Urteil vom Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht (2. Senat) - L 2 VG 25/12

Tenor

Die Berufung des beklagten Landes gegen das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 25. April 2012 wird zurückgewiesen.

Das beklagte Land trägt auch die Kosten der Klägerin für das Berufungsverfahren.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Klägerin einen Anspruch auf Entschädigungsleistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) aufgrund sexuellen Missbrauchs in Kindheit und Jugend hat.

2

Die am ........1974 in G... geborene Klägerin wuchs mit ihrer fünf Jahre jüngeren Schwester A... P... bei ihren Eltern E... S... Aa... und  X. P... auf. Sie besuchte zunächst ein Gymnasium in G.... Nach mehrfachem erfolglosem Wiederholen der zwölften Klasse, brach die Klägerin die Schulausbildung am 11.09.1995 ab. Eine Ausbildung hat die Klägerin nicht. Sie bezieht Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Sozialgesetzbuch, Zwölftes Buch (SGB XII). Seit dem 12. September 2008 ist für die Klägerin eine Betreuung für die Aufgabenbereiche „Sorge für die Gesundheit, Aufenthaltsbestimmung und Vertretung gegenüber Behörden und sonstigen Institutionen“ eingerichtet.

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Am 15. Juni 1993 erstattete das Kreisjugendamt G... durch den Dipl. Sozialpädagogen H... O... bei der Kriminalpolizei G... Anzeige gegen den Vater der Klägerin wegen sexuellen Missbrauchs. Er gab dabei u.a. an, die Klägerin werde seit ihrem zwölften Lebensjahr von ihren leiblichen Vater, Dr. X. P..., missbraucht. Er – Herr O... – habe von mehreren glaubhaften Informationsquellen von dem Missbrauchshandlungen erfahren. Nun sei es zu einer Schwangerschaft gekommen und ein Abbruch sei am 16. Juni 1993 in F... beabsichtigt. Die Fahrt zum Abbruch solle in Begleitung des Vaters durchgeführt werden.

4

Eine am 16. Juni 1993 durchgeführte Untersuchung bestätigte eine Schwangerschaft der Klägerin nicht. Die Klägerin kehrte nicht in ihr Elternhaus zurück, sondern wurde ab dem 15.06.1993 in einer Einrichtung der Jugendhilfe (M...-L...-Stiftung) untergebracht.

5

Die Kriminalpolizei G... hörte die Klägerin am 18. Juni 1993 an. Diese gab an, dass sie sich nicht in der Lage sehe, Angaben zum sexuellen Missbrauch durch ihren Vater zu machen. Auf die Frage, ob alles so richtig sei, was die anderen über ihren Vater erzählt hätten, nickte die Klägerin zustimmend. Des Weiteren vernahm die Kriminalpolizei G... Oa... Ha..., D... B..., E... S... Aa..., N... R... und C... Ba... als Zeugen. J... Sa... wurde von der Kriminalpolizei K... vernommen.

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Am 15.03.1994 stellte die Staatsanwaltschaft Hb... das Ermittlungsverfahren gegen X. P... mit der Begründung ein, zwar bestünden entgegen dem Vortrag der Verteidigung deutliche Anhaltspunkte dafür, dass es zu erheblichen sexuellen Übergriffen gekommen sei. Weil die Klägerin aber bisher keine Angaben gemacht habe, lasse sich ein hinreichender Tatverdacht nicht begründen. Zuvor hatte die Bevollmächtigte der Klägerin der Staatsanwaltschaft telefonisch mitgeteilt, dass die zeugenschaftliche Vernehmung der Klägerin auch auf absehbare Zeit nicht möglich sei.

7

Ein im Jahr 1997 erneut eingeleitetes Ermittlungsverfahren gegen den Vater der Klägerin wegen des Verdachts des sexuellen Missbrauchs der Klägerin im Kindes- und Jugendalter, stellte Staatsanwaltschaft Hb... am 11.11.1997 ein. Am 22.07.2001 verstarb der Vater der Klägerin.

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Auf den Antrag der Klägerin vom 11. August 2003 erkannte das Versorgungsamt Bb... mit Bescheid vom 16.02.2004 in der Fassung des Bescheides vom 23.08.2004 einen Grad der Behinderung (GdB) von 90 an und stellte die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung der Merkzeichen „G“ und „B“ fest. Der Entscheidung wurde das Vorliegen der Funktionsbeeinträchtigungen „ Seelische Störung mit funktionellen Organbeschwerden, psychogene Aphonie“ zugrunde gelegt.

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Am 27.08.2003 beantragte die Klägerin bei dem beklagten Land die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem OEG wegen der Schädigungsfolgen: Multiple Persönlichkeitsstörung, komplexe posttraumatische Belastungsstörung, Dysthymia mit generalisierten Ängsten und fast vollständigem sozialem Rückzug, dissoziative Fugue, dissoziative Amnesie und psychogene Aphonie seit sechs Jahren. Angaben zu den Taten könne sie wegen der Gefahr einer Retraumatisierung nicht machen.

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Das beklagte Land zog u.a. diverse medizinische Unterlagen bei, insbesondere die Berichte über die Krankenhausaufenthalte der Klägerin in psychiatrischen Kliniken und Sanatorien sowie die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsakten. In dem Bericht der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie des Niedersächsischen Landeskrankenhauses Ka... vom 26.06.1995 ist ausgeführt, die Klägerin sei dort vom 23.09.1993 bis zum 03.08.1994 nach zwei Suizidversuchen stationär behandelt worden. Während der Gespräche habe sie mehrfach verbal als auch nonverbal das Vorliegen eines langjährigen Missbrauchs bestätigt. Sie sei jedoch nicht in der Lage gewesen, sich darüber spontan zu äußern oder auf konkrete Fragen Details zu nennen. Sie habe aber angegeben, dass ein Missbrauch seit der Vorschulzeit vorgelegen und die Häufigkeit seit der Pubertät deutlich zugenommen habe. Im Januar 1994 habe die Klägerin ein von ihrer Betreuerin Frau Kb... im September 1993 verfasstes Protokoll gezeigt. Darin sei vermerkt gewesen, dass sie als Vorschulkind von ihrem Vater bei den alltäglichen Pflegehandlungen im Intimbereich auffällig berührt worden sei. Später sei es zu weiteren sexuellen Handlungen mit Gewaltanwendungen genommen, auch seien Fotos und Videos angefertigt worden. Zeitweise seien andere Bekannte des Vaters mit anwesend gewesen. Sie habe den Vater oral und auch anal befriedigen müssen, auch habe der Vater über ihr uriniert. In dem Bericht vom 1. Juni 2002 führte die die Klägerin behandelnde Psychotherapeutin Ra... aus, die Klägerin habe angegeben, sie sei seit ihrem dritten Lebensjahr immer wieder sexuell missbraucht, vergewaltigt und geschlagen worden. Sie habe darüber noch nie gesprochen. Lediglich ein einziges Mal habe sie mit ca. sechs Jahren versucht, ihrer Mutter davon zu erzählen. Diese habe ihr nicht zugehört. Diese Aussagen und die folgenden habe die Klägerin durch nonverbale Bestätigungen bzw. Verneinungen einer Betreuerin kurz nach Aufnahme in die Wohngruppe mitgeteilt. Der Vater habe sie ständig am ganzen Körper angefasst und Doktorspiele mit ihr gespielt, als sie klein gewesen sei. Er habe sie gezwungen, ihn oral und mit der Hand zu befriedigen. Er habe sie vaginal als auch rektal vergewaltigt. Er habe auf sie uriniert, sie gefesselt, festgebunden und geschlagen. Bis ca. zu ihrem achten Lebensjahr habe er auch andere Männer mitgebracht, die sie habe befriedigen müssen. Dabei seien Film- und Fotoaufnahmen gemacht worden. Diese seien der Klägerin jedoch nicht zugänglich. Versuche sich zu wehren, seien mit Schlägen bestraft worden. Diese Übergriffe hätten zu jeder Tag- und Nachtzeit stattgefunden, sobald die Mutter nicht in der Nähe bzw. nicht ansprechbar gewesen sei. Das Milieu sei von Alkoholkonsum und Gewalt geprägt gewesen. Schon früh habe sie die Verantwortung für die jüngere Schwester übernommen und versucht, diese zu beschützen. Ihre Mutter sei manchmal tagelang verschwunden gewesen. Während der Übergriffe seien auch häufiger sedierende Substanzen eingesetzt worden. Die Klägerin habe ihr gegenüber angegeben, dass die letzte Vergewaltigung im Alter von siebzehn Jahren stattgefunden habe. Frau Ra... berichtete weiter, dass die Klägerin Ende 1996 bzw. Anfang 1997 aufgrund des Druckes, wegen drohender Verjährung im Rahmen der erneuten staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen eine Aussage machen zu müssen, dekompensiert sei und aufgehört habe zu sprechen.

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Das beklagte Land lehnte mit Bescheid vom 08.02.2006 die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem OEG ab. Zur Begründung führte es aus, nach dem Ergebnis der Ermittlungen sei festzustellen, dass sexuelle und körperliche Übergriffe zum Nachteil der Klägerin, die als tätliche Angriffe im Sinne des § 1 Abs. 1 OEG anzusehen seien, weder nachgewiesen noch glaubhaft gemacht seien. Ausweislich einer Vielzahl vorliegender Zeugenaussagen, Befund- und Behandlungs- sowie Klinikberichte habe die Klägerin über einen Zeitraum von mehreren Jahren hinweg vielen Personen gegenüber angedeutet, von ihrem Vater sexuell missbraucht worden zu sein. Jedoch sei es selbst bei engen Freunden fast ausschließlich bei diesen Andeutungen geblieben. Lediglich zweimal habe sie einige Details mitzuteilen vermocht. Einer vom Zeugen D... B... eingereichten, von der Klägerin verfassten handschriftlichen Notiz sei zu entnehmen, dass „er mich angefasst hat und von mir angefasst werden wollte“. Allerdings werde auch behauptet, die Mutter der Klägerin habe dies gesehen („sie war dabei“), was im Widerspruch zu den gegenüber anderen Personen gemachten Angaben stehe, wonach sexuelle Übergriffe nur bei Abwesenheit der Mutter erfolgt seien. Aus den Berichten der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie des Niedersächsischen Landeskrankenhauses Ka... vom 26.06.1995 und der Therapeutin Sabine Ra... vom 01.06.2002 gehe hervor, dass die Klägerin der Betreuerin Frau Kb... kurz nach ihrer Aufnahme in die Wohngruppe auf ihre Befragungen durch nonverbale Bestätigungen bzw. Verneinungen mitgeteilt habe, dass ihr Vater sie als Vorschulkind bei der Körperpflege im Intimbereich berührt und mit ihr Doktorspiele gespielt habe. Später sei es zu weiteren sexuellen Handlungen mit Gewaltanwendungen gekommen, indem er sie gezwungen habe, ihn oral und mit der Hand zu befriedigen und vaginal vergewaltigt habe. Des Weiteren habe ihr Vater sie geschlagen, gefesselt und auf sie uriniert. Bis zu ihrem achten Lebensjahr sei sie auch von anderen Männern sexuell misshandelt worden. Hiervon seien auch Foto- und Filmaufnahmen gemacht worden. Das von der Betreuerin im September 1993 verfasste entsprechende Protokoll zu dieser Befragung sei jedoch laut Auskunft des Instituts für persönliche Hilfen e.V. Bb... nicht mehr auffindbar. Es könne somit nicht festgestellt werden, ob Frau Kb... mit der Formulierung ihrer Fragen die Antworten möglicherweise schon vorgegeben habe und welche inhaltliche Qualität die Aussagen der Klägerin gehabt hätten. Das Ergebnis dieser Befragung könne daher nicht unkritisch übernommen werden. Zwar nähmen die die Klägerin behandelnden Ärzte und Therapeuten einen sexuellen Missbrauch in frühester Kindheit an. Nach den Erfahrungen des beklagten Landes sei nicht auszuschließen, dass Therapeuten, die sich mit der Diagnostik und Behandlung von dissoziativen Identitätsstörungen befassten, unkritisch mit den in der Therapie entstandenen Äußerungen zu sexuellen Missbräuchen umgingen und stets von schweren Traumatisierungen im frühkindlichen Alter ausgingen. Es lägen auch widersprüchliche Angaben zum Beginn der Missbrauchserfahrungen vor, da die Klägerin gegenüber dem Jugendamt im Jahre 1993 behauptet habe, seit dem elften Lebensjahr vom Vater sexuell missbraucht worden zu sein, während sie im Rahmen späterer Explorationen angeführt habe, bereits ab dem dritten Lebensjahr das Opfer sexuellen Missbrauchs geworden zu sein. Des Weiteren habe sich eine am 14.06.1993 behauptete Schwangerschaft in Folge einer Vergewaltigung durch den Vater der Klägerin nicht bestätigt. Nach geltendem Recht liege eine objektive Beweislosigkeit vor. Die Klägerin habe die Folgen dieser Beweislosigkeit mit dem Ergebnis zu tragen, dass ihr Versorgungsleistungen nicht zustünden.

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Dagegen hat die Klägerin am 20.02.2006 Widerspruch eingelegt und geltend gemacht, die Beweiswürdigung des beklagten Landes sei in Anbetracht der Zeugenaussagen, die sich in den Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft Hb... wiederfänden, insbesondere jedoch in Anbetracht der zahlreichen ärztlichen Befundberichte zum Krankheitsbild nicht nachvollziehbar. Mit seiner Beweiswürdigung überspanne das beklagte Land die Anforderungen an den Nachweis von Gewalttaten im Sinne des § 1 Abs. 1 OEG. Sämtliche behandelnde Ärzte und Therapeuten seien übereinstimmend der Auffassung, dass die chronifizierte posttraumatische Belastungsstörung auf langjährigen Traumatisierungen durch vorsätzliche rechtswidrige Gewalttaten, deren Opfer sie im Kindes- und Jugendalter geworden sei, basiere. Mehrere Zeugen hätten bestätigt, dass sie sich über einen Zeitraum von mehreren Jahren hinweg vielen Personen gegenüber geöffnet und zumindest andeutungsweise geschildert habe, von ihrem Vater sexuell missbraucht worden zu sein.

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Den Widerspruch wies das beklagte Land mit Widerspruchsbescheid vom 26.02.2009 zurück und bezog sich zur Begründung im Wesentlichen auf den Inhalt des Bescheides vom 08.02.2006.

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Die Klägerin hat am 30.03.2009 Klage vor dem Sozialgericht Lübeck erhoben, zu deren Begründung sie ihren Vortrag im Widerspruchsverfahren wiederholt und vertieft hat. Zur Bekräftigung Ihres Vortrages hat die Klägerin diverse Unterlagen zur Akte gereicht u.a. ihre handschriftlichen Schilderungen mit der Überschrift „Nicos Biografie“ sowie Berichte des Niedersächsischen Landeskrankenhauses Ka..., Fachkrankenhaus für Psychiatrie und Psychotherapie vom 08.11.2005 und 09.11.2005.

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Die Klägerin hat beantragt,

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den Bescheid vom 08.02.2006 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 26.02.2009 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, bei ihr eine dissoziative Identitätsstörung und eine komplexe posttraumatische Belastungsstörung als Schädigungsfolgen nach dem Opferentschädigungsgesetz anzuerkennen und ihr Versorgung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit bzw. einem Grad der Schädigungsfolgen von mindestens 90 v.H. ab dem 01.08.2003 zu gewähren.

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Das beklagte Land hat beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Das Sozialgericht hat Beweis erhoben durch Einholung des schriftlichen Gutachtens der Ärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. Pa... vom 08.04.2012 und die Sachverständige in der mündlichen Verhandlung und Beweisaufnahme zur Erläuterung ihres Gutachtens vernommen.

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Mit Urteil vom 25. April 2012 hat das Sozialgericht das beklagte Land unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide verurteilt, bei der Klägerin eine dissoziative Identitätsstörung und eine komplexe posttraumatische Belastungsstörung als Schädigungsfolgen nach dem OEG anzuerkennen und ihr Versorgung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit bzw. einem Grad der Schädigungsfolgen von mindestens 90 v.H. ab dem 01.08.2003 zu gewähren. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG seien erfüllt. Die Klägerin sei seit frühester Kindheit – ca. drittes Lebensjahr – bis Mitte Juni 1993, also zuletzt im Alter von 18 Jahren, Opfer von schweren körperlichen und sexuellen Missbrauchshandlungen mindestens seitens ihres leiblichen Vaters geworden. Dabei könne dahinstehen, ob als Beweismaßstab der Vollbeweis zu fordern sei oder die Beweiserleichterung des § 15 Abs. 1 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren in der Kriegsopferversorgung (KOVVfG) zur Anwendung komme, denn es stehe für die Kammer mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit fest, dass die Klägerin im oben genannten Zeitraum Opfer sexuellen Missbrauchs bzw. sexueller Gewalttaten geworden sei. Grundlage für die Überzeugungsbildung der Kammer seien die in der Akte der Staatsanwaltschaft Hb... und der Akte des Jugendamtes G... enthaltenen Zeugenaussagen und die Angaben der Klägerin selbst gegenüber diesen Zeugen und gegenüber Ärzten und Therapeuten. In Verbindung mit weiteren Indizien und dem Krankheitsbild der Klägerin verdichteten sich sämtliche Informationen zum Beweis der Tatsache, dass die Klägerin über einen langen Zeitraum schweren Traumatisierungen in Form von sexueller Gewalt ausgesetzt gewesen sei. Wesentlich zur Überzeugung der Kammer habe die Tatsache beigetragen, dass die Klägerin sich bereits frühzeitig und insbesondere außerhalb eines therapeutischen Prozesses gegenüber mehreren Personen über einen sexuellen Missbrauch geäußert habe.

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Die sexuellen und gewaltsamen Übergriffe in der Kindheit der Klägerin seien als Ursache der (mindestens) seit Antragstellung festzustellenden gesundheitlichen Störungen anzusehen. In der medizinischen Wissenschaft werde weit überwiegend davon ausgegangen, dass sexuelle Missbräuche in der Kindheit zu dissoziativen Störungen bzw. posttraumatischen Syndromen führen könnten bzw. dass ein Ursachenzusammenhang anzunehmen sei, weil nach dem Erfahrungswissen der Ärzte die Gefahr des Ausbruchs dieser Erkrankung nach den betreffenden Belastungen deutlich erhöht sei. Dies habe die Sachverständige Frau Pa... bestätigt.

22

Der Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) bzw. Grad der Schädigungsfolgen (GdS) gemäß § 30 Abs. 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) i.V.m. den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit (AHP), Ausgaben 1996 bis 2008 bzw. den ab 01.01.2009 geltenden Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (VMG) als Anlage zur Versorgungsmedizinverordnung vom 10.12.2008 auf der Grundlage des § 30 Abs. 17 BVG sei bei der Klägerin mit 90 v.H. zu bewerten. Nach § 1 Abs. 1 OEG i.V.m. § 60 Abs. 1 BVG beginne die Beschädigtenversorgung mit dem Monat der Antragstellung, hier also ab dem 01.08.2003.

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Gegen dieses am 6. Juni 2012 zugestellte Urteil wendet sich das beklagte Land mit seiner am 21. Juni 2012 bei dem Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht eingegangenen Berufung. Zur Begründung macht es im Wesentlichen geltend: Das Sozialgericht habe zu Unrecht vorsätzliche, rechtswidrige tätliche Angriffe gegen die Klägerin im Sinne des OEG als bewiesen angenommen. Die Klägerin habe sich nie konkret zu einem einzigen Kernvorfall geäußert. Eine Beweiserleichterung gemäß § 15 KOVVfG komme nicht in Betracht, da die Klägerin keine eigenen Angaben zum Sachverhalt gemacht habe. Die Andeutungen gegenüber Zeugen, Ärzten und Therapeuten könnten lediglich über die Vernehmung dieser Personen als Zeugen vom Hörensagen in die Würdigung der Gesamtumstände einfließen. Im Übrigen seien die Angaben gegenüber Dritten insgesamt so vage geblieben, dass auch aus diesem Grunde eine Überprüfung der Glaubhaftigkeit nicht möglich sei. Ob die Überzeugung, die sich das Sozialgericht von den angeblich stattgehabten häufigen sexuellen und gewaltsamen Übergriffen seitens des Vaters gebildet habe, ohne jegliche konkrete Schilderung auch nur eines einzigen Kernvorfalls gerechtfertigt sei, erscheine aus ihrer Sicht jedenfalls zweifelhaft. Aus diesem Grunde und auch aus grundsätzlichen Erwägungen über den künftigen Umgang mit ähnlich gelagerten Fällen sei Berufung eingelegt worden. Darüber hinaus ergäben sich bei der Gesamtbetrachtung Widersprüche. Es sei auffällig, dass zu Beginn des Falles über Jahre hinweg nur der Missbrauch durch den Vater im Raume gestanden habe. Dann plötzlich (zeitlich erstmals ausdrücklich in dem Arztbrief der Psychotherapeutin Ra... vom 1. Juni 2002, im Arztbrief des Sanatoriums Dr. Bc... vom 31. Juli 2002 und einem Zwischenbericht des Sanatoriums Dr. Bc... vom 21. Oktober 2002) sei von mehreren Tätern die Rede gewesen, die die Klägerin auch fortgesetzt bedroht und sie kontaktiert hätten. Die Ausführungen zum rituellen Missbrauch könnten einem bestimmten Schema entspringen.

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Das beklagte Land beantragt,

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das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 25. April 2012 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

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Die Klägerin beantragt,

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die Berufung des beklagten Landes zurückzuweisen.

28

Sie hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend. Eine fehlerhafte Beweiswürdigung des Sozialgerichts liege nicht vor. Das Sozialgericht habe überzeugend, schlüssig und nachvollziehbar dargelegt, dass Grundlage für die Überzeugungsbildung des Gerichts die in der Akte der Staatsanwaltschaft Hb... und der Akte des Jugendamtes G... enthaltenen Zeugenaussagen und die Angaben der Klägerin selbst gegenüber diesen Zeugen und gegenüber den Ärzten und Therapeuten gewesen seien. Die Schwere ihrer Erkrankung weise darauf hin, dass sie von mehreren Tätern sexuell missbraucht worden sei. Es sei ein Bestandteil des ritual-satanischen Kultes, dass dies fast nie „bewiesen“ werden könne. Die Opfer würden entsprechend konditioniert. Sie habe gegenüber der Betreuerin beschrieben, dass sie mittels der vorhandenen Konditionierung – Lichtzeichen, Hupzeichen, Klingelzeichen mittels Telefons – sich zu vorher festgelegten Orten begeben habe. Weitere Erinnerungen hierzu habe sie nicht. Sie sei mehrfach in Wäldern der Umgebung wieder aufgefunden worden. Sie habe keinerlei Erinnerung an die stattgefundenen Taten und sei nur verwirrt gewesen, da sie nicht gewusst habe, wie sie wo hingekommen sei. In diesen Situationen seien keine Anzeigen erstattet worden, da sie nicht gewusst habe, gegen wen sich diese hätten richten sollen. Zu Strafanzeigen sei es gerade wegen der Programmierungen nicht gekommen. Sie sei danach nicht gynäkologisch untersucht worden. Für sie sei eine solche Untersuchung mit einer derartigen Angst verbunden gewesen, dass allein die Nachfrage der Betreuerin dazu geführt habe, dass sie bitterlich geweint habe. Im Jahre 1993 sei im Hinblick auf die befürchtete Schwangerschaft eine Ultraschalluntersuchung durchgeführt worden. Weitere Untersuchungen seien wegen der psychischen Ausnahmesituation und der damit einhergehenden Belastung nicht möglich gewesen. Sie könne keine Angaben darüber machen, wo ihre Tagebücher nach ihrem Auszug aus der elterlichen Wohnung geblieben seien.

29

Der Senat hat Beweis erhoben und in der Berufungsverhandlung vom 23. September 2014 E... S... Aa... als Zeugin vernommen. Wegen der Aussage wird auf das Sitzungsprotokoll vom selben Tage verwiesen. Die Schwester der Klägerin, A... P..., hat von ihrem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch gemacht.

30

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte, der Verwaltungsakten des beklagten Landes sowie auf die Akten des Landesamtes für Soziale Dienste, Außenstelle Lübeck. Der wesentliche Inhalt dieser Unterlagen ist Gegenstand der Berufungsverhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Berufung des beklagten Landes hat in der Sache keinen Erfolg. Das Urteil des Sozialgerichts ist zutreffend. Der Bescheid vom 08.02.2006 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 26.02.2009 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die Klägerin hat Anspruch auf Anerkennung einer dissoziativen Identitätsstörung und einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung als Schädigungsfolgen nach dem OEG und Gewährung von Versorgung nach einem GdS von 90 ab dem 1. August 2003.

32

Gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG erhält in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG auf Antrag Versorgung, wer im Geltungsbereich dieses Gesetzes infolge eines vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Der Begriff des tätlichen Angriffs im Sinne des § 1 Abs. 1 OEG setzt grundsätzlich eine in feindlicher Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende Gewalteinwirkung voraus (vgl. BSG, Urteil vom 7. April 2011 – B 9 VG 2/10 R – BSGE 108, 97, m. w. N.). Bezogen auf den sexuellen Missbrauch von Kindern hat sich in der Rechtsprechung ein erweitertes Verständnis des Begriffs des tätlichen Angriffs durchgesetzt. Danach ist für die unmittelbare Einwirkung auf den Körper des Kindes entscheidend, dass die sexuellen Handlungen strafbar sind. Ob bei der Tatbegehung körperliche Gewalt angewendet worden ist, ist nicht maßgebend (BSG, Urteile vom 18. Oktober 1995 – 9 RVG 4/93 –, BSGE 77, 7; - 9 RVG 7/93 -, BSGE 77, 11). Auch der „gewaltlose“ sexuelle Missbrauch eines Kindes kann demnach ein tätlicher Angriff i.S. des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG sein.

33

Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt.

34

Der Senat folgt dem Sozialgericht darin, dass die Klägerin seit frühester Kindheit – ca. drittes Lebensjahr – bis Mitte Juni 1993 Opfer von schweren körperlichen und sexuellen Missbrauchshandlungen seitens ihres leiblichen Vaters geworden ist. Dabei liegen der Tatbestand des sexuellen Missbrauchs von Kindern unter 14 Jahren (§ 176 Strafgesetzbuch – StGB), der Tatbestand des sexuellen Missbrauchs von Jugendlichen unter 18 Jahren (§ 182 StGB), der Tatbestand des sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen unter 16 Jahren (§ 174 StGB) sowie der Tatbestand der Vergewaltigung (§ 177 StGB) vor.

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Hinsichtlich der entscheidungserheblichen Tatsachen kennt das soziale Entschädigungsrecht drei Beweismaßstäbe. Grundsätzlich bedürfen die drei Glieder der Kausalkette (schädigender Vorgang, Schädigung und Schädigungsfolgen) des Vollbeweises. Für die Kausalität selbst genügt gemäß § 1 Abs. 3 BVG die Wahrscheinlichkeit. Nach Maßgabe des § 15 Satz 1 KOVVfG, der gemäß § 6 Abs. 3 OEG Anwendung findet, sind bei der Entscheidung die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung (also insbesondere auch mit dem tätlichen Angriff) in Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, zugrunde zu legen, wenn sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen. Für den Vollbeweis muss sich das Gericht die volle Überzeugung vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Tatsache verschaffen. Eine Sache ist bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, das alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen. „Glaubhafterscheinen“ im Sinne des § 15 Satz 1 KOVVfG bzw. Glaubhaftmachung bedeutet das Dartun einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit, das heißt der guten Möglichkeit, dass sich der Vorgang so zugetragen hat, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können. Es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist, weil nach der Gesamtwürdigung aller Umstände viel für diese Möglichkeit spricht. Von mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Sachverhaltsvarianten muss einer den übrigen gegenüber ein gewisses (kein deutliches) Übergewicht zukommen. Die bloße Möglichkeit einer Tatsache reicht nicht aus, um die Beweisanforderungen zu erfüllen (BSG, Beschluss vom 17. April 2013 - B 9 V 1/12 R -, Juris; BSG, Beschluss vom 24. November 2010 – B 11 AL 35/09 R –, Juris).

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Ausgehend von diesen rechtlichen Vorgaben hat das Sozialgericht im Ergebnis zutreffend festgestellt, dass die Klägerin durch den sexuellen Missbrauch ihres Vaters Opfer rechtswidriger tätlicher Angriffe geworden ist. In Abweichung zum Sozialgericht ist der Senat jedoch zu der Auffassung gelangt, dass dies nicht im Sinne des Vollbeweises bewiesen ist.

37

Eigene, auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfbare Angaben zum sexuellen Missbrauch, hat die Klägerin weder im Verwaltungsverfahren noch im nachfolgenden Rechtsstreit gemacht. Im Ermittlungsverfahren hat sie auf die Frage, ob alles so richtig sei, was die anderen Personen über ihren Vater erzählt hätten, lediglich zustimmend genickt. Zeugen, die sich zum Tatvorwurf äußern könnten, sind nicht vorhanden. Auch die vom Senat gehörte Zeugin E... S... Aa... hat bekundet, sexuelle Handlungen ihres damaligen Ehemannes an der Klägerin nicht beobachtet zu haben. Der vermeintliche Täter, der Vater der Klägerin, hat die Aussage verweigert und über seine Rechtsanwälte mitteilen lassen, dass er die Vorwürfe der Klägerin bestreite. Vor diesem Hintergrund vermochte sich der Senat nach den Gesamtumständen des Verfahrens auch unter Berücksichtigung der Angaben, die die Klägerin gegenüber ihren behandelnden Ärzten und den vom Kriminalkommissariat G... gehörten Zeugen gemacht hat, nicht die volle Überzeugung von einem sexuellen Missbrauch zu Lasten der Klägerin zu verschaffen.

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Vorliegend findet jedoch der abgesenkte Beweismaßstab des § 6 Abs. 3 OEG in Verbindung mit § 15 KOVVfG Anwendung. Nach § 15 Satz 1 KOVVfG sind die Angaben des Antragstellers, die sich auf mit der Schädigung im Zusammenhang stehende Tatsachen beziehen, der Entscheidung zugrunde zu legen, wenn Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verloren gegangen sind und die Angaben glaubhaft erscheinen.

39

Diese besondere Beweiserleichterung ist auch im Falle der Klägerin zu beachten. Zwar wollte § 15 KOVVfG ursprünglich nur der Beweisnot Rechnung tragen, in der sich Antragsteller häufig befanden, weil sie durch die besonderen Kriegsverhältnisse die über sie geführten Krankengeschichten, Befundberichte usw. nicht mehr erlangen konnten. Die Beweiserleichterung ist jedoch auch dann anwendbar, wenn für den schädigenden Vorgang keine Zeugen vorhanden sind (BSG, Urteil vom 31. Mai 1989, - 9 RVg 3/89 - Juris -). Nach dem Sinn und Zweck des § 15 S 1 KOVVfG sind damit nur Tatzeugen gemeint, die zu den zu beweisenden Tatsachen aus eigener Wahrnehmung Angaben machen können. Personen, die von ihrem gesetzlichen Zeugnisverweigerungsrecht (vgl. §§ 383 ff ZPO) Gebrauch gemacht haben, sind dabei nicht als Zeugen anzusehen. Entsprechendes gilt für eine als Täter in Betracht kommende Person, die eine schädigende Handlung bestreitet. Denn die Beweisnot des Opfers, auf die sich § 15 S. 1 KOVVfG bezieht, ist in diesem Fall nicht geringer, als wenn der Täter unerkannt geblieben oder flüchtig ist. Die Beweiserleichterung des § 15 S. 1 KOVVfG gelangt damit auch zur Anwendung, wenn sich die Aussagen des Opfers und des vermeintlichen Täters gegenüberstehen und Tatzeugen nicht vorhanden sind (BSG, Beschluss vom 17.04.13 - B 9 V1/12 R -, Juris).

40

Diese Konstellation ist hier gegeben, denn es fehlt vorliegend an Tatzeugen oder anderen Beweismitteln, die das Vorbringen der Klägerin belegen könnten.

41

Die Anwendbarkeit des § 15 S. 1 KOVVfG scheitert auch nicht daran, dass die Klägerin im Verwaltungsverfahren und im anhängigen Rechtsstreit keine eigenen Angaben zum behaupteten Tatgeschehen gemacht hat. § 15 S. 1 KOVVfG lässt erkennen, dass die Verwaltungsbehörde bzw. die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit Tatsachen, die lediglich glaubhaft oder überwiegend wahrscheinlich sind, der Entscheidung grundsätzlich nur dann zugrunde legen darf, wenn zugleich der Antragsteller die strafrechtliche Verantwortung dafür übernimmt, dass seine Angaben - zumindest subjektiv - den Tatsachen entsprechen. Diese zusätzliche, über die Glaubhaftigkeit aus sonstigen Gründen hinausgehende Gewähr für die Richtigkeit des von der Verwaltungsbehörde oder vom Gericht zugrunde gelegten Sachverhalts würde nach der Rechtsprechung des BSG allerdings fehlen, wenn die Behörde oder das Gericht auch schon solche glaubhaften Sachverhalte der Entscheidung zugrunde legen würde, zu denen der Antragsteller keine Angaben aus eigenem Wissen oder überhaupt keine Angaben machen kann (BSG, Urteil vom 03. Februar 1999 – B 9 V 33/97 R –, Juris; BSG, Urteil vom 28. Juni 2000 – B 9 VG 3/99 R –, Juris; ). Das ist vorliegend jedoch nicht der Fall, da die Klägerin Angaben gemacht hat, deren Wahrheitsgehalt überprüfbar ist.

42

Dabei legt der Senat zugrunde, dass die Klägerin, die die kirchliche Jugendgruppe in M... besuchte, im Frühjahr 1990 dem zuständigen Pastor Na... berichtet hat, von ihrem Vater sexuell missbraucht zu werden, wenn die Mutter außer Haus sei. Der Vater drohe ihr massiv, er werde sie umbringen, wenn sie rede. Er schlage sie auch und sperre sie in den Keller. Ihre Eltern würden vermehrt Alkohol trinken. Sie habe sich inzwischen auch einem Lehrer anvertraut. Sie wolle zurzeit aber nicht, dass das Jugendamt eingeschaltet werde. Dass die Klägerin diese Angaben tatsächlich gemacht hat, ist belegt durch einen Vermerk des Jugendamtes des Landkreises G... vom 17.05.1990 (Herr O...), wonach Pastor Na... dort von dem Geschehen berichtete, ohne den Namen der Klägerin zu nennen. Dass es sich dabei um die Klägerin gehandelt hat, ergibt sich insbesondere daraus, dass die Mutter der Klägerin, E... S... Aa..., am 20.10.1993 bei ihrer Vernehmung vor der Kriminalpolizei G... bestätigte, von Pastor Na... im Frühjahr 1991 auf einen etwaigen sexuellen Missbrauch ihrer Tochter durch ihren Ehemann angesprochen worden zu sein. Die Klägerin wandte sich Anfang 1991 außerdem an den damaligen Vertrauenslehrer des …-Gymnasiums in G... Herrn Ea..., ohne konkrete Angaben zum Missbrauch zu machen. Des Weiteren vertraute sich die Klägerin während eines Schüleraustauschprogramms (Juni 1991 bis Juni 1992) in den USA der Mutter ihrer Gastfamilie und einer dortigen Lehrerin an und berichtete, dass sie seit ca. 6 ½ Jahren von ihrem Vater sexuell missbraucht werde. Angefangen habe alles, als sie elf Jahre alt gewesen sei. Ihr Vater habe ihr über die Jahre hin angedroht, sie zu töten, falls sie jemandem davon erzähle. Das letzte Mal habe er sie drei Wochen vor der Abreise nach Amerika missbraucht. Der Senat hat keinen Zweifel daran, dass sich die Klägerin ihrer Gastmutter und einer Lehrerin gegenüber wie oben ausgeführt geäußert hat. Dies folgt aus dem Vermerk des Mitarbeiters des Jugendamtes des Landkreises G... Herrn O... vom 15.03.1992 über ein am 04.03.1992 mit der Koordinatorin der deutsch-amerikanischen Schüleraustauschorganisation, die den Aufenthalt der Klägerin in den USA organisiert hat. Frau J... Sa... teilte darin mit, von der amerikanischen Koordinatorin über den sexuellen Missbrauch zu Lasten der Klägerin entsprechend in Kenntnis gesetzt worden zu sein. Bei ihrer Vernehmung durch die Kriminalpolizei in K... am 11.11.1993 bestätigte Frau Sa... die von Herrn O... in dessen Telefonvermerk wiedergegebene Schilderung. Außerdem findet sich in der Ermittlungsakte ein Fax der amerikanischen Koordinatorin („Ca...“) vom 30.10.1991, mit dem Frau Sa... über die Angaben der Klägerin zum sexuellen Missbrauch durch ihren Vater informiert wurde. Ihrem Bekannten D... B... gegenüber antwortete die Klägerin im August 1991 während einer Kirchenfreizeit kurz vor ihrer Abreise in die USA auf die Frage, ob sie von ihrem Vater geschlagen werde: „Ja, das auch“. Auf weitere Nachfrage bestätigte sie mit einem Nicken, von ihrem Vater sexuell missbraucht zu werden. Auch nachfolgend berichtete die Klägerin D... B... mehrfach, von ihrem Vater regelmäßig sexuell missbraucht worden zu sein, ohne Einzelheiten zu nennen. Auch bei dem ersten Treffen nach der Rückkehr der Klägerin aus Amerika teilte sie D... B... mit, ihr Vater habe sie erneut missbraucht. Ihrem Bekannten Oa... Ha... betätigte die Klägerin die Frage, ob sie von ihrem Vater sexuell missbraucht worden sei, mit „Ja“. Ihrer ehemalige Mitschülerin N... R... berichtete die Klägerin, dass ihr Vater sich an ihr vergriffen habe. Am 12. Juli 1992 offenbarte sich die Klägerin dem Dipl. Sozialpädagogen H... O... und gab an, dass ein mehrjähriger Missbrauch durch ihren Vater stattfinde und dass dieser nach ihrer Rückkehr aus den Vereinigten Staaten bereits wieder dreimal mit ihr Geschlechtsverkehr gehabt habe. Im Frühjahr 1993 wandte sich die Klägerin an das Institut für Eltern- und Jugendberatung in Bb... und berichtete dort von einem langjährigen Missbrauch durch ihren Vater. Im polizeilichen Ermittlungsverfahren hat die Klägerin auf die Frage, ob alles so richtig sei, wie die anderen über ihren Vater erzählt hätten, zustimmend genickt. Detaillierte Angaben zu den Missbrauchsvorwürfen machte die Klägerin gegenüber ihren Betreuerinnen der Mansfeld-Löbbecke-Stiftung im Jahr 1993. Das ist belegt durch ein Protokoll, das die Bezugsbetreuerin der Klägerin Frau Kb... im September 1993 gefertigt hat. Das Protokoll findet sich zwar nicht in den Akten und ist trotz Ermittlungen des Beklagten nicht auffindbar. Der Inhalt des Protokolls ergibt sich jedoch aus dem Abschlussbericht des Niedersächsischen Landeskrankenhauses Ka..., Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, vom 26.06.1995. Darin ist aufgeführt, dass die Klägerin das Protokoll gezeigt habe, nachdem sie mehrfach verbal als auch nonverbal das Vorliegen eines langjährigen Missbrauchs bestätigt habe. In dem Protokoll sei zu lesen, dass die Klägerin als Vorschulkind von ihrem Vater bei den alltäglichen Pflegehandlungen im Intimbereich auffällig berührt worden sei. Später sei es zu weiteren sexuellen Handlungen mit Gewaltanwendungen gekommen, auch seien Fotos und Videos angefertigt worden. Zeitweise seien andere Bekannte des Vaters mit anwesend gewesen. Sie habe den Vater oral und auch anal befriedigen müssen, auch habe der Vater über ihr uriniert. Auf das Protokoll der Frau Kb... aus September 1993 nahm auch die die Klägerin seit Dezember 1995 behandelnde Psychotherapeutin Ra... Bezug. In ihrem Bericht vom 01.06.2002 führte Frau Ra... aus, die Klägerin sei seit ihrem dritten Lebensjahr immer wieder sexuell missbraucht, vergewaltigt und geschlagen worden. Sie habe darüber noch nie gesprochen. Lediglich ein einziges Mal habe sie mit ca. sechs Jahren versucht, ihrer Mutter davon zu erzählen. Diese habe ihr nicht zugehört. Der Vater habe sie ständig am ganzen Körper angefasst und Doktorspiele mit ihr gespielt, als sie klein gewesen sei. Er habe sie gezwungen, ihn oral und mit der Hand zu befriedigen. Er habe sie vaginal als auch rektal vergewaltigt. Er habe auf sie uriniert, sie gefesselt, festgebunden und geschlagen. Bis ca. zu ihrem achten Lebensjahr habe er auch andere Männer mitgebracht, die sie habe befriedigen müssen. Dabei seien Film- und Fotoaufnahmen gemacht worden. Diese seien der P. [Patientin] jedoch nicht zugänglich. Habe die P. versucht sich zu wehren, sei sie geschlagen worden. Diese Übergriffe hätten zu jeder Tag- und Nachtzeit stattgefunden, sobald die Mutter nicht in der Nähe bzw. ansprechbar gewesen sei. Das Milieu sei von Alkoholkonsum und Gewalt geprägt gewesen. Schon früh habe die Klägerin die Verantwortung für die jüngere Schwester übernommen und versucht, diese zu beschützen. Ihre Mutter sei manchmal tagelang verschwunden gewesen. Während der Übergriffe seien auch häufiger sedierende Substanzen eingesetzt worden.

43

Der Senat ist davon überzeugt, dass die Klägerin sich wie oben aufgeführt geäußert hat. Das ergibt sich insbesondere aus den Aussagen der von der Kriminalpolizei vernommen D... B..., Oa... Ha..., N... R... und J... Sa.... Anhaltspunkte dafür, dass diese die Unwahrheit gesagt haben könnten, finden sich nicht. Die einzelnen Aussagen sind widerspruchsfrei und in sich schlüssig. Auch sind keine Gründe dafür erkennbar, dass die Zeugen ein Interesse daran gehabt haben könnten, durch ihre Aussage die Klägerin zu begünstigen bzw. deren Vater zu schädigen. Auch steht für den Senat fest, dass der Dipl. Sozialpädagoge O... und der Kriminalhauptkommissar Z... die von der Klägerin und den Zeugen gemachten Angaben richtig und vollständig schriftlich niedergelegt haben.

44

Der Senat durfte auch die Feststellungen aus dem staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahren übernehmen. Zu eigener, weitergehender Ermittlungstätigkeit wäre er nur verpflichtet gewesen, wenn neue, erfolgversprechende Ansatzpunkte zur Feststellung einer Vorsatztat aufgetaucht wären oder der Sachverhalt unter anderen rechtlichen Kriterien als im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren zu würdigen wäre. Das ist vorliegend nicht der Fall, denn der Beweislast des Staates im Strafverfahren entspricht der Beweislast der Klägerin im Sozialgerichtsverfahren (vgl. BSG, Urteil vom 10. November 1993 – 9 RVg 2/93 –, Juris). Der Senat konnte sich damit im Wege des Urkundenbeweises auf die polizeilichen Ermittlungs- oder strafrechtlichen Verfahrensakten, die im Wesentlichen Inhalt der Verwaltungsakte des beklagten Landes waren, stützen.

45

Der Senat musste sich auch nicht gedrängt fühlen, die Klägerin persönlich anzuhören. Nach § 128 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Das SGG kennt im Gegensatz zur Zivilprozessordnung (ZPO) nicht die Parteivernehmung als Beweismittel, was sich daraus ergibt, dass in § 118 SGG nicht auf die entsprechenden Vorschriften der §§ 445 bis 455 ZPO verwiesen ist (vgl. BSG in SozR Nr. 1 zu § 445 ZPO; Nr. 21 zu § 103 SGG und Nr. 56 zu § 128 SGG; Peters/Sautter/Wolff, Komm. z. SGG, 3. Aufl. bei § 118 zu § 444 ZPO S. II 88 – 97/98 –). Die Anhörung eines Beteiligten hat somit nicht die Funktion und den Rang eines Beweismittels. Sie ist jedoch nicht nur erlaubt, sondern in den Fällen der §§ 106 Abs. 1; 111 Abs. 1 SGG grundsätzlich auch geboten (BSG in SozR Nr. 56 zu § 128 SGG). Von der Anordnung des persönlichen Erscheinens ist jedoch abzusehen, wenn dem Beteiligten dies aus wichtigem Grund nicht zuzumuten ist. So verhält es sich hier, denn die Klägerin war aufgrund ihrer schweren seelischen Erkrankung mit psychogener Aphonie nicht in der Lage, sich gegenüber dem Senat zum Sachverhalt zu äußern.

46

Unter Anlegen des abgesenkten Beweismaßstabes hält der Senat es für glaubhaft im Sinne des § 15 KOVVfG, dass die Klägerin von ihren Vater sexuell missbraucht worden ist. Zum Nachweis kommen nicht nur Urkunden und Augenzeugen, sondern auch mittelbare Zeugen (sog. Zeugen vom "Hörensagen") in Betracht (BSG, Urteil vom 27. November 1991 – 9a RV 23/91 – Juris). Die zitierten Zeugenaussagen liefern einzeln und in ihrer Gesamtheit ein erdrückendes Bild von dem an der Klägerin verübten Missbrauch, so dass insbesondere auch unter Berücksichtigung der Aussage der Zeugin E... S... Aa... die gute Möglichkeit dafür spricht, dass der sexuelle Missbrauch wie von der Klägerin geschildert, stattgefunden hat.

47

Von besonderer Bedeutung für die Überzeugungsbildung des Senats ist, dass sich die Klägerin spätestens ab dem Frühjahr 1990, also zu einem Zeitpunkt als der sexuelle Misshandlung noch stattgefunden hat, in einem schlüssigen Kontext hilfesuchend an verschiedene Personen ihres sozialen Umfeldes gewandt und auf einen sexuellen Missbrauch durch ihren Vater hingewiesen hat. Für die Annahme der Glaubhaftigkeit ist dabei wesentlich, dass sich die Klägerin vor dem Beginn einer therapeutischen Behandlung geäußert und detaillierte Angaben zum Missbrauch gemacht hat. Das Sozialgericht hat zutreffend darauf festgestellt, dass die Angaben der Klägerin deshalb nicht unter dem Aspekt der sogenannten „false memory“ in Zweifel zu ziehen seien. Wie die erstinstanzlich gehörte Sachverständige Dr. Pa... schlüssig dargelegt hat, können bei einer dissoziativen Identitätsstörung Gedächtnisbesonderheiten im Sinne von traumatisch bedingten Gedächtnisfehlfunktionen auftreten. Im Rahmen einer Psychotherapie ist es deshalb nicht nur möglich, dass bis dahin abgespaltene Erinnerungen an traumatische Vorfälle in der Therapie aufgedeckt werden (echte wiederentdeckte Erinnerungen), sondern die aufgetretenen Sinneseindrücke können auch Folge von Gedächtnistäuschung oder Suggestionen („false memory“) sein. Da die Klägerin sich jedoch bereits vor dem Auftreten ihrer schweren psychischen Erkrankung am 23. September 1993 (Bericht der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie vom 26 Juni 1995) und insbesondere vor dem Beginn eines sich anschließenden therapeutischen Prozesses mehreren Personen ihres sozialen Umfeldes gegenüber offenbart hat, können ihre Angaben nicht mit einer False-Memory-Symptomatik in Zusammenhang gebracht werden. Nach den überzeugenden Ausführungen der Sachverständigen Dr. Pa... spricht gegen das Vorliegen eines false-memory-Syndroms auch, dass die Klägerin in dem Zeitraum zwischen dem 15.06.1993 und September 1993 ihrer Bezugsbetreuerin Frau Kb... gegenüber recht konkrete Angaben gemacht hat. Dafür, dass bis zu diesem Zeitpunkt bei der Klägerin ein therapeutischer Prozess eingeleitet worden war, findet sich in den Akten und insbesondere in ärztlichen Berichten kein Anhalt. In der „Psychosozialen Diagnose“ des Jugendamtes des Landkreises G... vom 1. September 1993 ist vielmehr vermerkt, dass eine psychologische Betreuung für zwingend erforderlich gehalten werde, da die weitere Entwicklung der Klägerin auch von der Möglichkeit abhängig sei, die sexuellen Erlebnisse aufzuarbeiten. Vor diesem Hintergrund konnten keine Scheinerinnerungen durch Suggestion erzeugt werden.

48

Zweifel an der Richtigkeit der Angaben der Klägerin ergeben sich auch nicht daraus, dass die Klägerin im Verlauf der psychotherapeutischen Behandlung den Missbrauch in der Weise spezifiziert hat, ihre Eltern seien Mitglieder einer satanistischen Sekte gewesen, die bestimmte Rituale ausgelebt hätten. Sie werde auch nach dem Auszug aus der elterlichen Wohnung von Sektenmitgliedern entführt und missbraucht. Ob dies tatsächlich der Fall ist, hat nach Auffassung des Senats keinen Einfluss auf die Glaubhaftigkeit der Angaben der Klägerin, die diese vor dem Beginn des therapeutischen Prozesses gemacht.

49

Gestützt werden die Angaben der Klägerin durch die Aussage der Mutter der Klägerin, E... S... Aa.... Die Zeugin konnte zwar keine Angaben zum eigentlichen Tatgeschehen machen, die von ihr geschilderten Begebenheiten beinhalten jedoch Indizien für einen sexuellen Missbrauch. Die Zeugin hat eingeräumt, in der Mülltonne einen Brief bzw. einen Tagebucheintrag der Klägerin gefunden zu haben, in dem es Hinweise auf einen sexuellen Missbrauch gegeben habe. Außerdem habe sie Literatur zum Thema sexueller Missbrauch gefunden. Erst im Nachhinein hätten sich weitere Anhaltspunkte für einen Missbrauch daraus ergeben, dass die Klägerin ausgezogen und für ein Jahr in die USA gegangen sei und nach der Rückkehr nicht mehr mit ihrem Vater habe allein sein wollen. Sie habe es vermieden zuhause zu sein. Für den Senat ergeben sich nach dem Akteninhalt und dem persönlichen Eindruck, den die Zeugin in der mündlichen Verhandlung hinterlassen hat, keine Hinweise darauf, dass die Zeugin die Unwahrheit gesagt haben könnte. Die Zeugin hat auf die Fragen des Gerichts offen und erkennbar um Genauigkeit bemüht geantwortet. Sie hat auch Umstände dargelegt, die einen negativen Eindruck hinterlassen könnten und die familiären Verhältnisse ungeschönt dargestellt. Nachvollziehbar ist, dass die Zeugin zunächst Zweifel an dem Missbrauch durch ihren Ehemann, der in leitender Stellung tätig war, gehabt hat. Sie hat in sich schlüssig und widerspruchsfrei geschildert, dass diese Zweifel insbesondere nach dem Auffinden des Briefes bzw. Tagebucheintrages und der Literatur über sexuellen Missbrauch sowie letztendlich durch das Gespräch mit der behandelnden Psychologin in Ka... gewichen seien. Sie gehe davon aus, dass der behauptete Missbrauch stattgefunden habe. Weiteres Indiz für den stattgehabten Missbrauch ist ein Brief, den die Klägerin ihrem Bekannten D... B... nach ihrer Rückkehr aus den USA mit folgendem Wortlaut geschrieben hat: „D..., ich habe Angst! Mein Vater … Er hat … ES ist wieder passiert! Ich möchte reden – mit dir. Geht das? Bitte! Nb...“, geschrieben hat.

50

Auch die medizinischen Befunde und Diagnosen passen zu einer Traumatisierung durch einen sexuellen Missbrauch. Die Klägerin leidet ausweislich der vorliegenden medizinischen Unterlagen und der Einschätzung der Sachverständigen Dr. Pa... an einer dissoziativen Identitätsstörung, einer posttraumatische Belastungsstörung, einer anhaltenden depressive Reaktion und einer schweren Schlafstörung. Der Senat verkennt nicht, dass nicht allein aus einer psychiatrischen Diagnose auf ein bestimmtes Geschehen geschlossen werden kann (vgl. Urteile des erkennenden Senats vom 08.11.2005 – L 2 VG 7/02 - und 24.02.2010 – L 2 VG 16/08 - Juris; LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 05.06.2008 – L 13 VG 1/05 -, Juris). Die Entwicklung des Krankheitsgeschehens und die vorliegenden psychischen Störungsbilder lassen aber jedenfalls den Schluss auf eine mögliche kindliche Traumatisierung zu. Denn es ist davon auszugehen, dass kindliche Traumatisierungen häufig für die spätere Entwicklung einer dissoziativen Störung ursächlich sind, dass aber nicht jede Traumatisierung zur Ausprägung einer dissoziativen oder anderen psychischen Störung führt und dass dissoziative Störungen auch auftreten können, ohne dass sich in der Vorgeschichte ein sexueller Missbrauch oder eine andersartige Traumatisierung sichern lässt. Bei Unterstellung einer dissoziativen Störung spricht zwar eine statistische Wahrscheinlichkeit dafür, dass eine kindliche Traumatisierung vorliegt. Eine mit an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit lässt sich aber nicht feststellen (Urteil des Senats vom 24.02.2010, a.a.O.).

51

Nach alledem ist ein sexueller Missbrauch der Klägerin glaubhaft gemacht.

52

Der sexuelle Missbrauch ist auch ursächlich für die dissoziative Identitätsstörung und die komplexe posttraumatische Belastungsstörung, zu deren Anerkennung das Sozialgericht das beklagte Land verurteilt und den auf die Gewalttat zurückzuführenden GdS es zutreffend mit 90 bewertet hat. Dies hat das Sozialgericht in dem angefochtenen Urteil ausführlich und zutreffend dargelegt. Der Senat nimmt hierauf zur Vermeidung von Wiederholungen gemäß § 153 Abs. 2 SGG Bezug.

53

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

54

Gründe für die Zulassung der Revision im Sinne des § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG liegen nicht vor.


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