien, woraufhin die Indikation zur Unterschenkelamputation gestellt wurde. Da die Klägerin aufgrund Schmerzen und hoher Analgetikagabe zeitweise delirand und nicht mehr in der Lage war, Entscheidungen zu treffen, wurde auf Betreiben der behandelnden Ärzte durch das Betreuungsgericht mit Beschluss vom 24.04.2015 der Bruder der Klägerin, Herr K. D., zum vorläufigen Betreuer der Klägerin bestellt (Anlage K1). Nachdem sich der Bruder der Klägerin nicht zur Erteilung einer Genehmigung der Amputation entscheiden konnte, genehmigte das Betreuungsgericht mit Beschluss vom 27.04.2015 die Vornahme des Eingriffs (Anlage K2).

29

Die Amputation wurde am 28.04.2015 durchgeführt; ausweislich des Operationsberichts (Anlage K18) erfolgte die Amputation etwa 8 cm unterhalb der Tuberositas tibiae.

30

Am 07.05.2015 wurde die Klägerin zur weiteren Therapie ins U. H.- E. (U.) verlegt, am 08.06.2015 erfolgte eine Verlegung in eine Reha-Klinik zur weiteren Mobilisation.

31

Die Klägerin erhob mit Klageschrift vom 19.03.2018, vertreten durch ihren Bruder als gerichtlich bestellten Betreuer, Klage gegen die Beklagte.

32

Die Klägerin wirft der Beklagten Behandlungsfehler im Zusammenhang mit ihrer postoperativen Behandlung vor:

33

Sowohl die Diagnose einer Heparin-induzierten Thrombozytopenie am 14.04.2015 als auch die am 18.04.2015 durchgeführte Faszienspaltung seien verspätet erfolgt. In beiden Fällen handele es sich um grobe Behandlungsfehler. Eine frühzeitige weitergehende Diagnostik und Gabe von Argatroban wäre generell geeignet gewesen, die nachfolgend notwendig gewordene Faszienspaltung sowie die spätere Unterschenkelamputation zu vermeiden, auch eine frühzeitige Faszienspaltung wäre geeignet gewesen, die Unterschenkelamputation zu vermeiden.

34

Bereits nach Feststellung des ersten Thrombozytenabfalls hätte zwingend zeitnah der Ausschluss einer HIT II erfolgen müssen.

35

Eine entsprechende frühere Abklärung sei zudem aufgrund der aufgetretenen klinischen Symptome geboten gewesen. Die Klägerin habe bereits am 08.04.2015 über Schmerzen in den Beinen inklusive der Füße geklagt. Aufgrund der Schmerzen sei sie nicht mehr in der Lage gewesen aufzustehen. Hierauf deute auch die dokumentierte Schmerzmedikation hin, die die Gabe des Medikaments Tramadolor, einem Opioid, vom 07.04.2015 bis zum 12.04.2015 in steigender Dosierung ausweise, zudem die Gabe von Tavor und Novalgin, später auch von Dipidolor, gleichfalls einem Opioid, das zu den potentesten Schmerzmitteln in der Krankenhauspraxis gehöre. Am 10.04.2015 seien die Beine der Klägerin bereits geschwollen und verfärbt gewesen. Dass die Klägerin an diesem Tag – wie von der Beklagten behauptet – eine HIT-Diagnostik abgelehnt habe, werde bestritten. Eine solche Weigerung sei zum einen nicht dokumentiert; zum anderen wäre eine entsprechende Weigerung nur beachtlich, wenn die behandelnden Ärzte die Klägerin zuvor auf die Notwendigkeit und Dringlichkeit der entsprechenden Behandlung hingewiesen hätten, auch eine solche Aufklärung sei aber nicht dokumentiert und werde bestritten.

36

Vom 11.04. bis zum 14.04.2015 hätten die Schmerzen in den Beinen, die Schwellung und die Verfärbungen kontinuierlich zugenommen. Zudem sei die Kreatinkinase (CK) durchgehend pathologisch gewesen.

37

Soweit die Beklagte vortrage, dass die Klägerin einer Verlegung auf die Intensivstation am 15.04.2015 sowie der Durchführung einer Fasziotomie am 18.04.2015 widersprochen habe, werde dies bestritten. Entsprechende Verweigerungen seien jeweils nicht dokumentiert, ebenso nicht entsprechend gebotene ärztliche Aufklärungen.

38

Soweit die Klägerin zwischenzeitlich eine Behandlung verweigert habe, sei dies zudem darauf zurückzuführen, dass sie zwischenzeitlich ein Durchgangssyndrom ausgebildet habe, was die behandelnden Ärzte früher hätten erkennen müssen, um früher auf die Einrichtung einer Betreuung hinzuwirken.

39

Die Klägerin erachtet ein Schmerzensgeld von mindestens 170.000,- € für angemessen. Der Behandlungsverlauf sei für sie äußerst belastend und schmerzhaft gewesen, sie habe unerträgliche Schmerzen gelitten. Aufgrund der erfolgten Amputation sei sie ein Pflegefall und ununterbrochen auf die Hilfe Dritter angewiesen. Ab 2017 sei ihr der Pflegegrad 2 mit einem Pflegeaufwand von zehn Stunden verteilt auf zwei Tage pro Woche zuerkannt worden. Sie sei vollständig rollstuhlabhängig, da eine Versorgung mit Prothesen wegen erheblicher Schmerzen nicht möglich sei. Aufgrund der behandlungsfehlerhaften Therapie habe sie zudem mindestens neun Erythrozytenkonzentrate (EKs) erhalten, wobei diese Transfusionen diverse gesundheitliche Risiken erhöhten; allein das Wissen um die entsprechenden Risiken stelle bereits einen psychischen Schaden dar.

40

Zudem habe die Klägerin einen Verdienstausfallschaden, einen Haushaltsführungsschaden und einen Pflegeschaden erlitten. Inzwischen sei ihr eine Rente wegen voller Erwerbsminderung bewilligt worden.

41

Weiter begehrt die Klägerin Freihaltung von den nicht anrechenbaren vorgerichtlichen Rechtsverfolgungskosten auf Grundlage eines 2,5-fachen Gebührensatzes aus einem Streitwert von 220.000,- € zuzüglich Telekommunikationspauschale und Umsatzsteuer.

42

Hinsichtlich ihrer Prozessfähigkeit trägt die Klägerin schließlich vor, dass ihr Bruder gerichtlich zu ihrem Betreuer bestellt worden sei, mit Beschluss vom 09.10.2015 sei die Betreuung zuletzt bis zum 09.10.2022 verlängert worden, mit Beschluss vom 27.04.2018 (Anlage K37) sei die Betreuung dann aufgehoben worden.

43

Die Klägerin beantragt,

44

1. die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin ein Schmerzensgeld zu zahlen, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, mindestens jedoch 170.000 € nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit,

45

2. festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin alle weiteren, vergangenen und zukünftigen, materiellen und immateriellen Schäden (letztere, soweit sie derzeit nicht vorhersehbar sind), welche aus der fehlerhaften Behandlung aus dem Jahre 2015 resultieren, zu ersetzen, soweit Ansprüche nicht auf den Sozialversicherungsträger, oder sonstige Dritte, übergegangen sind oder übergehen werden,

46

3. die Beklagte zu verurteilen, die Klägerin freizustellen von den außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten i.H.v. 4.465,77 € nebst 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit.

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Die Beklagte beantragt,

48

die Klage abzuweisen.

49

Die Beklagte bestreitet eine nicht standardgerechte postoperative Behandlung der Klägerin im Rahmen ihres stationären Aufenthalts, insbesondere eine verzögerte Diagnostik und Behandlung der HIT II.

50

Die HIT II sei am 14.04.2015 nicht verspätet diagnostiziert worden, zudem hätte eine frühere Diagnose nichts am weiteren Verlauf, insbesondere an der später notwendig gewordenen Faszienspaltung und der Amputation, geändert.

51

Soweit in den Tagen nach der Operation ein Absinken der Thrombozytenzahl beobachtet worden sei, habe dies keinen reaktionspflichtigen Befund dargestellt. Vielmehr handele es sich um ein typisches direkt operationsbedingtes Phänomen. Nachdem sich die Werte in den folgenden Tagen wieder erholt hatten, sei eine weitergehende HIT-II-bezogene Diagnostik zunächst nicht veranlasst gewesen.

52

Nachdem die Klägerin am 09.04.2015 über Kopfschmerzen geklagt habe, sei um 13:00 Uhr der Heparin-Perfusor abgestellt worden. Zugleich habe die Klägerin eine Blutentnahme verweigert, so dass an diesem Tag keine Laborwerte hätten erhoben werden können.

53

Schmerzen in den Beinen habe die Klägerin erstmals erst am 10.04.2015 um 2 Uhr morgens angegeben. Nachdem die Laborwerte an diesem Tag einen drastischen Thrombozytenabfall zeigten, sei sofort die Verdachtsdiagnose einer HIT II gestellt worden. Die Klägerin habe dann aber zunächst ihre Einwilligung in die Durchführung der entsprechenden Diagnostik verweigert. Eine alternative Antikoagulationstherapie mit Argatroban sei zwischen den behandelnden Ärzten an diesem Tag zwar diskutiert, aber nicht eingeleitet worden, da ausweislich eines INR-Werts von 5,07 durch die Medikation mit Marcumar bereits eine starke Herabsetzung der Gerinnung vorgelegen habe.

54

Eine Thrombose sei zu diesem Zeitpunkt klinisch noch nicht symptomatisch gewesen, das klinische HIT-Scoring-System habe nur eine geringe Wahrscheinlichkeit, aber keinen begründeten Verdacht auf eine HIT II ergeben. Hautveränderungen seien nicht erkennbar gewesen, die am 10.04.2015 erstmalig angegebenen Schmerzen in den Beinen seien unspezifisch gewesen.

55

Am 11. und 12.04.2015 sei eine HIT-spezifische Labordiagnostik wegen des Wochenendes nicht möglich gewesen.

56

Eine Schwellung des rechten Fußes sei erstmals am 13.04.2015 aufgefallen, woraufhin ein gefäßchirurgisches Konsil eingeholt worden sei. Die in der Folge durchgeführte CT-Angiographie und Ultraschalluntersuchung hätten aber keine Gefäßverschlüsse gezeigt.

57

Nach Diagnosestellung hinsichtlich einer HIT II am 14.04.2015 habe die Antikoagulation mit den Ersatzmedikamenten Orgaran oder Argatroban weitergeführt werden sollen, was die Klägerin aber zunächst verweigert habe; erst nach mehreren Interventionen sei es gelungen, die Klägerin zum Einverständnis zur Therapie mit Argatroban zu bewegen, die sodann auch sofort eingeleitet worden sei.

58

Auch eine Verlegung auf die Intensivstation sei bereits am 15.04.2015 angeordnet worden, was durch die Klägerin aber zunächst gleichfalls abgelehnt worden sei. Nachdem die Klägerin am 15.04.2015 zunächst in die Behandlung mit Argatroban eingewilligt habe, sei die Thrombozytenzahl wieder angestiegen, allerdings habe die Behandlung aufgrund erneuter Verweigerung der entsprechenden Medikation durch die Klägerin an diesem Tag nicht fortgeführt werden können.

59

Am 16.04.2015 habe die Klägerin die Antikoagulation mit Argatroban erneut verweigert, wodurch eine wirksame Antikoagulation nicht erreicht werden konnte.

60

Auch die Fasziotomie vom 18.04.2015 sei nicht verzögert erfolgt, eine frühere Operation sei aufgrund des klinischen Bildes nicht notwendig gewesen. Im Übrigen haben die Klägerin ihre Einwilligung auch in diese Operation zunächst verweigert und erst nach massivem Zureden und Druck erteilt.

61

Die Amputationsoperation vom 28.04.2015 hätte bereits früher stattfinden sollen, wodurch die Größe des Eingriffs geringer und auch die Rehabilitation besser gewesen wäre, die Operation sei aber durch eine erneute Verweigerung der Klägerin und die Untätigkeit ihres Betreuers verzögert worden.

62

Das geltend gemachte Schmerzensgeld sei jedenfalls übersetzt. Es sei davon auszugehen, dass sich die Klägerin von der Amputationsoperation gut erholt habe. Eine Pflegebedürftigkeit der Klägerin sei zu bestreiten; eine Unterschenkelamputation führe nicht per se zu einer solchen. In dem vorgelegten MDK-Gutachten vom 15.08.2015 (Anlage K23) sei nur vorübergehend die Pflegestufe I befürwortet worden, in der Folgezeit sei nach den Gutachten vom 03.06.2016 (Anlage K21) und 28.10.2016 (Anlage K22) selbst die Pflegestufe I nicht als erfüllt angesehen worden; soweit in dem Gutachten vom 12.09.2017 (Anlage K25) der Pflegegrad II zuerkannt worden sei, beruhe dies offenbar maßgeblich auf einem Umzug der Klägerin in eine Wohnung im dritten Obergeschoss ohne Fahrstuhl. Dies widerlege die Behauptung, wonach der Klägerin ein selbständiges Leben nicht mehr möglich und sie ununterbrochen auf fremde Hilfe angewiesen sei. Auch eine Rollstuhlabhängigkeit werde bestritten. So habe die Klägerin ausweislich der Behandlungsdokumentation des U. nach Optimierung der komplexen Schmerzeinstellung nicht mehr über Phantomschmerzen geklagt, so dass bereits im U. Unterschenkelprothesen angepasst worden seien. Bei der Klägerin bestehe offenbar eine von dem streitgegenständlichen Geschehen unabhängige massive psychische Erkrankung, die für ihre Unterstützungsbedürftigkeit verantwortlich sei.

63

Ergänzend bestreitet die Beklagte die „Aktivlegitimation“ der Klägerin und bestreitet dazu die (fortbestehende) Bestellung ihres Bruders als ihren Betreuer und erachtet die Vorlage der im betreuungsgerichtlichen Verfahren erstellten Sachverständigengutachten für erforderlich.

64

Schließlich erachtet die Beklagte die geltend gemachten vorgerichtlichen Rechtsverfolgungskosten für übersetzt.

65

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Parteivortrags wird auf die zur Akte gelangten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.

66

Das Gericht hat Beweis erhoben gemäß Beweisbeschluss vom 15.08.2018 (Bl. 129-134 d.A.) durch Einholung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens des Prof. Dr. med. K. S., Direktor der Medizinischen Klinik und Poliklinik für Kardiologie und Angiologie der C. B., zu dem das Gericht den Sachverständigen in der Sitzung vom 31.03.2021 ergänzend angehört hat. Hinsichtlich des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Gutachten vom 13.08.2019 (Bl. 159-179 d.A.) sowie das Sitzungsprotokoll vom 31.03.2021 (Bl. 283-302 d.A.) verwiesen. Darüber hinaus hat das Gericht die Klägerin in der Sitzung vom 31.03.2021 persönlich angehört, auch insoweit wird auf das Sitzungsprotokoll vom 31.03.2021 (Bl. 302-303 d.A.) verwiesen.

Entscheidungsgründe

67

Die zulässige Klage hat vollumfänglich Erfolg.

I.

68

An der Zulässigkeit der Klage bestehen keine Bedenken. Insbesondere wurde die Klägerin zum Zeitpunkt der Klagerhebung wirksam durch ihren Bruder als gerichtlich bestellten Betreuer vertreten, § 53 ZPO. Die zum Zeitpunkt der Klagerhebung fortbestehende Betreuung ergibt sich dabei unzweifelhaft aus dem Beschluss vom 27.04.2018 (Anlage K37), wonach erst zu diesem Zeitpunkt die Betreuung der Klägerin aufgehoben wurde. Im Übrigen wäre eine vom Bruder der Klägerin als Nichtvertretungsbefugtem erhobene Klage durch (konkludente) Genehmigung der Klägerin nach Aufhebung der Betreuung zulässig geworden (statt aller MüKoZPO/Lindacher/Hau, 6. Aufl. 2020, §§ 51, 52 Rn. 42, 44).

II.

69

Die Klägerin hat gegen die Beklagte im Zusammenhang mit ihrem stationären Aufenthalt im Krankenhaus der Beklagten einen Schmerzensgeldanspruch in Höhe von 170.000,- € aus §§ 280, 611 ff., 630a ff. und § 823 Abs. 1 BGB i.V.m. § 253 Abs. 2 BGB.

70

Die Beklagte haftet gegenüber der Klägerin wegen Behandlungsfehlern im Rahmen der postoperativen Betreuung nach der Operation vom 02.04.2015 (im Folgenden unter 2.), aufgrund derer es zunächst zu einer Faszienspaltung und im weiteren Verlauf zu einer Amputation beider Unterschenkel gekommen ist (im Folgenden unter 3.). Daraus ergibt sich ein Anspruch der Klägerin auf Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von 170.000,- € (im Folgenden unter 4.) sowie der tenorierten Nebenforderungen (im Folgenden unter 5.).

71

1. Bei ihren Feststellungen macht sich die Kammer in medizinischer Hinsicht die gut nachvollziehbar begründeten, in sich widerspruchsfreien und eingehend erläuterten Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. S. zu eigen.

72

Das Gericht hat dabei keinerlei Zweifel hinsichtlich der ‒ seitens der Beklagten nicht im Rahmen der Gewährung rechtlichen Gehörs zur Person des Sachverständigen vor Gutachtenseinholung, sondern erst nach Vorliegen des (Behandlungsfehler bejahenden) Gutachtens in Frage gestellten (s. Schriftsatz vom 03.12.2019, Bl. 194 ff. d.A.) ‒ Fachkunde des Sachverständigen zur Begutachtung des streitgegenständlichen Sachverhalts; insbesondere liegt kein Fall einer fachfremden Begutachtung vor.

73

Zwar ist der Sachverständige Facharzt für Innere Medizin, Kardiologie und internistische Intensivmedizin, während die Klägerin postoperativ zunächst auf einer kardiochirurgischen Intensivstation, ab dem 07.04.2015 sodann auf einer herzchirurgischen Normalstation und (erst) ab dem 16.04.2015 auf einer kardiologisch-internistischen Intensivstation behandelt wurde. Der Sachverständige hat über seine kardiologisch-internistische Facharztausbildung hinaus allerdings den Schwerpunkt interventionelle Kardiologie mit Schwerpunkt Klappentherapie (Protokoll S. 2, Bl. 284 d.A.). In der von dem Sachverständigen geleiteten Klinik werden dabei neben Kathetertherapien, insbesondere der Therapie von Vorhofverschlüssen, insbesondere auch kathetergesteuerte Klappenersatz-Operationen durchgeführt. Aufgrund dieser Tätigkeit hat der Sachverständige regelmäßig mit einer Vielzahl von interventionellen Eingriffen am Herzen vergleichbar dem vorliegend erfolgten zu tun (Protokoll S. 2 f., 17, Bl. 284 f., 299 d.A.). Dabei werden gerade kathetergeführte Klappenersatzoperationen im Haus des Sachverständigen von Chirurgen und Kardiologen gemeinsam durchgeführt (Protokoll S. 17, Bl. 299 d.A.).

74

Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass vorliegend streitgegenständlich nicht die Durchführung der Operation vom 02.04.2015 als solche ist, sondern die postoperative Betreuung der Klägerin nach dem entsprechenden herzchirurgischen Eingriff, insbesondere die Diagnose und Behandlung der aufgetretenen heparininduzierten Thrombozytopenie (HIT II). Die entsprechende Problematik ist aber keine spezifisch chirurgische Frage, sondern stellt sich in gleicher Weise für alle Ärzte, die im Zusammenhang mit unterschiedlichsten Eingriffen Heparin verabreichen. Insoweit müssen die Auswirkungen und Gefahren der Heparingabe im Hinblick auf die Ausbildung einer HIT II, deren Erkennung und deren Behandlung Kenntnisse sein, die jeder Facharzt, der Heparin verabreicht, unabhängig von seiner konkreten Disziplin haben muss (Protokoll S. 10 f., Bl. 292 f. d.A.). Dementsprechend hat auch die Beklagte nicht aufgezeigt, dass der fachärztliche Standard eines Herzchirurgen lediglich geringere Kenntnisse in der Behandlung mit Heparin voraussetzen würde als der eines Kardiologen.

75

2. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass die behandelnden Ärzte der Beklagten im Rahmen der postoperativen Betreuung der Klägerin im Nachgang zu der Operation vom 02.04.2015 den fachmedizinischen Standard nicht eingehalten haben, diese mithin behandlungsfehlerhaft war.

76

a) Entgegen dem Vorwurf der Klägerin lässt sich eine Standardunterschreitung im Rahmen ihrer postoperativen Betreuung allerdings nicht bereits für die bis zum 07.04.2015 erfolgte Behandlung auf der (herzchirurgischen) Intensivstation feststellen.

77

Zwar war die Thrombozytenzahl am dritten postoperativen Tag, dem 05.04.2015, auf 90.000/µl gesunken, was einem Abfall um 37 % entspricht. Ein entsprechender Abfall ist bis zum vierten postoperativen Tag bei größeren operativen Eingriffen mit höherem Blutverlust und/oder Eingriffen mit maschineller Kreislaufunterstützung aber häufig und stellt daher kein (zwingendes) Anzeichen für das Auftreten einer HIT II dar (Gutachten S. 3, Bl. 161 d.A.; Protokoll S. 5, Bl. 287 d.A.). Zudem zeigte sich die Thrombozytenzahl bis zum 07.04.2015 wieder ansteigend (Gutachten S. 4, Bl. 162 d.A.; Protokoll S. 5, Bl. 287 d.A.). Unter Anwendung des insoweit handlungsleitenden sog. 4 T's-Scores (Gutachten S. 4, Bl. 162 d.A.; Protokoll S. 4, Bl. 286 d.A.) ergab sich für den 05.04.2015 lediglich ein Wert von zwei Punkten, was einem niedrigen Risiko für das Vorliegen einer HIT entspricht und damit keine Indikation für die Durchführung einer laborchemischen HIT-II-Diagnostik in Form der Bestimmung der PF4-Antikörper begründet (Gutachten S. 4, Bl. 162 d.A., mit Anlage 1, Bl. 177 d.A.).

78

b) Entgegen dem Vorwurf der Klägerin lässt sich auch hinsichtlich ihrer Behandlung am 08. und 09.04.2015 kein Standardverstoß feststellen.

79

Zwar war die Thrombozytenzahl am 08.04.2015 ‒ nach zwischenzeitlichem Anstieg auf 135.000/µl am 07.04.2015 ‒ wieder auf 95.000/µl gefallen. Ein entsprechender ‒ nach dem vierten postoperativen Tag auftretender ‒ Abfall tritt aber häufig auch im Rahmen eines infektiösen Geschehens auf, an das ausweislich der dokumentierten Maßnahmen der behandelnden Ärzte (Entfernung des zentralvenösen Zugangs, Einleitung apparativer und mikrobiologischer Diagnostik und Bestimmung des Procalcitonin-Werts (PCT)) vorliegend auch gedacht wurde (Gutachten S. 5, Bl. 163 d.A.; Protokoll S. 5, Bl. 287 d.A.). Unter Berücksichtigung der damit verbundenen größeren Wahrscheinlichkeit einer anderen Ursache für den Thrombozytenabfall ergibt sich damit bis zum 08.04.2015 weiterhin ein HIT-Score von nur drei Punkten, was weiterhin nur auf ein geringes Risiko für das Vorliegen einer HIT hindeutet (Gutachten S. 5, Bl. 163 d.A., mit Anlage 2, Bl. 178 d.A.; Protokoll S. 5, Bl. 287 d.A.). Eine weiterführende laborchemische HIT-II-Diagnostik war damit auch am 08. und 09.04.2015 noch nicht zwingend geboten (Gutachten S. 5, Bl. 163 d.A.; Protokoll S. 5, Bl. 287 d.A.).

80

c) Eine entsprechende HIT-II-bezogene Diagnostik wäre aber spätestens am 10.04.2015, unter Berücksichtigung einer (rechtserheblichen) Verweigerung der Diagnostik spätestens am 11.04.2015, einzuleiten gewesen (Gutachten S. 10, Bl. 168 d.A.).

81

aa) Spätestens am 10.04.2015 lag ein starker Verdacht für das Bestehen einer HIT vor (Protokoll S. 6 f., Bl. 288 f. d.A.).

82

Dabei steht die entgegenstehende ‒ im Übrigen nicht näher begründete ‒ Behauptung der Beklagten, dass das HIT-Scoring-System am 10.04.2015 nur eine geringe Wahrscheinlichkeit, aber keinen begründeten Verdacht auf eine HIT II ergeben hätte, schon im Widerspruch zu dem eigenen weiteren Vortrag der Beklagten, dass die behandelnden Ärzte am 10.04.2015 tatsächlich einen entsprechenden Verdacht auf eine HIT II gehabt hätten, die weitere HIT-spezifische Diagnostik aber allein aufgrund einer Verweigerung der hierzu erforderlichen Blutentnahme durch die Klägerin unterblieben sei.

83

(1) So zeigte der Laborbefund vom 10.04.2015 (Entnahmezeit 07:44 Uhr) einen massiven Absturz der Thrombozytenzahl auf 18.000/µl (Anlage K8, S. 19; Gutachten S. 5, Bl. 163 d.A.; Protokoll S. 6, Bl. 288 d.A.).

84

(2) Dem vorausgegangen war eine spätestens ab dem Abend des 09.04.2015 dokumentierte klinische Verschlechterung des Zustands der Klägerin mit Beinschmerzen, Muskelschwäche und fortschreitender Reduktion ihres Allgemeinzustandes (Gutachten S. 6, Bl. 164 d.A.). Entgegen der Behauptung der Beklagten, dass die Klägerin Schmerzen in den Beinen erstmals erst am 10.04.2015 um 2 Uhr morgens angegeben habe, ist bereits aufgrund der eigenen Behandlungsdokumentation der Beklagten von einer erstmaligen Angabe von Schmerzen in den Beinen in der Nacht vom 08. auf den 09.04.2015 auszugehen. So ist im Verlaufsbericht der Pflege bereits vom Nachtdienst 08./09.04.2015 u.a. vermerkt: „Pat äußert Schmerzen in d. Beinen/Brust“. Diese Dokumentation steht im Übrigen auch mit der den Behandlungsunterlagen vorgehefteten (undatierten) Stellungnahme der behandelnden Ärzte der Beklagten an den Krankenhausträger in Einklang, in der ‒ entgegen dem nunmehrigen Vortrag der Beklagten ‒ gleichfalls geschildert ist, dass die Klägerin bereits am 09.04.2015 erstmals Schmerzen in den Beinen beklagt habe.

85

Im Übrigen ist für das Bestehen eines Verdachts auf eine HIT II das Vorliegen gerade von Beinschmerzen gar nicht von Relevanz. Vielmehr verursacht die im Rahmen der HIT II auftretende Verklumpung von Thrombozyten abhängig davon, in welchem Bereich sie sich manifestiert, unterschiedlich ausgeprägte Schmerzsymptomatiken ‒ neben Beinschmerzen können auch Kopf- und Bauchschmerzen auftreten ‒ sowie eine allgemeine Abgeschlagenheit (Protokoll S. 7, Bl. 289 d.A.). An einer entsprechenden Verschlechterung des allgemeinen klinischen Zustands der Klägerin bis zum 10.04.2015 kann auf Grundlage der eigenen Dokumentation der Beklagten allerdings kein Zweifel bestehen. So ist in der pflegerischen Dokumentation bereits unter dem 08.04.2015, 15:40 Uhr, vermerkt: „Pat. liegt viel im Bett, hustet viel ab, spricht wenig“. Der Frühdienst hat am 09.04.2015 u.a. vermerkt: „Pat. zum WB begleitet, dort leicht taychkard, Pat. klagt über Schmerzen“. Nach weiteren Einträgen im Laufe des 09.04.2015, die eine allgemeine Abgeschlagenheit dokumentieren („im AZ noch leicht reduziert, Mob. etwas schwerfällig“, „liegt viel im Bett, wirkt sehr antriebsarm & leidend, gab Kopfschmerzen an“, „Patient stöhnt, kann aber keine Angaben machen“) wird vom Nachtdienst für den 10.04.2015 um 2:00 Uhr erneut die Angaben von Schmerzen u.a. in den Beinen dokumentiert. Auch der Frühdienst vermerkt am 10.04.2015 um 8:00 Uhr: „Pat. klagt über Schmerzen/Brennen in den Beinen, ist sehr leidend, sitzt weinend auf der Bettkante.“

86

Dieser klinische Befund war dabei vor allem deshalb von besonderer Bedeutung für die Diagnostik, als die Klägerin ausweislich der Dokumentation an den vorangegangenen Tagen bis zum 08.04.2015 keine entsprechenden Beschwerden angegeben hatte. Vielmehr hatte sich der Zustand der Klägerin ausweislich der pflegerischen Einträge der Intensiv- und (ab dem 07.04.2015) der Normalstation im postoperativen Verlauf deutlich gebessert. So ist für den 06.04.2015 vermerkt: „Pat. Mobilisiert sich selbständig“, „Pat. gibt Ø Schmerzen an“ und „Pat. geht mit Unterstützung über den Flur“; für den 07.04.2015 wurde auf der Intensivstation „derzeit Ø Beschwerden“ und „völlig mobil“ und auf der Normalstation „in Begleitung mobil“ sowie „mobilisiert sich selbständig“ dokumentiert (Protokoll S. 6, Bl. 288 d.A.).

87

(3) Anders als noch bis zum 08.04.2015 war ab dem 09.04.2015 zudem das Vorliegen einer Infektion als alternative Erklärung für den Thrombozytenabfall und die klinische Verschlechterung unwahrscheinlich geworden. Denn im Labor war bereits unter dem 08.04.2015 ein deutlich unter dem Grenzwert von 0,5 liegender Procalcitonin-Wert von 0,07 erhoben worden, während bei einer Sepsis ein Wert von 5 oder 7 zu erwarten gewesen wäre (Gutachten S. 6, Bl. 164 d.A.; Protokoll S. 8, Bl. 290 d.A.). Vor diesem Hintergrund deutete auch der am 08.04.2015 erhobene (deutlich erhöhte) CRP-Wert von knapp 184 nicht auf eine Infektion hin, zumal ein CRP-Wert von 184 im postoperativen Verlauf zu diesem Zeitpunkt durchaus nicht ungewöhnlich ist (Protokoll S. 8, Bl. 290 d.A.). Vor diesem Hintergrund musste der erhöhte CRP-Wert (bei zugleich niedrigem Procalcitonin) sogar umgekehrt eher als Ausdruck einer HIT II ‒ die im Rahmen einer HIT II erfolgende Freisetzung von Zytokinen verursacht gleichfalls einen Anstieg des CRP-Werts ‒ gewertet werden (Protokoll S. 8, Bl. 290 d.A.).

88

(4) Diese Kombination aus einem drastischen Abfall der Thrombozyten, einer deutlichen klinischen Verschlechterung sowie der Unwahrscheinlichkeit einer anderweitigen Ursache begründete einen starken Verdacht auf das Vorliegen einer HIT II (Protokoll S. 6 f., Bl. 288 f. d.A.). Unter Anwendung des 4-T's-Scores ergab sich für den 10.04.2015 ein Wert von 4 Punkten (Gutachten S. 7, Bl. 165 d.A., mit Anlage 3, Bl. 179 d.A.) und damit ein intermediäres Risiko auf das Vorliegen einer HIT II (Gutachten S. 7, Bl. 165 d.A.). Hiermit in Übereinstimmung haben die behandelnden Ärzte der Beklagten ausweislich des Eintrags unter „ärztliche Beobachtungen“ zu einer von der Klägerin verweigerten HIT-Diagnostik eine entsprechende Verdachtsdiagnose am 10.04.2015 auch tatsächlich ‒ zutreffend ‒ gestellt (Protokoll S. 8, Bl. 290 d.A.).

89

bb) In dieser Risikokonstellation musste unverzüglich jedenfalls eine weiterführende laborchemische Diagnostik zum Nachweis einer HIT II in Form einer Bestimmung von PF4-Antikörpern eingeleitet werden (Gutachten S. 5 f., Bl. 163 f. d.A.; Protokoll S. 9, Bl. 291 d.A.).

90

Hinsichtlich der Dringlichkeit der entsprechenden Diagnostik ist zu berücksichtigen, dass das Krankheitsbild der HIT II mit einem etwa 15 %igen Mortalitätsrisiko und einem 5 bis 7 %igen Risiko des Verlusts von Extremitäten durch Amputationen verbunden ist (Protokoll S. 4, Bl. 286 d.A.). Bei etwa 50 % der Patienten kommt es im Zuge der Ausbildung einer HIT II zudem zur Ausbildung von thromboembolischen Komplikationen, wobei am häufigsten insoweit das Auftreten tiefer Beinvenenthrombosen ist (Protokoll S. 4, Bl. 286 d.A.). Durch die Störung des venösen Abflusses bei zugleich erhalten bleibendem arteriellen Blutzufluss kommt es dabei zu einem Anstieg des Gewebeperfusionsdrucks, wobei aufgrund der gerade im Bereich der Unterschenkel fehlenden Ausweichmöglichkeiten der Muskulatur durch die Einfassung durch die Faszien schon ein leichter Druckanstieg im Muskel dazu führt, dass die Muskulatur nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff versorgt werden kann und es zu einem Muskelabsterben kommt. Insoweit steht zur Verhinderung des Absterbens der Muskelsubstanz lediglich ein geringes Zeitfenster, in der Regel von 4 bis 6 Stunden, bei jüngeren Patienten von bis zu 12 Stunden, zur Verfügung (Protokoll S. 4 f., Bl. 286 f. d.A.).

91

cc) Die noch am 10.04.2015 dringlich gebotene Diagnostik ist dabei unstreitig nicht erfolgt.

92

Selbst wenn man davon ausgeht, dass die Klägerin am 10.04.2015 entsprechend dem Eintrag in den „ärztlichen Beobachtungen“ die für eine HIT-Diagnostik notwendige Blutabnahme verweigerte, würde dies die Beklagte nicht von einem entsprechenden Behandlungsfehler entlasten.

93

(1) Die Verweigerung der Mitwirkung an einer medizinisch gebotenen Behandlung durch einen Patienten (Non-Compliance) vermag den behandelnden Arzt nur dann zu entlasten, wenn er den Patienten über die mit der Nichtbehandlung verbundenen Risiken ausreichend aufgeklärt hat (BGH, Urt. v. 16.06.2009, Az. VI ZR 157/08, Rn. 14 (juris); MüKoBGB/Wagner, 8. Aufl. 2020, § 630c Rn. 22). Die mit Schriftsatz vom 27.04.2021 erklärte Auffassung der Beklagten, dass „nach dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten jegliche Behandlungsverweigerung für die Ärzte bindend“ sei, ist damit in dieser Pauschalität ersichtlich unzutreffend. Die Klägerin hat vorliegend bestritten, am 10.04.2015 über die Dringlichkeit der gebotenen Diagnostik und die möglicherweise gravierenden Folgen ihrer Verweigerung aufgeklärt worden zu sein. Die Beklagte hat – auch auf zweifachen Hinweis des Gerichts hin (Bl. 219 und 238 d.A.) – nicht vorgetragen, dass eine entsprechende Aufklärung der Klägerin am 10.04.2015 erfolgt wäre. Auch aus den vorliegenden Behandlungsunterlagen, die außer dem vorzitierten Vermerk über eine Verweigerung der HIT-Diagnostik insoweit keine Eintragungen enthalten, ergeben sich keinerlei Hinweise, dass eine entsprechende Aufklärung erfolgt wäre (Protokoll S. 9, Bl. 291 d.A.).

94

(2) Vor diesem Hintergrund kann auch dahinstehen, ob eine Verweigerung der für die HIT-Diagnostik erforderlichen Blutentnahme Ausdruck eines bereits zu diesem Zeitpunkt bestandenen Durchgangssyndroms gewesen sein könnte. Denn eine bereits zu diesem Zeitpunkt vorliegende Beeinträchtigung der Fähigkeit der Klägerin zur freien Willensbestimmung wäre allenfalls geeignet, die Beachtlichkeit der ‒ aufgrund fehlender Aufklärung für die Frage der Fehlerhaftigkeit vorliegend ohnehin unbeachtlichen ‒ Verweigerung der Blutentnahme zur Durchführung der HIT-Diagnostik am 10.04.2015 ‒ die die Beklagte gerade für ihre Entlastung in Anspruch nimmt ‒ zusätzlich infrage zu stellen.

95

Dementsprechend war die Frage nach dem Zeitpunkt des Auftretens des Durchgangssyndroms ‒ entgegen der Behauptung der Beklagten mit Schriftsatz vom 27.04.2021 ‒ auch nicht „unter Berücksichtigung des [...] Prozessvortrags“ der Beklagten in den Beweisbeschluss der Kammer vom 15.08.2018 aufgenommen worden, sondern umgekehrt aufgrund des klägerischen Vortrags, dass eine etwaige ‒ von der Beklagten für sich in Anspruch genommene ‒ Verweigerung therapeutischer Maßnahmen durch die Klägerin auf ein bereits zu einem früheren Zeitpunkt aufgetretenes Durchgangssyndrom zurückzuführen und damit unbeachtlich wäre bzw. bereits früher die Einrichtung einer Betreuung anzuregen gewesen wäre.

96

Dass die Klägerin aufgrund eines bereits zu diesem Zeitpunkt bestehenden Durchgangssyndroms die gebotene HIT-II-Diagnostik auch bei ordnungsgemäßer Aufklärung abgelehnt hätte, ist von der Beklagten im Übrigen auch nicht vorgetragen und angesichts des Umstandes, dass die Klägerin in der Folgezeit einer entsprechenden Diagnostik zugestimmt hat, auch nicht ersichtlich.

97

Vor diesem Hintergrund bedarf es auch nicht der von der Beklagten mit Schriftsatz vom 27.04.2021 beantragten Einholung eines ergänzenden psychiatrischen Gutachtens.

98

dd) Im Übrigen wäre die gebotene HIT-Diagnostik, wenn sie tatsächlich am 10.04.2015 ‒ rechtlich erheblich ‒ verweigert worden wäre, spätestens am 11.04.2015 durchzuführen gewesen (Gutachten S. 6, Bl. 164 d.A.; Protokoll S. 11, Bl. 293 d.A.). Ausweislich der vorliegenden Labordiagnostik hat die Klägerin an diesem Tag ersichtlich eine Blutentnahme geduldet. Anhaltspunkte dafür, dass seitens der behandelnden Ärzte vor dem 14.04.2015 überhaupt die Durchführung der HIT-Diagnostik erneut erwogen und mit der Klägerin erörtert worden wäre, sind nicht dargetan und aus der Behandlungsdokumentation auch nicht ersichtlich.

99

Soweit die Beklagte insoweit ohne nähere Erläuterung behauptet, dass eine HIT-Diagnostik am 11. und 12.04.2015 wegen des Wochenendes nicht möglich gewesen sei, erscheint dies unter Berücksichtigung der medizinischen Versorgungssituation in Hamburg fernliegend. Ausweislich der Eigenpräsentation des Labors Medylis, das die Antikörperbestimmung am 14.04.2015 durchgeführt hat, auf seiner Homepage (www.medilys.de) arbeitet das Labor tatsächlich täglich rund um die Uhr. Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass das fragliche Labor auch am 11. und 12.04.2015 in der Lage gewesen wäre, die dringlich gebotene HIT-Diagnostik taggleich durchzuführen (Protokoll S. 15, Bl. 297 d.A.). Im Übrigen würde dieser beklagtenseits behauptete Hinderungsgrund auch nicht zu erklären vermögen, warum die HIT-Diagnostik letztlich erst am Dienstag, dem 14.04.2015, von der Beklagten veranlasst wurde.

100

d) Darüber hinaus war auch ohne Kenntnis der Ergebnisse einer laborchemischen HIT-II-Diagnostik – und damit vollständig unabhängig von einer etwaigen Verweigerung derselben durch die Klägerin – nicht nur – wie es ausweislich des Eintrags in den ärztlichen Anordnungen vom 09. und 10.04.2015 tatsächlich erfolgt ist – ein unverzügliches Absetzen von Heparin und Marcumar erforderlich (Gutachten S. 7, Bl. 165 d.A.); vielmehr war aufgrund der Gefahr einer venösen Extremitätengangrän das zuvor gegebene Marcumar nach den geltenden Leitlinien bereits zu diesem Zeitpunkt zwingend durch die Gabe von Vitamin K zu antagonisieren (Gutachten S. 7 f., 10, Bl. 165 f., 168 d.A.; Protokoll S. 9, 10, Bl. 291, 292 d.A.). Dies ist vorliegend standardunterschreitend nicht erfolgt.

101

Zudem war – gleichfalls bereits allein aufgrund der bestehenden Anhaltspunkte für das Vorliegen einer HIT II – die Weiterführung der Antikoagulation mit einem alternativen nicht-heparinbasierten Anticoagulans geboten, wobei das Medikament Argatroban das Mittel der Wahl gewesen wäre (Gutachten S. 7, Bl. 165 d.A.; Protokoll S. 10, Bl. 292 d.A.).

102

Auch dies wurde bis zum 14.04.2015 behandlungsfehlerhaft unterlassen. Dabei beruhte das entsprechende Unterlassen nicht auf einer etwaigen Verweigerung des Medikaments seitens der Klägerin – eine solche ist in der Behandlungsdokumentation erstmals und einmalig für den 14.04.2015 dokumentiert –, sondern – wie es die Beklagten selbst in Übereinstimmung mit der Eintragung in den „ärztlichen Beobachtungen“ in der Patientenkurve vom 10.04.2015 („nRS bei INR >5 kein Argatroban“) vorträgt – darauf, dass sich die behandelnden Ärzte der Beklagten am 10.04.2015 durch einen INR-Wert von 5,07 von einer Argatroban-Therapie abgehalten sahen (Gutachten S. 10, Bl. 168 d.A.). Auch diese Einschätzung war aber behandlungsfehlerhaft. Denn die geringe kumulative Dosis des bis dahin verabreichten Phenprocoumons (Wirkstoff des Medikaments Marcumar) von 9,75 mg stand in keinem Verhältnis zu dem erreichten INR-Wert von 5,07 (Gutachten S. 10, Bl. 168 d.A.). Dass bereits die geringe verabreichte Dosis an Marcumar zu einem entsprechenden starken Anstieg des INR-Werts geführt hat, ließ vielmehr darauf schließen, dass es bereits zu einer weitgehenden Depletion im Gerinnungsbereich im Rahmen einer HIT gekommen war (Protokoll S. 10, Bl. 292 d.A.).

103

3. Es ist davon auszugehen, dass im Falle einer standardgerechten Behandlung der Klägerin, insbesondere einer Durchführung der gebotenen HIT-Diagnostik am 10.04.2015, der Klägerin sowohl die am 18.04.2015 durchgeführte Fasziotomie als auch die am 28.04.2015 durchgeführte Amputation beider Unterschenkel erspart geblieben wäre.

104

a) Der Klägerin kommt dabei im Hinblick auf den ursächlichen Zusammenhang zwischen den festgestellten Behandlungsfehlern und den genannten gesundheitlichen Folgen eine Beweislastumkehr sowohl unter dem Gesichtspunkt des Befunderhebungsfehlers (§ 630h Abs. 5 S. 2 BGB) als auch des groben Behandlungsfehlers (§ 630h Abs. 5 S. 1 BGB) zugute.

105

(1) Das Unterlassen der am 10.04.2015, unter Annahme einer wirksamen Verweigerung spätestens am 11.04.2015, gebotenen Veranlassung einer PF4-Antikörperbestimmung stellt einen Befunderhebungsfehler i.S.d. § 630h Abs. 5 S. 2 BGB dar. Dabei hätte die Durchführung der entsprechenden Diagnostik bereits am 10.04.2015 mit Sicherheit bereits einen positiven Antikörpernachweis und damit die Diagnose einer HIT II erbracht (Protokoll S. 12, Bl. 294 d.A.; Gutachten S. 12, Bl. 170 d.A.).

106

Das Unterlassen einer Reaktion auf diesen Befund, insbesondere in Form der Umstellung der Antikoagulation auf Argatroban sowie eine Antagonisierung des Marcumars, wäre im Hinblick auf das erhebliche mit einer HIT verbundene Risiko für den Patienten schlechterdings nicht nachvollziehbar gewesen (Protokoll S. 12, 13, Bl. 294, 295 d.A.; Gutachten S. 12, Bl. 170 d.A.), hätte mithin einen groben Behandlungsfehler dargestellt. Dies gilt selbst unter Berücksichtigung des am 10.04.2015 erhobenen INR-Werts von 5,07, der zwar die (zunächst) unterbliebene Argatroban-Gabe bei Fehlen eines entsprechenden positiven Befunds noch als noch nachvollziehbaren erscheinen lässt (Protokoll S. 12, Bl. 294 d.A.), der aber keinen nachvollziehbaren Grund darstellen würde, auch bei Vorliegen eines positiven Antikörpernachweises auf eine Argatroban-Gabe zu verzichten (Protokoll S. 13, Bl. 295 d.A.).

107

(2) Das Unterbleiben einer weitergehenden HIT-II-Diagnostik am 10.04.2015, spätestens am 11.04.2015, stellt sich zudem bereits für sich als schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar (Protokoll S. 12, Bl. 294 d.A.; Gutachten S. 13, Bl. 171 d.A.) und damit als grober Behandlungsfehler dar.

108

Dabei ist vorliegend von einer groben Behandlungsfehlerhaftigkeit der am 10.04.2015 unterlassenen Diagnostik selbst dann auszugehen, wenn die Klägerin die für die Diagnostik erforderliche Blutentnahme tatsächlich – wie in den Behandlungsunterlagen dokumentiert – verweigert hätte. Zwar hat es der Sachverständige – insoweit aus ärztlicher Sicht – für „vielleicht noch“ nachvollziehbar erachtet, wenn von einer Diagnostik am 10.04.2015 aufgrund einer Weigerung der Patientin zur Duldung der für die Diagnostik erforderlichen weiteren Blutentnahme abgesehen wurde (Protokoll S. 11, Bl. 293 d.A.). Allerdings würde sich jedenfalls die unterbliebene Aufklärung der Patientin über die Konsequenzen einer entsprechenden Weigerung als grob behandlungsfehlerhaft darstellen. Zwar ist bei Verstößen gegen die insoweit in Rede stehende Pflicht zur therapeutischen Aufklärung (§ 630c Abs. 2 BGB) eine Beweislastumkehr wie auch sonst bei Behandlungsfehlern nur gerechtfertigt, wenn sich der bei der therapeutischen Aufklärung unterlaufene Pflichtenverstoß des Arztes als grober Behandlungsfehler darstellt (BGH, Urt. v. 16.06.2009, Az. VI ZR 157/08, Rn. 15 (juris). Als grober Behandlungsfehler ist aber anzusehen, wenn ein Patient über einen bedrohlichen Befund, der Anlass zu umgehenden und umfassenden ärztlichen Maßnahmen gibt, nicht informiert und ihm die erforderliche ärztliche Beratung versagt wird (BGH, Urt. v. 25.04.1989, Az. VI ZR 175/88, Rn. 14 ff. (juris); BGH, Urt. v. 26.06.2018, Az. VI ZR 285/17, Rn. 11 (juris)). Hiervon ist im vorliegenden Fall angesichts der gravierenden Risiken, die mit einer HIT II für den Patienten verbunden sind, insbesondere des erheblichen Mortalitäts- und Amputationsrisikos (Protokoll S. 9, Bl. 291 d.A.), ohne weiteres auszugehen.

109

b) Zwar erscheint es angesichts des Umstands, dass bereits am 13.04.2015 das Vollbild eines Kompartmentsyndroms vorlag, nicht wahrscheinlich, dass der Klägerin auch bei Umstellung der Antikoagulation auf Argatroban am 10. oder jedenfalls am 11.04.2015 die am 18.04.2015 durchgeführte Fasziotomie erspart geblieben wäre (Protokoll S. 15, Bl. 297 d.A.). Bei günstigstem Verlauf ist es aber zumindest nicht ausgeschlossen und auch nicht nur eine rein theoretische Möglichkeit, dass der Klägerin bei einer Argatroban-Gabe bereits ab dem 10.04.2015 (abends) eine Fasziotomie erspart geblieben wäre (Protokoll S. 20, Bl. 302 d.A. unter Korrektur der Ausführungen auf S. 15, Bl. 297 d.A.). Dies gilt auch bei einer erst am 11.04.2015 durchgeführten HIT-II-Diagnostik und einer Argatroban-Gabe erst ab dem 11.04.2015 (Protokoll S. 19 f., Bl. 301 f. d.A.).

110

Die am 28.04.2015 durchgeführte Amputation der Unterschenkel wäre der Klägerin bei entsprechend frühzeitiger Umstellung der Antikoagulation auf Argatroban sogar mit hinreichender Wahrscheinlichkeit erspart geblieben (Protokoll S. 13, 15, Bl. 294, 297 d.A.).

111

Vorliegend kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass die Klägerin im Rahmen einer frühzeitigeren Diagnosestellung die gebotene Argatroban-Therapie verweigert hätte und die entsprechenden Folgen damit gleichfalls eingetreten wären. Im Rahmen der zugunsten der Klägerin anzunehmenden Beweislastumkehr obläge der Beklagten die Darlegungs- und Beweislast für eine entsprechende Verweigerung. Beklagtenseits ist allerdings weder vorgetragen, noch unter Beweis gestellt, dass die Klägerin eine gebotene Argatroban-Therapie ab dem Abend des 10.04.2015 verweigert hätte. Abgesehen davon liegen für eine entsprechende (hypothetische) Verweigerung auch keine hinreichenden Anhaltspunkte vor, nachdem die Klägerin die entsprechende Therapie ausweislich der vorliegenden Dokumentation zwar am 14.04.2015 tatsächlich verweigert, ab dem Abend des 15.04.2015 dann aber ausweislich der Eintragungen in der Patientenkurve sowie (ab dem 16.04.2015) des Verlaufsberichts der kardiologisch-internistischen Intensivstation geduldet hat.

112

4. Wegen der gesundheitlichen Beeinträchtigungen, welche der Klägerin infolge der fehlerhaften postoperativen Behandlung entstanden sind, hält die Kammer ein Schmerzensgeld in Höhe von 170.000,- € für angemessen aber auch ausreichend.

113

a) Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass vorliegend davon auszugehen ist, dass der Klägerin im Falle eines standardgerechten Vorgehens nicht nur die Amputation beider Unterschenkel, sondern sogar die vorangegangene Fasziotomie erspart geblieben wäre, sie mithin sogar ohne die entsprechenden mit einer Fasziotomie einhergehenden Beeinträchtigungen in Form von – jedenfalls – Narben und Gefühlsstörungen (Protokoll S. 16, Bl. 298 d.A.) aus der stationären Behandlung hätte entlassen werden können.

114

b) Im Rahmen der Schmerzensgeldbemessung hat die Kammer neben den gravierenden mit der Amputation beider Unterschenkel lebenslang verbundenen körperlichen und psychischen Beeinträchtigungen insbesondere die Notwendigkeit zweier weitreichender Operationen – der Fasziotomie vom 18.04.2015 sowie der Amputation vom 28.04.2015 – sowie die damit verbundene erhebliche Verlängerung des stationären Aufenthalts insgesamt bis zum 08.06.2015 – selbst bei Durchführung nur einer Fasziotomie wäre eine Entlassung der Klägerin nach bereits drei Wochen möglich gewesen (Protokoll S. 17, Bl. 299 d.A.) – und die Notwendigkeit einer anschließenden einmonatigen Rehabilitation – nach dem Entlassbrief der M.-Klinik vom 25.06.2015 (enthalten in den Behandlungsunterlagen Dr. H.) wurde sie erst am 29.06.2015 aus der Rehabilitation entlassen – berücksichtigt.

115

Hinsichtlich der mit der Amputation beider Unterschenkel verbundenen Beeinträchtigungen hat die Klägerin im Rahmen ihrer Anhörung geschildert, dass sie aufgrund von Problemen mit den Stümpfen nach Entlassung aus dem U. noch keine Prothesen habe tragen können und auch ein Versuch im Jahr 2016 nicht erfolgreich gewesen sei, weil es zu Schwellungen gekommen war, so dass sie in dieser Zeit vollständig auf die Nutzung eines Rollstuhls angewiesen war (Protokoll S. 20, Bl. 302 d.A.). Erst Ende 2017 habe sie dann Prothesen bekommen, die sie jetzt jeweils so lange, bis es nicht mehr gehe, trage; auch weiterhin leide sie aber an geschwollenen Beinen, wenn sie die Prothesen länger trage (Protokoll S. 20, Bl. 302 d.A.), zudem komme es beim längeren Tragen zu schmerzhaften Blasenbildungen (Protokoll S. 21, Bl. 303 d.A.). Aus diesem Grund sei sie weiterhin täglich auf die Nutzung eines Rollstuhls angewiesen (Protokoll S. 21, Bl. 303 d.A.).

116

Diese ‒ aus sich heraus ohne weiteres schlüssigen und im Übrigen ohne erkennbare Aggravationstendenz geschilderten ‒ Angaben erachtet die Kammer für durchweg glaubhaft. Allein der Umstand, dass der Klägerin ausweislich des Entlassberichts des U. vom 12.06.2015 im Rahmen der dortigen stationären Behandlung Unterschenkelprothesen angepasst worden sind, steht der Richtigkeit der Angaben der Klägerin entgegen der Auffassung der Beklagten nicht entgegen. Vielmehr erfolgte auch im U. ausweislich des Entlassberichts nur eine Mobilisation im Rollstuhl, so dass die erwähnte Prothesenanpassung ersichtlich lediglich vorgreiflich erfolgte. Dies steht auch in Einklang mit dem Befund aus dem Entlassbrief der M.-Klinik vom 25.06.2015, wonach bei Entlassung der Klägerin weiterhin Nekrosen an den Unterschenkelstümpfen bestanden, die ein Tragen von Prothesen verhinderten.

117

Die Angaben der Klägerin hinsichtlich auch noch im Jahr 2017 bestehender Schwierigkeiten beim Tragen von Prothesen stehen zudem in Einklang mit dem vorliegenden MDK-Gutachten vom 12.09.2017 (Anlage K25), wonach im Rahmen der Begutachtung am selben Tag ‒ mithin anderthalb Jahre nach der Amputation ‒ eine deutliche Schwellung über dem linken Kniegelenk sowie dunkel verfärbte Hautareale an den Knien und den Amputationsstümpfen festgestellt wurden (Anlage K25, S. 4).

118

Soweit die Beklagte demgegenüber behauptet, dass bei der Klägerin offenbar eine von dem streitgegenständlichen Geschehen unabhängige massive psychische Erkrankung bestehe, die für ihre Unterstützungsbedürftigkeit verantwortlich sei, finden sich in den vorliegenden Unterlagen keine Anhaltspunkte für eine entsprechende (Mit-)Ursächlichkeit. Insbesondere zeigt der im Rahmen der MDK-Begutachtung vom 12.09.2017 erhobene Befund keinerlei psychische oder kognitiven Auffälligkeiten (Anlage K25, S. 4 und 6 f.). Dementsprechend werden in dem Gutachten als pflegebegründende Diagnosen neben der (vorbestehenden) Herzinsuffizienz allein der Verlust der Unterschenkel genannt (Anlage K25, S. 5).

119

Ob die Klägerin darüber hinaus, wie vorgetragen, allein aufgrund des Wissens um die im Rahmen der Amputationsoperation erfolgte Verabreichung von Blutkonserven einen „psychischen Schaden“ erlitten hat, kann vorliegend hingegen dahinstehen. Denn allein das Wissen um eine entsprechende erfolgte Transfusion, ohne dass damit irgendwie geartete konkrete psychische Beeinträchtigungen verbunden wären, wäre nicht geeignet, im Verhältnis zu den mit der Amputation als solcher verbundenen gravierenden körperlichen und psychischen Beeinträchtigungen nennenswert schmerzensgelderhöhend ins Gewicht zu fallen. Insoweit ist auch zu berücksichtigen, dass die Klägerin nicht nur aufgrund der Fasziotomie und der Amputation Transfusionen erhalten hat, sondern bereits perioperativ während der hier nicht streitgegenständlichen Operation vom 02.04.2015 (Gutachten S. 16, Bl. 173 d.A.).

120

Unter Gesamtabwägung dieser Umstände erachtet die Kammer ein Schmerzensgeld von 170.000,- € für angemessen. Soweit von Gerichten für Fälle von Unterschenkelamputationen häufig Schmerzensgelder in der Größenordnung von lediglich 100.000,- € zuerkannt worden waren (vgl. OLG Düsseldorf, Urt. v. 09.05.1994, Az. 1 U 87/93: 180.000,- DM; LG Bielefeld, Urt. v. 17.05.1999, Az. 8 O 409/97: 200.000,- DM; KG, Urt. v. 12.01.2006, Az. 12 U 261/04: 120.000,- €) ist zu berücksichtigen, dass es sich insoweit zum einen um ältere Entscheidungen handelt und zum anderen jeweils die Amputation lediglich eines Unterschenkels in Rede stand.

121

c) Ein Schmerzensgeld in Höhe von 170.000,- € erscheint der Kammer zugleich aber auch ausreichend. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass die Amputation im vorliegenden Fall ausweislich des Operationsberichts vom 28.04.2015 (Anlage K18) unterhalb der Kniegelenke, d.h. unter Wahrung der Funktion der Knie, erfolgte. Zudem ist zu berücksichtigen, dass sich das Geschehen im Rahmen einer ärztlichen Heilbehandlung erfolgte und den insoweit betroffenen Ärzten kein vorsätzliches Handeln vorzuwerfen ist. Insoweit ist der vorliegende Fall nicht vollständig vergleichbar mit Fallgestaltungen, in denen Gerichte Schmerzensgelder in der Größenordnung von 250.000,- € und darüber hinaus zugesprochen hatten (vgl. KG, Urt. v. 29.07.2004, Az. 8 U 54/04: 250.000,- € zzgl. vierteljährlicher Schmerzensgeldrente von 1.500,- € bei Amputation beider Unterschenkel inkl. Kniegelenke sowie Schädelfraktur aufgrund vorsätzlicher Straftat (Stoß vor einfahrende U-Bahn); LG Hamburg, Urt. v. 17.06.2016, Az. 331 O 113/14: 240.000,- € bei Amputation eines Unterschenkels inkl. Kniegelenk und schwersten Verletzungen am anderen Bein, erheblichen Einschränkungen der Sehfähigkeit auf einem Auge und Erforderlichkeit von mehr als zehn Nachfolgeoperationen).

122

d) Eine weitere Erhöhung des zuzuerkennenden Schmerzensgeldes aufgrund des Regulierungsverhaltens der Beklagten oder der hinter ihr stehenden Haftpflichtversicherung kommt vorliegend allerdings nicht in Betracht. Zwar kann sich ein zögerliches und kleinliches Regulierungsverhalten im Rahmen der bei der Schmerzensgeldbemessung anzustellenden Gesamtabwägung grundsätzlich schmerzensgelderhöhend auswirken. Voraussetzung hierfür ist aber, dass sich das Regulierungsverhalten als vorwerfbar oder jedenfalls nicht nachvollziehbar darstellt oder das prozessuale Verhalten über die verständliche Rechtsverteidigung hinausgeht und von einem Geschädigten als herabwürdigend empfunden werden muss (OLG Hamm, Urt. v. 05.03.2021, Az. 9 U 221/19, Rn. 23 (juris); OLG München, Urt. v. 29.07.2020, Az. 10 U 2287/20, Rn. 8 (juris)).

123

Hiervon kann vorliegend nicht ausgegangen werden. Dass die Beklagte allein aufgrund der vorgerichtlich erhobenen Vorwürfe gehalten gewesen wäre, an die Klägerin zumindest Abschlagszahlungen zu leisten, kann selbst unter Berücksichtigung des Umstands, dass sich jedenfalls Teile der erhobenen Vorwürfe nach Überzeugung der Kammer bestätigt haben, die entsprechende Rechtsverteidigung nicht unangemessen erscheinen lassen. Gleiches gilt hinsichtlich des Umstands, dass die Beklagte nach Vorlage des schriftlichen Sachverständigengutachtens unter Ausübung ihrer gesetzlich normierten Verfahrensrechte nach §§ 402, 397 ZPO ergänzende Fragen an den Sachverständigen gestellt hat. Dass eine in Anspruch genommene Partei gehalten wäre, zur Meidung einer Schmerzensgelderhöhung allein auf Grundlage eines vorläufigen Ergebnisses einer Beweisaufnahme unter Inkaufnahme des Insolvenzrisikos der Gegenpartei an diese Abschlagszahlungen zu leisten, lässt sich mit den gesetzlich normierten und verfassungsrechtlich verbürgten Verfahrensrechten der Parteien nicht in Einklang bringen.

124

Im Übrigen hat sich die Beklagten während des gesamten Verfahrens durchaus vergleichsbereit gezeigt; dass die Parteien insoweit aufgrund erheblich divergierender Einschätzungen sowohl über die angemessene Schmerzensgeldhöhe als auch des Werts etwaiger (vergangener und zukünftiger) materieller Schäden zu keiner Einigung finden konnten ‒ die Beklagte hatte zuletzt einen Vergleichsbetrag von 300.000,- € angeboten, die Klägerin hatte eine Zahlung von insgesamt 850.000,- € gefordert ‒ vermag eine unangemessene Handhabung durch die Beklagte nicht zu begründen.

125

4. Die Klägerin hat gemäß §§ 280, 611 ff., 630a ff., 823 i.V.m. § 249 BGB auch einen Anspruch auf Ersatz der Kosten der erforderlichen Rechtsverfolgung in Form der nicht anrechenbaren Kosten für die vorprozessuale Tätigkeit ihres früheren Prozessbevollmächtigten mit Schreiben vom 02.10.2015 (Anlage K12) in der geltend gemachten Höhe von 4.465,77 €.

126

Die geltend gemachte Geschäftsgebühr nach VV 2300 entsprechend dem Höchstsatz von 2,5 Gebühren hält die Kammer angesichts der Umstände des vorliegenden Falles ausnahmsweise für gerechtfertigt. Nach § 14 Abs. 1 S. 1 RVG bestimmt der Rechtsanwalt bei Rahmengebühren die Gebühr im Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände, vor allem des Umfangs und der Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit, der Bedeutung der Angelegenheit sowie der Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Auftraggebers, nach billigem Ermessen; ist die Gebühr von einem Dritten zu ersetzen, ist die von dem Rechtsanwalt getroffene Bestimmung nach § 14 Abs. 1 S. 3 RVG nur dann nicht verbindlich, wenn sie unbillig ist. Vorliegend lassen der Umfang und die Schwierigkeit, vor allem aber die Bedeutung der Angelegenheit den Ansatz der Höchstgebühr für nicht unbillig erscheinen. So handelt es sich um eine Arzthaftungssache, bei der komplexe medizinische Zusammenhänge zu berücksichtigen waren, die aber vor allem für die noch relativ junge Klägerin angesichts der gravierenden Auswirkung des Rechtsstreits auf ihre weitere Lebens- und Einkommenssituation von ganz erheblicher Bedeutung ist.

127

Auf Grundlage des anzunehmenden Gegenstandswert von 220.000,- € und der bis zum 31.12.2020 maßgeblichen Gebührensätzen errechnet sich eine erstattungsfähige Gebühr in der geltend gemachten Höhe von 4.465,77 € (1,75 x 2.133,- € = 3.732,75 € zzgl. Telekommunikationspauschale i.H.v. 20,- € gemäß VV-RVG Nr. 7002 sowie Umsatzsteuer i.H.v. 713,02 €).

128

Der Anspruch der Klägerin auf Verzinsung der tenorierten Beträge folgt aus §§ 291, 288 Abs. 1 S. 2 BGB, angesichts der Zustellung der Klage am 28.03.2018 (Bl. 66 d.A.) analog § 187 Abs. 1 BGB ab dem 29.03.2018.

III.

129

Da die Beklagte wegen eines Behandlungsfehlers in Bezug auf die postoperative Behandlung der Klägerin haftet, ist auch der Antrag der Klägerin auf Feststellung der Verpflichtung der Beklagten zur Erstattung (in ihrer Entwicklung noch nicht abgeschlossener) vergangener und zukünftiger materieller Schäden sowie derzeit nicht vorhersehbarer immaterieller Schäden begründet.

IV.

130

Die prozessualen Nebenentscheidungen folgen aus § 91 Abs. 1 und § 709 S. 1 und 2 ZPO.

131

Beschluss

132

Der Streitwert wird auf 220.000,00 € festgesetzt.

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