Urteil vom Landgericht Paderborn - 1 S 83/17
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird das angefochtene Urteil des Amtsgerichts Paderborn vom 29.06.2017, Az. 53 C 166/10, abgeändert und wie folgt neu gefasst:
Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 678,90 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 09.07.2010 zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits erster und zweiter Instanz hat der Beklagte zu tragen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
1
Gründe:
2I.
3Von den gemäß § 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO zu treffenden Feststellungen zur Tatsachengrundlage wird gemäß den §§ 540 Abs. 2, 313a Abs. 1 S. 1 ZPO abgesehen.
4II.
5Die zulässige Berufung ist begründet. Die Klage ist insgesamt zulässig und begründet.
61.
7Die Klage ist zulässig. Die angefochtene Entscheidung des Amtsgerichts Paderborn konnte bereits deshalb keinen Bestand haben.
8a)
9Ungeachtet der umfassenden Einwendungen des Beklagten ist – nicht zuletzt aufgrund zwischenzeitlich gefestigter Rechtsprechung – eine (ausschließliche) Zuständigkeit des Landgerichts (Dortmund) für die Beurteilung der vorliegenden Rechtsfragen nicht anzunehmen.
10So hat das Landgericht Dortmund selbst im unmittelbaren Zusammenhang mit dem vorliegenden Verfahrenskomplex seine Zuständigkeit gemäß § 102 EnWG nicht gesehen und durch Beschluss vom 24.10.2011 (Az. 10 O 105/10 [Kart.]) eine Parallelsache an das Amtsgericht zurückverwiesen.
11Gemäß § 102 Abs.1 Satz 1 EnWG sind für bürgerliche Rechtsstreitigkeiten, die sich aus diesem Gesetz ergeben, ohne Rücksicht auf den Wert des Streitgegenstandes die Landgerichte ausschließlich zuständig. Dies gilt gemäß § 102 Abs. 1 Satz 2 EnWG auch dann, wenn die Entscheidung eines Rechtsstreits ganz oder teilweise von einer Entscheidung abhängt, die nach diesem Gesetz zu treffen ist.
12Mit der Klage macht die Klägerin Versorgungsentgelte geltend, da sie die zugrunde liegenden Preiserhöhungen für wirksam hält; zwischen den Parteien ist streitig, ob die Klägerin auf der Grundlage der zwischen ihnen bestehenden Gaslieferungsverträge einseitig Preiserhöhungen durchsetzen kann bzw. ob einseitig erklärte Preiserhöhungen der Billigkeit entsprechen. Derartige Zahlungsansprüche werden von der Zuständigkeitsregelung des § 102 EnWG jedoch nicht erfasst, da hier nicht der Anspruch auf Grundversorgung oder eine sich aus dem EnWG ergebende Rechtsbeziehung Streitgegenstand ist (vgl. nur OLG Hamm, Beschl. v. 23.07.2012, Az. 32 SA 32/12 m. zahlr. w. N.).
13Die Entscheidung des Rechtsstreits hängt auch nicht ganz oder teilweise von einer energiewirtschaftsrechtlichen Vorfrage ab (§ 102 Abs. 1 Satz 2 EnWG). Die Rechtsfrage, ob die Preiserhöhungen der Klägerin der Billigkeit gemäß § 315 BGB entsprechen, ist nicht mit den Regelungen des EnWG zu beantworten. Das EnWG gibt dem Haushaltskunden lediglich einen Anspruch auf Grundversorgung (§ 36 Abs. 1 EnWG) und regelt damit nur das „Ob“ der Versorgung, nicht dagegen die Einzelheiten der Ausgestaltung des Individualvertrages über die Energielieferungen und die Höhe der Bezugspreise. Daher hängt die Entscheidung über die Billigkeit einer Preiserhöhung auch von keiner nach diesem Gesetz zu treffenden Entscheidung im Sinne des § 102 Abs. 1 Satz 2 EnWG ab.
14Folgerichtig hat auch der BGH in seiner Grundsatzentscheidung vom 28.10.2015 (Az. VIII ZR 158/11) als Anspruchsgrundlage § 433 Abs. 2 BGB i. V. m. §§ 133, 157 BGB angenommen, ohne eine vermeintliche Zuständigkeitsproblematik im Zusammenhang mit dem EnWG überhaupt zu thematisieren.
15Die zunächst mit Schriftsatz des Beklagtenvertreters vom 15.09.2010 vorgebrachten Einwände verfangen angesichts der späteren, einhellig formulierten obergerichtlichen Rechtsprechung jedenfalls nicht mehr. Die zweitinstanzlichen Schriftsätze wiederum enthält keinen ausreichend differenzierten Angriff mehr, soweit die mögliche Zuständigkeit nach § 102 EnWG betroffen ist.
16b)
17Das Amtsgericht hat in seiner angefochtenen Entscheidung eine Sonderzuständigkeit des Landgerichts (Dortmund) – Kammer für Handelssachen als Kartellgericht – wegen missbräuchlicher Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung durch die Klägerin, § 87 Abs. 2 GWB, angenommen. Dies begründe sich in der bloßen Notwendigkeit der kartellrechtlichen Überprüfung der entsprechenden Rüge des Beklagten, dass die Klägerin aus sachfremden Erwägungen einseitig ihre Verpflichtung zur preiswerten Energieversorgung missachte und die Preisgestaltung nicht nachvollziehbar sei, unabhängig vom Ergebnis.
18§ 87 Abs. 1 Satz 1 GWB begründet eine derartige Zuständigkeit für bürgerliche Rechtsstreitigkeiten, die sich aus dem GWB oder aus Kartellvereinbarungen und aus Kartellbeschlüssen ergeben. § 87 Abs. 1 Satz 2 GWB knüpft eine ausschließliche Zuständigkeit der Kartellgerichte daran, ob die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder teilweise von einer Entscheidung nach dem GWB abhängt. Das ist dahin zu verstehen, dass die Entscheidung des Rechtsstreits von einer Vorfrage abhängt, die, wäre sie Hauptfrage, unter § 87 Abs. 1 Satz 1 GWB fiele (vgl. Immenga/Mestmäcker/Schmidt, GWB, § 87 Rn. 27). Die kartellrechtliche Vorfrage muss auf substantiiertem Tatsachenvortrag beruhen; bloße Rechtsausführungen über die angebliche Einschlägigkeit von GWB-Normen genügen nicht (vgl. OLG Frankfurt, Beschl. v. 16.07.2010, Az. 14 UH 12/10).
19Es kommt jedoch entgegen der Auffassung des Beklagten – ungeachtet der Frage, ob der entsprechende Beklagtenvortrag hinreichend substantiiert ist – hier im Ergebnis nicht darauf an, da der dem Rechtsstreit zugrunde liegende Anspruch der Klägerin – die Hauptfrage – sich unmittelbar aus dem mit den Beklagten geschlossenen Versorgungsvertrag ergibt und in seiner konkreten Ausprägung – sei es auch über mehrere aufeinanderfolgende Jahre – nicht über diesen hinausgeht. Mithin besteht Entscheidungsreife in der Hauptsache auch dann, wenn die (möglicherweise) kartellrechtliche Vorfrage letztlich nicht beantwortet wird (vgl. Immenga/Mestmäcker/Schmidt, GWB, § 87 Rn. 27).
20Für die Beurteilung einer Berechtigung der Klägerin, eine einseitige Preisanpassung unter Berücksichtigung der Maßstäbe des § 315 BGB bzw. der hierzu inzwischen von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze – die ungeachtet des Anwendungszwanges des zur Zeit des Vertragsabschlusses geltenden Rechtszustandes (insbesondere § 19 GWB a. F.) gelten – vorzunehmen, bedarf es einer Beantwortung der Frage, ob die Klägerin bereits bei Vertragsabschluss ggf. kartellrechtswidrig gehandelt oder in der Zwischenzeit so agiert hat, aber gerade nicht, da diese Umstände erforderlichenfalls im Rahmen der Abwägung gemäß § 315 BGB bzw. der Auslegung gemäß §§ 133, 157 BGB nach hierzu vom BGH entwickelten Maßstäben Berücksichtigung finden können und eine spezifisch kartellrechtliche Bewertung nicht angezeigt ist, was die Kammer in eigener Überzeugung feststellen kann (vgl. Immenga/Mestmäcker/Schmidt, GWB, § 87 Rn. 30). Insbesondere rechtfertigt zwar die naheliegende Möglichkeit, dass eine kartellrechtliche Vorfrage zu beantworten sein könnte, eine Verweisung an das Kartellgericht; dies gilt aber nicht, wenn – wie hier – erst eine umfangreiche Beweisaufnahme durchgeführt werden muss, um eventuelle Anknüpfungspunkte für die Qualifizierung einer solchen Vorfrage zu erlangen (vgl. Immenga/Mestmäcker/Schmidt, GWB, § 87 Rn. 27).
212.
22Die Klage ist auch begründet. Die Kammer ist zur diesbezüglichen Entscheidung gem. § 538 Abs. 1 ZPO berufen.
23Der Klägerin steht gegen den Beklagten ein Anspruch aus § 433 Abs. 2 BGB i. V. m. dem zwischen den Parteien bestehenden Energielieferungsvertrag für die Vertrags- bzw. Gaswirtschaftsjahre 2006 und 2007 in Höhe von 678,90 € zu, nachdem die für die vorgenannten Jahre vorgenommenen Preisanpassungen der Klägerin zum 01.01.2006, 01.10.2006, 01.03.2007, 01.01.2008 und 01.10.2008 gerechtfertigt und angemessen gewesen sind, hinsichtlich derjenigen zum 01.10.2004 und 01.08.2005 für die Vertrags- bzw. Gaswirtschaftsjahre 2004 und 2005 aber jedenfalls Verjährung eingetreten ist.
24a)
25In Ermangelung einer spezialgesetzlichen Anspruchsgrundlage ergibt sich ein Anspruch der Klägerin auf die Zahlung der jeweiligen Entgelte grundsätzlich aus § 433 Abs. 2 BGB i. V. m. dem zwischen den Parteien – jedenfalls zum damaligen Zeitpunkt – bestehenden Energielieferungsvertrag.
26Der Beklagte ist auch, da die Anwendbarkeit des § 433 Abs. 2 BGB sich nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung auf Verträge der – nach heutiger Terminologie – Grundversorgung beschränkt, sog Tarifkunde der Klägerin. Gegenstand seines Energielieferungsvertrages ist der klägerseits angebotene Tarif „Grundversorgung erdgas.ideal“. Maßstab für die Einordnung eines Tarifs in die Grundversorgung ist die Wahrnehmung eines durchschnittlichen Kunden dahingehend, ob das Vertragsangebot mittels öffentlicher Bekanntmachung aufgrund einer Versorgungspflicht oder optional nach Marktlage erfolgt, wobei die Existenz mehrerer Grundversorgungstarife nebeneinander die Annahme eines solchen nicht hindert (vgl. BGH, Urt. v. 28.10.2015, Az. VIII ZR 13/12).
27Ein anerkanntes Indiz für das Vorliegen eines Sonderkundenvertrages ist indes die verbrauchsunabhängige Abrechnungsform (vgl. BGH, Urt. v. 14.07.2010, Az. VIII ZR 246/08). Diese ist hier gerade nicht gegeben; sämtliche vorliegenden und streitgegenständlichen Jahresabrechnungen der Klägerin sind – unstreitig – an den Verbrauch geknüpft (so auch LG Bielefeld, Urt. v. 17.07.2018, Az. 20 S 94/11). Zudem begründet die Vornahme öffentlicher Bekanntmachungen als solcher ein Indiz für die Eigenschaft als Grundversorgungstarif (vgl. LG Detmold, Beschl. v. 29.02.2012, Az. 10 S 205/11, Bl. 198 ff. d. A.).
28Der Beklagte hat die Einordnung als Grundversorgungsvertrag bestritten und vertritt die Auffassung, es handele sich um einen Sonderkundenvertrag. Die dazu vorgetragene Argumentation, insbesondere der Hinweis auf den Bezug von „Erdgas für Bestandskunden“ findet jedoch in der ausdrücklich in Bezug genommenen Anl. K7 (Erdgasabrechnungen) zumindest insoweit keine Stütze, als dort in den Abrechnungen für die Jahre 2004 und 2005 zwar jeweils nur von „Erdgas“ die Rede ist. Ab der Jahresrechnung 2006 wird der Tarif jedoch durchgehend als „Grundversorgung erdgas.ideal“ bezeichnet. Die Vertragskontonummer für den Erdgasbezug bleibt mit … ebenfalls durchgehend unverändert. Unbeachtlich bleibt hingegen der Einwand des Beklagten, die Klägerin habe in ihren öffentlichen Bekanntmachungen der Preisanpassungen den Eindruck erweckt, es handele sich bei dem benannten Tarif um einen Sondervertrag. Tatsächlich ergibt sich zwar aus der Inaugenscheinnahme der insoweit beigegebenen Anlagen (zu 1 S 19/10) der Klägerin, dass die Preise des Tarifs „erdgas.ideal“ durchgehend als „Der Sondervertrag für Neukunden unabhängig vom Erdgasverbrauch“ bezeichnet werden. In den gleichen Preisanpassungen sind ausdrücklich als Grundversorgung bzw. Allgemeintarife bezeichnete Preistabellen gesondert aufgeführt. Erstmals mit der Bekanntmachung der Preisanpassung zum 01.10.2006 wird auch der Tarif „erdgas.ideal“ im Rahmen der Grundversorgung/allgemeine Tarife für Erdgas ausgewiesen. Gleichzeitig verbleibt es aber bei der Ausweisung dieses Tarifs (auch) als Sondertarif für Bestandskunden vor dem 01.10.2004.
29b)
30Einer weiter vertiefenden Untersuchung dieser ohnehin nur für die Vertragsjahre 2004 und 2005 relevanten Frage bedarf es indes nicht. Etwaige Forderungen der Klägerin aus den Jahren 2004 und 2005 sind nämlich jedenfalls verjährt. Der Beklagte hat die Verjährungseinrede auch erhoben.
31aa)
32Für die auf § 433 Abs. 2 BGB gestützten Nachforderungsansprüche der Klägerin gilt die regelmäßige Verjährungsfrist von drei Jahren (§ 195 BGB).
33Da die Entstehung des Anspruchs grds. die Fälligkeit desselben voraussetzt (vgl. Grüneberg/Ellenberger, BGB, § 199 Rn. 3) und bei Nachforderungsansprüchen von Versorgungsunternehmen der Zugang der Rechnung Fälligkeitsvoraussetzung ist (vgl. Grüneberg/Ellenberger, BGB, § 199 Rn. 6 m. w. N.), begann für die jeweils per Jahresrechnung der Klägerin geltend gemachten Zahlungsansprüche die Verjährungsfrist am 31.12. des jeweiligen Jahres zu laufen (§ 199 Abs. 1 BGB).
34bb)
35Ein Anspruch der Klägerin aus der Jahresrechnung 2004 ist, obgleich diese ebenfalls als Anlage K7 beigegeben wurde, nicht Gegenstand der Klage.
36cc)
37Im Ergebnis wäre ein Anspruch der Klägerin aus der Jahresrechnung 2005 jedenfalls verjährt.
38Für Ansprüche der Klägerin aus der Jahresrechnung 2005 begann die Verjährungsfrist am 31.12.2006 zu laufen, nachdem die an den Beklagten gerichtete Jahresrechnung 2005 überhaupt erst vom 10.07.2006 datiert, mithin jedenfalls nicht vorher zugegangen sein kann. Verjährung konnte daher frühestens am 31.12.2009 eintreten.
39Hiervon geht die Kammer auch tatsächlich aus. Zwar wurde die Verjährung durch Zustellung des dieses Verfahren auslösenden Mahnbescheides der Klägerin an den Beklagten am 18.12.2009 gem. § 204 Abs. 1 Nr. 3 BGB gehemmt. Dabei geht die Kammer insbesondere auch von einer hinreichenden Bestimmtheit des Mahnbescheidsantrags nach § 690 Abs. 1 Nr. 3 ZPO aus. Zu Recht wendet der Beklagte ein, dass die Einzelforderungen nach Individualisierungsmerkmalen und Betrag bestimmt sein müssen, wenn – wie hier – mit einem Mahnbescheid mehrere Einzelansprüche unter Zusammenfassung in einer Summe geltend gemacht werden. Diese Anforderungen sieht die Kammer hier jedoch als erfüllt an. Aus der Angabe des Rechnungsdatums und der Rechnungsnummer der Klägerin – vorgelegt als Anlage K7, dort Jahresrechnung 2007 – ergibt sich die auch dort durch nur zwei Einzelpositionen bezifferte Forderung hinreichend genau, da die Wirkung des § 690 Abs. 1 Nr. 3 ZPO letztlich nicht von der Bestimmtheit der Rechnung, sondern nur von der Bestimmtheit des Mahnantrags im Verhältnis zum Bezugsdokument abhängt, insbesondere, soweit dem Schuldner tatsächlich bekannt ist, um welche Forderungen es geht (vgl. Musielak/Voit, ZPO, § 690 Rn. 6a). Zumindest dies darf gerade in der vorliegenden Fallkonstellation unterstellt werden.
40Diese Hemmungswirkung hat auch grundsätzlich während des erstinstanzlichen Verfahrens fortgedauert. Zwar ist die Sache nicht gem. § 696 Abs. 3 ZPO alsbald nach Widerspruchseinlegung ins Streitverfahren abgegeben worden, sondern erst nach über sechs Monaten, für die Hemmung der Verjährung kommt es hierauf jedoch nicht an (vgl. BGH, Urt. v. 17.01.2008, Az. II ZR 283/06; Zöller/Seibel, ZPO, § 696 Rn. 9). Da die Klageschrift innerhalb von sechs Monaten nach Zugang des entsprechenden Anforderungsschreibens beim Amtsgericht eingegangen ist, kommt auch eine Beendigung der Hemmung nach § 204 Abs. 2 BGB nicht in Betracht.
41Das Amtsgericht hat sodann das vorliegende Verfahren durch Beschluss vom 24.09.2012 (Bl. 130) zur Klärung eines Vorabentscheidungsverfahrens vor dem EuGH über den Vorlagebeschluss des BGH vom 18.05.2011, Az. VIII ZR 71/10, gemäß § 148 ZPO ausgesetzt.
42Zwar wird grundsätzlich während des laufenden Rechtsstreits eine Verjährung des klageweise geltend gemachten Anspruchs gemäß § 204 Abs. 1 Nr. 1 BGB gehemmt, jedoch gilt dies nur, soweit die Parteien es weiterbetreiben bzw. ein etwaiger Stillstand des Verfahrens nicht auf einer bloßen Untätigkeit der Parteien beruht. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn gesetzliche Unterbrechungstatbestände das Verfahren zum Stillstand gebracht haben, aber auch, soweit dem Stillstand des Verfahrens ein auf Antrag der Parteien ergangener Beschluss zur Aussetzung gemäß § 148 ZPO zugrunde liegt (vgl. MüKo-BGB/Grothe, § 204 Rn. 81 m. w. N.). Fällt indes der Grund, auf den die Aussetzung ursprünglich gestützt worden ist, nachträglich weg und bleiben die Parteien auch insoweit untätig, läuft die Verjährung unter Berücksichtigung der Sechsmonatsfrist des § 204 Abs. 2 S. 1 u. 3 BGB weiter (vgl. MüKo-BGB/Grothe, a. a. O.). Ist ein Verfahren konkret, wie hier, bis zur Entscheidung eines anderen vorgreiflichen Verfahrens ausgesetzt, endet die Aussetzung automatisch mit der Entscheidung des anderen Verfahrens, ohne dass es einer Aufnahmeerklärung der Parteien (§ 250 ZPO) oder einer Anordnung des Gerichts nach § 150 ZPO bedarf (vgl. Zöller/Greger, ZPO § 148 Rn. 8 u. § 150 Rn. 2; BGH, NJW 1989, 1729).
43Die in solchen Fällen laufende Verjährungsfrist wird erst dann wieder gehemmt, wenn die Parteien das Verfahren erneut betreiben, § 204 Abs. 2 S. 4 BGB. Tun sie dies nicht, endet die Hemmung sechs Monate nach dem Wegfall analog § 204 Abs. 2 S. 2 BGB (Zöller/Greger, ZPO, § 249 Rn. 2; OLG Saarbrücken, Urt. v. 08.04.2008, Az. 4 U 397/07-132).
44Im hiesigen Verfahren ist Grundlage der Aussetzung zunächst der Beschluss des Amtsgerichts vom 24.09.2012, wörtlich: „bis zur Erledigung des Vorabentscheidungsverfahrens“. Diese Erledigung ist mit Urteil des EuGH vom 23.10.2014, Az. C-359/11, offenkundig erfolgt, sodass die Hemmung der Verjährung des klageweise geltend gemachten Anspruchs analog § 204 Abs. 2 S. 2 BGB sechs Monate nach Wegfall des Aussetzungsgrundes jeweils zum 24.04.2015 geendet hätte. Dem ist jedoch das Amtsgericht Paderborn durch die Förderung des Verfahrens mit Hinweis vom 26.01.2015 und erneuter Aussetzung „bis zur Entscheidung der Verfahren vor dem BGH“ durch Beschluss vom 05.03.2015 (Bl. 139) begegnet. Der Abschluss der Verfahren vor dem BGH erfolgte sodann durch Leitentscheidung vom 28.10.2015 (Az. VIII ZR 71/10), sodass ein Ende der Hemmung der Verjährung des klageweise geltend gemachten Anspruchs analog § 204 Abs. 2 S. 2 BGB wiederum sechs Monate nach Wegfall des Aussetzungsgrundes und damit mit Beginn des 29.04.2016 eingetreten wäre. Die erste verfahrensfördernde Handlung überhaupt war sodann die Terminsverfügung des Amtsgerichts vom 23.03.2017 (Bl. 144), sodass zwischenzeitlich die Verjährungsfrist insbesondere für die Ansprüche aus der Jahresrechnung 2005 wieder zu laufen begonnen hatte, die mit Eintritt der Hemmung am 18.12.2009 nur noch wenige Tage vor ihrem Ablauf gestanden hatte. Damit trat Verjährung etwaiger Ansprüche aus der Jahresrechnung 2005 jedenfalls in der Folge ein.
45dd)
46Im Übrigen sind die Verjährungsfristen – im Weiteren beginnend am 31.12.2007 für die Jahresrechnung 2006 und ablaufend frühestmöglich am 31.12.2010 – aber von diesem Umstand unberührt.
47c)
48Der Klägerin stehen die verbliebenen Ansprüche aus den Jahresrechnungen 2006 und 2007 in dem geltend gemachten Umfang zu, da die Klägerin ein dem Versorgungsvertrag mit dem Beklagten immanentes Preisanpassungsrecht für sich beanspruchen kann, dessen Voraussetzungen im vorliegenden Fall erfüllt sind.
49aa)
50Der Ursprung des Preisanpassungsrechts der Klägerin liegt in einer ergänzenden Vertragsauslegung der mit dem Beklagten geschlossenen Grundversorgungsvereinbarung im Sinne der §§ 133, 157 BGB (vgl. BGH, Urt. v. 28.10.2015, Az. VIII ZR 158/11).
51(1)
52Die weitere Anwendbarkeit der gesetzlichen Vorschriften der ehemaligen AVBGasV hat der BGH in dieser eine ständige Rechtsprechung einleitenden Grundsatzentscheidung abgelehnt und sich insoweit mit dem Ergebnis der EuGH-Rechtsprechung zu deren Unvereinbarkeit mit der Gas-Richtlinie 2003/55/EG identifiziert. Soweit national die AVBGasV inzwischen durch die GasGVV ersetzt worden ist, zieht der BGH deren Vorschriften richtigerweise nicht heran, da sie keine Rückwirkung entfalten können.
53(2)
54Auch eine unmittelbare Anwendung der vorgenannten Gasrichtlinie 2003/55/EG, etwa in Ermangelung einer wirksamen nationalen Regelung, kommt für den vorliegenden Fall nicht in Betracht. Der BGH hat in seinem Urteil vom 28.10.2015 solchen Überlegungen eine generelle Absage erteilt mit Hinweis auf die vom EuGH entwickelte Grundsatzrechtsprechung, wonach eine Direktwirkung von Richtlinien nur gegenüber dem Staat oder staatsnahen Organisationen angenommen werden könne, nicht aber im Rechtsverkehr zwischen privaten Rechtssubjekten.
55Die hiesige Klägerin ist nach den Feststellungen der Kammer kein staatsnahes Unternehmen im vorgenannten Sinne (vgl. BVerfG, Beschl. v. 17.11.2017, Az. 2 BvR 1131/16). Dies ist vorliegend auch nicht behauptet worden.
56Das BVerfG hat in seinem vorgenannten Beschluss insbesondere die Entscheidung des EuGH vom 12.07.1990, Az. C-188/89 (Foster), in Bezug genommen. Darin hat der EuGH die vorgenannte allgemeine Definition des staatsnahen Unternehmens dahingehend präzisiert, dass die unmittelbare Geltung von Richtlinien jedenfalls gegenüber einer Einrichtung angenommen werden kann, die unabhängig von ihrer Rechtsform kraft staatlichen Rechtsakts unter staatlicher Aufsicht eine Dienstleistung im öffentlichen Interesse zu erbringen hat und die hierzu mit besonderen Rechten ausgestattet ist, die über das hinausgehen, was für die Beziehungen zwischen Privatpersonen gilt. Dabei handelte es sich im zu entscheidenden Fall ganz konkret um die C., mithin ebenfalls einen Energieversorger. Dieser war – auch nach seiner Privatisierung – noch als privilegierte Institution im vorgenannten Sinne anzusehen, jedenfalls insoweit, als er Rechtsnachfolger des bisherigen Staatsunternehmens geworden war.
57Auch in seiner Entscheidung vom 04.12.1997, Az. C-257/96 (Kampelmann u.a.), hat der EuGH die unmittelbare Anwendbarkeit einer Richtlinie im Verhältnis zu kommunalen Stadtwerken bejaht.
58Das BVerfG hat in diesem Zusammenhang noch angemerkt, dass jedenfalls Vortrag, wonach ein Energieversorger in 100%-igem kommunalen Eigentum stehe, ein deutliches Indiz für die Annahme eines staatsnahen Unternehmens begründe (vgl. BVerfG, a. a. O.).
59In der Literatur wird die Qualifikation eines Grundversorgers als staatsnah trotz der bestehenden aufsichtsrechtlichen Regelungen im Ergebnis wohl verneint (vgl. Uffmann, NJW 2015, 1215, 1217). Zur Begründung wird sinngemäß angeführt, dass – wenn der Energieversorger nicht in vollständigem kommunalen Eigentum steht – es sich rechtssystematisch weiterhin um einen privatrechtlichen Vertragsschluss zwischen einem Verbraucher und einem Unternehmer handele und dieser als solcher nicht von der Richtlinienkompetenz der EU umfasst sein könne (vgl. EuGH, Urt. v. 14.07.1994, Az. C-91/92; LG Bielefeld, a. a. O.). Stimmen in der Rechtsprechung verweisen indes auf eben diesen aufsichtsrechtlichen Sonderstatus des Energieversorgers und seine im öffentlichen Interesse liegende Dienstleistung (AG Lingen, Urteil vom 14.10.2014 - 12 C 1363/09). Dies überzeugt im Ergebnis auch rechtssystematisch nicht, da sich die in Bezug genommenen spezifischen Verpflichtungen ausschließlich aus dem EnWG ergeben, welches aber ausweislich § 3 Nr. 18 EnWG für alle Energieversorgungsunternehmen, mithin auch solche in privater Hand, gilt und damit gerade keinen öffentlich-rechtlichen Sonderstatus im Sinne einer Ausschließlichkeit erzeugt (vgl. Britz/Hellermann/Hermes, EnWG, § 3 Rn. 34).
60Für die hiesige Klägerin ist zudem vorgetragen, dass sie – soweit für den Rechtsstreit relevant – im Jahre 2003 als F aus den bisherigen regionalen Energie- und Wasserversorgern, ihrerseits jeweils Gesellschaften mit beschränkter Haftung, gegründet und zum 02.09.2008 zunächst in die F und schließlich in die heutige F umgewandelt worden ist. Daher kann eine unmittelbare Staatsnähe jedenfalls nicht angenommen werden, sondern allenfalls noch die mittelbare Beteiligung im Wege des Haltens von Gesellschaftsanteilen. Dies allein genügt ohne substantiierten Gegenvortrag für die Annahme einer Staatsnähe nicht (vgl. LG Bielefeld, a. a. O.).
61(3)
62Der BGH hat im Übrigen mit seiner Grundsatzentscheidung vom 28.10.2015 die Grundsätze der ergänzenden Vertragsauslegung i. S. d. §§ 133, 157 BGB für die – damit zulässige – Herleitung eines einseitigen Preisanpassungsrechts des Energieversorgers als Maßstab angenommen. Die dafür erforderliche Regelungslücke in dem jeweiligen Versorgungsvertrag hat er in dem nachträglichen Wegfall der das Versorgungsverhältnis regelnden Vorschriften der AVBGasV gesehen, aus denen sich das – insoweit als grundlegend zu qualifizierende – Preisanpassungsrecht des Versorgers ergeben hatte. Weiter hat der BGH konstatiert, dass, hätten die Parteien bei Vertragsabschluss bedacht, dass die Vereinbarkeit des § 4 Abs. 1 und 2 AVBGasV entnommenen gesetzlichen Preisänderungsrechts mit unionsrechtlichen Vorgaben zumindest unsicher ist, sie bei angemessener Abwägung ihrer Interessen nach Treu und Glauben als redliche Vertragspartner eine – allerdings auf die bloße Weitergabe von (Bezugs-)Kostensteigerungen begrenzte – Möglichkeit des Grundversorgers zur einseitigen Änderung des Tarifs vereinbart hätten. Diesen Erwägungen schließt sich die Kammer, wie zuvor bereits für vergleichbare Fallkonstellationen insbesondere mit der hiesigen Klägerin auch das LG Bielefeld (Urteile vom 27.07.2017, Az. 20 S 94/11 u. 20 S 77/11), ausdrücklich an.
63Die Lücke im Vertrag ist demnach im Wege einer ergänzenden Vertragsauslegung gemäß den §§ 157, 133 BGB in der Weise zu schließen, dass die Klägerin berechtigt ist, Kostensteigerungen ihrer eigenen (Bezugs-)Kosten, soweit diese nicht durch Kostensenkungen in anderen Bereichen ausgeglichen werden, an den Tarifkunden weiterzugeben, und das Gasversorgungsunternehmen verpflichtet ist, bei einer Tarifanpassung Kostensenkungen ebenso zu berücksichtigen wie Kostenerhöhungen. Der nach dieser Maßgabe berechtigterweise erhöhte Preis wird zum vereinbarten Preis (vgl. BGH, Urt. v. 28.10.2015, Az. VIII ZR 158/11).
64Vor diesem Hintergrund greift auch die zuvor in der Rechtsprechung bemühte Klausel des § 315 BGB nicht (mehr) ein. Denn nach dieser Vorschrift ist eine Billigkeitsprüfung vorgesehen, die auf einem vertraglich vereinbarten einseitigen Preisänderungsrecht einer Partei fußt. Dies kann auf den vorliegenden Fall jedoch keine Anwendung finden, da einerseits bereits nicht mehr von einem vereinbarten Preisanpassungsrecht ausgegangen werden kann, nachdem die dem Vertrag zugrunde liegenden Normen der AVBGasV – und damit die Vertragsbedingungen – für unanwendbar erklärt worden sind. Zum anderen bedarf es einer Billigkeitsprüfung insofern nicht, als die Maßstäbe der ergänzenden Vertragsauslegung eine Gegenüberstellung konkreter und zumindest bestimmbarer Rechnungsposten – nämlich der Bezugskostensteigerungen bzw. -senkungen – ermöglichen (vgl. BGH, a. a. O.).
65bb)
66Die Kammer ist nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme insbesondere davon überzeugt, dass die Voraussetzungen des sich aus der ergänzenden Vertragsauslegung ergebenden Preisanpassungsrechts im vorliegenden Fall erfüllt sind und zwar nicht lediglich für die noch entscheidungserheblich zu prüfenden Vertragsjahre 2006 und 2007, sondern auch, was die Kammer im Rahmen einer gebotenen kumulierten Betrachtung ohnehin festzustellen hatte, für die vorangegangenen Jahre 2004 bis 2005, wobei es insoweit aufgrund des Durchgreifens der Verjährungseinrede für das Entscheidungsergebnis freilich nur noch auf eine Plausibilitätskontrolle ankam.
67Bei dieser Beurteilung, ob die Preiserhöhungen des Energieversorgers unter Berücksichtigung der Schätzungsmöglichkeit nach § 287 Abs. 2 i. V. m. § 287 Abs. 1 S. 1 ZPO dessen (Bezugs-)Kostensteigerungen (hinreichend) abbilden, steht dem Tatrichter ein Ermessen zu (vgl. BGH, Urt. v. 28.10.2015, Az. VIII ZR 158/11; LG Bielefeld, Urteile vom 17.07.2018, Az. 20 S 94/11 u. 20 S 77/11).
68So hat insbesondere der gerichtlich bestellte Sachverständige C – dessen Erkenntnisse die Kammer im vorliegenden Verfahren gemäß § 411a ZPO verwertet hat – in seinem schriftlichen Gutachten vom 07.12.2020 und der im Verhandlungstermin vom 01.09.2021 vorgenommenen ergänzenden Anhörung die betriebswirtschaftlichen Zusammenhänge anschaulich und nachvollziehbar dargestellt, die zu der Preisberechnung und -anpassung der Klägerin in den jeweiligen Gaswirtschaftsjahren geführt haben.
69Dabei ist sich die Kammer sowohl des Umstandes bewusst, dass aufgrund der inzwischen erhebliche Zeit zurückliegenden Vorgänge eine lückenlose Aufklärung einzelner Berechnungen nicht mehr möglich war, als auch der von dem Sachverständigen C selbst wiederholt deutlich gemachten Tatsache, dass die Auswahl eines bestimmten, in der Gesamtschau des Energiemarktes bzw. der Versorgungslandschaft vergleichsweise kurzen Betrachtungszeitraums – hier die Gaswirtschaftsjahre 2004 bis 2008 – bereits für sich genommen und völlig ungeachtet der jeweils konkret verwendeten Berechnungsmethoden oder durchgeführten Preisanpassungen ab einem gewissen Punkt zu zufälligen Ergebnissen führt. Der letztere Umstand jedenfalls ist indes durch die Parteien des Rechtsstreits selbst vorgegeben, da der Beklagte konkret die Gaswirtschaftsjahre 2004 bis 2008 bzw. die auf diese bezogenen Jahresrechnungen angreift. Der Rechtsgedanke des § 308 ZPO rechtfertigt damit eine angemessene Begrenzung der zu erhebenden tatsächlichen Feststellungen. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass die Weitergabe der Kostensenkungen und Kostenerhöhungen nicht tagesgenau erfolgen muss, sondern auf die Kostenentwicklung in einem gewissen Zeitraum abzustellen ist. Die Bemessung dieses Zeitraums obliegt der Beurteilung des Tatrichters nach den Umständen des Einzelfalls, wobei jedenfalls die Gesamtbetrachtung nach Gaswirtschaftsjahren nicht zu beanstanden ist (vgl. BGH, Urt. v. 28.10.2015, Az. VIII ZR 158/11 m. w. N.).
70Dass solche Feststellungen in dem vorbezeichneten Rahmen grundsätzlich möglich sind, hat der Sachverständige C eingangs seines schriftlichen Gutachtens und auch nochmals in dessen mündlicher Erläuterung ausdrücklich formuliert. Auch hat er für die Kammer überzeugend und nachvollziehbar ausgeführt, dass sich die Klägerin in einem ihr wie auch anderen Energieversorgern grundsätzlich zustehenden Spielraum unternehmerischen Ermessens (vgl. BGH, a. a. O.) bewege, der betriebswirtschaftlich lediglich eingeschränkt überprüfbar sei, nämlich insbesondere auf die Verwendung einer allgemein anerkannten Berechnungsmethode und auf eventuelle Anzeichen von Willkür. Seien diese Grundvoraussetzungen erfüllt, würden die entsprechenden Zahlenwerke der Klägerin einer Plausibilitätsprüfung unterzogen, hier nach Maßgabe der von der Kammer in Anlehnung an die Grundsatzentscheidung des BGH formulierten Beweisfragen.
71Danach ist das Gasversorgungsunternehmen berechtigt, Kostensteigerungen seiner eigenen (Bezugs-)Kosten, soweit diese nicht durch Kostensenkungen in anderen Bereichen ausgeglichen werden, an den Tarifkunden weiterzugeben. Das Gasversorgungsunternehmen ist umgekehrt verpflichtet, bei einer Tarifanpassung Kostensenkungen ebenso zu berücksichtigen wie Kostenerhöhungen (vgl. BGH, Urt. v. 28.10.2015, Az. VIII ZR 158/11).
72Der Sachverständige weist auf die nur begrenzte Objektivierbarkeit insbesondere der weiteren Kostenänderungen und des unternehmerischen Umgangs der Klägerin damit hin, ferner auf – im Rahmen des von der Kammer bereits dargestellten rechtlichen Vorrangs der Parteiautonomie – hinzunehmende rechnerische Ungenauigkeiten durch das Erfordernis einer Durchschnittsbildung in Abhängigkeit vom jeweils gewählten Betrachtungszeitraum. Insbesondere im letzten Schritt müsse als Maßstab das unternehmerische Ermessen der Klägerin angesetzt werden, wobei allenfalls „offensichtlich grober Unfug“ die Grenzen überschreiten dürfte und zudem nur der jeweilige Wissensstand auf Basis der damaligen Marktentwicklung zugrunde gelegt werden könne, wobei objektiv festzustellen sei, dass die Markt- und Regulierungsverhältnisse im Erdgasgeschäft im fraglichen Zeitraum (2004-2008) grundlegend anders als heute gestaltet waren. Es seien also damalige Prognoseentscheidungen der Klägerin zu bewerten bzw. erforderlichenfalls zu rekonstruieren; eine ex-post-Betrachtung verbiete sich.
73(1)
74Die Klägerin trägt im vorliegenden Verfahren vor, schon die Steigerungen ihrer eigenen Bezugskosten nicht einmal in vollem Umfang an ihre Kunden weitergegeben zu haben. Sie beziehe das zur Versorgung ihrer (Haushalts-)Kunden benötigte Gas seit Jahren von mehreren Lieferanten, wobei der Bezug auf der Grundlage von Preisanpassungsklauseln erfolge, wonach der Bezugspreis an die Entwicklung des Ölpreises gebunden sei.
75Als Anlage K12 hat die Klägerin ein Privatgutachten der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft X vom 23.10.2009 über die Gaspreisanpassungen für Haushalts- und Kleingewerbekunden im Zeitraum 01.01.2004 bis 30.09.2008 vorgelegt, dem als Anlage 2 eine Tabelle über die monatliche Entwicklung des Bezugspreises der Rechtsvorgängerin der Klägerin (F) beigefügt ist. Ausweislich der Anlage 1 zu diesem Privatgutachten ist auch der hier streitgegenständliche Tarif „erdgas.ideal“ bzw. „Grundversorgung erdgas.ideal“ berücksichtigt worden. Die Ausarbeitung der Fa. X gelangt im Wesentlichen zu dem Ergebnis, dass jedenfalls Preisanpassungen infolge von Unternehmensänderungen ganz bzw. im Wesentlichen erlösneutral durchgeführt worden seien. Für die Arbeitspreisberechnung sei der Umstand berücksichtigt worden, dass der Verbrauch nicht gleichbleibend, sondern punktuell in der Heizperiode stark ansteigend sei, sodass Preisanpassungen in dieser Zeit einen deutlich größeren Einfluss auf den Kunden hätten als außerhalb der Heizperiode. Unberücksichtigt geblieben seien demgegenüber industrielle Großabnehmer. Die Privatgutachter haben die Anknüpfungstatsachen und zugrunde zu legenden Unterlagen als vollständig und widerspruchsfrei erachtet. So hätten insbesondere Einkaufsrechnungen der Vorlieferanten der Klägerin vorgelegen, deren – im Verfahren behauptete – Kopplung an die Ölpreise als bestätigt angesehen werden könne. Auch im Übrigen seien diese Bezugskostenrechnungen plausibel. Für den auch hier streitgegenständlichen Zeitraum vom 01.01.2004 bis 30.09.2008 sei nunmehr festzuhalten, dass die Preisanpassungen insgesamt auf Bezugspreisveränderungen zurückzuführen seien. Insgesamt ergebe sich sogar eine Unterdeckung, wonach die Klägerin die Bezugskostensteigerungen nicht einmal vollständig im Wege der Preisanpassung an ihre Kunden weitergegeben habe. Die Unterdeckung liege für den Gesamtzeitraum kumuliert bei einem Wert von 1.836.000 € und umgerechnet auf die Kilowattstunde bei 0,021 Cent zulasten der Klägerin.
76(2)
77Die Kammer hat dies nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme unter umfassender, kritischer Würdigung der schriftlichen wie mündlichen Ausführungen des Sachverständigen C jedenfalls insoweit bestätigt gesehen, als bei der Klägerin kontinuierliche Bezugskostensteigerungen stattgefunden haben. Sie ist, insbesondere auch, nachdem die Parteien im Rahmen der mündlichen Verhandlung nochmals Gelegenheit zu einer intensiven Befragung des Sachverständigen erhalten hatten, davon überzeugt, dass die Preiserhöhungen der Klägerin nach Maßgabe des § 287 ZPO deren (Bezugs-)Kostensteigerungen adäquat abbilden.
78(aa)
79Zum Tarifgefüge der Klägerin stellt der Sachverständige grundlegend fest, dass das damals übliche Preissystem in einen Grundpreis pro Jahr und einen Arbeitspreis pro verbrauchter Kilowattstunde aufgeteilt gewesen sei. Eine Zählerstandsablesung habe regelmäßig einmal jährlich stattgefunden, sodass der für den Arbeitspreis relevante Verbrauch seine Grundlage in einer Zählerstandsdifferenzberechnung finde. Diese wiederum habe im Falle einer unterjährigen Tarifanpassung ihrerseits auf einer bloßen Hochrechnung beruhen können. Weiter stellt der Sachverständige grundlegend fest, dass abhängig von der konkreten Tarifstufe des jeweiligen Kunden der Anteil des Grundpreises am Gesamtpreis habe variieren können, sodass sich dieselbe Preisanpassung verhältnismäßig unterschiedlich habe auswirken können. Diese eventuellen Schwankungen würden mittels einer Durchschnittsberechnung übergangen, da als Vorgabe für die Beweisaufnahme eine konkrete Tarifstufe entsprechend dem damaligen Tarifgefüge zugrundezulegen war. Auch zwischenzeitliche Veränderungen der Tarifstufen aufgrund erfolgter Tarifharmonisierungen seien als eindeutig bezugskostenunabhängige Veränderungen im Rahmen des unternehmerischen Ermessens nicht zu berücksichtigen, soweit nicht eine parallele Bezugskostenerhöhung durch Umrechnung ausdifferenziert werden könne.
80Dies sei bei der Tarifharmonisierung zum 01.10.2004 dahingehend der Fall, dass sich eine abstrakte Weitergabe von Bezugskostensteigerungen im Arbeitspreis auf – nach Verrechnung mit einer späteren Tarifkorrektur vom 01.01.2005 – rechnerisch 0,37 ct/kWh belaufe, die sich (nur) durch Verrechnung nicht in diesem Umfang für den konkreten Kunden ausgewirkt habe. Für eine weitere Tarifharmonisierung zum 01.01.2008 ergebe sich entsprechend eine bereinigte Preissteigerung von 0,48 ct/kWh. Für eine weitere Preisanpassung vom 01.10.2006 ergebe sich ferner die Situation, dass diese völlig unabhängig von einer Bezugskostenveränderung erfolgt sei. Im Übrigen habe sie eine Senkung der Tarifpreise zur Folge gehabt. Die Tarifharmonisierungen als solche seien in der Summe betriebswirtschaftlich zulässigen Ermessens als erlösneutral zu bezeichnen.
81(bb)
82Der Sachverständige gelangt mit einer fundierten und Nachfragen standhaltenden Begründung zu der für die Kammer überzeugenden Aussage, dass die Klägerin im streitgegenständlichen Zeitraum stetige Bezugskostensteigerungen hinzunehmen hatte.
83Als wirtschaftliche Ausgangslage der Bezugssituation der Klägerin zu Beginn des streitgegenständlichen Beurteilungszeitraums stellt der Sachverständige im Wesentlichen fest, dass die Klägerin durchgehend mehrere Bezugsverträge zu verschiedenen Anbietern unterhalten habe und diese nicht notwendig deckungsgleich mit ihren eigenen Kunden- bzw. Tarifgruppen gewesen seien. Abgesehen von – grundsätzlich möglichen – Sonderkonditionen seien die Bezugsverträge der Klägerin systematisch unterteilt in einen Leistungs- und einen Arbeitspreis gewesen. Der Leistungspreis habe sich an der abgerufenen Spitzenmenge innerhalb eines Gaswirtschaftsjahres orientiert, woraus sich ein monatlicher Pauschalsatz ergeben habe. Soweit eine Spitzenmenge erst im späteren Verlauf des Jahres abgerufen worden sei, hätten dementsprechend Nachzahlungsbeträge für die Vormonate entstehen können. Der Arbeitspreis habe demjenigen entsprochen, welcher auch an die Endkunden weitergegeben worden sei, also der tatsächlichen Liefermenge in ct/kWh und sei variabel im Hinblick auf die Heizölpreise gewesen (sog. Preisgleitklause). Ergänzend hat der Sachverständige hierzu insbesondere ausgeführt, dass aufgrund der damals herrschenden Marktbedingungen nahezu keine Einflussmöglichkeit der Klägerin bestanden habe, ihre eigenen Bezugsverträge nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten und insbesondere im Preisinteresse zu gestalten. Die vorgegebenen Bezugspreise seien nicht verhandelbar, sondern „nach Gutsherrenart“ festgesetzt gewesen. Auch Möglichkeiten einer Speicherung, d.h. eines gezielten Bezuges über Bedarf zu Zeiten günstiger Preise, habe der Markt nicht geboten. Derartige „Puffer“ seien erst in späteren Jahren entstanden bzw. zum Standard geworden. Auch insgesamt sei der Gasmarkt insbesondere im streitgegenständlichen Zeitraum in einem bis dato nicht gekannten Umbruch gewesen. Der Sachverständige hat in diesem Zusammenhang das sog. City-Gate-Konzept und damit eine grundlegende Änderung des Bezugsvertragsmodells näher erläutert, was erheblichen Einfluss jedenfalls auf die Preisgestaltung des im vorliegenden Fall noch zu untersuchenden Gaswirtschaftsjahres 2008 gehabt habe.
84Der Sachverständige hat die Netto-Bezugspreisentwicklung der jeweiligen Einzelbezugsverträge und ein daraus gebildetes rechnerisches Mittel nebeneinandergestellt. Aufgrund einer unterschiedlichen Gewichtung von Leistungs- und Arbeitspreis je Bezugsvertrag hat sich der Sachverständige diesbezüglich für die Bildung eines rechnerischen Mittels in der einheitlichen Größe ct/kWh entschieden und dabei insbesondere auch im Hinblick auf die zuletzt stattgefundene Preisanpassung zum 01.10.2008 eine annähernde Umrechnung wegen des zwischenzeitlich erfolgten Systemwechsels der Bezugsverträge vorgenommen.
85Im Rahmen einer ergänzenden Berechnung hat der Sachverständige zudem festgestellt, dass sog. Marketingzuschüsse in die Bezugspreisentwicklung einzuberechnen gewesen seien. Dabei handle es sich um pauschalierte Zahlungen in den jeweiligen Lieferverhältnissen, die grundsätzlich unabhängig von der Bezugspreisentwicklung zu werten, wirtschaftlich aber mit dieser in Zusammenhang zu bringen seien. Vor diesem Hintergrund habe der Sachverständige eine entsprechende Umrechnung, ebenfalls in der Größe ct/kWh, vorgenommen und auch tatsächlich eine gewisse statistische Abweichung festgestellt. Im Ergebnis seien diese Marketingzuschüsse von den Bezugskosten abzuziehen, was wiederum nur durch die Bildung rechnerischer Umlagewerte gelinge. Hierbei verschwinde die eventuelle Auswirkung dieser Summen jedoch im Rahmen – betriebswirtschaftlich plausibler und zulässiger – rechnerischer Toleranz.
86(cc)
87Der Sachverständige nimmt schließlich, auch mit grafischen Darstellungen, die eigentliche erste Vergleichsberechnung der Bezugs- und Absatzpreise der Klägerin im streitgegenständlichen Zeitraum vor. Dabei wird zunächst deutlich, dass einerseits beide Preise über die Jahre erheblich angestiegen sind, wobei die Bezugspreise deutlicheren Schwankungen unterlegen haben als die Absatzpreise, was sich, wie der Sachverständige ebenfalls näher ausführt, damit erklären lässt, dass die Absatzpreise nur unter bestimmten Bedingungen verändert oder angepasst werden konnten, nämlich insbesondere im Rahmen öffentlicher Bekanntmachungen, die eine teils langfristige organisatorische Vorbereitung erforderten. Insgesamt aber zeigt sich zur Überzeugung der Kammer über den betrachteten Gesamtzeitraum eine stetige Überlagerung der Bezugs- und Absatzpreisentwicklung ohne wesentliche Ausreißer. Insbesondere zeigt auch die von dem Sachverständigen vergleichend vorgenommene Berechnung der Rohmarge der Klägerin – also der Ertragsdifferenz im Vergleich zum Bezugsmonat, dem zwischen den Parteien des hiesigen Rechtsstreits als unstreitig angesehenen sog. Sockelbetrag – allenfalls das Erreichen des Ausgangswerts zum Ende des Betrachtungszeitraums, jedenfalls aber keinen Anstieg.
88Das vorstehende Gesamtergebnis deckt sich auch mit den weiteren Einzelerläuterungen des Sachverständigen zur Ertragsentwicklung der Klägerin auf Grundlage der Differenzberechnung zwischen Bezugs- und Absatzpreisen im Detail. Dabei sei festzustellen, dass die Tarifentwicklung der Klägerin häufig der Bezugspreisentwicklung „gefolgt“ sei, indem zunächst die Bezugspreise die Tariferlöse überstiegen, bis die nächste Tarifanpassung eine deutliche „Reserve“ für einen weiteren Zeitraum erzeugt habe, bis die Bezugspreisentwicklung insoweit wieder an dieser Linie angekommen sei. Der Sachverständige hält insoweit ausdrücklich fest, dass es der Klägerin zwar möglich gewesen sei, die Tarifanpassungen wesentlich enger und kleinteiliger an die Bezugspreisentwicklungen anzunähern und vor diesem Hintergrund die Ertragsentwicklung anzugleichen. Bei einem Massengeschäft wie dem Tarifkundenvertrag liegt es jedoch – auch unter Berücksichtigung von Praktikabilitätsgesichtspunkten – vielmehr im Interesse beider Vertragsparteien, eine Weitergabe von Kostensenkungen und Kostenerhöhungen nicht – was regelmäßig mit einem die Energieversorgung unnötigerweise verteuernden hohen Aufwand verbunden wäre – tagesgenau vorzunehmen, sondern auf die Kostenentwicklung in einem gewissen Zeitraum abzustellen (vgl. BGH, Urt. v. 28.10.2015, Az. VIII ZR 158/11).
89Dieser Interpretation vermag die Kammer in eigener Überzeugungsbildung zu folgen. Der Sachverständige zieht für die Differenzberechnung von Absatztarifen und Bezugspreisen einerseits den Gesamtbetrachtungszeitraum, andererseits als Referenzgröße das Gaswirtschaftsjahr – d. h. den Zeitraum vom 1. Oktober eines Jahres bis zum 30. September des Folgejahres – heran. Dabei weist er auf die grundsätzliche Problematik hin, dass die jetzt vorzunehmende Differenzbetrachtung ex post zu erfolgen habe, während der Energieversorger, mithin auch die Klägerin, darauf angewiesen sei, eine Beurteilung ex ante vorzunehmen, wie sich die Verbräuche und damit einhergehend der Bezugsbedarf innerhalb eines Gaswirtschaftsjahres oder Quartals entwickeln könnte. Vor diesem Hintergrund könne, je länger auch der zu betrachtende Zeitraum sei, eine nur grobe Prognose und eine dementsprechende wirtschaftliche Disposition getroffen werden, zumal die jeweils tatsächlichen Verbräuche der Endkunden nur einmal jährlich durch die Jahresablesung bekannt würden. Insoweit aber würde ein noch kürzerer Zeitabschnitt als das Gaswirtschaftsjahr zu anderweitigen Mehrkosten im organisatorischen Bereich führen, die eventuelle Prognoseungenauigkeiten und damit verbundene Preisansätze überstiegen.
90Bei der Differenzberechnung sei ferner zu berücksichtigen, dass nur eine teilweise Deckungsgleichheit zwischen Bezugskosten und Absatztarifen bestehe. Die Bezugsverträge seien, wie dargestellt, in einen Leistungs- und einen Arbeitspreis unterteilt, die Absatzverträge in einen Grund- und einen Arbeitspreis. Während die Arbeitspreise grundsätzlich unmittelbar vergleichbar seien, bilde der Leistungspreis wie erörtert eine einmalige Jahresspitze ab, während der Energieversorger, mithin auch die Klägerin, gezwungen sei, über den Grundpreis ein – zudem ex ante zu prognostizierendes – rechnerisches Mittel zu bilden und die Jahresspitze entsprechend auf das gesamte Jahr zu verteilen. Aufgrund der bestehenden tatsächlichen Unsicherheit, wann und in welcher Höhe es im jeweiligen Gaswirtschaftsjahr zur Messung einer Leistungsspitze komme, umgekehrt der Grundpreis aber auch im Hinblick auf sämtliche weiteren unternehmerischen Kosten der Klägerin im Vorhinein für den Gesamtwirtschaftszeitraum festgelegt werden müsse, könne es diesbezüglich zu erheblichen Schätzungenauigkeiten kommen. Diese seien hinzunehmen und der Versuch einer rechnerischen Kompensation sei rein zufällig.
91Das mit dem nationalen Energiewirtschaftsrecht verfolgte, in § 1 EnWG 2005 und ebenso in den Vorläuferregelungen verankerte Ziel einer möglichst sicheren und preisgünstigen Energieversorgung ist nicht nur auf die möglichst billige Energieversorgung der Endkunden ausgerichtet. Zu berücksichtigen sind zugleich die insbesondere durch die Kostenstruktur geprägte individuelle Leistungsfähigkeit der Versorgungsunternehmen sowie die Notwendigkeit, die Investitionskraft und die Investitionsbereitschaft zu erhalten und angemessene Erträge zu erwirtschaften. Insofern wurde im Recht der Energielieferung stets vorausgesetzt, dass die Möglichkeit des Versorgers besteht, Änderungen der Bezugspreise weiterzugeben, ohne den mit dem Kunden bestehenden Versorgungsvertrag kündigen zu müssen. Dass das Energieversorgungsunternehmen die Möglichkeit hat, Kostensteigerungen weiterzugeben, dient daneben auch dem Zweck der Versorgungssicherheit. Denn diese betrifft nicht nur die technische Sicherheit der Energieversorgung und die Sicherstellung einer für die Versorgung der Abnehmer stets ausreichenden Energiemenge. Sie hat vielmehr insoweit auch einen ökonomischen Aspekt, als die nötigen Finanzmittel für die Unterhaltung von Reservekapazitäten, für Wartungsarbeiten, Reparaturen, Erneuerungs- und Ersatzinvestitionen bereit stehen müssen. Das wiederum setzt voraus, dass diese Mittel durch auskömmliche Versorgungsentgelte erwirtschaftet werden können. Anderenfalls entstünde dadurch bei langfristigen Versorgungsverträgen angesichts der Entwicklung der Energiepreise regelmäßig ein gravierendes Ungleichgewicht von Leistung und Gegenleistung. Dies wäre unbillig und würde dem Kunden einen unverhofften und ungerechtfertigten Gewinn verschaffen. Dies entspräche auch nicht dem objektiv zu ermittelnden hypothetischen Parteiwillen (vgl. BGH, Urt. v. 28.10.2015, Az. VIII ZR 158/11 m. w. N.).
92Zu differenzieren ist insoweit allenfalls noch zwischen der seitens der Kammer vorgenommenen Gesamtbetrachtung über den hier streitgegenständlichen Zeitraum von September 2004 bis Dezember 2008 und der von dem Sachverständigen nach wirtschaftsmathematischen Gesichtspunkten ergänzend vorgenommenen sog. Kumulation der Ertragsberechnung. Diese dient üblicherweise zur betriebswirtschaftlich notwendigen Bereinigung sog. „Ausreißer“ im Rahmen einer periodischen Gewinnbetrachtung, um die unternehmerischen Reaktions- und Prognosemöglichkeiten zu erleichtern. Dieser Umstand spielt aber im hiesigen Zusammenhang keine Rolle (mehr). Die Kammer hat zur Aufgabe, die Angemessenheit der tatsächlich vorgenommenen Preisanpassungen zu prüfen, wozu sie im Rahmen der Gesamtbetrachtung gerade den Rückgriff auf die monatsgenau berechneten Ertragsdifferenzen zu nehmen hat. Diese Angemessenheitsbetrachtung erfolgt, wenngleich sie die damalige prognostische Sichtweise des Unternehmens in gebotenem Umfang zu berücksichtigen hat, retrospektiv. Eine Bereinigung im Sinne der Kumulation ist hierzu gerade nicht geboten, sondern verbietet sich vielmehr. Die Prüfung einzelner Preisanpassungen kann jedenfalls nicht die spätere, ausgehend vom Vortrag der Klägerin und den weitergehenden Ausführungen des Sachverständigen ggf. auf Jahre hinaus zu prognostizierende Marktentwicklung zum Gegenstand haben, sondern muss eine, wenn auch zufällig – wie hier durch den Klagegegenstand – gesetzte zeitliche Grenze finden. Diese liegt in dem vorgegebenen Gesamtbetrachtungszeitraum, innerhalb dessen wiederum eine hinreichend präzise Beurteilung der Preisentwicklung, ggf. bezogen auf die Referenzgröße der Gaswirtschaftsjahre, möglich bleibt.
93(dd)
94Nach dem weiteren Ergebnis der Beweisaufnahme hatte die Klägerin auch keine adäquate Möglichkeit, die vorbezeichneten Steigerungen der Bezugskosten zu verhindern und/oder zu reduzieren. Der Sachverständige stellt hierzu nach dem Dafürhalten der Kammer eindeutig fest, dass die Klägerin sich hier – soweit überhaupt noch rekonstruierbar – jedenfalls im Rahmen des ihr zuzubilligenden unternehmerischen Ermessensspielraums bewegt und keine willkürlichen oder betriebswirtschaftlich nicht tragbaren Entscheidungen getroffen habe, sondern lediglich solche, die bloß prognostischen Charakter gehabt hätten und ggf. kurzfristig sogar negative, mittel- bis langfristig aber positive Synergieeffekte hervorgerufen haben könnten. Die Klägerin habe sich aktiv um eine Senkung ihrer Bezugskosten bemüht und dabei insbesondere nicht etwa wirtschaftlich nachteilige Bezugskonditionen ungefragt akzeptiert. Offensichtliche Potenziale seien ausgeschöpft worden. Insbesondere auch mit der zunehmenden Liberalisierung des Marktes habe die Klägerin, die sich deshalb ihrerseits weitgehend unbekannten unternehmerischen Risiken ausgesetzt gesehen habe, entsprechend nachvollziehbare betriebswirtschaftliche Entscheidungen getroffen.
95(3)
96Der festgestellten Bezugskostensteigerung der Klägerin stehen auch keine Kompensationspotentiale in anderen Bereichen der Unternehmenssparte Gas gegenüber. Insbesondere sind nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme die sonstigen Kosten der Klägerin im Betrachtungszeitraum nicht signifikant gesunken.
97Eine auf eine Bezugskostensteigerung gestützte Preiserhöhung kann unbillig sein, wenn und soweit der Anstieg durch rückläufige Kosten in anderen Bereichen ausgeglichen wird. Von dem infolge ergänzender Vertragsauslegung bestehenden Preisänderungsrecht nicht erfasst sind nämlich Preiserhöhungen, die über die bloße Weitergabe von (Bezugs-)Kostensteigerungen hinausgehen und der Erzielung eines (zusätzlichen) Gewinns dienen (vgl. BGH, Urt. v. 28.10.2015, Az. VIII ZR 158/11).
98Dabei sind die Vertriebskosten der Klägerin ohne Bezugskosten zu beurteilen, soweit sie die Gassparte betreffen. Es kann insoweit nicht darauf ankommen, ob die Klägerin die Steigerung der Gasbezugskosten durch zurückgehende Kosten in anderen Unternehmensbereichen hätte auffangen können. Sie ist nicht zur Quersubventionierung der Gassparte verpflichtet. Die Frage, wie ein Unternehmen seine in dem einen Geschäftsbereich erzielten Gewinne verwendet, ist eine Entscheidung, die im Ermessen des Unternehmers liegt und der für die Billigkeit einer Preiserhöhung in einem anderen Geschäftsbereich keine Bedeutung zukommt. Der Abnehmer von Gas hat insbesondere keinen Anspruch darauf, dass ein regionaler Versorger wie die Klägerin Kostensenkungen etwa bei der Strom- oder Fernwärmeversorgung gerade zur Entlastung der Gaskunden verwendet, was auch zur Folge hätte, dass dieses Potential zugunsten der Kunden der betroffenen Unternehmenssparten nicht mehr zur Verfügung stünde (vgl. BGH, Urt. v. 19.11.2008, Az. VIII ZR 138/07 m. w. N.). Schließlich kann eine Preiserhöhung allein darin ihre Berechtigung finden, dem Unternehmer eine Verminderung des Ertrages aus dem Vorjahr zu ersparen (vgl. – allerdings zu den Voraussetzungen des § 315 BGB – BGH, a. a. O.; OLG Koblenz, Urt. v. 12.04.2010, Az. 12 U 18/08).
99Der Sachverständige hat zunächst festgestellt, dass seitens der Klägerin tatsächlich keine außerhalb der Bezugskosten liegenden Positionen in die Tarifpreisgestaltung eingeflossen seien. Dies ist jedoch unschädlich, wenn und soweit auch eine fiktive Einbeziehung der sonstigen Kostenentwicklung der Klägerin zu keinem oder einem nur marginalen und insoweit im Rahmen des unternehmerischen Ermessens hinzunehmenden Kompensationspotential geführt hätte.
100So liegen die Dinge hier.
101(aa)
102Dabei kommt es nach dem Dafürhalten der Kammer im Ergebnis nicht auf eine von dem Sachverständigen rechnerisch ausdifferenzierte Betrachtung der sog. Netzentgelte an.
103Insoweit lasse sich nämlich überhaupt erst ab dem Jahr 2007 eine klare Abgrenzung der Netznutzungs- von den Bezugskosten vornehmen. Zuvor seien die Netzentgelte ausdrücklich bei den Bezugskosten einzuordnen gewesen, sodass sich in der Konsequenz für die Kammer keine Divergenzen zu den vorstehenden Feststellungen der Bezugskostenentwicklung der Klägerin ergeben können. Ohnehin hat aber der Sachverständige auch festgestellt, dass sich jedenfalls die Netzentgeltabsenkung des Jahres 2006 bezogen auf die Vertriebssparte Gas der Klägerin nicht ausgewirkt habe.
104Einzig in Bezug auf die Netzentgeltabsenkung vom 18.06.2008 sei zweifelsfrei eine Senkung der mit dem Erdgasvertrieb eng assoziierten sonstigen Kosten, die bei der Tarifpreisbildung zu berücksichtigen seien, festzustellen. Diese sei möglicherweise – jener Zeitpunkt sei von dem Gutachtenauftrag nicht mehr umfasst gewesen – anlässlich einer Preisanpassung zum 01.12.2008 hinreichend kompensiert worden.
105Jedenfalls aber gelangt die Kammer in eigener Würdigung der Umstände dazu, dass die Klägerin für die streitgegenständliche Preisanpassung vom 01.08.2008 noch nicht auf die entsprechende Absenkung hat reagieren können. Eine Berücksichtigung innerhalb des für die jeweiligen Preisanpassungsverfahren erforderlichen und auch verbindlichen Zeitraums war ihr nach dem insoweit auch nicht bestrittenen Vortrag nicht mehr möglich. Zu dem der Klägerin im Hinblick auf die Zeitpunkte von Preisanpassungen auch allgemein zuzugestehenden unternehmerischen Ermessen hat die Kammer bereits Ausführungen gemacht. Ein diesbezüglicher Ermessensfehler ist – gerade, weil die auf den 01.08.2008 folgende Preisanpassung bereits zum 01.12.2008 angesetzt worden war – auch nicht ersichtlich.
106(bb)
107Auch die Entwicklung der sonstigen Kosten der Gassparte der Klägerin, wie sie die Kammer nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme und unter Würdigung des hierzu erbrachten Parteivorbringens festzustellen vermochte, gibt keinen Anlass zu einer abweichenden Betrachtung.
108(α)
109Zwar arbeitet der Sachverständige im Hinblick auf die sonstige Kostenentwicklung der Gassparte heraus, dass die sonstigen Kosten der Klägerin nach diesem Maßstab in den Jahren 2004/2005 sowie 2007/2008 in einem erheblichen Umfang (8,64 Mio. EUR bzw. 15,2 Mio. EUR) gesunken seien, was die Klägerin in den Vergleichszeiträumen bei der Tarifanpassung aber nicht berücksichtigt habe, da die Tarifanpassungen jeweils ausschließlich auf Basis der Bezugskosten durchgeführt worden seien.
110Dem steht nicht entgegen, dass sich die sonstigen Spartenkosten in den Jahren 2005/2006 und 2006/2007 signifikant (um 10,6 Mio. EUR bzw. 18,2 Mio. EUR) erhöht haben, da auch unabhängig von der Frage, inwieweit es sich hierbei um Einmaleffekte gehandelt hat, Kostensteigerungen nicht im Rahmen von Tarifanpassungen zu berücksichtigen gewesen wären. Der Sachverständige zeigt aber ebenfalls ausdrücklich eine Problematik auf, die eine sinnvolle Berechnung derartiger Kostenvorteile eben aufgrund der zwangsläufig nur zu betrachtenden kurzen Zeiträume nahezu obsolet mache. Denn aufgrund der massiven Schwankungen müsse eine auch nur marginale Verschiebung des Betrachtungszeitraums teilweise zu deutlich unterschiedlichen Ergebnissen und damit auch einer völlig konträren Beantwortung der Beweisfrage führen. Die Anknüpfungstatsachen und die zur Verfügung stehenden Rechenmodelle erlaubten eine Saldierung der Betrachtung über den Gesamtzeitraum faktisch nicht. Die angesichts der entsprechenden Kostenentwicklungen möglichen und gebotenen unternehmerischen Entscheidungen der Klägerin seien deutlich langfristiger angelegt als der hier zu betrachtende Zeitraum und teilweise nur von prognostischer Natur.
111Insgesamt müsse jedoch davon ausgegangen werden, dass die Klägerin jedenfalls im Gaswirtschaftsjahr 2008 Kompensationspotential durch sonstige Kostensenkungen nicht genutzt, d.h. diese in den Tarifanpassungen nicht weitergegeben habe.
112(β)
113Dem begegnet die Klägerin mit – prozessual zulässigem – umfangreichem ergänzendem Vortrag zur Berechnung und Einbeziehung der sonstigen Kostenentwicklung der Vertriebssparte Gas mit ihrem in Bezug genommenen Schriftsatz vom 17.03.2021.
114Die Klägerin rügt zunächst die unzureichende Analyse ihrer sonstigen Kostensteigerungen im Verhältnis zur Bezugskostenentwicklung durch den Sachverständigen. Dieser hätte, so meint sie, insbesondere die Jahres- bzw. Tätigkeitsabschlüsse der Klägerin nicht als ungeeignet zurückweisen dürfen. Insbesondere habe sich der Sachverständige darauf beschränkt, etwaige Steigerungen der sonstigen Kosten der Klägerin als unerheblich zu werten. Hierbei sei zu berücksichtigen, dass sich aber aus der entsprechenden Analyse jedenfalls ergebe, dass auch in Anbetracht der Vornahme gewisser Rationalisierungsmaßnahmen keine Kostensenkungen, sondern durchgehend Kostensteigerungen und mithin jedenfalls kein berücksichtigungsfähiges Potential vorgelegen habe, insbesondere im Hinblick auf Personalkosten.
115Die Klägerin führt anschließend eine eigene Berechnung der berücksichtigungsfähigen sonstigen Kosten auf. Hierbei verwendet sie als Ausgangsbasis die jährlichen Gewinn- und Verlustrechnungen des Gesamtunternehmens, bereinigt diese schrittweise um zunächst die Stromsparte und löst sodann die (nicht gesondert unterteilte) Gassparte aus den „Sonstigen Aktivitäten“ heraus. Im Ergebnis stehe eine kontinuierliche Steigerung dieser Kosten um kumuliert ca. 5 Mio. Euro und damit jedenfalls nicht ein von dem Sachverständigen noch für zumindest möglich gehaltenes Preiskorrektiv.
116Insoweit sei für den Betrachtungszeitraum kein Ertrag von 2,7 Mio. Euro, sondern ein Verlust von 0,8 Mio. Euro zu errechnen, was die Klägerin unter Zuhilfenahme verschiedener Tabellen demonstriert.
117(γ)
118Die Kammer schließt sich dieser Einschätzung im Ergebnis nach einer umfassenden Würdigung des weiteren Vortrags und nach einer Einbeziehung dieser Informationen in die mündliche Erörterung mit dem Sachverständigen C in eigener Überzeugungsbildung an. In Anwendung des ihr insoweit zustehenden umfassenden Ermessensspielraums im Sinne des § 287 Abs. 2 ZPO vermochte die Kammer ihre Überzeugung auf den plausiblen, fundierten und weder seitens des Sachverständigen noch seitens der Beklagten in einer solchen Weise, dass eine Nachvollziehbarkeit insbesondere der Berechnungen bzw. der jeweils korrekten Bestimmung der Prognoseinstrumente entfiele, in Zweifel gezogenen Vortrag der Klägerin – der im Übrigen auch nicht aus prozessualen Gesichtspunkten verspätet sein kann – zu stützen.
119Dabei wendet die Kammer, wie auch der Sachverständige und die Klägerin selbst, denselben Berechnungsmaßstab an wie im Hinblick auf die Gesamtbetrachtung der Bezugskostenentwicklung. Insoweit rekurriert die Kammer in Summe auf die Entwicklung im Gesamtbetrachtungszeitraum der hier streitgegenständlichen Preisanpassungen, mithin von Oktober 2004 bis Dezember 2008. Nichts anderes gilt, soweit die Klägerin in den von ihr vorgetragenen Zahlenwerken wiederholt von kumulierten Beträgen spricht, wie die Kammer bereits vorstehend ausgeführt hat. Die betriebswirtschaftliche Kumulation kann hier jedenfalls nicht weitergehen als die Saldierung über den Gesamtbetrachtungszeitraum es erlaubt bzw. gebietet. Die Berechnungen der Klägerin sind aber in dieser Weise nachvollziehbar und ermöglichen eine entsprechend abgegrenzte Betrachtung. Die Kammer verkennt insoweit insbesondere auch nicht, dass, wie auch der Sachverständige ausdrücklich herausgestellt hat und was die Klägerin in ihrem eigenen Vortrag insoweit bestätigt, in den Gaswirtschaftsjahren 2004/2005 bzw. 2007/2008 durchaus relevante Senkungen im Bereich der sonstigen Kosten aufgetreten sind, von denen lediglich infolge der Bereinigung im Rahmen der Gesamtbetrachtung über den streitgegenständlichen Zeitraum im Ergebnis kein Kompensationspotenzial mehr ausgeht, wohingegen im Hinblick auf einzelne, punktuelle Preisanpassungen insbesondere vom damaligen Standpunkt aus betrachtet durchaus ein rechnerisches Kompensationspotenzial gegeben gewesen wäre.
120Die Kammer ist jedoch nach eingehender Würdigung des Klägervortrags und nach den Ausführungen des Sachverständigen C davon überzeugt, dass dieses Kompensationspotenzial nicht geeignet war, um die Maßgabe des Bundesgerichtshofs, Bezugskostensteigerungen aufzufangen, zu erfüllen, die Klägerin es mithin nicht an ihre Kunden hätte weitergeben müssen bzw. ihre unter Außerachtlassung dieses Umstands erfolgte Preisanpassung nicht deshalb unwirksam ist.
121Der Sachverständige hat – unter Berücksichtigung dieses ergänzenden Vortrages – im Rahmen seiner mündlichen Anhörung zum Gutachten grundsätzlich bestätigt, dass im Gesamtbetrachtungszeitraum eine Verminderung der Marge der Klägerin eingetreten sei. Dies gelte insbesondere unter Berücksichtigung der in den weiteren Gaswirtschaftsjahren zu verzeichnenden Steigerungen der sonstigen Kosten, die per se zwar nicht bei der Preisanpassung berücksichtigt werden dürften, jedoch das Kompensationspotenzial weiter schmälerten. Eine höhere Überdeckung des Ertrags der Klägerin sei auch nur dann rechnerisch zu stützen, wenn die Netzentgeltunsicherheit berücksichtigt würde und zwar bezogen auf den Gesamtbetrachtungszeitraum. Hiervon geht die Kammer jedoch, wie vorstehend dargestellt, gerade nicht aus.
122Die Kammer sieht außerdem keinen Widerspruch zwischen den von dem Sachverständigen nicht bzw. nur summarisch berücksichtigten Jahres- und Tätigkeitsabschlüssen der Klägerin und den weiteren Ausführungen des Sachverständigen dazu, ob und inwieweit die Entstehung sonstiger Kosten der Gassparte unabhängig von dieser Buchhaltung ermittelbar sei. Der Sachverständige hat in Bezug auf die Ermittlung der Kostenentwicklung grundsätzlich ausgeführt, dass die Einordnung entsprechender Kostenpositionen und die Herleitung der Einflussgrößen für diese Kosten nur schwer nachzuvollziehen seien. Einfluss auf die Kostensenkungen könne es daher beispielsweise auch haben, wenn Lieferanten der Klägerin nachträglich Rabatte oder Prämien gewährten, was – aus Sicht der Klägerin – wiederum, entsprechend der Bezugskostengestaltung, zu rein zufälligen bilanziellen Veränderungen führe, die weder vorhersehbar seien noch im Hinblick auf die weitere Unternehmensentwicklung zur Grundlage einer Prognose gemacht werden könnten. Die diesbezüglich entstehenden rechnerischen Unschärfen seien hinzunehmen.
123Schließlich hat der Sachverständige im Rahmen seiner Analyse der damaligen Marktsituation festgestellt, dass insbesondere auch die Klägerin selbst einem erheblichen Umbruch der Bedingungen des Erdgasmarktes bzw. des Einkaufs von Erdgas und damit der Bezugskostenentwicklung ausgesetzt gewesen sei, was ihr unternehmerische Prognosen und zuverlässige langfristige Planungen erschwert habe, da sie die bisherigen Analysemodelle und Entwicklungsmodelle und Analysewerkzeuge nicht uneingeschränkt weiter habe anwenden können.
124Es ist daher nach Auffassung der Kammer, wie die Klägerin selbst auch ausdrücklich vorträgt, nur konsequent, dass diverse Positionen ihrer Jahres- und Tätigkeitsabschlüsse einen erratischen Verlauf aufweisen, wie der Sachverständige feststellt. Insoweit folgte die Klägerin bzw. ihre Spartenentwicklung den Vorgaben des Marktes, was aber (auch) aus rechtlicher Sicht, wie seitens der Kammer bereits hinsichtlich der Festlegung des Betrachtungszeitraums ausgeführt, letztlich hinzunehmen ist. Die Kammer verkennt in diesem Zusammenhang auch nicht, dass gewisse unternehmerische Entscheidungen der Klägerin wie beispielsweise Unternehmenszusammenschlüsse oder Restrukturierungen zumindest langfristig das Ziel einer Senkung der betriebswirtschaftlichen Kosten verfolgt haben, dieses aber ggf. erst nach Ende des Betrachtungszeitraums eingetreten ist. So verhält es sich zur Überzeugung der Kammer etwa bei den von der Klägerin nachvollziehbar dargelegten Personalkosten und den hinsichtlich der Personalstruktur erforderlichen, das Volumen der Spartenkosten insgesamt erhöhenden Einmalaufwendungen, die erst im Rahmen der prognostischen Entwicklung der Folgejahre eine Abschreibung erfahren sollten.
125So bestätigt sich insbesondere auch zur Überzeugung der Kammer das durch den Vortrag der Klägerin gelieferte Bild der Kostenentwicklung, bei der sich bezogen auf die einzelnen Geschäfts- bzw. Gaswirtschaftsjahre zwar Veränderungen auch in deutlich negative Richtung, mithin Kostensenkungen, abzeichnen, diese jedoch im Rahmen der Ausdifferenzierung der jeweils zu den sonstigen Kosten zu zählenden einzelnen Bereiche bzw. Positionen dahingehend aufgezehrt werden, dass eine Gesamtveränderung etwa bei den Personalkosten oder bei sonstigen betrieblichen Aufwendungen jeweils deutliche Kostensteigerungen verzeichnet. Die Zusammenfassung dieser positionsbezogenen Kostenentwicklung führt letztlich nachvollziehbar zu dem von der Klägerin vorgetragenen Ergebnis einer Kostengesamtentwicklung in Gestalt einer Steigerung um rund 5 Mio. Euro über den Gesamtbetrachtungszeitraum. Unter Berücksichtigung des unternehmerischen Ermessens der Klägerin und der nur begrenzt möglichen Prognose hinsichtlich der Kostenentwicklung, die andererseits durch – per se zulässige – unternehmerische Einzelfallentscheidungen dahin intendiert worden ist, dass die entsprechenden Kostenpositionen ggf. auf Jahre im Voraus festgeschrieben werden mussten – so etwa, wie dargestellt, bei den Personalkosten –, erkennt die Kammer auch hinsichtlich der sonstigen Kosten der Klägerin analog zur Bezugskostenentwicklung bzw. insbesondere zu der Frage eines möglichen Gestaltungsspielraums der Klägerin hinsichtlich einer Einflussnahme auf eben diese Entwicklung einerseits kein hinreichendes Kompensationspotenzial, andererseits keine offensichtliche unternehmerische Willkür oder eine in dem von dem Sachverständigen C eingangs aufgezeigten Rahmen unvernünftige betriebswirtschaftliche Entscheidung.
126cc)
127Ausgehend von den vorstehenden Feststellungen und Erwägungen ist die Klageforderung von 678,90 € in vollem Umfang begründet.
128Die Klägerin schlüsselt die Klageforderung insoweit auf, als sich aus der Jahresrechnung 2005 vom 10.07.2006 ein Guthaben von 9,52 € ergebe, ferner ein Teilbetrag von 378,82 € aus der Jahresrechnung 2006 vom 12.01.2007 und ein weiterer Teilbetrag von 309,60 € aus der Jahresrechnung 2007 vom 12.02.2008.
129Nachdem das Guthaben aus verjährter Zeit seitens der Klägerin verrechnet wurde, verbleibt es bei der durchsetzbaren Gesamtforderung von 688,42 €. Hiervon sind aber antragsgemäß nur 678,90 € zuzusprechen, § 308 ZPO.
130In dieser Hinsicht ergeben sich auch aus dem Schriftsatz der Klägerin vom 26.03.2021, mit welchem diese unter Anwendung der hier von der Kammer bevorzugten Gesamtbetrachtung ab September 2004 eine Neuberechnung vornimmt, keine abweichenden Gesichtspunkte. Insbesondere führen die darin genannten Abweichungen in bis zu zweistelliger Höhe, soweit sie mögliche Ermäßigungen der Klageforderung beziffern, aufgrund der Kumulation nicht zu einem etwa zugestandenen weiteren Abschlag. Eventuelle Nachzahlungsbeträge aus etwa isoliert zu betrachtender unverjährter Zeit wirken sich wegen § 308 ZPO ebenfalls nicht mehr auf die Klageforderung aus, zumal eine anteilige Umlage auf die mit der Klage lediglich geltend gemachten jährlichen Differenzbeträge nicht vorgenommen wird, sondern die Klägerin ausdrücklich die jeweiligen Gesamtrechnungsbeträge in Bezug nimmt.
131d)
132Der mit der Klage geltend gemachte Zinsanspruch ergibt sich aus §§ 291, 288 Abs. 1 BGB seit dem 09.07.2010.
133Dabei kann sich die Klägerin nicht auf die Rückwirkungsfiktion des § 696 Abs. 3 ZPO berufen. Es fehlt an einer alsbaldigen Abgabe. Denn ausweislich des Verfahrensgangs ist der Widerspruch des Beklagten gegen den Mahnbescheid vom 16.12.2009 am 23.12.2009 bei Gericht eingegangen. Die Abgabe des Verfahrens an das zuständige Prozessgericht erfolgte jedoch erst am 06.07.2010 und zwar allein deshalb, weil eine Vorschusszahlung der Klägerin unterblieb, auf deren Notwendigkeit sie vorher hingewiesen worden war. Vor diesem Hintergrund ist für den Beginn der Rechtshängigkeit auf den Tag des Akteneingangs bei dem Streitgericht abzustellen (vgl. Musielak/Voit, ZPO, § 696 Rn. 4 m. w. N.). Dies war der 08.07.2010.
1343.
135a)
136Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO.
137Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.
138b)
139Die Revision war nicht zuzulassen.
140Ein Zulassungsgrund im Sinne des § 543 Abs. 2 ZPO ist nicht eröffnet.
141Zwar mag beim vorliegenden Verfahrensgegenstand noch von einer Rechtsfrage mit grundsätzlicher Bedeutung auszugehen sein, da es sich – jedenfalls im Verhältnis des hier betrachteten Verfahrens zum entsprechenden Gesamtbestand – um einen Musterprozess im Hinblick auf allgemeine, eine Vielzahl von Kunden betreffende vertragliche Regelung handelt. Diese Rechtsfrage ist indes nicht mehr klärungsbedürftig.
142Mit Urteil vom 23.10.2014 (Az. C-359/11 bzw. C-400/11) hat der Europäische Gerichtshof eine vorangegangene Vorlagefrage des BGH dahingehend beantwortet, dass die bis dahin gültigen und zur Bezugspreisregulierung herangezogenen § 4 Abs. 1 und 2 AVBGasV mit europäischem Gemeinschaftsrecht unvereinbar seien.
143Mit Urteil vom 28.10.2015 (Az. VIII ZR 158/11) hat der Bundesgerichtshof infolgedessen eine Grundsatzentscheidung zur Frage des gesetzlichen Preisänderungsrechts eines Gasversorgungsanbieters im Verhältnis zu Tarifkunden getroffen und insbesondere die bis dahin geltenden § 4 Abs. 1 und 2 AVBGasV als mit europäischem Gemeinschaftsrecht unvereinbar und vor diesem Hintergrund unanwendbar erklärt. Bis zu diesem Zeitpunkt war die vorgenannte Norm Grundlage eines vertraglich vereinbarten Preisänderungsrechts des Anbieters – auch der hiesigen Klägerin –, wodurch eine nachträgliche Regelungslücke in den – regelmäßig im Wege der AGB – gestalteten Verträgen auftrat. Im Zuge seines Urteils hat der BGH diese Lücke durch die Anwendung (nationalen) materiellen Rechts geschlossen und dabei insbesondere dem Gasversorger das Recht zugesprochen, eine Preisanpassung im Wege ergänzender Vertragsauslegung, §§ 157, 133 BGB, insoweit vornehmen zu können, als Kostensteigerungen der eigenen Bezugskosten, soweit diese nicht durch Kostensenkungen in anderen Bereichen ausgeglichen werden, den Tarifkunden weiterzugeben und in gleichem Maße Kostensenkungen zu berücksichtigen seien, wodurch der insoweit erhöhte Preis zum vereinbarten Preis werde. Eine Anwendbarkeit des § 315 BGB hat der BGH verneint. Den Instanzgerichten hat der BGH insoweit aufgegeben, die Frage, inwieweit Bezugskostensteigerungen vorgelegen haben und im Wege der Preisänderungen tatsächlich umgesetzt und berücksichtigt worden sind, durch eine Beweisaufnahme und Überzeugungsbildung im Sinne der §§ 286, 287 ZPO zu beantworten. Die Kammer ist dem, wie zuvor bereits das Landgericht Bielefeld mit Urteilen v. 17.07.2018, Az. 20 S 94/11 u. 20 S 77/11, mit den vorstehenden Erwägungen nachgekommen.
144Mit Beschluss vom 17.11.2017 (Az. 2 BvR 1131/16) hat das Bundesverfassungsgericht eine gegen das vorgenannte Urteil des BGH gerichtete Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen. Gegenstand der Verfassungsbeschwerde war die Rüge, dass der BGH in dem vorgenannten Urteil selbstständig Unionsrecht zur Anwendung gebracht habe, ohne zuvor seine Vorlagepflicht an den europäischen Gerichtshof zu erfüllen. Die Nichtannahme erfolgte aus verfahrensrechtlichen Gründen, jedoch hat das BVerfG hinsichtlich des vorgenannten Urteils festgestellt, dass eine Verletzung der Vorlagepflicht des BGH aufgrund einer zulässigen Handhabung der entsprechenden unionsrechtlichen Normen nicht angenommen werden könne. Auch hat das BVerfG im Ergebnis bestätigt, dass eine durch die Unanwendbarkeit einer nationalen Vorschrift vor dem Hintergrund von Unionsrecht entstehende Regelungslücke ausschließlich durch Anwendung nationalen Rechts geschlossen werden könne.
145Insbesondere mit Urteilen vom 06.04.2016 (Az. VIII ZR 71/10) sowie vom 19.12.2018 (Az. VIII ZR 336/18) hat der BGH seine Rechtsprechung zur materiellrechtlichen Vertragsauslegung sowie der Entbehrlichkeit einer Vorlage an den EuGH erneut bestätigt.
146Es ist daher nicht ersichtlich, weshalb eine erneute höchstrichterliche Entscheidung über dieselbe Rechtsfrage herbeigeführt werden müsste. Vor diesem Hintergrund ist auch eine Rechtsfortbildung nicht mehr erforderlich, nachdem der BGH eben diese durch die Anwendung der §§ 433, 133, 157 BGB betrieben hat. Die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung steht ebenfalls nicht zur Disposition, nachdem der BGH seine entsprechende Linie mit weiterem Urteil vom 19.12.2018 bestätigt hat.
147Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 678,90 EUR festgesetzt.
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