Beschluss vom Hanseatisches Oberlandesgericht (1. Strafsenat) - 1 Ws 73/17

Tenor

Auf die weitere Beschwerde der Staatsanwaltschaft wird der Beschluss des Landgerichts Hamburg vom 18. Juli 2017 abgeändert soweit darin der Vollzug des Haftbefehls des Amtsgerichts Hamburg vom 8. Juli 2017 ausgesetzt worden ist. Der Haftbefehl bleibt in Vollzug.

Gründe

I.

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Gegen den heranwachsenden Beschuldigten hat das Amtsgericht am 8. Juli 2017 im Zusammenhang mit den Ausschreitungen anlässlich des „G-20-Gipfels“ in Hamburg wegen des dringenden Tatverdachts des mittäterschaftlich begangenen Landfriedensbruchs (§ 125 Abs. 1 und 2, § 25 Abs. 2, § 105 JGG) Untersuchungshaft angeordnet. Auf die Beschwerde des Beschuldigten hat das Landgericht den Haftbefehl mit Beschluss vom 18. Juli 2017 zwar entsprechend dem Antrag der Staatsanwaltschaft teilweise erweitert, den Vollzug jedoch gegen eine Kaution von 10.000 € mit Weisungen außer Vollzug gesetzt. Gegen diesen Beschluss hat die Staatsanwaltschaft am 19. Juli 2017 Beschwerde eingelegt. Zudem hat die Staatsanwaltschaft die Aussetzung der Vollziehung der angefochtenen Entscheidung nach § 307 Abs. 2 StPO sowohl beim Landgericht als auch beim Senat beantragt. Mit Beschluss vom 19. Juli 2017 hat der Senat die Aussetzung der Vollziehung des Beschlusses des Landgerichts nach § 307 Abs. 2 StPO bis zur Entscheidung des Senats ausgesetzt, soweit darin der Vollzug des Haftbefehls des Amtsgerichts Hamburg vom 8. Juli 2017 ausgesetzt worden ist.

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Nunmehr ist - nach Nichtabhilfe durch das Landgericht - über die Beschwerde in der Hauptsache zu entscheiden.

II.

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Die weitere Beschwerde der Staatsanwaltschaft ist zulässig (§ 310 Abs. 1 Nr. 1 StPO) und begründet. Gegen den Beschuldigten ist Untersuchungshaft zu vollziehen. Die Voraussetzungen für den Erlass und den Vollzug des Haftbefehls liegen vor (§§ 105, 109 Abs. 2 JGG i.V.m. § 112 Abs. 1 Satz 1 und 2 StPO).

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1. Die erforderlichen dringenden Verdachtsgründe sind gegeben (§ 112 Abs. 1 Satz 1 StPO).

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a) Dringender Tatverdacht besteht, wenn aufgrund bestimmter, im Zeitpunkt der Entscheidung aktenkundiger Tatsachen eine hohe Wahrscheinlichkeit für eine Verurteilung des Beschuldigten im Erkenntnisverfahren besteht (vgl. nur KK-StPO/Graf, 7. Aufl., § 112 Rn. 6 ff.).

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b) In diesem Sinne ist nach derzeitigem Erkenntnisstand von folgendem Geschehen auszugehen:

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(1) Am 6. Juli 2017 um 17:50 Uhr reiste der zur Tatzeit achtzehneinhalbjährige Beschuldigte - naheliegend um an den im Zusammenhang mit dem „G-20-Gipfel“ befürchteten Ausschreitungen aktiv teilzunehmen - mit der Fluggesellschaft Ryanair aus Italien nach Hamburg ein. Bei seiner Festnahme am nächsten Tag konnte bei ihm szene-typische Vermummung (schwarze Gore-Tex-Jacke, schwarz-weißer Schal, vgl. Bl. 31 d.A.) sichergestellt werden. Im Übrigen war er - wiederum szene-typisch - mit dunklen Turnschuhen bekleidet (vgl. Bl. 29 d.A.).

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(2) Alsbald nach seiner Ankunft in Hamburg begab sich der Beschuldigte in das - von der Polizei mit 300 Schlafplätzen genehmigte - „Protestcamp“ im Volkspark, in dem mehrere Hundert Personen in Zelten übernachteten. Hier schloss er sich in Kenntnis aller Umstände einer hochgewaltbereiten Gruppe schwerbewaffneter (vgl. besonders eindrucksvoll die Art und Menge der später sichergestellten Waffen und Werkzeuge, Bl. 7-27 d.A.: Hammer, Sägen, Seitenschneider, Meißel, Schraubendreher, Zwillen, Feuerlöscher, Fackeln, Rauchkörper, Signalmunition, Metalldraht, etc.) Straftäter an, die - in vollständiger Desavouierung des berechtigten friedlichen Protestes gegen „G-20“ und unter eklatantem Missbrauch des Versammlungsrechts - ersichtlich nichts anderes als gewalttätige Ausschreitungen planten.

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(3) Am 7. Juli 2017 gegen 06:00 Uhr setzte sich - unter aktiver Beteiligung des Beschuldigten - ein einheitlich dunkel gekleideter, vermummter, ca. 200 Personen umfassender und schwer bewaffneter „schwarzer Block“ vom Volkspark aus in Richtung Innenstadt in Bewegung. Hierüber wurde gegen 06:15 Uhr die Beweissicherungs- und Festnahmehundertschaft der Bundespolizeidirektion Blumberg von der polizeilichen Einsatzleitung unterrichtet.

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(4) Gegen 06:27 Uhr erreichte der „schwarze Block“ die Gegend im Bereich der Straße Rondenbarg 20 in 22525 Hamburg und gelang damit in den Blick der ca. 100 Meter weiter stadteinwärts positionierten Polizeibeamten der Bundespolizei. Die Polizeibeamten formierten sich - als „Polizeikette“ - vor ihren Fahrzeugen und errichteten solcherart eine Absperrung gegen den heranrückenden „schwarzen Block“. Die den „schwarzen Block“ bildenden Personen bewegten sich sehr dicht aneinandergereiht, agressiv und bedrohlich laut schreiend auf die Polizeibeamten zu.

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(5) Ab einer Entfernung von ca. 50 Metern wurden die - behelmten und mit Schutzkleidung ausgestatteten - Polizeibeamten massiv und gezielt mit Steinen, Glasflaschen, Böllern, Pyrotechnik und „Bengalos“ beworfen, um die Polizeikette zu „sprengen“ und den Weg in die Innenstadt ungehindert fortsetzen zu können. Die Wurfmunition traf sowohl die Polizeibeamten als auch die hinter ihnen abgestellten Polizeifahrzeuge. Dank der Schutzausrüstung blieben die Polizeibeamten unverletzt.

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(6) Um die Angriffe aus dem „schwarzen Block“ abzuwehren, liefen die Polizeibeamten - unter fortgesetztem Dauerbewurf mit Steinen und anderen gefährlichen Gegenständen - auf den „schwarzen Block“ zu. Bei den sich anschließenden Auseinandersetzungen flüchteten mehrere Personen aus dem „schwarzen Block“ über ein Geländer auf das angrenzende Gelände der Firma „Transthermos“. Hier verletzten sich mehrere Personen als ein Teil des Geländers abbrach.

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(7) Im Zuge des Tatgeschehens konnte der Beschuldigte unmittelbar, nämlich um 06.28 Uhr (Bl. 32 d.A.), festgenommen werden. Einzelne eigenhändige Gewalthandlungen lassen sich dem Beschuldigten nach derzeitigem Ermittlungsstand nicht zuordnen. Umfangreich hergestelltes Videomaterial wird derzeit von der Polizei ausgewertet.

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c) Dieser Sachverhalt wird sich in einer Hauptverhandlung hochwahrscheinlich erweisen lassen.

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(1) Der Beschuldigte hat sich zum Tatgeschehen bisher nicht eingelassen.

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(2) Der Plan des Beschuldigten, sich bewaffneten Ausschreitungen in Hamburg anlässlich des „G-20-Gipfels“ aktiv anzuschließen wird durch die Zeit und die Art und Weise seiner Anreise sowie durch die bei ihm sichergestellte, bzw. von ihm getragene szene-typische Kleidung hinreichend belegt. Das gilt namentlich für das Mitführen eines Schals, der witterungsbedingt weder in Italien noch in Hamburg Verwendung finden konnte, sondern erkennbar allein der Vermummung dienen sollte. Diese bereits für sich sehr starken Indizien werden durch sein szene-typisches Verhalten im Zusammenhang mit seiner Festnahme ergänzt: Obgleich dies erkennbar nicht von seinem Recht auf Aussageverweigerung gedeckt ist, verweigerte er selbst die Unterschrift unter die ihm In italienischer Sprache schriftlich vorgelegte Beschuldigtenbelehrung.

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(3) Seine Beteiligung am „schwarzen Block“ am Rondenbarg - und damit rückblickend sein Anschluss an militante Autonome im „Protestcamp“ Volkspark - ergibt sich unmittelbar aus der Festnahmesituation aus dem „schwarzen Block“ heraus.

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(4) Durchführung und Ablauf der militanten Ausschreitungen aus dem „schwarzen Block“ am Rondenbarg sowie das Ausmaß der Bewaffnung der im „schwarzen Block“ zu gemeinsamer Straftatbegehung verbundenen Personen ergeben sich aus den detaillierten Berichten der Polizeibeamten R und S sowie den Sicherstellungsprotokollen und den aktenkundigen Fotographien. Weitere Erkenntnisse sind aus der bereits begonnen Auswertung des Videomaterials der Polizei zu erwarten. Die planvollen Vorbereitungen der eskalierenden Gewalt werden darüber hinaus anschaulich belegt durch die Auswertungen von Interneteinträgen und sonstigen Veröffentlichungen, die die 16. Kammer des Verwaltungsgerichts Hamburg ihrem Beschluss vom 27. Juni 2017 (Az,: 16 E 6288/17, dort UA S. 20 ff.) zugrunde gelegt hat.

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Im Übrigen wird - da ein hinreichender Verdacht einer Katalogtat nach § 100g Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 b) vorliegt (dazu sogleich unten) - eine Auswertung des sichergestellten Samsung-Handy des Beschuldigten möglicherweise genauere Erkenntnisse zu seinem Bewegungsprofil vor und während der Tat erbringen.

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d) Folgende Straftatbestände stehen in Mitten:

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(1) Der vorstehende Sachverhalt erfüllt in der Person des Beschuldigten nach derzeitigem Stand zunächst die bereits im angefochtenen Beschluss des Landgerichts zutreffend erörterten und bejahten Straftatbestände des tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte (in einem besonders schweren Fall) nach § 114 Abs. 1 und 2. i.V.m. § 113 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 und 3, § 25 Abs. 2 StGB, sowie des Landfriedensbruchs nach § 125 Abs. 1, § 25 Abs. 2 StGB.

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(2) Darüber hinaus liegt es bereits nach jetzigem Erkenntnisstand nahe, dass die Strafe für den Landfriedensbruch aus dem Strafrahmen des § 125a StGB zu entnehmen sein wird. Zutreffend stellt das Landgericht zwar darauf ab, dass die benannten besonders schweren Fälle nach derzeitigem Ermittlungsstand nicht in der Person des Beschuldigten erfüllt sind, weil insoweit ein eigenhändiges Verwirklichen der Regelbeispiele erforderlich ist. Gleichwohl werden sich - unabhängig davon, ob die Videoauswertung nähere Erkenntnisse zu eigenhändigen Taten des Beschuldigten erbringt - die Voraussetzungen eines unbenannten besonders schweren Falls aufdrängen: Ein besonders schwerer Fall kommt namentlich dann in Betracht, wenn die öffentliche Sicherheit in besonders schwerwiegender Weise gestört wurde (vgl. Fischer, StGB, 64. Aufl., § 125a Rn. 9). Eine solche schwerwiegende Störung der öffentlichen Sicherheit liegt hier angesichts des besonders bedenkenlosen und brutalen Vorgehens des „schwarzen Blocks“ erkennbar nahe. Im Übrigen liegt die Annahme eines unbenannten besonders schweren Falls schon dann nahe, wenn bei einer mittäterschaftlich begangenen Tat ein Teil der (anderen) Mittäter Regelbeispiele (eigenhändig) verwirklicht haben (vgl. zu § 125a StGB a.F. BGH, Beschl. v. 9. September 1997 - 1 StR 730/96, BGHSt 43, 237, 240).

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(3) Das Verhalten des Beschuldigten erfüllt darüber hinaus das tateinheitlich verwirklichte Delikt des Bildens bewaffneter Gruppen nach § 127 StGB in der Variante des Sich-Anschließens.

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(4) Schließlich ist in den Blick zu nehmen, dass der Beschuldigte durch seine bewusst einheitlich gewählte Vermummung in der Gruppe den Straftatbestand des § 3 Abs. 1, § 28 VersammlG verwirklicht hat. Hiernach macht sich strafbar, wer öffentlich oder in einer Versammlung Uniformen, Uniformteile oder gleichartige Kleidungsstücke als Ausdruck politischer Gesinnung zum Zwecke der Einschüchterung trägt (vgl. Senat, Beschl. v. 10. Mai 2016 - 1 Rev 70/15).

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2. Es besteht der Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO). Fluchtgefahr ist anzunehmen, wenn aufgrund bestimmter Tatsachen bei Würdigung sämtlicher bestimmender Umstände des Einzelfalls eine höhere Wahrscheinlichkeit für die Annahme spricht, der Beschuldigte werde sich dem gegen ihn geführten Strafverfahren entziehen, als für die Erwartung, er werde sich dem Verfahren zur Verfügung halten (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 60. Aufl., § 112 Rn. 17; KK-StPO/Graf, a.a.O., Rn. 16 jeweils m.w.N.). In die anzustellende Gesamtschau sind namentlich der Fluchtanreiz, die soziale Verwurzelung des Angeklagten und damit die ihn treffenden nachteiligen Folgen eines Untertauchens einzustellen. Gemessen hieran steht derzeit hochwahrscheinlich zu besorgen, dass der Beschuldigte sich dem weiteren Verfahren entziehen wird.

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a) Die absehbar empfindliche Freiheitsstrafe erweist sich als besonderer Fluchtanreiz.

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aa) Die hochwahrscheinlich dem § 125a StGB zu entnehmende - und nach Erwachsenenstrafrecht zu bemessende - Freiheitsstrafe wird ohne signifikant milderndes Nachtatverhalten nicht zur Bewährung ausgesetzt werden können (§ 56 Abs. 2 und Abs. 3 StGB). Der Beschuldigte hat sich massiv und nachhaltig gegen die Rechtsordnung aufgelehnt. Er hat sich - mindestens - bewusst und das erwartbare Geschehen billigend und unterstützend einer Gruppe angeschlossen, die sinnlose Gewalt ausgeübt und mit besonders eindrucksvoller Gleichgültigkeit - absichtlich - die Verletzung der eingesetzten Polizeikräfte erstrebt hat. Der Beschuldigte hat damit die bürgerkriegsähnlichen Zustände in Hamburg mitverursacht. Fundamentale Garantien der deutschen Rechtsordnung - Menschenwürde, das Recht auf körperliche Unversehrtheit und auf Eigentum - sind für den Beschuldigten erkennbar ohne jede Bedeutung (§§ 125, 125a StGB). Dass ihm daher die Anordnungen der Polizeikräfte gleichgültig sind, versteht sich von selbst (§§ 114, 113 StGB).

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bb) Selbst wenn sich die Anwendung von Jugendstrafrecht im weiteren Verlauf des Verfahrens als notwendig erweisen sollte, wofür derzeit angesichts der offenbar festen Arbeitstätigkeit des Beschuldigten und seines in der Tat zum Ausdruck kommenden selbständigen planerischen Organisationsvermögens trotz Wohnsitz im elterlichen Haushalt nichts spricht - kommt als Sanktionsart hier allein die Jugendstrafe in Betracht (§§ 17, 18 JGG). Diese ist nach §§ 105, 17 Abs. 2 JGG zu verhängen, wenn wegen schädlicher Neigungen, die in der Tat hervorgetreten sind, Erziehungsmaßregeln oder Zuchtmittel zur Erziehung nicht ausreichen oder wegen der Schwere der Schuld Strafe erforderlich ist.

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(1) Die Jugendstrafe ist bereits wegen der Schwere der Schuld geboten. Maßgeblicher Anknüpfungspunkt für die nach jugendspezifischen Kriterien (vgl. BGH, Urt. v. 20. April 2016 - 2 StR 320/16, NJW 2016, 2050, 2051) zu bestimmende Schwere der Schuld ist die innere Tatseite. Dem äußeren Unrechtsgehalt der Tat kommt nur insofern Bedeutung zu, als hieraus Schlüsse auf die Persönlichkeit des Täters und das Maß der persönlichen Schuld gezogen werden können. Entscheidend ist, inwieweit sich die charakterliche Haltung, die Persönlichkeit und die Tatmotivation des jugendlichen oder heranwachsenden Täters in der Tat in vorwerfbarer Schuld niedergeschlagen haben (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urt. v. 4. August 2016 - 4 StR 142/16, NStZ-RR 2016, 325; Urt. v. 20. April 2016 - 2 StR 320/1, NJW 2016, 2050, 2051 m.w.N.; Beschl. v. 14. August 2012 - 5 StR 318/12, NStZ 2013, 289, 290; ferner bereits BGH, Urt. v. 29. September 1961 - 4 StR 301/61, BGHSt 16, 261, 263; Urt. v. 11. November 1960 - 4 StR 387/60, BGHSt 15, 224, 226).

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Vor diesem Hintergrund kommt der erkennbar rücksichtslosen und auf eine tiefsitzende Gewaltbereitschaft schließen lassenden Tatausführung besondere Bedeutung zu. Er hat sich - geplant und organisiert und mit Blick auf die notwendigen Reisevorbereitungen erkennbar nicht etwa dem Eindruck gruppendynamischer Prozesse geschuldet - an schwersten Ausschreitungen beteiligt. Bereits dies verdeutlicht eine charakterliche Haltung, welche die Annahme der Schwere der Schuld rechtfertigt.

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(2) Die Jugendstrafe ist auch voraussichtlich wegen vorhandener schädlicher Neigungen des Beschuldigten geboten. Hierbei handelt es sich um erhebliche Anlage- oder Erziehungsmängel, die ohne längere Gesamterziehung des Täters die Gefahr weiterer Straftaten begründen. Sie müssen schon vor der Tat angelegt gewesen sein und noch zum Urteilszeitpunkt bestehen; es müssen deshalb weitere Straftaten des Angeklagten zu befürchten sein (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Beschl. v. 17. Juli 2012 - 3 StR 238/12, NStZ 2013, 287; Beschl. v. 26. Januar 2016 - 3 StR 473/15, BeckRS 2016, 5427, jeweils m.w.N.).

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(3) Nach § 18 Abs. 2 JGG ist die Höhe der Jugendstrafe in erster Linie an erzieherischen Gesichtspunkten auszurichten und bei der Bemessung der Jugendstrafe das Gewicht des Tatunrechts gegen die Folgen der Strafe für die weitere Entwicklung des Heranwachsenden abzuwiegen (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschl. v. 8. Januar 2015 - 3 StR 581/14, NStZ-RR 2015, 154; Beschl. v. 28. Februar 2012 - 3 StR 15/12, NStZ-RR 2012, 186 m.w.N.). Das gilt namentlich auch dann, wenn - wie hier - die Jugendstrafe in erster Linie wegen der Schwere der Schuld zu verhängen ist (vgl. BGH, Urt. v. 4. August 2016 - 4 StR 142/16, NStZ-RR 2016, 325, 326). Das bedeutet allerdings nicht, dass die Erziehungswirksamkeit als einziger Gesichtspunkt bei der Strafzumessung heranzuziehen ist. Vielmehr sind daneben auch andere Strafzwecke, bei schwerwiegenden Straftaten namentlich der Sühnegedanke und das Erfordernis eines gerechten Schuldausgleichs zu beachten. Erziehungsgedanke und Schuldausgleich stehen dabei in der Regel miteinander in Einklang, da die charakterliche Haltung und das Persönlichkeitsbild, wie sie in der Tat zum Ausdruck gekommen sind, nicht nur für das Erziehungsbedürfnis, sondern auch für die Bewertung der Schuld von Bedeutung sind (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschl. v. 6. Mai 2013 - 1 StR 178/13, NStZ 2013, 658, 659; Urt. v. 23. März 2010- 5 StR 556/09, NStZ-RR 2010, 290 f.).

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b) Diesem Fluchtanreiz begegnen keine hinreichend tragfähigen familiären, sozialen oder aber beruflichen Bindungen. Zwar hat der Beschuldigte im elterlichen Haushalt in Italien (vgl. dazu Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 60. Aufl., § 112 StPO, Rn. 20a) einen polizeilich gemeldeten Wohnsitz und geht - eigenen Angaben zufolge - einer festen Arbeit nach. Die Art der Tatausführung belegt aber, dass er jederzeit bereit und in der Lage ist, sich - auch in anderen Staaten und fremden Kulturen - kriminellen Strukturen unmittelbar anzuschließen und in ihnen unterzutauchen. Eindrucksvoll belegt wird seine Einbindung u.a. auch dadurch, dass bereits seit dem 20. Juli 2017 (16:46 Uhr) auf der Webseite https://linksunten.indymedia.org ein Unterstützungsschreiben unter Nennung des vollständigen Namens, des Geburtsdatums und der derzeitigen postalischen Erreichbarkeit (JVA Hahnöfersand) des Beschuldigten veröffentlicht wurde, in dem es auszugsweise heißt: „Die jungen Genoss*innen sind immer noch ohne Gerichtsverfahren in einem Gefängnis in Hamburg ... in Haft...“

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3. Mildere Maßnahmen als der Vollzug der Untersuchungshaft kommen entgegen der Auffassung des Landgerichts bei dieser Sachlage derzeit nicht in Betracht. Es fehlt für eine Außervollzugsetzung des Haftbefehls an einer ausreichenden Vertrauensgrundlage in der Person des Angeklagten. Dieser hat bereits bewiesen, dass er spontan international mobil ist und staatlichen Anordnungen mit erschreckender Gleichgültigkeit gegenübersteht. Eine wirtschaftlich erkennbar aus fremden Mitteln gestellte Kaution - auch in Höhe von 10.000 € - wird nicht hinreichend stabilisierend und fluchthemmend wirken können.

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4. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit steht der Fortdauer der Untersuchungshaft nicht entgegen. Insbesondere ist das in Haftsachen geltende besondere Beschleunigungsgebot nicht verletzt. Es verlangt, dass die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen (BVerfG, Beschl. v. 3. Mai 1966 - 1 BvR 58/66, BVerfGE 20, 45, 50 und Beschl. v. 17. Januar 2013- 2 BvR 2098/12, StV 2013, 640, 642; BGH, Beschl. v. 23. Februar 2017 — StB 4/17). Eine der Strafverfolgungsbehörde oder den Strafgerichten anzulastende vermeidbare Verfahrensverzögerung liegt ersichtlich nicht vor. Die Strafverfolgungsbehörden werden auch - ohne das Zügigkeitsgebot zu verletzen - vor Anklageerhebung das umfangreiche Videomaterial auswerten können. Denn nur auf diese Weise ist gesichert, dass der Schuldgehalt der dem Beschuldigten vorgeworfenen Tat hinreichend tatgerichtlich gewürdigt werden kann. Die Fortdauer der Untersuchungshaft steht damit derzeit ersichtlich auch nicht außer Verhältnis zu dem mit der Verfahrenssicherung verbundenen Grundrechtseingriff.

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