Urteil vom Oberlandesgericht Hamm - 19 U 1304/19
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten zu 1 wird – unter Zurückweisung des weitergehenden Rechtsmittels – das am 18.9.2019 verkündete Urteil der 3. Zivilkammer des Landgerichts Bielefeld teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:
Die Beklagte zu 1 wird verurteilt, an den Kläger 5.477,92 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 12.233,32 € vom 10.2.2019 bis zum 22.4.2020 und aus 5.477,92 € ab dem 23.4.2020 zu zahlen.
Es wird festgestellt, dass der Rechtsstreit in Höhe weiterer 6.745,75 € Zug um Zug gegen Rückgabe des Fahrzeugs T mit der Fahrzeugidentifikationsnummer ABC123 mit dem amtlichen Kennzeichen DE-FG 45, dessen Rückübereignung und Rückgabe der Zulassungsbescheinigung Teil I und II und der zugehörigen Fahrzeugschlüssel erledigt ist.
Die Beklagte zu 1 wird verurteilt, an den Kläger vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 958,19 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 12.12.2018 zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Berufung des Klägers gegenüber der Beklagten zu 1 wird zurückgewiesen.
Der Kläger ist des eingelegten Rechtsmittels gegenüber der Beklagten zu 2 verlustig.
Von den erstinstanzlichen Kosten haben zu tragen:
die Gerichtskosten und die außergerichtlichen Kosten des Klägers zu 59 % der Kläger selbst und zu 41 % die Beklagte zu 1;
die außergerichtlichen Kosten der Beklagten zu 1 zu 18 % der Kläger und zu 82 % die Beklagte zu 1 selbst;
die außergerichtlichen Kosten der Beklagten zu 2 der Kläger voll.
Von den Kosten des Berufungsverfahrens haben zu tragen:
die Gerichtskosten und die außergerichtlichen Kosten des Klägers zu 63 % der Kläger selbst und zu 37 % die Beklagte zu 1;
die außergerichtlichen Kosten der Beklagten zu 1 zu 27 % der Kläger und zu 73 % die Beklagte zu 1 selbst;
die außergerichtlichen Kosten der Beklagten zu 2 der Kläger voll.
Das Urteil ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Der Streitwert des erstinstanzlichen Verfahrens wird – unter Abänderung der landgerichtlichen Festsetzung – auf 14.832,07 € festgesetzt (13.832,07 € Zahlungsantrag ohne die ausgerechneten Deliktszinsen + 1.000,00 € Feststellungsantrag weitere Schäden).
Der Streitwert des Berufungsverfahrens wird
für die Berufung des Klägers auf 16.700,01 € (13.832,07 € ursprünglicher Zahlungsantrag ohne die ausgerechneten Deliktszinsen + 1.000,00 € Feststellungsantrag weitere Schäden + 1.867,94 € Klageerweiterung),
für die Berufung der Beklagten zu 1 auf 12.712,60 € und
für das Berufungsverfahren insgesamt auf 16.700,01 € festgesetzt.
Eine gesonderte Festsetzung für die Zeit ab der Reduzierung des Zahlungsantrags erfolgt nicht, weil eine Erklärung des Klägervertreters bezüglich des Differenzbetrages erst im Termin erfolgt ist, als sämtliche Gebühren bereits angefallen waren.
1
Gründe:
2(abgekürzt gemäß §§ 540 Abs. 2, 313a Abs. 1 S. 1 ZPO)
3Von den beiderseits zulässigen Berufungen hat die der Beklagten zu 1 teilweise Erfolg, während das Rechtsmittel des Klägers, soweit er es nicht zurückgenommen hat, der Zurückweisung unterliegt.
41.
5Der Zahlungsantrag zu 1 hat in der aus der Urteilsformel ersichtlichen Höhe Erfolg.
6Der Antrag ist zunächst zulässig. Er beinhaltet entgegen der Auffassung der Beklagten zu 1 keine Klageänderung durch neues Vorbringen in dem klägerischen Schriftsatz vom 7.12.2020, über deren Zulassung zu entscheiden wäre. Soweit sich der Kläger in diesem Schriftsatz auf erneutes Fehlverhalten der Beklagten zu 1 bei der Entwicklung des Software-Updates stützt, handelt es sich nicht um einen anderen Lebenssachverhalt, sondern nur um eine Ergänzung des bisherigen Vorbringens. Geltend gemacht wird weiterhin ein Schaden, der in der Eingehung des Kaufvertrages liegen soll. Die neuen Vorwürfe betreffen, ebenso wie die bisherigen, die Bewertung des Gesamtverhaltens der Beklagten zu 1 als sittenwidrig.
7In der Sache ist der Antrag teilweise begründet.
8Der Kläger hat gegen die Beklagte zu 1 Anspruch auf Schadensersatz aus § 826 i. V. m. § 31 BGB, bzw. – sofern es sich bei den handelnden Personen um Verrichtungsgehilfen gehandelt haben sollte – aus § 831 i. V. m. § 826 BGB.
9a)
10Das Verhalten der Beklagten zu 1 im Verhältnis zum Kläger ist objektiv als sittenwidrig zu qualifizieren.
11aa)
12Die Beklagte zu 1 hat, wie der Bundesgerichtshof in einem gleichgelagerten Fall ausgeführt hat (VI ZR 252/19 v. 25.5.2020, Juris-Rn. 13-28, insb. 16), auf der Grundlage einer für ihren Konzern getroffenen grundlegenden strategischen Entscheidung bei der Motorenentwicklung im eigenen Kosten- und damit auch Gewinninteresse durch bewusste und gewollte Täuschung des Kraftfahrt-Bundesamtes systematisch, langjährig und in Bezug auf den Dieselmotor der Baureihe EA 189 in siebenstelligen Stückzahlen in Deutschland Fahrzeuge in Verkehr gebracht, deren Motorsteuerungssoftware bewusst und gewollt so programmiert war, dass die gesetzlichen Abgasgrenzwerte mittels einer unzulässigen Abschalteinrichtung nur auf dem Prüfstand eingehalten wurden. Damit ging einerseits eine erhöhte Belastung der Umwelt mit Stickoxiden und andererseits die Gefahr einher, dass bei einer Aufdeckung dieses Sachverhalts eine Betriebsbeschränkung oder -untersagung hinsichtlich der betroffenen Fahrzeuge erfolgen könnte. Ein solches Verhalten ist im Verhältnis zu einer Person, die eines der bemakelten Fahrzeuge in Unkenntnis der illegalen Abschalteinrichtung erwirbt, besonders verwerflich und mit den grundlegenden Wertungen der Rechts- und Sittenordnung nicht zu vereinbaren. Das gilt auch, wenn es sich um den Erwerb eines Gebrauchtfahrzeugs handelt. Die Sittenwidrigkeit ergibt sich aus einer Gesamtschau des festgestellten Verhaltens der Beklagten unter Berücksichtigung des verfolgten Ziels, der eingesetzten Mittel, der zutage getretenen Gesinnung und der eingetretenen Folgen.
13Unerheblich ist, dass die Beklagte zu 1 im vorliegenden Fall nicht Herstellerin des gesamten Autos ist, sondern nur des Motors. Wenn in dem Inverkehrbringen eines manipulierten Autos ein sittenwidriges Verhalten gegenüber dem Endkunden zu erblicken ist, so muss das für das Inverkehrbringen eines manipulierten Motors gleichermaßen gelten. In dieser Konstellation ist für den Motorenhersteller offensichtlich, dass der Motor, lediglich mit dem weiteren „Zwischenglied“ des Einbaus in ein Auto eines anderen Herstellers, an einen Erwerber gelangen wird, der dadurch eine Betriebsbeschränkung oder -untersagung des Autos befürchten muss.
14bb)
15Im vorliegenden Fall ist die Sittenwidrigkeit des Verhaltens der Beklagten zu 1 gegenüber dem Kläger auch nicht deswegen zu verneinen, weil er das Auto erst am 15.2.2016 gekauft hat.
16(1)
17Zwar hat der Bundesgerichtshof in einem vergleichbaren Fall eines Gebrauchtwagenkäufers, dessen Erwerbszeitpunkt ebenfalls nach dem 22.9.2015 lag, entschieden, dass ein Sittenwidrigkeitsvorwurf gegen die Fa. H AG – die hiesige Beklagte zu 1 – bezüglich dieses Käufers nicht mehr gerechtfertigt sei (VI ZR 5/20 v. 30.7.2020, Juris-Rn. 27-38). Zur Begründung hat der Bundesgerichtshof ausgeführt:
18Insbesondere bei mittelbaren Schädigungen komme es darauf an, dass den Schädiger das Unwerturteil, sittenwidrig gehandelt zu haben, gerade auch in Bezug auf die Schäden desjenigen treffe, der Ansprüche aus § 826 BGB geltend mache.
19Da für die Bewertung eines schädigenden Verhaltens als (nicht) sittenwidrig in einer Gesamtschau dessen Gesamtcharakter zu ermitteln sei, sei ihr das gesamte Verhalten des Schädigers bis zum Eintritt des Schadens beim konkreten Geschädigten zugrundezulegen. Dies werde insbesondere dann bedeutsam, wenn die erste potenziell schadensursächliche Handlung und der Eintritt des Schadens zeitlich auseinanderfielen und der Schädiger sein Verhalten zwischenzeitlich nach außen erkennbar geändert habe. Entgegen einzelnen obergerichtlichen Entscheidungen dürfe deshalb weder nur auf den Zeitpunkt der „Tathandlung“ noch nur auf den des Schadenseintritts abgestellt werden.
20Im Falle der vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung gemäß § 826 BGB werde das gesetzliche Schuldverhältnis erst mit Eintritt des Schadens beim konkreten Geschädigten – hier in Gestalt eines ungewollten Vertragsschlusses – begründet, weil der haftungsbegründende Tatbestand des § 826 BGB die Zufügung eines Schadens zwingend voraussetze. Deshalb könne im Rahmen des § 826 BGB ein Verhalten, das sich gegenüber zunächst betroffenen (anderen) Geschädigten als sittenwidrig dargestellt habe, aufgrund einer Verhaltensänderung des Schädigers vor Eintritt des Schadens bei dem konkreten Geschädigten diesem gegenüber nicht mehr als sittenwidrig zu werten sein. Eine solche Verhaltensänderung könne somit bereits der Bewertung seines Gesamtverhaltens als sittenwidrig entgegenstehen und sei nicht erst im Rahmen der Kausalität abhängig von den Vorstellungen des jeweiligen Geschädigten zu berücksichtigen.
21Bei der demnach gebotenen Gesamtbetrachtung sei die Verhaltensänderung des Fahrzeugherstellers zu berücksichtigen, durch die wesentliche Elemente, die das Unwerturteil seines bisherigen Verhaltens gegenüber bisherigen Käufern begründet hätten, relativiert würden.
22Die Fa. H AG habe am 22.9.2015 eine sog. „Ad-hoc-Mitteilung“ und eine gleichlautende Pressemitteilung herausgegeben, in der sie „Unregelmäßigkeiten“ in Bezug auf die verwendete Software bei Dieselmotoren vom Typ EA 189 eingeräumt habe, die in weltweit mehr als elf Millionen Fahrzeugen verbaut seien. Es habe sich auch um andere Dieselfahrzeuge des H-Konzerns gehandelt. Sie habe in der Mitteilung von einer „auffälligen Abweichung“ zwischen Prüfstandswerten und realem Fahrbetrieb gesprochen, sowie davon, an der Beseitigung dieser Abweichungen mit technischen Maßnahmen zu arbeiten und hierzu im Kontakt mit den zuständigen Behörden und dem Kraftfahrt-Bundesamt zu stehen. Sie habe mit dem Kraftfahrt-Bundesamt, das ihr die Entfernung der Software und Maßnahmen zur Wiederherstellung der Vorschriftsmäßigkeit auferlegt habe, zusammengearbeitet. Sie habe auf ihrer Internetseite einen Link zu einer Suchmaschine freigeschaltet, mit deren Hilfe durch Eingabe der Fahrzeugidentifizierungsnummer (FIN) habe festgestellt werden können, ob ein konkretes Fahrzeug mit der beanstandeten Motorsteuerungssoftware ausgestattet gewesen sei. Sie habe ihre Servicepartner und Vertragshändler über die Verwendung der Umschaltlogik informiert. Sie habe ein Software-Update bereitgestellt, um den rechtswidrigen Zustand zu beseitigen. Die Halter der betroffenen Fahrzeuge seien aufgefordert worden, diese zum Aufspielen des Software-Updates in die Werkstätten zu bringen.
23Über die Verwendung der Abschalteinrichtung sei ab September 2015 in Presse, Funk und Fernsehen umfangreich und wiederholt berichtet und in der breiten Öffentlichkeit diskutiert worden. Sie sei unter Bezeichnungen wie „Diesel-Gate“, „Dieselskandal“, „J-Abgasskandal“ monatelang ein die Nachrichten beherrschendes Thema gewesen. Auch über die Einrichtung des Links zur Suchmaschine auf der Internetseite der Fa. H AG, die Maßnahmen des Kraftfahrt-Bundesamtes und die Bereitstellung des Software-Updates sei in den Medien breit berichtet worden.
24Ausgehend davon sei bereits die Mitteilung der Fa. H AG vom 22.9.2015 objektiv geeignet gewesen, das Vertrauen potenzieller Käufer von Gebrauchtwagen mit J-Dieselmotoren – und damit auch von Autos der anderen Konzernmarken wie u. a. T – in eine vorschriftsgemäße Abgastechnik zu zerstören, diesbezügliche Arglosigkeit also zu beseitigen. Aufgrund der Verlautbarung und ihrer als sicher vorherzusehenden medialen Verbreitung sei typischerweise nicht mehr damit zu rechnen gewesen, dass Käufer von gebrauchten Fahrzeugen mit J-Dieselmotoren die Erfüllung der hier maßgeblichen gesetzlichen Vorgaben noch als selbstverständlich voraussetzen würden. Für die Ausnutzung einer diesbezüglichen Arglosigkeit sei damit kein Raum mehr gewesen; hierauf habe das geänderte Verhalten der Fa. H AG nicht mehr gerichtet sein können. Aus der Mitteilung vom 22.9.2015 sei weiter hervorgegangen, dass „die zuständigen Behörden“ und das Kraftfahrt-Bundesamt bereits involviert gewesen seien. Die anschließende Berichterstattung über die Anordnungen des Kraftfahrt-Bundesamtes gegenüber der Fa. H AG habe erwarten lassen, dass ein Misslingen der behördlicherseits geforderten Herstellung eines vorschriftsmäßigen Zustandes – auch für die Fahrzeughalter – nicht folgenlos bleiben würde. Die Fa. H AG habe ihre strategische unternehmerische Entscheidung, im eigenen Kosten- und Gewinninteresse das Kraftfahrt-Bundesamt und letztlich die Fahrzeugkäufer zu täuschen, ersetzt durch die Strategie, an die Öffentlichkeit zu treten, Unregelmäßigkeiten einzuräumen und in Zusammenarbeit mit dem Kraftfahrt-Bundesamt Maßnahmen zur Beseitigung des gesetzwidrigen Zustandes zu erarbeiten, um die Gefahr einer Betriebsbeschränkung oder -untersagung zu bannen. Tatsächlich sei ihr dies durch die Entwicklung und Bereitstellung eines Software-Updates für den hier betroffenen Fahrzeugtyp und andere Typen gelungen, möge das Software-Update in dem konkreten Fahrzeug auch erst nach dem Erwerb aufgespielt worden sein. Indem die Fa. H AG ihre Vertragshändler über die Verwendung der Abschalteinrichtung informiert habe, habe sie sie zudem in die Lage versetzt, etwaige Kaufinteressenten über die Abgasproblematik der betroffenen Fahrzeuge aufzuklären. Ferner habe die Fa. H AG jedem, der Kenntnis von der Fahrzeugidentifizierungsnummer des jeweiligen Fahrzeugs gehabt habe, die Möglichkeit eingeräumt, sich selbst im Internet Klarheit zu verschaffen, ob das Fahrzeug der Nachrüstung bedürfe. Ihre bislang gleichgültige Gesinnung im Hinblick auf etwaige Folgen und Schäden für Käufer ihrer Fahrzeuge habe sie damit aufgegeben. Ihr nunmehriges Bemühen um die Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben zeuge zudem von der Aufgabe ihrer gleichgültigen und rücksichtslosen Gesinnung im Hinblick auf die die Umwelt und Gesundheit der Bevölkerung schützenden Rechtsvorschriften.
25Zwar sei nicht zu verkennen, dass sich die Fa. H AG im Herbst 2015 in einer Lage befunden habe, in der die Abgasmanipulation aufgedeckt und sie zu einer Reaktion gezwungen gewesen sei. Auch sei ihr die umfassende mediale Berichterstattung, mit der die Problematik der breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht und dort über Monate und Jahre in Erinnerung gehalten worden sei, nicht als eigene Aufklärungsarbeit zuzurechnen. Die mediale Verbreitung sei aber bei der Beurteilung, welche Anstrengungen von der Beklagten zu unternehmen gewesen seien, um ihr Verhalten im Rahmen der notwendigen Gesamtbetrachtung als nicht sittenwidrig erscheinen zu lassen, zu berücksichtigen.
26Dass die Fa. H AG die Abschalteinrichtung nicht selbst als illegal gebrandmarkt habe, sondern im Gegenteil dieser (zutreffenden) Bewertung in der Folgezeit entgegengetreten sei, dass sie eine bewusste Manipulation geleugnet habe und dass sie möglicherweise weitere Schritte zur umfassenden Aufklärung hätte unternehmen können, reiche für die Begründung des gravierenden Vorwurfs der sittenwidrigen Schädigung gegenüber den nunmehrigen Erwerbern nicht aus. Insbesondere sei ein aus moralischer Sicht tadelloses Verhalten der Fa. H AG oder eine Aufklärung, die tatsächlich jeden potenziellen Käufer erreiche und einen Fahrzeugerwerb in Unkenntnis der Abschalteinrichtung sicher verhindere, zum Ausschluss objektiver Sittenwidrigkeit nicht erforderlich.
27(2)
28Diese Beurteilung des Bundesgerichtshofs ist aber auf den vorliegenden Fall nicht übertragbar.
29Eine Verhaltensänderung der Beklagten zu 1, die ihr ursprüngliches sittenwidriges Handeln gegenüber dem hiesigen Kläger nicht mehr als sittenwidrige Schädigung erscheinen ließe, lässt sich hier nicht feststellen.
30Im vorliegenden Fall ist nämlich als unstreitig zugrundezulegen, dass mit dem Software-Update erneut unzulässige Abschalteinrichtungen installiert worden sind, deren Unzulässigkeit der Beklagten zu 1 auch bewusst war, und die sie nicht mit dem Kraftfahrt-Bundesamt abgestimmt hat, weil das Update sonst nicht zugelassen worden wäre, und dass die Beklagte zu 1 auf diese Weise im Freigabeverfahren nochmals getäuscht hat, um die Zulassungsfähigkeit und die Umweltverträglichkeit der Fahrzeuge zu unterminieren und so den eigenen Gewinn zu realisieren und zu erhalten. Im Einzelnen handelt es sich um ein Thermofenster, das die Abgasreinigung u. a. oberhalb von 30 °C und unterhalb von 20 °C vollständig ausschaltet und damit gezielt auf Prüfstandsverhältnisse zugeschnitten ist, und ferner um eine Lenkwinkelerkennung und eine Zeiterfassung, die ebenfalls den Zweck haben, eine Prüfstandssituation zu erkennen und die Abgasreinigung außerhalb einer solchen Situation zu drosseln oder abzuschalten.
31(a)
32Die so beschriebene Ausgestaltung des Software-Updates hat der Kläger durch Schriftsatz vom 7.12.2020 vorgetragen.
33Weil der Schriftsatz der Beklagten zu 1 nicht mehr innerhalb der Wochenfrist vor dem Termin gemäß § 132 Abs. 1 S. 1 ZPO zugestellt werden und die Beklagte zu 1 sich zu ihm nicht ohne nähere Erkundigung erklären konnte, ist ihr auf Antrag gemäß § 283 S. 1 ZPO eine Stellungnahmefrist bis zum 4.1.2021 eingeräumt worden. Eine Stellungnahme ist jedoch weder innerhalb noch außerhalb der Frist bis zur Urteilsverkündung erfolgt.
34Damit gilt das Vorbringen des Klägers gemäß § 138 Abs. 3 ZPO als zugestanden. Eine Absicht, es bestreiten zu wollen, geht weder aus den übrigen Erklärungen der Beklagten zu 1 noch aus sonstigen Umständen hervor.
35Das ergibt sich insbesondere daraus, dass die Beklagte zu 1 eine Stellungnahmefrist ausdrücklich beantragt, diese dann aber bewusst nicht wahrgenommen hat. Weil auch eine nach Fristablauf eingegangene Stellungnahme nach pflichtgemäßem Ermessen ggf. hätte berücksichtigt werden müssen (§ 283 S. 2 ZPO), und aufgrund der derzeitigen Situation außerdem auch Verzögerungen im Postlauf naheliegend waren, hat sich der Berichterstatter am 15.1.2021 telefonisch bei den Prozessbevollmächtigten der Beklagten zu 1 erkundigt, ob noch ein Schriftsatz unterwegs oder beabsichtigt sei. Er erhielt am Mittag dieses Tages einen Rückruf der Kanzlei, in dem ihm mitgeteilt wurde, beides sei nicht der Fall.
36Demgegenüber bildet der frühere erst- und zweitinstanzliche Vortrag der Beklagten zu 1 betreffend das Software-Update (S. 16 ff. der Klageerwiderung vom 17.4.2019; S. 5 ff. des Schriftsatzes vom 22.7.2019; S. 31 f. der Berufungsbegründung vom 19.12.2019) keinen hinreichenden Anhaltspunkt dafür, das neue klägerische Vorbringen als stillschweigend bestritten anzusehen. Denn dieser Vortrag der Beklagten zu 1 bezog sich auf die ursprüngliche Behauptung des Klägers, das Update habe technische Nachteile wie erhöhten Verbrauch, erhöhten CO2-Ausstoß und vorzeitige Defekte von Bauteilen. Mit den jetzigen Behauptungen des Klägers, die bewusste Manipulationen in dem Update zum Gegenstand haben, hat das nichts zu tun.
37(b)
38Weil die neuen Behauptungen des Klägers unstreitig geworden sind, kommt es auch nicht darauf an, ob sie für den Fall, dass sie streitig geblieben wären, als willkürliche, „ins Blaue hinein“ aufgestellte Behauptungen (vgl. BGH V ZR 170/01 v. 20.9.2002, Juris-Rn. 9) unzulässig wären.
39Ebenso kommt es nicht darauf an, ob die neuen Behauptungen, wenn sie streitig geblieben wären, gemäß § 531 Abs. 2 ZPO in der Berufungsinstanz präkludiert wären.
40(c)
41Der unstreitig gewordene neue Sachverhalt führt dazu, dass es trotz des Erwerbszeitpunktes des Klägers bei der Bejahung von Sittenwidrigkeit verbleibt.
42Wenn die Beklagte zu 1 das Software-Update erneut bewusst mit Manipulationsvorrichtungen der beschriebenen Art versehen hat, fallen die entscheidenden Gesichtspunkte, die in der vom Bundesgerichtshof entschiedenen Sachverhaltskonstallation zur Beseitigung des Sittenwidrigkeitsvorwurfs geführt haben, weg. Eine Zusammenarbeit der Beklagten zu 1 mit dem Kraftfahrt-Bundesamt ist auf der Grundlage dieses Sachverhalts nur zum Schein erfolgt. Das Software-Update hat sie in Wirklichkeit nicht entwickelt, um den rechtswidrigen Zustand der Fahrzeuge zu beseitigen, sondern um ihn durch einen gleichermaßen rechtswidrigen Zustand zu ersetzen, diesen Umstand erneut zu verheimlichen und so zu Unrecht die drohende Stilllegung der Fahrzeuge zu vermeiden. Ihre strategische unternehmerische Entscheidung, im eigenen Kosten- und Gewinninteresse das Kraftfahrt-Bundesamt und letztlich die Fahrzeugkäufer zu täuschen, hat sie nicht aufgegeben, sondern fortgesetzt. Ihre bislang gleichgültige Gesinnung im Hinblick auf etwaige Folgen und Schäden für Käufer ihrer Fahrzeuge und auf die die Umwelt und Gesundheit der Bevölkerung schützenden Rechtsvorschriften hat sie nicht aufgegeben, sondern beibehalten.
43Gegen diese Beurteilung lässt sich nicht mit Erfolg einwenden, es sei auch eine Sachverhaltsvariante denkbar, in der die Beklagte zu 1 zunächst im Herbst 2015 ihr bisheriges verwerfliches Handeln aufgegeben habe, indem sie – neben der Information der Öffentlichkeit – ernst gemeinte Bemühungen zur Wiederherstellung eines gesetzeskonformen Zustands der Fahrzeuge entwickelt habe, und in der sie erst später, zeitlich nach dem Fahrzeugerwerb des Klägers, den Entschluss zu erneuten Manipulationen gefasst habe, z. B. weil ihr die Entwicklung einer ordnungsgemäßen technischen Lösung doch nicht gelungen sei.
44Denn zum einen trägt die Beklagte zu 1 eine solche Sachverhaltsvariante selbst nicht vor.
45Zum zweiten würde es auch nicht zu ihren Gunsten gehen, wenn offen bliebe, ob sie ihren Manipulationsvorsatz vor dem Erwerbszeitpunkt des Klägers aufgegeben und erst danach wieder neu gefasst hat, oder ob sie ihn durchgehend beibehalten hat. Vielmehr wäre nur dann vom Wegfall des Sittenwidrigkeitsvorwurfs vor dem Erwerbszeitpunkt des Klägers auszugehen, wenn dieser Wegfall positiv feststünde. Zwar ist nach allgemeinen Grundsätzen ein Anspruchsteller feststellungsbelastet dafür, dass sämtliche Tatbestandsmerkmale seines Anspruchs, hier die Sittenwidrigkeit im Rahmen des § 826 BGB, zum Zeitpunkt der Anspruchsentstehung gegeben waren. Jedoch war das ursprüngliche sittenwidrige Verhalten der Beklagten zu 1, das in dem Inverkehrbringen der manipulierten Fahrzeuge bestand, grundsätzlich so angelegt, dass es für die gesamte Lebensdauer der in Verkehr gebrachten Fahrzeuge fortwirkte und damit auch alle zukünftigen Verkaufsvorgänge betraf. Deshalb muss von einem Fortwirken des sittenwidrigen Verhaltens ausgegangen werden, solange nicht sein Wegfall positiv feststeht.
46b)
47Der Beklagten zu 1 ist das Verhalten der für sie tätigen natürlichen Personen nach § 31 BGB zuzurechnen. Vor dem Hintergrund des nicht ausreichenden Vortrags der Beklagten zu 1 zu den in ihrem Konzern erfolgten Vorgängen ist anzunehmen, dass die grundlegende strategische Entscheidung in Bezug auf die Entwicklung und Verwendung der unzulässigen Software von den in ihrem Hause für die Motorenentwicklung verantwortlichen Personen, namentlich dem vormaligen Leiter der Entwicklungsabteilung und den für die Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten verantwortlichen vormaligen Vorständen, wenn nicht selbst, so zumindest mit ihrer Kenntnis und Billigung getroffen bzw. jahrelang umgesetzt worden ist. Im Übrigen würde die Beklagte zu 1 für nicht unter § 31 BGB fallende Hilfspersonen jedenfalls nach § 831 i. V. m. § 826 BGB haften (BGH VI ZR 252/19 v. 25.5.2020, Juris-Rn. 29-43).
48Das gilt gleichermaßen auch für die Entwicklung des erneut gesetzwidrigen Software-Updates.
49c)
50Dem Kläger ist veranlasst durch das einer arglistigen Täuschung gleichstehende sittenwidrige Verhalten der Beklagten zu 1 ein Schaden entstanden. Dieser liegt auf der Grundlage der höchstrichterlichen Rechtsprechung (BGH a. a. O. Juris-Rn. 44-48, 53-55) in dem Abschluss des Kaufvertrages über das bemakelte Fahrzeug als ungewollter Verpflichtung.
51Ein Schaden ist nicht nur dann gegeben, wenn sich beim Vergleich der Vermögenslagen mit und ohne Eintritt des haftungsbegründenden Ereignisses ein rechnerisches Minus ergibt. Vielmehr ist auch dann, wenn die Differenzhypothese vordergründig – wie es die Beklagte zu 1 unter Hinweis auf das aufgespielte Software-Update geltend macht – nicht zu einem rechnerischen Schaden führt, die Bejahung eines Vermögensschadens auf einer anderen Beurteilungsgrundlage nicht von vornherein ausgeschlossen. Die Differenzhypothese als wertneutrale Rechenoperation muss einer normativen Kontrolle unterzogen werden, bei der sie anhand des Schutzzwecks der Haftung und der Ausgleichsfunktion des Schadensersatzes wertend überprüft wird.
52Danach kann, wenn jemand durch ein haftungsbegründendes Verhalten zu einem Vertragsschluss gebracht wird, den er sonst nicht getätigt hätte, auch bei objektiver Werthaltigkeit von Leistung und Gegenleistung ein Vermögensschaden darin liegen, dass die Leistung für seine Zwecke nicht voll brauchbar ist. Die Bejahung eines Vermögensschadens unter diesem Aspekt setzt allerdings voraus, dass die durch den unerwünschten Vertrag erlangte Leistung nicht nur aus rein subjektiv willkürlicher Sicht als Schaden angesehen wird, sondern dass auch die Verkehrsanschauung bei Berücksichtigung der obwaltenden Umstände den Vertragsschluss als unvernünftig, den konkreten Vermögensinteressen nicht angemessen und damit als nachteilig ansieht.
53Nach diesen Grundsätzen kann es im vorliegenden Fall dahinstehen, ob der Kläger einen Vermögensschaden dadurch erlitten hat, dass im Zeitpunkt des Kaufs des Autos eine objektive Werthaltigkeit von Leistung und Gegenleistung nicht gegeben war (§ 249 Abs. 1 BGB), auch wenn dafür angesichts des zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses vorhandenen verdeckten Sachmangels, der zu einer Betriebsbeschränkung oder -untersagung hätte führen können (BGH VIII ZR 225/17 v. 8.1.2019, Juris-Rn. 4 ff.), einiges spricht.
54Der Schaden ist nämlich jedenfalls deshalb eingetreten, weil der Vertragsschluss nach den obigen Ausführungen als unvernünftig anzusehen ist. Der Kläger hat durch ihn eine Leistung erhalten, die wegen der drohenden Betriebsbeschränkung oder ‑untersagung für seine Zwecke nicht voll brauchbar war. Dafür kommt es nicht lediglich darauf an, dass das Fahrzeug von ihm tatsächlich genutzt werden konnte und sich die bestehende Stilllegungsgefahr nicht verwirklicht hat. Vielmehr ist ein Fahrzeug für die Zwecke desjenigen, der durch ein sittenwidriges Verhalten zum Vertragsabschluss veranlasst wird, dann nicht voll brauchbar, wenn es aus der Sicht im Vorhinein letztlich vom Zufall abhängt, ob der unerkannt bestehende Mangel aufgedeckt und die Gebrauchsfähigkeit des Fahrzeugs in der Folge eingeschränkt wird. Bei Berücksichtigung dieser Umstände des Einzelfalls ist der Erwerb des Fahrzeugs auch nach der Verkehrsanschauung unvernünftig und damit für den Kläger nachteilig, die Brauchbarkeit des Fahrzeugs mithin nicht nur aus rein subjektiv willkürlicher Sicht des Klägers eingeschränkt.
55Weil schon der ungewollte Vertragsschluss einen Schadensersatzanspruch begründet, lag auch nicht nur eine Vermögensgefährdung vor. Darauf, dass die unzulässige Abschalteinrichtung und damit die Unvernünftigkeit des Vertragsschlusses erst später bekannt wurde, kommt es für die Entstehung des Schadens nicht an.
56Durch das nachträglich installierte Software-Update ist der Schaden nicht verringert worden oder entfallen (BGH VI ZR 252/19 v. 25.5.2020, Juris-Rn. 58; ähnlich bereits II ZR 402/02 v. 19.7.2004, Juris-Rn. 47 a. E.: „Eine etwaige spätere Schadenskompensation ließe aber die schon eingetretene Vollendung der vorsätzlichen Schädigung unberührt“). Das gilt im vorliegenden Fall erst recht, weil das Update die Ordnungsgemäßheit des Fahrzeugs nach dem hier zugrundezulegenden Sachverhalt gar nicht wiederhergestellt hat.
57d)
58Die sittenwidrige Handlung der Beklagten zu 1 war für den Schaden des Klägers auch ursächlich.
59Dass der Kläger beim Kauf des Autos nicht wusste, dass es von der Manipulation bzw. der Diesel-Abgas-Problematik betroffen war, hat er im landgerichtlichen Termin bestätigt. Gegenteilige Anhaltspunkte bestehen nicht. Jedenfalls von den erneuten Manipulationen des Software-Updates, auf die es im vorliegenden Fall entscheidend ankommt, konnte er zum Kaufzeitpunkt ohnehin noch nicht wissen, weil das Software-Update zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht fertig entwickelt war.
60Die weitere Behauptung des Klägers, dass er das Auto bei Kenntnis von der Manipulation nicht gekauft hätte, ist als zutreffend zu unterstellen. In diesem Punkt kommt dem Kläger der Erfahrungssatz zugute, wonach auszuschließen ist, dass ein Käufer ein Fahrzeug erwirbt, dem eine Betriebsbeschränkung oder -untersagung droht und bei dem im Zeitpunkt des Erwerbs in keiner Weise absehbar ist, ob dieses Problem behoben werden kann (BGH VI ZR 252/19 v. 25.5.2020, Juris-Rn. 49-52).
61e)
62Ein Schädigungsvorsatz der für die Beklagten zu 1 handelnden Personen ist angesichts ihrer zu unterstellenden Kenntnis von der sittenwidrigen strategischen Unternehmensentscheidung zu bejahen.
63Der gemäß § 826 BGB erforderliche Vorsatz enthält ein Wissens- und ein Wollenselement. Der Handelnde muss die Schädigung des Anspruchstellers gekannt bzw. vorausgesehen und in seinen Willen aufgenommen, jedenfalls aber für möglich gehalten und billigend in Kauf genommen haben. Dabei braucht der Täter nicht zu wissen, welche oder wie viele Personen durch sein Verhalten geschädigt werden; vielmehr reicht aus, dass er die Richtung, in der sich sein Verhalten zum Schaden irgendwelcher anderer auswirken könnte, und die Art des möglicherweise eintretenden Schadens vorausgesehen und mindestens billigend in Kauf genommen hat.
64Es genügt nicht, wenn die relevanten Tatumstände lediglich objektiv erkennbar waren und der Handelnde sie hätte kennen können oder kennen müssen oder sie sich ihm sogar hätten aufdrängen müssen; in einer solchen Situation ist lediglich Fahrlässigkeit gegeben. Es kann aber durchaus gerechtfertigt sein, im Einzelfall aus dem Wissen einer natürlichen Person auf deren Willen zu schließen. Aus der Art und Weise des sittenwidrigen Handelns kann sich die Schlussfolgerung ergeben, dass mit Schädigungsvorsatz gehandelt worden ist.
65Da die für die Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten der Beklagten zu 1 verantwortlichen vormaligen Vorstände die grundlegende und mit der bewussten Täuschung des Kraftfahrt-Bundesamtes verbundene strategische Entscheidung in Bezug auf die Entwicklung und Verwendung der unzulässigen Software jedenfalls kannten und jahrelang umsetzten, ist schon nach der Lebenserfahrung davon auszugehen, dass ihnen als für die zentrale Aufgabe der Entwicklung und des Inverkehrbringens der Fahrzeuge zuständigem Organ oder verfassungsmäßigem Vertreter (§ 31 BGB) bewusst war, in Kenntnis des Risikos einer Betriebsbeschränkung oder -untersagung der betroffenen Fahrzeuge werde niemand – ohne einen erheblichen, dies berücksichtigenden Abschlag vom Kaufpreis – ein damit belastetes Fahrzeug erwerben.
66Dass sie dabei darauf vertraut haben mögen, das sittenwidrige Handeln werde nicht aufgedeckt werden, schließt den Vorsatz nicht aus, weil der Schaden im ungewollten Vertragsschluss, nicht dagegen in einer etwaigen Betriebsuntersagung liegt (BGH a. a. O. Juris-Rn. 61-63).
67Auch dies gilt gleichermaßen für die Entwicklung des erneut gesetzwidrigen Software-Updates.
68f)
69Als Rechtsfolge hat die Beklagte zu 1 dem Kläger den gezahlten Kaufpreis zu erstatten.
70aa)
71Der Kläger hat sich allerdings im Wege des Vorteilsausgleichs die Nutzungen anrechnen zu lassen, die er während seiner Besitzzeit aus dem Fahrzeug gezogen hat. Der Vorteilsausgleich ist auch in Fällen der vorsätzlich-sittenwidrigen Schädigung gerechtfertigt. Hierzu wird auf die eingehende Begründung des Bundesgerichtshofs in seiner Entscheidung VI ZR 252/19 v. 25.5.2020 (Juris-Rn. 64-77; ebenso bereits VIII ZR 12/61 v. 2.7.1962, Juris-Rn. 5 ff.) Bezug genommen.
72Der Nutzungsvorteil vermindert unmittelbar den Schadensersatzbetrag (BGH VI ZR 354/19, Juris-Rn. 11), ist also nicht nur Zug um Zug gegen ihn vom Kläger zu zahlen.
73Die Höhe des Nutzungsvorteils ist in Übereinstimmung mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung gemäß § 287 ZPO auf die Weise zu schätzen, dass der Kaufpreis durch die voraussichtliche Restlaufleistung im Erwerbszeitpunkt geteilt und dieser Wert mit den gefahrenen Kilometern vervielfacht wird. Soweit in der früheren Entscheidung BGH VIII ZR 12/61 v. 2.7.1962 nicht auf das tatsächlich gekaufte Auto abgestellt worden ist, sondern auf ein Alternativfahrzeug, das ohne das arglistige Verhalten stattdessen erworben worden wäre, kommt das hier schon deshalb nicht in Betracht, weil das fragliche Fahrzeugmodell ohne unzulässige Abschalteinrichtung nicht erhältlich war. Die Zugrundelegung des tatsächlich gekauften Autos stellt unmittelbar auf das schädigende Ereignis ab, berücksichtigt die dem Kläger zugeflossenen Nutzungsvorteile und zugleich über den wertbildenden Faktor der Laufleistung auch den Wertverlust (BGH VI ZR 252/19 v. 25.5.2020, Juris-Rn. 80-82).
74Die – durchschnittliche – Gesamtlaufleistung eines Fahrzeugs des J-Konzerns mit 1,6-l-Dieselmotor setzt der Senat im Rahmen seines weiten tatrichterlichen Schätzungsermessens (BGH a. a. O. Juris-Rn. 79) mit 230.000 km an. Dabei legt er außer allgemein zugänglichen Erkenntnissen seine Erfahrungen aus einer Vielzahl von Kfz-Streitfällen zugrunde.
75Zu berücksichtigen ist einerseits, dass es sich bei einem Dieselmotor eines renommierten deutschen Herstellers um eine sehr langlebige Antriebsmaschine handelt.
76Andererseits wird die zu erwartende Laufleistung eines Autos aber nicht nur durch die Lebensdauer des Motors bestimmt. Wenngleich auch für die übrigen Fahrzeugbestandteile bei einem Auto eines europäischen Markenherstellers von einem hohen Qualitätsstandard ausgegangen werden kann, ist angesichts der Vielzahl der in modernen Autos verbauten Einzelkomponenten mit fortschreitendem Alter mit einer steigenden Reparaturanfälligkeit zu rechnen. Notwendige Reparaturen erfordern aufgrund des deutschen Lohnkosten- und Ersatzteilpreisniveaus regelmäßig erhebliche Kosten. Der Zeitpunkt, in dem bei einem Auto durchschnittlich erstmals eine Reparatur anfällt, deren Kosten den dann noch vorhandenen Zeitwert aufzehren, bestimmt das Ende seiner wirtschaftlichen Lebensdauer.
77Gegen die vom Senat geschätzte Gesamtlaufleistung spricht auch nicht, dass sich stets Verkaufsinserate von Autos mit deutlich höheren Kilometerleistungen finden lassen. Diesen stehen nämlich auf der anderen Seite Fahrzeuge gegenüber, deren Lebensdauer nach dem obigen Kriterium schon deutlich vor Erreichen der geschätzten Durchschnittslaufleistung beendet war, und die deshalb auf dem Gebrauchtwagenmarkt zwangsläufig nicht mehr in Erscheinung treten.
78Bei dem streitgegenständlichen Fahrzeug entfiel damit auf jeden Kilometer ein Kaufpreisanteil von 15.700,00 € (230.000 km – 15.162 km) = 0,0730783 €.
79Bis zum Weiterverkauf des Autos am 22.4.2020 hat der Kläger mit dem Auto eine Fahrstrecke von 70.200 km – 15.162 km = 55.038 km zurückgelegt. Den Tachostand von 70.200 km hat er mit Schriftsatz vom 18.6.2020 vorgetragen; einen höheren Tachostand hat die für den Vorteilsausgleich darlegungsbelastete Beklagte zu 1 nicht behauptet. Damit ergibt sich ein Nutzungsvorteil von 4.022,08 €.
80bb)
81Ferner hat sich der Kläger im Wege des Vorteilsausgleichs den erzielten Verkaufserlös von 6.200,00 € abziehen zu lassen.
82Danach verbleibt ein Schadensersatzbetrag in der ausgeurteilten Höhe.
83cc)
84Darüber hinaus kann der Kläger seinen Schadensersatzanspruch verzinst verlangen, und zwar ab Rechtshängigkeit gemäß § 291 BGB.
85(1)
86Ein früherer Zinsbeginn unter dem Gesichtspunkt des Verzuges (§ 288 Abs. 1 BGB) ist nicht gerechtfertigt. Der Kläger hat die Beklagte zu 1 zwar mit Anwaltsschreiben vom 3.12.2018 unter Fristsetzung zum 11.12.2018 zur Zahlung aufgefordert. Verzug ist dadurch aber jedenfalls deshalb nicht eingetreten, weil die Beklagte zu 1 seinerzeit nur Zug um Zug gegen eine Gegenleistung, nämlich Übertragung des damals noch nicht verkauften Autos, zur Zahlung verpflichtet war, und der Kläger die Erbringung dieser Gegenleistung nicht in Annahmeverzug begründender Weise angeboten hat. An einem solchen Angebot fehlt es, wenn die Gegenleistung ihrerseits von einer unzulässigen Bedingung abhängig gemacht wird, insbesondere einem überhöhten Zahlungsverlangen (BGH VI ZR 252/19 v. 25.5.2020, Juris-Rn. 85). Im vorliegenden Fall war das Zahlungsverlangen in dem Anwaltsschreiben deswegen überhöht, weil es Deliktszinsen gemäß § 849 BGB i. H. v. 1.773,88 € beinhaltete, auf die in den Diesel-Abgas-Fällen kein Anspruch besteht (BGH VI ZR 354/19 v. 30.7.2020, Juris-Rn. 18-21).
87(2)
88Geschuldet sind die Zinsen auf den jeweils gerechtfertigten Betrag des Schadensersatzanspruchs.
89Bezüglich der Höhe des zu verzinsenden Betrages ist deshalb für die Vergangenheit nicht nur der letztlich geschuldete Schadensersatzbetrag zugrundezulegen. Vielmehr muss berücksichtigt werden, wie sich die Anspruchshöhe seit dem Zinsbeginn aufgrund der fortlaufenden Nutzung des Fahrzeugs entwickelt hat (BGH VI ZR 397/19 v. 30.7.2020, Juris-Rn. 38; VI ZR 354/19 v. 30.7.2020, Juris-Rn. 16, 23).
90Weil die Fahrleistung des Autos während des Zinszeitraumes nicht taggenau nachvollzogen werden kann, ist der Senat im Wege der Schätzung gemäß § 287 Abs. 2 ZPO von einer gleichmäßigen Nutzung ausgegangen, also von einer linearen Entwicklung des Kilometerstandes.
91Als Kilometerstand zu Beginn des Zinszeitraums, d. h. bei Rechtshängigkeit, waren die 55.000 km zugrundezulegen, die in der Klageschrift mitgeteilt worden sind. Wiederum hat die für den Vorteilsausgleich darlegungsbelastete Beklagte zu 1 keinen höheren Kilometerstand behauptet. Abzüglich des Anfangsstandes von 15.162 km ergab sich eine Fahrleistung von 39.838 km und damit ein Nutzungsvorteil von 2.911,29 €. Der damals gerechtfertigte Anspruch belief sich damit auf 12.788,71 €.
92Unmittelbar vor dem Verkauf des Autos am 22.4.2020 belief sich die Anspruchshöhe auf 15.700,00 € – 4.022,08 € (s. oben aa)) = 11.677,92 €.
93Das lineare Fortschreiten der Fahrleistung in der Zwischenzeit hat der Senat rechnerisch in der Weise berücksichtigt, dass er für den gesamten Zinszeitraum bis zum Verkauf den Mittelwert zwischen den 12.788,71 € und den 11.677,92 € zugrundegelegt hat, also 12.233,32 €.
94Ab dem Verkauf des Autos belief sich der Anspruch sodann unveränderlich auf die als Hauptforderung zugesprochene Höhe.
95dd)
96Des Weiteren war auf die einseitige Erklärung des Klägers die teilweise Erledigung des Rechtsstreits in der ausgeurteilten Höhe festzustellen. Die Erledigterklärung des Klägers bezog sich auf die Reduzierung des Schadensersatzanspruchs gegenüber dem erstinstanzlichen Urteil. Zum Zeitpunkt des erstinstanzlichen Urteils begründet war der Anspruch in Höhe von 12.223,67 € Zug um Zug gegen Rückgabe des Autos, weil der Kilometerstand zum diesem Zeitpunkt 62.732 km betrug (= 47.570 km Fahrleistung des Klägers, entsprechend 3.476,33 € Nutzungsvorteil). Die Differenz zwischen 12.223,67 € und den jetzt noch gerechtfertigten 5.477,92 € ergibt den ausgeurteilten Erledigungsbetrag.
972.
98Die mit dem Klageantrag zu 2 begehrte Feststellung der Ersatzpflicht für weitere Schäden ist nicht gerechtfertigt. Der Feststellungsantrag ist bereits unzulässig.
99Wenn es nicht um Folgen der Verletzung absoluter Rechte geht, sondern um reine Vermögensschäden, ist schon für die Zulässigkeit der Feststellungsklage nicht nur die Möglichkeit, sondern die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts erforderlich (BGH XI ZR 384/03 v. 24.1.2006, Juris-Rn. 27).
100In den Diesel-Abgas-Fällen haftet der Fahrzeughersteller nicht wegen der Verletzung eines absolut geschützten Rechtsguts, sondern wegen der sittenwidrigen vorsätzlichen Herbeiführung eines ungewollten Vertragsschlusses, d. h. für einen reinen Vermögensschaden. Der in dem Vertragsschluss selbst liegende Schaden ist durch Erstattung des Kaufpreises auszugleichen. Die Möglichkeit – und damit erst recht die Wahrscheinlichkeit – weiterer Schäden kann nicht pauschal aufgrund der Weiternutzung des Autos oder des installierten Software-Updates angenommen werden. Für sie ist vielmehr der Erwerber darlegungsbelastet. Außerdem ist die Prüfung erforderlich, ob bezüglich der jeweiligen Schadensfolge die materiellen Haftungsvoraussetzungen des § 826 BGB oder einer anderen Anspruchsgrundlage erfüllt wären (BGH VI ZR 397/19 v. 30.7.2020, Juris-Rn. 29).
101Im vorliegenden Fall reichen die Darlegungen des Klägers nicht aus, um die Wahrscheinlichkeit weiterer ersatzfähiger Schäden über den ungewollten Vertragsschluss hinaus zu begründen. Er hat vorgetragen, dass aufgrund der Manipulationen die Festsetzung höherer Kraftfahrzeugsteuern möglich sei. Eine solche ist jedoch nicht zu erwarten, weil die Manipulationen die Stickoxid-Emissionen betrafen, für die Kraftfahrzeugsteuer hingegen die Kohlendioxid-Emissionen maßgeblich sind.
1023.
103Der vom Landgericht zugesprochene Antrag auf Feststellung von Annahmeverzug der Beklagten zu 1 ist nicht gerechtfertigt. Das ergibt sich im maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung schon daraus, dass der Kläger das Auto der Beklagten zu 1 nicht mehr anbietet, weil er es verkauft hat.
1044.
105Der Antrag auf Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten ist teilweise begründet.
106a)
107Die Anwaltskosten sind Teil des von der Beklagten zu 1 zu ersetzenden Schadens, weil sie zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendig waren.
108Soweit die Beklagte zu 1 geltend macht, die Rechtsverfolgung sei wegen ihrer bekannten Zahlungsunwilligkeit nicht zweckentsprechend gewesen, kann im Ergebnis offen bleiben, ob eine Kenntnis konkret des Klägers und/oder seines Prozessbevollmächtigten feststellbar wäre. Denn jedenfalls bedeutet auch die Rechtsansicht eines Schuldners, zur Zahlung nicht verpflichtet zu sein, nicht ohne weiteres, dass er nicht gleichwohl durch ein anwaltliches Aufforderungsschreiben umzustimmen oder zumindest zu Verhandlungen zu bewegen sein kann (Senat, 19 U 945/19 v. 30.6.2020; 19 U 979/19 v. 9.6.2020).
109b)
110Der Höhe nach belief sich der begründete Schadensersatzanspruch zum damaligen Zeitpunkt, ebenso wie bei Rechtshängigkeit, auf 12.788,71 € (s. oben 1. f) cc) (2)). Nach der Gebührenstufe bis 13.000 € waren damit vorgerichtliche Anwaltskosten von 604,00 € x 1,3 + 20,00 € + MWSt. = 958,19 € gerechtfertigt.
111c)
112Der Anspruch auf Ersatz der Anwaltskosten ist ab Ablauf der in dem Anwaltsschreiben gesetzten Frist nach § 288 Abs. 1 BGB zu verzinsen. Dass entsprechend der geltend gemachten Hauptforderung auch der Ansatz der vorgerichtlichen Anwaltskosten überhöht war, steht der Mahnungswirkung nicht entgegen. Weil der aktuelle Kilometerstand des Autos in dem Anwaltsschreiben angegeben war, konnte die Beklagte zu 1 die tatsächlich gerechtfertigte Höhe der Anwaltsgebühr nämlich selbst ermitteln.
113Die Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 92 Abs. 1, 97 Abs. 1, 516 Abs. 3, 708 Nr. 10, 713, 543 Abs. 2 ZPO.
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Referenzen
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- BGB § 31 Haftung des Vereins für Organe 3x
- ZPO § 92 Kosten bei teilweisem Obsiegen 1x
- VIII ZR 225/17 1x (nicht zugeordnet)
- V ZR 170/01 1x (nicht zugeordnet)
- VI ZR 397/19 2x (nicht zugeordnet)
- ZPO § 540 Inhalt des Berufungsurteils 1x
- ZPO § 531 Zurückgewiesene und neue Angriffs- und Verteidigungsmittel 1x
- BGB § 849 Verzinsung der Ersatzsumme 1x
- ZPO § 713 Unterbleiben von Schuldnerschutzanordnungen 1x
- ZPO § 313a Weglassen von Tatbestand und Entscheidungsgründen 1x
- BGB § 291 Prozesszinsen 1x
- VI ZR 252/19 7x (nicht zugeordnet)
- ZPO § 138 Erklärungspflicht über Tatsachen; Wahrheitspflicht 1x
- BGB § 826 Sittenwidrige vorsätzliche Schädigung 9x
- VI ZR 354/19 3x (nicht zugeordnet)
- ZPO § 708 Vorläufige Vollstreckbarkeit ohne Sicherheitsleistung 1x
- BGB § 249 Art und Umfang des Schadensersatzes 1x
- ZPO § 287 Schadensermittlung; Höhe der Forderung 2x
- ZPO § 132 Fristen für Schriftsätze 1x
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- II ZR 402/02 1x (nicht zugeordnet)
- ZPO § 283 Schriftsatzfrist für Erklärungen zum Vorbringen des Gegners 1x
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- 19 U 945/19 1x (nicht zugeordnet)
- BGB § 288 Verzugszinsen und sonstiger Verzugsschaden 2x
- VIII ZR 12/61 2x (nicht zugeordnet)
- XI ZR 384/03 1x (nicht zugeordnet)
- 19 U 979/19 1x (nicht zugeordnet)
- ZPO § 97 Rechtsmittelkosten 1x