Beschluss vom Hanseatisches Oberlandesgericht (2. Strafsenat) - 2 Rev 89/19

Tenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Hamburg, Kleine Strafkammer …, vom 7. Juni 2019 mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten der Revision – an eine andere Kleine Strafkammer des Landgerichts Hamburg zurückverwiesen.

Gründe

I.

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Das Amtsgericht Hamburg hat den Angeklagten am 3. September 2018 wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten verurteilt und die Vollstreckung dieser Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt.

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Noch am Tage der Verkündung des amtsgerichtlichen Urteils hat der Angeklagte durch seine damalige Verteidigerin „Rechtsmittel“ gegen das Urteil eingelegt und dieses in der Berufungshauptverhandlung mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt. Die am 6. September 2018 bei dem Amtsgericht eingegangene Berufung der Staatsanwaltschaft hat diese noch vor Beginn der Berufungshauptverhandlung ebenfalls auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt.

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Mit seinem Urteil vom 7. Juni 2019 hat das Landgericht Hamburg, Kleine Strafkammer …, die Berufungen verworfen. Gegen dieses Urteil hat der Angeklagte mit am Tage der Verkündung bei dem Landgericht eingegangen Schriftsatz seines Verteidigers Revision eingelegt. Die Revision hat der Verteidiger noch vor wirksamer Zustellung des landgerichtlichen Urteils an ihn mittels eines von ihm unterschriebenen, am 17. Juli 2019 bei dem Landgericht eingegangenen Schriftsatzes mit der allgemeinen Sachrüge begründet.

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Die Generalstaatsanwaltschaft hat darauf angetragen, das angegriffene Urteil mit den Feststellungen aufzuheben und zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an eine andere Kleine Strafkammer des Landgerichts zurückzuverweisen.

II.

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Die gemäß § 333 StPO statthafte und auch im Übrigen gemäß §§ 341 Abs. 1, 344, 345 StPO zulässige Revision des Angeklagten hat in der Sache – vorläufigen – Erfolg.

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Die Ausführungen des landgerichtlichen Urteils zur Rechtsfolgenentscheidung, welche – nach wirksamer Berufungsbeschränkung auf den Rechtsfolgenausspruch – das Urteil allein noch betrifft, halten der durch die allgemeine Sachrüge veranlassten revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand. Der Strafausspruch ist fehlerhaft und hat keinen Bestand.

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1. Die Strafzumessung ist grundsätzlich Sache des Tatrichters. Das Revisionsgericht kann nur eingreifen, wenn Rechtsfehler vorliegen. Dies ist insbesondere der Fall bei widersprüchlicher oder unvollständiger Bewertung von Strafzumessungsfaktoren oder bei Lückenhaftigkeit der Strafzumessung oder wenn einzelnen Zumessungsgründen erkennbar zu hohes oder zu geringes Gewicht beigemessen worden ist, wenn Zumessungsgründe gegen rechtlich anerkannte Strafzwecke verstoßen oder wenn die erkannte Strafe sich von ihrer Bestimmung, gerechter Schuldausgleich zu sein, so weit löst, dass sie nicht mehr innerhalb des dem Tatgericht eingeräumten Spielraums liegt (zum Ganzen BGH, StV 2000, 553; BGH, Urteil vom 1. August 2018, Az.: 2 StR 42/18, BeckRS 2018, 18142; BGH, Beschluss vom 24. Oktober 2017, Az.: 1 StR 226/17, juris; LK-Theune § 46 Rn. 341 m.w.N.; Fischer § 46 Rn. 147 ff. m.w.N.; siehe auch Urteil des Senats vom 20. Februar 2019, Az.: 2 Rev 98/18 sowie Senatsbeschlüsse vom 19. Februar 2019, Az.: 2 Rev 78/18 und vom 28. August 2019, Az.: 2 Rev 9/19).

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2. Nach diesen Maßstäben liegen hier mehrere tragende Rechtsfehler in der Strafzumessung vor. Die den Ausführungen des Landgerichts zur Frage des Vorliegens eines minder schweren Falles im Sinne des § 224 Abs. 1 Halbsatz 2 StGB zugrunde liegenden Feststellungen erweisen sich als lückenhaft.

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a) Ein Berufungsgericht ist angehalten, nach Umfang der zugelassenen Anklage (OLG Düsseldorf, NJW 1983, 767) und unabhängig von dem angefochtenen Urteil über alle Tat- und Rechtsfragen nach dem Ergebnis der Berufungsverhandlung neu zu entscheiden (vgl. OLG Karlsruhe, NJW 1979, 2415; auch BGH NJW 1967, 1972; Meyer-Goßner/Schmitt Vor § 312, Rn. 1). Insofern hat es aufgrund eigener Beweiswürdigung eigene Feststellungen zu treffen (Senatsurteil vom 23. September 2019, Az.: 2 Rev 56/19; Senatsbeschluss vom 24. April 2019, Az.: 2 Rev 6/19; OLG Stuttgart, NStZ-RR 2003, 83). Eine Ausnahme hiervon besteht lediglich, insoweit eine Berufung im Sinne des § 318 StPO wirksam beschränkt worden ist, da mit der Teilrechtskraft die diesbezüglichen erstgerichtlichen Feststellungen bestandskräftig werden (vgl. Senatsurteil vom 23. September 2019, Az.: 2 Rev 56/19 und Senatsbeschluss vom 3. Juni 2018, Az.: 2 Rev 28/19).

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b) Unter Zugrundelegung dieser Anforderungen hat es das Landgericht versäumt, eigene, auf den Rechtsfolgenausspruch bezogene Feststellungen zu treffen.

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aa) Das Landgericht hat zulasten des Angeklagten den strafschärfenden Zumessungsgesichtspunkt herangezogen, dass der Angeklagte „bereits vielfach vorbestraft“ sei, „auch wegen einschlägiger Straftaten“, ohne allerdings entsprechende eigene Feststellungen getroffen zu haben.

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(1) Dem angegriffenen Urteil lassen sich zwar Ausführungen zu Vorverurteilungen des Angeklagten entnehmen. Diese jedoch erschöpfen sich in der bloßen Wiedergabe der diesbezüglichen amtsgerichtlichen Feststellungen zur Person des Angeklagten. Sie sind dadurch als Feststellungen des Amtsgericht gekennzeichnet, dass ihnen ist der Satz vorangestellt ist, „das Amtsgericht (habe) folgendes festgestellt:“. Zudem ist der hierauf folgende Textabschnitt in Anführungsstriche gesetzt und auch auf diese Weise als aus dem amtsgerichtlichen Erkenntnis entnommenes, wörtliches Zitat gekennzeichnet.

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(2) Das Landgericht hat sich die amtsgerichtlichen Feststellungen zu den Vorverurteilungen – trotz wörtlicher Übernahme in das Berufungsurteil – auch nicht zu eigen gemacht. Voraussetzung für eine Zueigenmachung ist, dass das Berufungsgericht erkennbar seiner Pflicht zu eigenen Feststellungen und zu eigener Beweiswürdigung vollständig nachkommt und die gleichen Feststellungen wie das Amtsgericht trifft, was eindeutig aus dem Berufungsurteil hervorgehen muss (OLG Stuttgart, NStZ-RR 2003, 83).

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Daran fehlt es hier. Das Landgericht hat weder erkennen lassen, dass es bezüglich der Vorverurteilungen des Angeklagten eine eigene Beweiserhebung und Beweiswürdigung vorgenommen hat, noch dass es zu denselben Erkenntnissen wie das Amtsgericht gelangt ist. Dass das Landgericht derartige eigene Feststellungen nicht getroffen hat und auch nicht hat treffen wollen, ergibt sich aus dem Umstand, dass es, abgesetzt von der Wiedergabe der amtsgerichtlichen Feststellungen zu den Vorstrafen des Angeklagten, erkennbar eigene – fragmentarische – Feststellungen zur Person des Angeklagten im Übrigen getroffen hat, denen es den einleitenden Satz „Ergänzend hat die Kammer zum Werdegang des Angeklagten festgestellt:“ vorangestellt hat. Diese landgerichtseigenen Ausführungen beinhalten jedoch keine Feststellungen oder Beweiswürdigungen zu den strafrechtlichen Vorbelastungen des Angeklagten.

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bb) Das Landgericht hat es darüber hinaus rechtsfehlerhaft unterlassen, eigene Feststellungen zu der Frage zu treffen, ob die Einsichts- und die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten bei Tatbegehung erheblich vermindert waren und hat infolgedessen eine wegen des möglichen Vorliegens der Voraussetzungen des § 21 StGB in Betracht kommende Strafrahmenverschiebung – sei es wegen möglichen Vorliegens eines minder schweren Falles im Sinne des § 224 Abs. 1 Halbsatz 2 StGB, sei es wegen der Anwendung des § 49 Abs. 1 StGB – unerörtert gelassen.

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(1) Die Frage einer nach § 21 StGB verminderten Schuldfähigkeit ist, anders als die Frage nach dem Ausschluss der Schuldfähigkeit nach § 20 StGB, kein Teil der Schuldfrage, sondern eine Rechtsfolgenfrage (Senatsbeschluss vom 8. Februar 2016, Az.: 2 Rev 62/15, juris). Deshalb ist sie bei wirksamer Berufungsbeschränkung auf den Rechtsfolgenausspruch durch das Berufungsgericht anhand eigener Feststellungen und auf Grund eigener Würdigung zu beantworten (Senatsbeschlüsse vom 3. März 2016, Az.: 2 Rev 4/16, StraFo 2016, 517 und vom 15. Juli 2016, Az.: 2 Rev 36/16; vgl. Meyer-Goßner/Schmitt § 318 Rn. 15).

17

(2) Diesen Anforderungen ist das Landgericht nicht nachgekommen.

18

(aa) Anlass zur Erörterung der Voraussetzungen für das Vorliegen einer verminderten Schuldfähigkeit hat vorliegend bestanden. Das Landgericht hat als unvertypten Strafzumessungsgrund eine „erhebliche Alkoholisierung des Angeklagten“ strafmildernd berücksichtigt und dazu ausgeführt, es sei von einer erheblichen Enthemmung auszugehen, welche die Gewaltbereitschaft gesteigert und die Impulskontrolle gemindert habe. Mit diesen Ausführungen hat das Landgericht gezeigt, dass die Annahme des Strafmilderungsgrundes erheblich verminderter Schuldfähigkeit nach § 21 StGB ernstlich in Betracht kommt.

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bb) Dennoch hat das Landgericht davon abgesehen, die Voraussetzungen für das Vorliegen einer verminderten Schuldfähigkeit zu erörtern und eigene Feststellungen zum Zustand des Angeklagten zur Tatzeit, insbesondere zu seiner Alkoholisierung, zu treffen. Es hat in den Urteilsgründen lediglich zu der Überschrift „IV. Beweiswürdigung“ die Einlassung des Angeklagten in der Berufungshauptverhandlung referiert, wonach dieser am Vorabend der Tat „viel getrunken“ habe, „vor allem Wodka-Mischgetränke“; das Trinken habe „bis kurz vor dem Vorfall angedauert“, schätzungsweise habe er während der Nacht „insgesamt ungefähr eine Flasche Wodka getrunken“; er sei „alkoholisiert gewesen“. Indes hat das Landgericht diese Angaben des Angeklagten an keiner Stelle gewürdigt und sich dazu verhalten, ob es diesen Angaben Glauben schenkt. Auch hat das Landgericht die Angaben des Angeklagten nicht zum Anlass genommen, eigene Feststellungen zum Grad der Alkoholisierung des Angeklagten zu treffen. Stattdessen hat es bei der Strafzumessung unzutreffend auf die Feststellungen und Wertungen des Amtsgerichts zur Einsichts- und Steuerungsfähigkeit Bezug genommen und dabei zu erkennen gegeben, dass es die amtsgerichtlichen Ausführungen, wonach eine verminderte Schuldfähigkeit abzulehnen sei, als bindend erachtet hatte.

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c) Der Senat kann nicht ausschließen, dass die Entscheidung auf den dargestellten Rechtsfehlern beruht, da der Wegfall des strafschärfenden Aspekts der vielfachen und einschlägigen Vorstrafen sowie die mögliche Anwendung des § 21 StGB zur Annahme eines minder schweren Falles im Sinne des § 224 Abs. 1 Halbsatz 2 StGB oder zur Absenkung des Strafrahmens gemäß § 49 Abs. 1 StGB hätte führen können.

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3. Die dargelegten Rechtsfehler führen zur Aufhebung des landgerichtlichen Urteils mit den Feststellungen (§ 353 StPO) und zur Zurückverweisung der Sache an eine andere Kleine Strafkammer (§ 354 Abs. 2 Satz 1 StPO).

III.

22

Der Senat merkt für die erneute Durchführung der Berufungshauptverhandlung Folgendes an:

23

Sollte die – erforderlichenfalls unter Hinzuziehung eines Sachverständigen vorzunehmende – Prüfung der Voraussetzungen des § 21 StGB durch das Berufungsgericht ergeben, dass entgegen dem erstinstanzlichen Urteil die Voraussetzungen sogar des § 20 StGB erfüllt sind, ist die Berufungsbeschränkung auf den Rechtsfolgenausspruch unwirksam (Senatsbeschluss vom 8. Februar 2016, Az.: 2 Rev 62/15, juris; OLG Zweibrücken, MDR 1986, 75; OLG Düsseldorf, NStZ 1984, 90; OLG Köln, NStZ 1984, 379) und von dem Berufungsgericht – auch im Rahmen einer nach vorangegangener Urteilsaufhebung erneut durchzuführenden Berufungshauptverhandlung – in Durchbrechung der bisher angenommenen Teilrechtskraft als unbeachtlich zu behandeln (Senatsbeschlüsse vom 8. Februar 2016, Az.: 2 Rev 62/15, juris und vom 15. Juli 2016, Az.: 2 Rev 36/16; OLG Zweibrücken, MDR 1986, 75).

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