Urteil vom Verwaltungsgericht Minden - 6 K 2887/19
Tenor
Soweit die Klage zurückgenommen worden ist, wird das Verfahren eingestellt.
Es wird festgestellt, dass die am 00.00.0000 durch das Jugendamt des Beklagten erfolgte Inobhutnahme des am 00.00.0000 geborenen Kindes K. B1. W1. rechtswidrig war.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens trägt die Klägerin zu 4/5 und der Beklagte zu 1/5.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung des jeweiligen Vollstreckungsgläubigers durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
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Tatbestand:
2Die am 00.00.0000 geborene Klägerin ist die Mutter des am 00.00.0000 geborenen K. B1. W1. . Vater des Kindes ist der am 00.00.0000 geborene C1. C2. . Die nicht miteinander verheirateten Eltern trennten sich im G. . Der Junge lebte nach der Trennung im Haushalt der Klägerin. Die Eltern übten gemeinsam das Sorgerecht aus. Insbesondere hinsichtlich des Umgangsrechts des Vaters gab es gerichtliche Auseinandersetzungen beim Amtsgericht Detmold - nachfolgend: Familiengericht - (00 F 00/18, 00 F 00/18, 00 F 00/18, 00 F 00/18, 00 F 00/19, 00 F 00/19, 00 F 00/19, 00 F 00/19, 00 F 00/19, 00 F 00/19), die überwiegend von der Klägerin initiiert wurden.
3Unter dem 00.00.0000 vereinbarten die Eltern im Verfahren 00 F 00/18 Besuchskontakte mit Übernachtungen beim Vater durch Abholen des Kindes an jedem zweiten Freitag bei der L. M1. und Verbringen dorthin am nächsten Montagmorgen.
4Am 00.00.0000 und 00.00.0000 traf die in P. praktizierende Kinderärztin E. . T1. nach Vorstellungen des Jungen durch die Klägerin folgende Feststellungen: „… Anus hochrot in kreisrunder Form um den Anus herum, keine Verletzungszeichen. …“ und „Schmerzen am Po, hatte bis Montag Kontakt mit dem Vater … Analring deutlich gerötet, kreisrund, ca. 3 - 4 mm, nach lateral von rot in lila übergehend …“. Nach Aktenlage suchte die Klägerin diese Ärztin mit K. B1. auch in der Folgezeit mehrfach auf und konsultierte zudem zwei Beratungsstellen im Hinblick auf einen potentiellen sexuellen Missbrauch des Kindes durch seinen Vater.
5Unter dem 00.00.0000 regte die Kinderklinik des T2. . W2. -L1. Q. nach einem stationären Aufenthalt des Kindes vom 00. bis 00.00.0000 beim Familiengericht an, wegen des dringenden Verdachts auf eine akute Kindeswohlgefährdung durch sexuellen Missbrauch in wahrscheinlich mehreren Fällen die Umgangskontakte von K. B1. und seinem Vater bis zum Abschluss der Verdachtsabklärung auszusetzen und die Gesundheitsfürsorge und das Aufenthaltsbestimmungsrecht im Rahmen einer einstweiligen Anordnung auf die Klägerin zu übertragen. Es wurde unter anderem ausgeführt, dass die körperliche Untersuchung des Jungen mit Sicherung möglicher Spuren wegen dessen panikartiger Reaktionen auf Ärztinnen in Sedierung stattgefunden habe.
6Dies nahm das Familiengericht zum Anlass, ein Verfahren nach § 1666 BGB einzuleiten (00 F 00/19).
7Mit Schreiben vom 00.00.0000 äußerte sich das Jugendamt des Beklagten (nachfolgend: Jugendamt) gegenüber dem Familiengericht in ähnlicher Weise. Das Jugendamt hatte sich zuvor am 00.00.0000 an die E1. Kriminalpolizei gewandt. Das daraufhin eingeleitete Ermittlungsverfahren wurde von der Staatsanwaltschaft E2. nach Maßgabe des § 170 Abs. 2 StPO eingestellt (00 Js 00/19).
8Am 00.00.0000 stellte die Klägerin beim Familiengericht im Rahmen des laufenden Verfahrens 00 F 00/19 einen Antrag auf Maßnahmen nach § 1666 BGB im Sinne eines Kontakt- und Näherungsverbots gegen den Kindesvater. Sie gab - wie bereits gegenüber der Q1. Kinderklinik - als Verhaltensauffälligkeiten von K. B1. , die sie etwa seit 00.00.0000 bemerkt habe, unter anderem das Einnässen nach Umgangskontakten mit dem Vater bis zu sieben Mal täglich an, ferner eine ausgeprägte Nachtangst, ein anklammerndes Verhalten in Bezug auf sie, Ängste, Jammern und Sprechen in „Babysprache“, Wutanfälle, das Sprechen von bösen Drachen und dunklen Gestalten an seinem Bett, eine starke motorische Unruhe, einen entzündeten, roten und schmerzenden Po nach Besuchskontakten mit dem Vater, mit dem das Kind Geheimnisse habe, und Bauchschmerzen. Zudem benannte die Klägerin Aussagen, die das Kind ihr gegenüber in der Zeit vom 00.00.0000 bis 00.00.0000 getätigt habe. Unter anderem hieß es im Zusammenhang mit einem extrem geröteten Po „Das war der Drache, der hat sein Horn in meinen Popo getan.“, „Papa macht immer Popoklatsche mit mir und ich will das nicht.“ und im Zusammenhang mit der klägerischen Darstellung, dass sich der Junge abends an seinen Genitalbereich fasse, reibe und knete, „Ich mache ihn größer, weil ich schon ein großer Junge bin.“. Diesen Beschreibungen trat der Vater des Kindes mit Ausnahme des Einnässens, das seit der Trennung der Eltern aufgetreten sei, entgegen. Geheimnisse habe er mit seinem Sohn nur hinsichtlich Süßigkeiten und Fernsehen.
9Mit Beschluss vom 00.00.0000 - 00 F 00/19 - entschied das Familiengericht, dass das Umgangsrecht des Kindesvaters vorläufig ausgeschlossen werde, weil Anhaltspunkte für eine akute Gefährdung des Kindeswohls bei einem Aufenthalt des Kindes beim Vater bestünden. Diese Anordnung wurde bis zum 00.00.0000 befristet.
10Unter dem 00.00.0000 nahm die für K. B1. vom Familiengericht bestellte Verfahrensbeiständin T3. Stellung. Sie führte im Ergebnis aus, dass sie einen begleiteten Umgang mit dem Vater, auf den sich das Kind nach Aussage seiner Erzieherinnen freue, als mit dem Kindeswohl vereinbar einschätze.
11Unter dem 00.00.0000 einigten sich die Eltern im familiengerichtlichen Verfahren 00 F 00/19 auf einen zweimal wöchentlich vom Jugendamt begleiteten Umgang des Kindes mit seinem Vater.
12Nach Aktenlage stellte die Klägerin das Kind im 00.00.0000 erneut wegen einer perianalen Rötung im T2. . W2. -Krankenhaus Q. vor.
13Aufgrund eines entsprechenden familiengerichtlichen Beweisbeschlusses vom 00.00.0000 im Verfahren 00 F 00/19 erstattete der Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Diplom-Sozialpädagoge W3. vom N. J1. für forensische Psychiatrie des Kindes- und Jugendalters unter dem Datum „ 00.00.0000“ ein 150 Seiten umfassendes Gutachten zur Beweisfrage, ob sorgerechtliche Maßnahmen zum Wohle des Kindes erforderlich seien. Der Gutachter würdigte dabei auch Vorkommnisse in den Folgemonaten und kam zu dem Ergebnis, dass der Kindesvater in vollem Umfang beziehungs- und erziehungsfähig sei, während bei der ausgesprochen verschlossenen Klägerin insoweit erhebliche Einschränkungen vorhanden seien. Es sei fraglich/möglich, dass bei ihr das Münchhausen-by-proxy-Syndrom vorliege. Darauf gebe es durchaus Warnhinweise. Das Einnässen des Kindes habe eindeutig mit dem Loyalitätskonflikt zwischen den Eltern zu tun. Es gehe der Klägerin hauptsächlich darum, den Jungen in intensivster Form an sich zu binden. Nach Besuchskontakten mit dem Vater stelle sie K. B1. der Kinderärztin vor, um neuerliche somatische Erkrankungen finden zu lassen, damit der Umgang mit dem Vater verhindert werde bzw. allenfalls nur begleitet stattfinde. Bei ihr liege eine deutliche Bindungsintoleranz vor. Das Aufenthaltsbestimmungsrecht für das Kind dürfte dem Vater zu übertragen sein. Der Lebensmittelpunkt des Jungen sollte nun zwingend wechseln. Die vielzähligen, teilweise wöchentlichen Arztbesuche mit dem Ziel der Untersuchung des Anus des Kindes erschienen eher kindeswohlfeindlich als -dienlich zu sein; die kinderärztliche Dokumentation habe in vielen Fällen ein unauffälliges Gesamtbild ergeben. Es sei schon über Monate zu einer erheblichen Kindeswohlbeeinträchtigung gekommen. Die Klägerin sei zwingend angehalten, sich einer intensiven psychotherapeutischen Behandlung zu stellen. Ihr sollte - unter gewissen Bedingungen - ein Besuchsrecht an jedem zweiten Wochenende eingeräumt werden.
14Dieses Gutachten, das beim Familiengericht am 00.00.0000 eintraf, wurde den Kindeseltern, dem Jugendamt und der Verfahrensbeiständin mit gerichtlicher Verfügung vom 00.00.0000 - 00 F 00/19 - mit der Gelegenheit zur Stellungnahme binnen zwei Wochen zugeleitet. Unter dem 00.00.0000 bestimmte das Familiengericht in dieser Sache einen Verhandlungstermin auf den 00.00.0000.
15Am 00.00.0000 traf das Gutachten beim Jugendamt und bei der Klägerin ein. Daraufhin nahm das Jugendamt K. B1. am selben Tag in der L. M1. in Obhut und brachte ihn beim Kindesvater unter. Die Klägerin widersprach der Inobhutnahme am 00.00.0000 mündlich und am nächsten Tag schriftlich.
16In seinem an die Klägerin gerichteten Schreiben vom 00.00.0000 führte das Jugendamt aus, dass diese Maßnahme aufgrund des Vorliegens fundierter gewichtiger Anhaltspunkte für eine akute Kindeswohlgefährdung erfolgt sei. Das Kind sei bis zur gerichtlichen Klärung bei seinem Vater untergebracht.
17Mit Schreiben vom selben Tag, das vorab per Fax übermittelt wurde (Eingang 18:03 Uhr), machte das Jugendamt dem Familiengericht im Verfahren 00 F 00/19 eine entsprechende Mitteilung und ergänzte, dass für die Inobhutnahme vor allem das Gutachten ausschlaggebend gewesen sei. Das bei der Klägerin vorliegende Münchhausen-by-proxy-Syndrom stelle eine akute Kindeswohlgefährdung dar, da die Symptome des Kindes mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit von ihr gefördert oder hervorgebracht worden seien. Sie habe der Unterbringung beim Kindesvater nicht zugestimmt.
18Mit Beschluss vom 00.00.0000 - 00 F 00/19 - entschied das Familiengericht, dass der Antrag der Klägerin auf Erlass einer einstweiligen Anordnung vom 00.00.0000 - der vom Verfahren 00 F 00/19 abgetrennt worden war - zurückgewiesen werde. Hinsichtlich der begehrten Herausgabe des Kindes mangele es an einem alleinigen Aufenthaltsbestimmungsrecht der Klägerin. Auch für den hilfsweise gestellten Antrag auf Einräumung eines angemessenen Umgangsrechts fehle ein Eilbedürfnis.
19Mit seiner fachpsychologischen Stellungnahme vom 00.00.0000 führte der von der Klägerin beauftragte Diplom-Psychologe Prof. E. . U. zusammengefasst aus, dass das Gutachten des Herrn W3. an gravierenden Mängeln leide und kaum verwertbar sei.
20Mit Beschluss vom 00.00.0000 - 00 F 00/18 - setzte das Familiengericht ein Ordnungsgeld gegen die Klägerin fest, weil sie den Umgang des Kindesvaters nicht gewährte.
21Mit Beschluss vom 00.00.0000 - 00 F 00/19 - übertrug das Familiengericht das Aufenthaltsbestimmungsrecht für das Kind auf Antrag des Vaters vom 00.00.0000 an diesen. Im Übrigen wurde die gemeinsame elterliche Sorge beibehalten.
22Mit Beschluss vom 00.00.0000- 00 F 00/19 - billigte das Familiengericht den Umgangsvergleich der Beteiligten vom 00.00.0000. Unter anderem wurde die Vereinbarung getroffen, dass K. B1. die Wochenenden jeder ungeraden Kalenderwoche bei der Klägerin verbringe.
23Am 00.00.0000 erließ das Familiengericht im Verfahren 00 F 00/19 einen Beschluss, dass unter Hinweis auf die Entscheidung im Verfahren 00 F 00/19 von Maßnahmen nach § 1666 BGB abgesehen werde. Auf die daraufhin von der Klägerin erhobene Beschwerde entschied das Oberlandesgericht I1. mit Beschluss vom 00.00.0000 - 00-00 UF 00/20 -, dass die Beschwerde der Klägerin verworfen werde.
24Am 00.00.0000 erklärte die Klägerin telefonisch gegenüber dem Petitionsausschuss des nordrhein-westfälischen Landtages, dass die Symptome bei ihrem Sohn bis heute wiederkehrend aufträten. Dieser wandte sich daraufhin am nächsten Tag an das zuständige Ministerium, das sich mit dem Beklagten in Verbindung setzte.
25Mit Bericht des Kinderarztes E. . G1. vom Klinikum M2. E2. vom 00.00.0000 wurden nach einer vom Jugendamt veranlassten Untersuchung des Jungen am 00.00.0000 als Diagnosen „Rezidivierende perianale Dermatitiden“ und „Zum Ausschluss sex. Übergriff“ benannt. Es gebe keine sonstigen Auffälligkeiten, insbesondere keine Rhagaden, alte Narben oder sonstigen trophischen Veränderungen. Der Verdacht einer Streptokokken-Dermatitis habe sich in Q. nicht erhärten lassen. Die Konsultation der ärztlichen Beratungsstelle in C3. sei sinnvoll. Tatsächlich bestehe ein starker anamnestischer Hinweis auf einen sexuellen Missbrauch des Kindes. Eine gewisse Observation der Gesamtsituation sei durchaus sinnvoll.
26Mit Beschluss vom 00.00.0000 - 00-00 UF 00/19 - wies das Oberlandesgericht I. die von der Klägerin gegen den Beschluss vom 00.00.0000 - 00 F 00/19 - erhobene Beschwerde zurück und übertrug dem Vater zusätzlich die Gesundheitsfürsorge für das Kind. In der Entscheidung wurde unter anderem dargelegt, dass der Vater als geeignet zur Pflege und Erziehung des Kindes anzusehen sei. Es seien keine greifbaren Anhaltspunkte für einen sexuellen Missbrauch des Kindes ersichtlich. Die perianale Entzündung im 00.00.0000 sei auf Streptokokken und die Entzündung im 00.00.0000 auf Staphylokokken zurückzuführen. Es gebe bislang keine Erkenntnisse zu den Ursachen der geringgradigen Rötung und der festgestellten Rhagaden am 00.00.0000. Anhaltspunkte für eine anhaltende Entzündung gebe es nicht. Auch die vom Jugendamt ohne Wissen des Vaters arrangierte Untersuchung des Kindes am 00.00.0000 in der Kinderklinik M2. habe keine Auffälligkeiten ergeben. Zudem sei eine (diskrete) Rötung des Anus von der Kinderärztin auch in der umgangsfreien Zeit am 00.00.0000 festgestellt worden. Das Kind habe sich bei seinem Vater gut entwickelt. Nach dem Kindergartenbericht aus 00.00.0000 sei ein Einnässen dort nicht mehr beobachtet worden. Die Klägerin sei grundsätzlich erziehungsgeeignet. Etwas anderes lasse sich auch dem Gutachten des Sachverständigen W3. nicht entnehmen. Insbesondere gehe der Senat nicht davon aus, dass sie an einem Münchhausen-by-proxy-Syndrom leide. Der Vorrang des Vaters ergebe sich unter anderem wegen seiner besseren Bindungstoleranz. Das Kind habe zu beiden Elternteilen eine enge Bindung. Der Einholung weiterer Gutachten bedürfe es nicht. Die dagegen von der Klägerin erhobene Anhörungsrüge und Gegenvorstellung wurden mit Beschluss vom 00.00.0000 zurückgewiesen.
27Zur Begründung ihrer beim erkennenden Gericht am 00.00.0000 erhobenen Klage trägt die Klägerin Folgendes vor:
28Die Inobhutnahme ihres Kindes vom 00.00.0000 sei rechtswidrig erfolgt. Ihr Fortsetzungsfeststellungsinteresse ergebe sich aus Gründen der Rehabilitierung nach einem tiefgreifenden Grundrechtseingriff. Die Herangehensweise des Gutachters W3. , der bei ihr ungefragt ein Münchhausen-by-proxy-Syndrom festgestellt habe, sei völlig inakzeptabel und unwissenschaftlich. Sie beziehe sich dazu maßgeblich auf das Privatgutachten des Prof. E. . U. vom 00.00.0000. Sie habe ein Recht auf die Feststellung, dass es sich dabei um eine Fehldiagnose handele, und nehme Bezug auf den Bericht der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie, psychosomatische Medizin und Psychotherapie M3. vom 00.00.0000. Das Familiengericht habe das im Verfahren 00 F 00/19 selbst eingeholte Gutachten im Gegensatz zum Jugendamt nicht verwertet und auch keinen Anlass für Eilmaßnahmen gesehen. Auch das Oberlandesgericht I. gehe davon aus, dass sie nicht an einem Münchhausen-by-proxy-Syndrom leide. Die schweren qualitativen Mängel des Sachverständigengutachtens seien auch für das Jugendamt, das sich bei der Inobhutnahme darauf gestützt und unter anderem hinsichtlich ihrer befürchteten Reaktion auf das Gutachten reine Mutmaßungen angestellt habe, unschwer zu erkennen gewesen. Die internen Veranlassungsgründe für die Inobhutnahme stimmten nicht mit den gegenüber dem Familiengericht angegebenen Gründen überein. Ungeachtet dessen lasse sich dem Gutachten eine akute Kindeswohlgefährdung, die ein sofortiges Handeln des Jugendamtes erfordert hätte, nicht entnehmen, zumal der Sachverständige unbegleitete Besuchswochenenden mit ihr vorgeschlagen habe. Zudem habe seitens des Jugendamtes vor der Inobhutnahme keine sozialpädagogische Krisenintervention stattgefunden. Es habe gegen zahlreiche Vorschriften - unter anderem §§ 8a, 50 SGB VIII - sowie gegen die eigenen Handlungsleitlinien in Fällen einer Kindeswohlgefährdung verstoßen. Das Jugendamt habe Gespräche mit ihr abgelehnt, obwohl sie zu einer Zusammenarbeit grundsätzlich bereit sei. Auch erbetene Hilfeplangespräche hätten nicht stattgefunden. Die Maßnahme sei zudem unverhältnismäßig. Ferner habe das Jugendamt vor der Inobhutnahme keine familiengerichtliche Entscheidung beantragt, obwohl ihm dies möglich gewesen wäre. Eine Klärung im bereits anhängigen familiengerichtlichen Verfahren hätte abgewartet werden müssen, zumal noch Fristen zur Stellungnahme zum Gutachten gelaufen seien. Das Jugendamt habe ohne eine Ermächtigungsgrundlage - § 42 SGB VIII sei nicht einschlägig - gehandelt und amtsanmaßend eine gerichtliche Entscheidung nach § 1671 BGB ersetzt. Die Entscheidung des Jugendamtes zur Inobhutnahme sei unmittelbar nach Erhalt des 150-seitigen Gutachtens des Herrn W3. am 00.00.0000 zur Mittagszeit gefallen, sodass es das Gutachten offenbar nicht vollständig gelesen habe. Die nötige Abklärung durch qualifizierte Fachkräfte habe nicht stattgefunden. Das in diesem Fall nicht neutral eingestellte Jugendamt habe offenbar dem Kindesvater einen Vorteil verschaffen wollen, denn anders sei die Beendigung der Inobhutnahme am Folgetag - gemeint: am selben Tag - nicht zu erklären. Die Maßnahme sei auch deshalb nicht nachvollziehbar, weil das Jugendamt ursprünglich sogar eine Strafanzeige gegen den Kindesvater erstattet habe und von einer sicheren Bindung des Kindes an sie - die Klägerin - ausgegangen sei. Hinsichtlich der Rechtswidrigkeit der Inobhutnahme verweise sie auch auf ihren an das Oberlandesgericht I. (00-00 UF 00/19) gerichteten Schriftsatz vom 00.00.0000 zur Begründung ihrer Anhörungsrüge. Ihr Versuch, in der Vergangenheit eine Klärung der ärztlich dokumentierten Entzündungen und der Aussagen ihres Jungen herbeizuführen, sei daran gescheitert, dass sich der Kindesvater zwei Mal geweigert habe, mit ihr eine Beratungsstelle aufzusuchen. Sie habe lediglich einmal am 00.00.0000 einen Umgang des Kindes mit seinem Vater verweigert, weil der ausschließlich von sachkundigen Dritten aufgeworfene Missbrauchsverdacht noch im Raum gestanden habe und sie kurzfristig überrumpelt worden sei. Der Vorwurf, sie sei bindungsintolerant, sei falsch, was durch die unerschütterte Beziehung des Kindes zu seinem Vater belegt werde. Sie habe lediglich jeweils zwei Ärzte und Beratungsstellen konsultiert und ihren Sohn nicht wöchentlich zu einer ärztlichen Untersuchung vorgestellt. Nach den Feststellungen einer Erzieherin von 00.00.0000 habe K. B1. nach der Unterbringung bei seinem Vater wieder vermehrt eingenässt. Die Sichtweise des Kindesvaters, dass K. B1. keine Auffälligkeiten zeige und sich seit der Herausnahme gut entwickelt habe, stehe im Widerspruch zu den getroffenen Feststellungen der C4. B2. C5. gegen W4. und N1. von L2. e.V. vom 00.00.0000 nach zwölf Diagnostikterminen. Die Angst vor einem Drachen in Verbindung mit Schmerzen am Anus sei nach wie vor ein Belastungsthema für den Jungen. Seine Rückkehr in ihren Haushalt entspreche dem Kindeswohl. Wie eine Akteneinsicht bei der Behörde ergeben habe, habe das Jugendamt dem erkennenden Gericht keine vollständigen Verwaltungsvorgänge, die ihr Kind und sie selbst beträfen, überreicht.
29Ferner sei im Zusammenhang mit der Inobhutnahme gegen Datenschutzbestimmungen verstoßen worden. Insoweit verweise sie auf die Stellungnahme des Sachverständigen H. für Datenschutz vom 00.00.0000.
30Auch die kindeswohlgefährdende Vorstellung ihres Sohns am 00.00.0000in der Klinik E2. durch das Jugendamt während eines laufenden familiengerichtlichen Beschwerdeverfahrens sei ungekündigt und unter Anmaßung von richterlichen Kompetenzen erfolgt. Dies sei gezielt manipulativ geschehen, sodass das Ergebnis quasi vorprogrammiert gewesen sei. Auch insoweit habe sich der Beklagte kindeswohlschädlich verhalten.
31Ebenso wenig hätten die Voraussetzungen für die kindeswohlgefährdende Einleitung und Fortführung des Verfahrens nach § 8a SGB VIII durch das Jugendamt im 00.00.0000 vorgelegen. Es verwundere sie - die Klägerin -, dass der Anlass für dieses Verfahren laut Jugendamt ein Schriftsatz gewesen sein solle, den sie dem Oberlandesgericht I. unter anderem mit Tatsachenvortrag übermittelt habe.
32Die Klägerin hat ursprünglich in ihrer Klageschrift beantragt,
33festzustellen, dass die Inobhutnahme des Kindes der Klägerin K. B1. W1. , geb. am 00.00.0000, vom 00.00.0000 rechtswidrig ist, und die Beklagte dazu zu verpflichten, das Kind umgehend an die Kindesmutter herauszugeben.
34Mit Schriftsatz vom 00.00.0000 hat die Klägerin zudem beantragt,
35festzustellen, dass aus dem Sachverständigengutachten K1. W3. vom 00.00.0000, der Kindesmutter kenntlich gemacht am 00.00.0000, nicht hergeleitet werden kann, dass die Kindesmutter am Münchhausen-by-proxy-Syndrom erkrankt ist und es sich somit um eine Falschdiagnose des Sachverständigen W3. handelt,
36Am 00.00.0000 hat die Klägerin mit der Formulierung „Erweitere ich meinen Antrag…“ beantragt
37die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Datenverarbeitung in dem hier angefochtenen Verwaltungsakt gemäß Artikel 79 DSGVO.
38Mit Schriftsatz vom 00.00.0000 hat die Klägerin mit dem Zusatz „… wird der Klageantrag … neu gefasst …“ beantragt,
391. festzustellen, dass die am 00.00.0000 durch das Jugendamt des Beklagten erfolgte „Inobhutnahme“ des am 00.00.0000 geborenen Kindes K. B1. W1. rechtswidrig war und sie in ihren Rechten verletzte,
40und im Wege der Klageerweiterung beantragt,
412. festzustellen, dass die Vorstellung des am 00.00.0000 geborenen Kindes K. B1. W1. am 00.00.0000 bei der Kinderklinik M2. durch das Jugendamt des Beklagten rechtswidrig war,
423. festzustellen, dass das beim Jugendamt des Beklagten laufende, im 00.00.0000 nach § 8a SGB VIII eingeleitete Verfahren betreffend K. B1. W1. , geboren am 00.00.0000, rechtswidrig ist und die Klägerin in ihren Rechten verletzt.
43In der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin erklärt, sie verfolge lediglich die mit Schriftsatz vom 00.00.0000 angekündigten Anträge weiter. Sie beantragt nunmehr,
441. festzustellen, dass die am 00.00.0000 durch das Jugendamt des Beklagten erfolgte Inobhutnahme des am 00.00.0000 geborenen Kindes K1. B1. W1. rechtswidrig war,
452. festzustellen, dass die veranlasste Vorstellung des am 00.00.0000 geborenen Kindes K. B1. W1. am 00.00.0000 bei der Kinderklinik M2. durch das Jugendamt des Beklagten rechtswidrig war, und
463. festzustellen, dass das beim Jugendamt des Beklagten laufende im T4. 0000 nach § 8a SGB VIII eingeleitete Verfahren betreffend K. B1. W1. , geb. am 00.00.0000, rechtswidrig war.
47Der Beklagte beantragt,
48die Klage abzuweisen.
49Nach seiner Auffassung sei die Fortsetzungsfeststellungsklage mangels eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses bereits unzulässig. Unabhängig davon habe im Zeitpunkt der Inobhutnahme eine dringende Gefährdung des Kindeswohls bestanden. Anhaltspunkte für eine Nichteignung des Gutachters W3. , mit dem das Familiengericht bislang gute Erfahrungen gemacht habe, hätten nicht vorgelegen. Aufgrund der vom Gutachter diagnostizierten Erkrankung der Klägerin und festgestellten Erziehungsunfähigkeit sowie der von ihr gezeigten Verhaltensweisen sei zu befürchten gewesen, dass sie nach Kenntnis des Gutachtens überkompensieren und das Kind weiter schädigen würde. Die zuständige Mitarbeiterin des Jugendamtes habe sich am 00.00.0000 nach Erhalt des Gutachtens umgehend mit zwei weiteren Fachkräften zur Einschätzung des Gefährdungsrisikos beraten. Sie seien gemeinsam zu dem Ergebnis gelangt, dass allein die Feststellungen des Sachverständigen ausgereicht hätten, um K. B1. in Obhut zu nehmen und zum Kindesvater zu bringen. Die von der Klägerin immer wieder gegen den Kindesvater erhobenen Anschuldigungen seien nicht durch Tatsachen belegt. Ihr Verhalten, den Anus ihres Kindes zum Nachweis der von ihr behaupteten sexuellen Übergriffe des Kindesvaters fast wöchentlich ärztlich untersuchen zu lassen, sei kindeswohlgefährdend. Dies habe zu panischen Reaktionen des Kindes auf Arztbesuche geführt, sodass eine Untersuchung im Krankenhaus nur nach einer Sedierung habe erfolgen können. Hinzu komme, dass die Klägerin seit der Trennung vom Kindesvater immer wieder versucht habe, dessen Umgangskontakte mit dem Kind z. B. aus dem Grund zu unterbinden, dass sich der Junge bei einem Besuch beim Vater mit einer nicht der Witterung entsprechenden Kopfbedeckung im Freien aufgehalten habe. Das Oberlandesgericht I. habe der Klägerin zusätzlich zum Aufenthaltsbestimmungsrecht auch die Gesundheitssorge für das Kind entzogen. Ihr Sohn habe sich seit der Unterbringung bei seinem Vater positiv entwickelt. Das Jugendamt sei in dem Fall nie voreingenommen gewesen. Eine sozialpädagogische Krisenintervention vor der Inobhutnahme oder das Abwarten auf die Klärung durch das Familiengericht, das am 00.00.0000 darüber informiert worden sei, sei nicht nötig gewesen. Die Klägerin allein habe durch ihr Verhalten Veranlassung für die Erstattung der Strafanzeige gegeben. Das Privatgutachten des Prof. E. . U. vom 00.00.0000 sei ungeachtet der Frage seiner Richtigkeit schon deshalb unbeachtlich, weil es im maßgeblichen Zeitpunkt der Inobhutnahme nicht vorgelegen habe. Gleiches gelte für den Bericht der B2. C5. gegen W4. und N1. von L2. e.V. vom 00.00.0000, der im Übrigen eine Reihe von - näher benannten - Unstimmigkeiten und Unklarheiten aufweise.
50Die Vorstellung des Kindes in der Kinderklinik M2. am 00.00.0000 sei ebenfalls rechtmäßig erfolgt. Nachdem das Jugendamt Kenntnis von der Petition der Klägerin und deren Inhalt erlangt habe, habe es umgehend ein Verfahren nach § 8a SGB VIII zur Überprüfung einer Kindeswohlgefährdung eingeleitet, den Arzttermin vereinbart und den Kindesvater am 00.00.0000 telefonisch gebeten, den Termin mit K. B1. wahrzunehmen. Da der Arzt keine Verletzungen/Entzündungen im Analbereich des Kindes habe feststellen können, sei das Verfahren beendet worden. Die Klageerweiterung sei im Hinblick darauf, dass das Jugendamt dem von der Klägerin selbst erhobenen Verdacht nachgegangen sei, nicht verständlich.
51Ebenso sei im 00.00.0000 rechtmäßig ein Verfahren nach § 8a SGB VIII eingeleitet worden. Dies sei darauf zurückzuführen, dass die Klägerin beim Oberlandesgericht I. vorgetragen habe, es komme seit dem Wechsel ihres Kindes in den väterlichen Haushalt weiterhin zu Auffälligkeiten des Jungen und Entzündungen am After, und Lichtbilder vom Analbereich ihres Kindes vorgelegt habe. Den Gesprächstermin beim Jugendamt am 00.00.0000 habe sie nicht wahrgenommen. Um eine Kindeswohlgefährdung durch das ständige Fotografieren abzuwenden, habe eine Schutzvereinbarung abgeschlossen werden sollen. Diese sei von der Klägerin nicht unterschrieben worden. Wegen ihrer schriftlichen Erklärung, dass sie zukünftig keine Fotos mehr von ihrem Jungen anfertigen werde, sei das Verfahren beendet gewesen. Dass das Jugendamt im Rahmen der Gefährdungseinschätzung angesichts der schweren Anschuldigungen zunächst Gespräche mit den Mitarbeitern der L. geführt habe, entspreche der üblichen Vorgehensweise. Der Kindesvater sei vor der Klägerin informiert worden, weil er das Jugendamt wegen der von der Klägerin gegen ihn erhobenen massiven Vorwürfe um eine Klärung gebeten habe.
52Mit Beschluss vom 00.00.0000 hat die Kammer das Verfahren hinsichtlich der von der Klägerin begehrten Feststellung der Rechtswidrigkeit der Datenverarbeitung im angegriffenen Verwaltungsakt abgetrennt und an die dafür zuständige 00. Kammer abgegeben. Aufgrund der klägerischen Mitteilung vom 00.00.0000, dass es sich bei den gerügten Datenschutzverstößen nicht um einen eigenständigen Klageantrag, sondern lediglich um ein Element der Klagebegründung handele, ist das Verfahren (00 K 00/21) als auf sonstige Weise erledigt eingestuft worden.
53Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte dieses Verfahrens (bis zur mündlichen Verhandlung 548 Seiten), der beigezogenen Akten des Familiengerichts zum Verfahren 00 F 00/19 (zwei Bände mit insgesamt 503 Seiten) sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten (zwei Bände mit insgesamt 273 Seiten) verwiesen.
54Entscheidungsgründe:
55Das Verfahren war einzustellen, soweit die Klägerin die Klage in der mündlichen Verhandlung hinsichtlich der mit Klageerhebung am 00.00.0000 zunächst auch beantragten Verpflichtung des Beklagten, das Kind umgehend an sie herauszugeben, sinngemäß zurückgenommen hat. Gleiches gilt für die von der Klägerin in der Sitzung entsprechend erklärte Rücknahme ihres auf die Feststellung gerichteten Klageantrags vom 00.00.0000, dass der Sachverständige W3. bei ihr fälschlicherweise das Münchhausen-by-proxy-Syndrom diagnostiziert habe (§ 92 Abs. 3 VwGO).
56Soweit die Klage noch anhängig ist, hat sie nur teilweise Erfolg. Die Klägerin hat einen Anspruch auf die Feststellung, dass die am 00.00.0000 erfolgte Inobhutnahme des Kindes K. B1. durch das Jugendamt rechtswidrig war (1.). Im Übrigen war die Klage hinsichtlich der begehrten Feststellung der Rechtswidrigkeit von anderweitigem Verwaltungshandeln des Jugendamtes - Veranlassung der Vorstellung des Kindes beim Klinikum M2. E2. am 00.00.0000 (2.) und Durchführung eines im 00.00.0000 eingeleiteten Verfahrens nach § 8a SGB VIII (3.) - abzuweisen.
571. Soweit die Klägerin ihren in der mündlichen Verhandlung gestellten Klageantrag zu 1. weiter aufrechterhalten hat, geht das Gericht zu ihren Gunsten davon aus, dass es sich bei der mit Schriftsatz vom 00.00.0000 formulierten und von ihr als maßgeblich erklärten Neufassung ihres ursprünglichen Antrags nicht um eine objektive Klageänderung im Sinne des § 91 VwGO, sondern lediglich um die Klarstellung des von Anfang an Gewollten handelt. Namentlich nimmt die Kammer an, dass die Klägerin, die nach dem Wortlaut ihrer Klageschrift vom 00.00.0000 zunächst die Feststellung der Rechtswidrigkeit einer noch andauernden Inobhutnahme („rechtswidrig ist“) beantragt hat, von vornherein die Feststellung der Rechtswidrigkeit der mit der Herausgabe des Kindes an den sorgeberechtigten Vater nach § 42 Abs. 4 Nr. 1 SGB VIII bereits am 00.00.0000 beendeten Inobhutnahme („rechtswidrig war“) begehrt hat. Denn nach dem sog. Grundsatz der rechtsschutzgewährenden Auslegung ist im Zweifelsfall anzunehmen, dass das Rechtsmittel eingelegt werden sollte, das zulässig ist. Dass die Klägerin schon im Zeitpunkt der Klageerhebung anwaltlich vertreten war, ist unbeachtlich, weil der vorbezeichnete Grundsatz auch bei von rechtskundigen Prozessvertretern abgegebenen Prozesserklärungen zur Anwendung kommt.
58So grundlegend in ständiger Rechtsprechung BFH, u.a. Urteile vom 19. April 2007 - IV R 28/05 -, juris Rn. 18 f., und vom 25. Juni 2014 - I R 29/13 -, juris Rn. 12, jeweils m. w. N.; siehe zum obigen Grundsatz ferner BayLSG, Beschluss vom 23. September 2020 - L 11 SF 263/20 AB -, juris Rn. 12; OVG NRW, Beschluss vom 28. Februar 2020 - 4 B 813/18 -, juris Rn. 19 ff.
59Die so verstandene Klage ist als Fortsetzungsfeststellungsklage zulässig - a) - und begründet - b) -.
60a) Die Fortsetzungsfeststellungsklage ist für - wie hier - vorprozessual erledigte Verwaltungsakte analog § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO statthaft.
61Vgl. BVerwG, Urteil vom 14. Juli 1999 - 6 C 7/98 -, juris Rn. 20 ff., und Urteil vom 25. Juli 2007 - 6 C 39/06 -, juris Rn. 23.
62Sie ist auch im Übrigen zulässig; insbesondere ist ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse gegeben.
63Nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO spricht das Gericht in den Fällen, in denen sich der Verwaltungsakt vorher durch Zurücknahme oder anders erledigt hat, auf Antrag durch Urteil aus, dass der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat.
64Ein berechtigtes ideelles Interesse in Form einer Rehabilitierung besteht nur, wenn sich aus der angegriffenen Maßnahme eine Stigmatisierung des Betroffenen ergibt, die geeignet ist, sein Ansehen in der Öffentlichkeit oder im sozialen Umfeld herabzusetzen. Diese Stigmatisierung muss Außenwirkung erlangt haben und noch in der Gegenwart andauern. Die Schwelle wird erst mit dem konkreten personenbezogenen Vorwurf eines schuldhaft-kriminellen Verhaltens überschritten.
65Vgl. jeweils im Zusammenhang mit einer glücksspiel-rechtlichen Untersagung BVerwG, Urteile vom 20. Juni 2013 - 8 C 39.12 -, juris Rn. 24, und vom 16. Mai 2013 - 8 C 14.12 -, juris Rn. 25; im Zusammenhang mit einer Inobhutnahme unter Bezugnahme auf diese Entscheidungen OVG NRW, Beschluss vom 23. September 2015 - 12 A 1787/15 -, juris Rn. 11.
66Nach der jüngeren Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen kann ein Rehabilitationsinteresse nicht offensichtlich ausgeschlossen werden, wenn die Inobhutnahme von L2. - jedenfalls wenn sie mit der Herausnahme der Kinder aus öffentlichen Einrichtungen (Kindergarten, Schule) einhergeht - eine gewisse Außenwirkung hat und dem Ansehen des oder der Sorgeberechtigten in der Öffentlichkeit und im sozialen Umfeld nicht zuträglich ist. Ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse dürfte in Fällen dieser Art jedenfalls in Bezug auf den mit einer Inobhutnahme einhergehenden erheblichen Grundrechtseingriff in das durch Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG geschützte Elternrecht nicht ohne weiteres zu verneinen sein.
67Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 5. März 2019 - 12 E 805/18 -, juris Rn. 6, und Beschluss vom 24. August 2020 - 12 E 123/19 -, juris Rn. 9; demgegenüber kritisch im Falle eines kurzen Zeitraums zwischen Inobhutnahme und deren Erledigung in nur vier Stunden Hess. VGH, Urteil vom 8. September 2020 - 10 A 82/19 -, juris Rn. 33.
68Daran gemessen ist hier ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse der Klägerin zu bejahen. Zwar ist eine Stigmatisierung ihrer Person, die zudem noch fortbestehen muss, zweifelhaft. Denn die Inobhutnahme von K. B1. wurde am 00.00.0000 durch das Jugendamt intern in der L. M1. abgewickelt und der Junge sodann - nach relativ kurzer Zeit - seinem sorgeberechtigten Vater übergeben. Laut dem Vermerk einer Erzieherin vom 00.00.0000 saß diese mit der Klägerin in einem anderen Raum der Kindestagesstätte und eröffnete ihr die Maßnahme; die Gesprächsatmosphäre war demnach ruhig, sodass die Inobhutnahme kaum bzw. kein Aufsehen erregt haben dürfte. Die Abholung des Kindes von der L. durch seinen Vater war zudem nichts Ungewöhnliches, weil bereits dessen Umgangskontakte mit K. B1. auf diese Weise bewerkstelligt wurden. Der Klägerin wurde vom Jugendamt auch kein schuldhaft-kriminelles Verhalten vorgeworfen, sondern auf einem angenommenen Münchhausen-by-proxy-Syndrom beruhende und somit krankheitsbedingte Verhaltensweisen. Dass sich die vom Jugendamt unterstellte Diagnose in der Öffentlichkeit verbreitete, ist jedenfalls in erster Linie auf die Klägerin selbst zurückzuführen, weil sie sich nicht nur an zahlreiche Personen und Institutionen wie unter anderem Ärzte, Gerichte und Beratungsstellen - die zur Verschwiegenheit verpflichtet sind -, sondern auch an die Presse und das Fernsehen wandte. Jedoch nimmt die Kammer im Hinblick auf die jüngere Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen zu Gunsten der Klägerin das Fortsetzungsfeststellungsinteresse im Hinblick auf den tiefgreifenden Eingriff in ihr durch Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG geschütztes Elternrecht an.
69b) Die Fortsetzungsfeststellungsklage ist auch begründet. Die Inobhutnahme des Kindes K. B1. durch das Jugendamt vom 00.00.0000 war rechtswidrig und hat die Klägerin in ihren Rechten verletzt.
70Nach § 8a Abs. 2, § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII ist das Jugendamt berechtigt und verpflichtet, ein Kind oder einen Jugendlichen in seine Obhut zu nehmen, wenn eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen die Inobhut-nahme erfordert und, sofern - wie im vorliegenden Fall - ein Personensorgeberechtigter widerspricht, eine familiengerichtliche Entscheidung nicht rechtzeitig eingeholt werden kann. Die genannten Voraussetzungen waren im vorliegenden Fall nicht sämtlich erfüllt.
71Eine Gefahr im kinder- und jugendhilferechtlichen Sinn liegt - wie im allgemeinen Gefahrenabwehrrecht - dann vor, wenn im Zeitpunkt der behördlichen Entscheidung im Rahmen der prognostischen ex-ante-Betrachtung bei ungehinderten Ablauf des zu erwartenden Geschehens der Eintritt des Schadens hinreichend wahrscheinlich ist. Die hinreichende Wahrscheinlichkeit verlangt einerseits nicht Gewissheit, dass der Schaden eintreten wird. Andererseits genügt die bloße Möglichkeit eines Schadenseintritts grundsätzlich nicht zur Annahme einer Gefahr. Dabei ist allerdings zu beachten, dass hinsichtlich des Grades der Wahrscheinlichkeit insbesondere mit Blick auf das betroffene Schutzgut differenziert werden muss: Je größer und folgen-schwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist, umso geringer sind die Anforderungen, die an die Wahrscheinlichkeit zu stellen sind. Wo es um den Schutz besonders hochwertiger Schutzgüter geht, kann deshalb auch schon eine entfernte Möglichkeit eines Schadens die begründete Befürchtung seines Eintritts auslösen. Von letzterem ist im Jugendhilferecht regelmäßig auszugehen.
72Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 22. Dezember 2017 - 12 B 1553/17 -, juris Rn. 11, vom 7. November 2007 - 12 A 635/06 -, juris Rn. 9, und vom 27. Februar 2007 - 12 B 72/07 -, juris Rn. 30 ff., jeweils m. w. N.
73Eine Gefahr für das Kindeswohl liegt vor, wenn eine Gefahr für die Kindesentwicklung abzusehen ist, die bei ihrer Fortdauer eine erhebliche Schädigung des körperlichen, geistigen oder seelischen Wohls des Kindes mit ziemlicher Sicherheit voraus-sehen lässt; typische Anwendungsfälle sind Kindesmisshandlung, sexuelle Gewalt und W4. .
74Vgl. dazu OVG NRW, Beschlüsse vom 31. Oktober 2019 - 12 B 448/19 -, juris Rn. 17, vom 20. Dezember 2016 - 12 B 1262/16 -, juris Rn. 17, und vom 8. November 2006 - 12 B 2077/06 -, juris Rn. 10, m. w. N.
75Der Umstand, dass die Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII das Vorliegen einer "dringenden" Gefahr voraussetzt, begründet für den anzuwendenden Gefahrenbegriff keine wesentlichen inhaltlichen Änderungen. Eine "dringende Gefahr" besteht zwar nicht schon bei einer "bevorstehenden" oder "drohenden" Gefahr, aber auch nicht erst bei einer "unmittelbar bevorstehenden Gefahr".
76Vgl. dazu OVG NRW, Beschlüsse vom 31. Oktober 2019 - 12 B 448/19 -, juris Rn. 19, und vom 7. November 2007 - 12 A 635/06 -, juris Rn. 13, m. w. N.
77Die Annahme einer dringenden Gefahr für das Kindeswohl muss jedoch durch konkrete Tatsachen gerechtfertigt sein, wobei das Jugendamt im Rahmen des Möglichen zu prüfen hat, ob die Hinweise, die auf eine solche Gefahr schließen lassen, zutreffend sind.
78Vgl. BayVGH, Beschluss vom 9. Januar 2017 - 12 CS 16.2181 -, juris Rn. 12; Kirchhoff, in: jurisPK-SGB VIII, 2. Aufl. 2018 (Stand: 15. Dezember 2020), § 42 Rn. 79.
79Daran gemessen lag hier im maßgeblichen Zeitpunkt der Inobhutnahme am 00.00.0000 keine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes K. B1. vor.
80Das Jugendamt stützte sich, wie sich aus seinem Schreiben an das Familiengericht vom 00.00.0000 ergibt, bei der Inobhutnahme des Jungen maßgeblich auf das vom Familiengericht im Verfahren 00 F 00/19 eingeholte Gutachten des Facharztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Diplom-Sozialpädagoge W3. vom N. J1. für forensische Psychiatrie des Kindes- und Jugendalters, das das Datum „ 00.00.0000“ trägt und dem Jugendamt am 00.00.0000 vorlag. Das Jugendamt ging davon aus, dass der Gutachter bei der Klägerin das sog. Münchhausen-by-proxy-Syndrom festgestellt habe, weil diese ihr Kind überobligatorisch häufig Ärzten zum Zwecke der Untersuchung von Rötungen seines Analbereichs vorgestellt habe. Dieses Syndrom geht mit dem Erfinden, Übersteigern oder tatsächlichen Verursachen von Krankheiten oder Symptomen bei Dritten, mehrheitlich L2. einher, meist um anschließend eine medizinische Behandlung zu verlangen und/oder um selbst die Rolle eines scheinbar liebe- und aufopferungsvollen Pflegenden zu übernehmen. Dabei handelt es sich um eine subtile Form der Kindesmisshandlung, die bis zum Tod des Opfers führen kann. Die Täter - 90 bis 95 % sind Frauen - sind meistens die leiblichen Mütter.
81Vgl. „Artifizielle Störungen: Rätselhaft und gefährlich“ von September 2010, https://www.aerzteblatt.de.
82Ferner nahm das Jugendamt an - was ebenfalls aus seinem Schreiben an das Familiengericht vom 00.00.0000 hervorgeht -, dass die Symptome bei dem Kind mit hoher Wahrscheinlichkeit von der Klägerin selbst gefördert oder hervorgebracht worden seien. Zudem wurde befürchtet, dass die Klägerin nach Sichtung des Gutachtens des Herrn W3. überreagieren und das Kind weiter schädigen könnte. Hinzu kommt, dass nach den Darlegungen des Jugendamtes in der mündlichen Verhandlung auch die Vorgeschichte in die Entscheidung eingeflossen sei. Demnach sei der Klägerin daran gelegen gewesen, den Umgang des Kindesvaters mit dem Jungen zu verhindern. Die Situation habe sich im Laufe der Zeit zugespitzt. Außerdem hätten die behandelnden Ärzte der Kinderklinik des T2. . W2. -L1. Q. telefonisch erklärt, dass ihre ursprüngliche Einschätzung zu einem sexuellen Missbrauch des Kindes im Wesentlichen auf den Angaben der Klägerin beruht habe; beim zweiten stationären Aufenthalt des Jungen habe sich ein Arzt im Rahmen eines Telefonats zu einem etwaigen sexuellen Missbrauch deutlich kritischer geäußert. Die von der Klägerin erwähnten Äußerungen ihres Kindes, die auf einen solchen Missbrauch hingedeutet hätten, seien nie gegenüber Dritten wie z. B. den Erzieherinnen gefallen; auch die körperlichen Symptome des Jungen seien nur bei der Klägerin aufgetreten. Des Weiteren sei der Kontakt des Kindes mit seinem Vater, dessen Strafverfahren am 00.00.0000 abgeschlossen gewesen sei, vom Jugendamt als herzlich und deutlich unproblematischer wahrgenommen worden, beispielsweise was das Verzehren von süßen Nahrungsmitteln anbelange. In der Gesamtschau habe das Jugendamt daher nach Erhalt des Gutachtens ein schnelles Einschreiten noch am selben Tag für geboten gehalten.
83Diese Annahmen des Jugendamtes vermögen die Inobhutnahme des Kindes K. B1. indes nicht zu tragen. Dabei kann offen bleiben, ob das letztlich den Ausschlag für diese Maßnahme gebende Gutachten des Herrn W3. - wie der von der Klägerin beauftragte Diplom-Psychologe Prof. E. . U. in seiner fachpsychologischen Stellungnahme vom 00.00.0000 im Einzelnen monierte - tatsächlich an schwerwiegenden Mängeln leidet und deshalb kaum bzw. nicht zu verwerten ist. Denn nach Ansicht des Gerichts lässt sich jedenfalls diesem Gutachten eine gesicherte Diagnose eines Münchhausen-by-proxy-Syndroms bei der Klägerin nicht entnehmen, wenngleich zu Gunsten des Jugendamtes zu konzedieren ist, dass das Gutachten mitunter die wünschenswerte Klarheit vermissen lässt. Der Sachverständige äußerte lediglich einen Verdacht, indem er ausführte, dass das Vorliegen eines Münchhausen-by-proxy-Syndroms bei der Klägerin, deren Erziehungsfähigkeit und Bindungstoleranz - im Gegensatz zum Kindesvater - in erheblicher Weise eingeschränkt sei, „fraglich“ bzw. „möglich“ sei (S. 128 f.) bzw. dass für dieses Syndrom „durchaus“ „Warnhinweise“ zu erkennen seien (S. 138). Diese Sichtweise der Kammer deckt sich mit der Auffassung des Oberlandesgerichts I. im Beschluss vom 00.00.0000 - 00-00 UF 00/19 -, mit dem die Beschwerde der Klägerin gegen die Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts für das Kind auf dessen Vater (Beschluss des Familiengerichts vom 00.00.0000 - 00 F 00/19 -) zurückgewiesen und dem Vater überdies die Gesundheitsfürsorge für K. B1. zur alleinigen Ausübung übertragen wurde. Der Senat gelangte nach Auswertung des Gutachtens zu dem Ergebnis, dass die Klägerin nicht an einem Münchhausen-by-proxy-Syndrom leide und auch grundsätzlich erziehungsgeeignet sei. Deshalb kann auch dahingestellt bleiben, ob die von der Klägerin eingeholten - sehr knapp gehaltenen Stellungnahmen - der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie, psychosomatische Medizin und Psychotherapie M3. vom 00.00.0000 und der Diplom-Psychologin S2. vom 00.00.0000 aussagekräftig sind, wonach bei der Klägerin keine behandlungsbedürftige psychische Krankheit, sondern lediglich eine Belastungsreaktion wegen der erfolgten Inobhutnahme ihres Kindes vorliege.
84Ebenso wenig geht aus dem vom Jugendamt als maßgeblich eingestuften Gutachten des Herrn W3. deutlich hervor, dass eine akute Kindeswohlgefährdung und ein sofortiger Handlungsbedarf für eine Herausnahme des Jungen aus dem mütterlichen Haushalt bestanden. Zwar heißt es gegen Ende des Gutachtens (Seite 145), dass das Aufenthaltsbestimmungsrecht für das Kind dem Vater zu übertragen sein „dürfte“ und der Lebensmittelpunkt des Jungen nun „zwingend“ wechseln sollte. Zugleich sprach sich der Gutachter aber - unter gewissen Bedingungen - für Besuchskontakte des Kindes mit der Klägerin an jedem zweiten Wochenende aus. Dass die auf Veranlassung der Klägerin nach Aktenlage seit F1. 0000 relativ oft durchgeführten ärztlichen Untersuchungen des lediglich vereinzelt geröteten Anus ihres seinerzeit etwa vierjährigen Kindes, die teilweise nur unter Sedierung erfolgen konnten, nicht uneingeschränkt dem Kindeswohl dienten, liegt - wie bereits das Oberlandesgericht I. darlegte - auf der Hand. Davon ging auch der Gutachter W3. aus („… erscheint sicherlich eher kindeswohlfeindlich als kindeswohldienlich zu sein …“, S. 146, „ausgesprochen kindeswohlschädlich“, „erhebliche Kindeswohlbeeinträchtigung“, S. 147). Jedoch lässt sich ein Umkehrschluss, dass die relativ häufigen Inspektionen des Analbereichs eine dringende Gefahr für das Kindeswohl im Sinne des § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII begründeten, daraus nicht ohne weiteres ziehen. Daher kann es auch auf sich beruhen, ob der Vortrag der Klägerin zutreffend ist, dass ihr zu dieser Vorgehensweise von Fachleuten und Kinderärzten geraten worden sei. Die Auffassung der Kammer wird auch dadurch gestützt, dass die für das Verfahren 00 F 00/19 zuständige und mit dem Fall auch aus den anderen zahlreichen familiengerichtlichen Verfahren vertraute S. am Amtsgericht nach Eingang des Gutachtens am 00.00.0000 keine Veranlassung für sofortige Maßnahmen im Hinblick auf das Wohl von K. B1. sah. Denn sie erließ keine einstweilige Anordnung, gab den Beteiligten der Sache mit Verfügung vom 00.00.0000 Gelegenheit zur Stellungnahme mit einer Fristsetzung von zwei Wochen und beraumte unter dem 00.00.0000 einen Verhandlungstermin für den 00.00.0000 an. Auch in der Folgezeit zog die S. am Amtsgericht aus dem Gutachten des Herrn W3. keine für die Klägerin nachteiligen Schlüsse.
85Im Hinblick auf die Vermutung des Jugendamtes, dass die Klägerin die Symptome am Anusbereich ihres Kindes selbst verursacht habe, ergeben sich aus den Akten ebenfalls keine zureichenden Anhaltspunkte. Gleiches gilt für die Besorgnis des Jugendamtes, dass die Klägerin auf die im Gutachten des Herrn W3. getroffenen Feststellungen ihre Person betreffend im Hinblick auf das Wohl des Kindes eskalierend reagieren und dieses (weiter) schädigen könnte. Denn es gibt insbesondere keine Anzeichen von körperlichen Misshandlungen des Kindes durch die Klägerin in der Vergangenheit; vielmehr wird ihr Verhältnis zu ihrem Sohn ausnahmslos - auch vom Jugendamt sowie vom Gutachter W3. - als innig beschrieben.
86Auf die weiteren von der Klägerin thematisierten Gesichtspunkte kommt es nicht mehr an, weil der Streitgegenstand in diesem Verfahren bezüglich des Klageantrags zu 1. lediglich die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Inobhutnahme ihres Kindes nach § 42 SGB VIII ist. Dies gilt insbesondere in Bezug auf ihre regelmäßig, auch gegenwärtig noch wiederholten Andeutungen, der Kindesvater missbrauche den Jungen sexuell - was übrigens nach Aktenlage noch nicht einmal ärztlicherseits festgestellt wurde -, sowie in Bezug auf die Ursache der in der Vergangenheit von Ärzten festgestellten Rötungen des Anus ihres Kindes. Die Frage, bei welchem Elternteil K. B1. besser aufgehoben ist, unterliegt nicht der verwaltungsgerichtlichen Prüfungskompetenz.
87Zudem mangelt es vorliegend an der weiteren Voraussetzung § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 b) SGB VIII, dass vor der Inobhutnahme eine familiengerichtliche Entscheidung nicht rechtzeitig eingeholt werden konnte. Diese Tatbestandsalternative ist zu prüfen, weil die Klägerin als einer der sorgeberechtigten Elternteile der Inobhutnahme ihres Sohnes am 00. und 00.00.0000 widersprach.
88Die Vorschrift des § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 b) SGB VIII verdeutlicht, dass die Inob-hutnahme gegenüber familiengerichtlichen Entscheidungen nachrangig ist und des-halb grundsätzlich nur in besonders gelagerten akuten Gefährdungssituationen in Betracht kommt.
89Vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 28. März 2017 - OVG 6 S 8.17 -, juris Rn. 7.
90Die Kompetenz des Jugendamtes nach § 42 SGB VIII ist nach der gesetzlichen Konzeption in Abs. 3 der Vorschrift, die entweder eine unverzügliche familiengerichtliche Entscheidung (Satz 2 bis 4) oder ein unverzügliches Verfahren zur Gewährung von Hilfen (Satz 5, §§ 36 ff. SGB VIII) verlangt, eine enge Notkompetenz bzw. eine Befugnis in Eil- und Notfällen.
91Vgl. VG Schwerin, Urteil vom 3. Juni 2015 - 6 A 719/12 -, juris Rn. 36; Trenczeck, in: Münder u.a., Frankf. Komm. SGB VIII 8. Auflage 2019, § 42 Rn. 1.
92Wenn möglich soll gemäß § 8a Abs. 2 Satz 1 und § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 b) SGB VIII das in erster Linie zum Eingriff in die elterliche Sorge berufene Familiengericht tätig werden. Nur wenn dies ausgeschlossen ist und seine Entscheidung wegen der Dringlichkeit der Gefahr nicht abgewartet werden kann (§ 8a Abs. 2 Satz 2 SGB VIII), darf das Jugendamt entscheiden und tätig werden.
93Eine familiengerichtliche Entscheidung kann i. S. v. § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII nicht schon dann rechtzeitig,
94vgl. OVG NRW, Beschluss vom 21. Dezember 2015 - 12 E 717/15 -, n. v.,
95eingeholt werden, wenn das Familiengericht vor der Inobhutnahme noch hätte angerufen werden können, sondern erst dann, wenn eine familiengerichtliche Entscheidung, und sei es eine einstweilige Anordnung, zur Begegnung der Kindeswohlgefährdung rechtzeitig hätte erwirkt werden können.
96Vgl. dazu OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 4. März 2016 - 6 S 60.15 -, juris Rn. 4.
97Dies zugrunde gelegt stand § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 b) SGB VIII einer rechtmäßigen Inobhutnahme von K. B1. ebenfalls entgegen. Selbst wenn eine dringende Gefahr für das Kindeswohl vorgelegen hätte, wäre eine familiengerichtliche Entscheidung rechtzeitig vor der Maßnahme zu erreichen gewesen. Nach Aktenlage setzte das Jugendamt das Familiengericht erst am Abend des 00.00.0000 schriftlich von der bereits erfolgten Inobhutnahme in Kenntnis. Soweit eine Jugendamtsmitarbeiterin in der mündlichen Verhandlung erstmalig geltend gemacht hat, sie habe an diesem Tag vor der Durchführung der Inobhutnahme mit der ihr unter anderem aus dem laufenden Verfahren 00 F 00/19 bekannten S. am Amtsgericht telefoniert und ihr von der beabsichtigten Maßnahme berichtet, folgt daraus keine andere Bewertung. Denn die Mitarbeiterin hat den genauen Gesprächsablauf nicht mehr rekonstruieren können. Nach ihrer Erinnerung habe die S. damals sinngemäß geäußert, dass das Jugendamt gemäß seiner Einschätzung handeln solle; ob auch über den vorrangigen Erlass einer einstweiligen Anordnung durch das Familiengericht gesprochen worden sei, wisse sie - die Jugendamtsmitarbeiterin - nicht mehr.
982. Die Klage bleibt ohne Erfolg, soweit die Klägerin die Feststellung begehrt, dass die vom Jugendamt veranlasste Vorstellung des Kindes bei der Kinderklinik M2. am 00.00.0000 rechtswidrig gewesen sei. Diesen Antrag hat die Klägerin mit Schriftsatz vom 00.00.0000 im Wege einer Klageerweiterung in das Verfahren eingeführt und ihn darüber hinaus in der mündlichen Verhandlung umformuliert. Ungeachtet der Frage, ob hierfür die Voraussetzungen des § 91 VwGO erfüllt sind, hat die Klägerin jedenfalls keinen Anspruch auf die beantragte Feststellung. Dabei kommt mangels Verwaltungsaktsqualität (§ 35 Satz 1 VwVfG NRW) des von der Klägerin gerügten Verwaltungshandelns nur die allgemeine Feststellungsklage nach § 43 VwGO in Betracht.
99Nach § 43 Abs. 1 VwGO kann durch Klage die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses begehrt werden, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an der baldigen Feststellung hat.
100Es ist bereits zweifelhaft, ob es sich bei der vom Beklagten initiierten Vorstellung des Jungen zum Zwecke seiner ärztlichen Untersuchung im Klinikum M2. E2. um ein feststellungsfähiges Rechtsverhältnis in diesem Sinne handelt. Ein solches setzt voraus, dass sich Rechtsbeziehungen - hier zwischen einer juristischen Person und einer natürlichen Person - verdichtet haben. Die bloße Pflicht für eine Behörde, Gesetze zu befolgen und sie nicht zu übertreten, bildet für sich allein kein Rechtsverhältnis.
101Vgl. Sodan, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Auflage 2018, § 43 Rn. 7 und 10.
102Die Bedenken der Kammer resultieren daraus, dass das Jugendamt lediglich den Termin mit dem Klinikum M2. E2. vereinbart hatte und sodann den die Gesundheitssorge für den Jungen ausübenden Kindesvater kurzfristig bat, den Arzttermin mit K. B1. wahrzunehmen - was der Vater hätte ablehnen können -, und die Klägerin in diese Aktion nicht involviert war. Dass die Klägerin dieses erkennbar der Amtsermittlung des Jugendamtes dienende Vorgehen im Klagewege rügt, ist nicht nachvollziehbar. Denn sie machte am Vortag der ärztlichen Untersuchung beim Petitionsausschuss des nordrhein-westfälischen Landtages geltend, dass die Symptome bei ihrem Sohn weiterhin wiederkehrend aufträten und das Jugendamt diese Sache in der Vergangenheit nicht angemessen behandelt habe. Selbst wenn zu Gunsten der Klägerin ein Rechtsverhältnis im obigen Sinne unterstellt wird, mangelt es jedenfalls an einem Feststellungsinteresse. Denn ein berechtigtes Interesse bei - wie hier - bereits der Vergangenheit angehörenden Rechtsverhältnissen ist grundsätzlich nur dann anzuerkennen, wenn das Rechtsverhältnis über seine Beendigung hinaus anhaltende Wirkung in der Gegenwart entfaltet, insbesondere bei fortdauernden Rechtsbeeinträchtigungen und bei Wiederholungsgefahr.
103Vgl. dazu Kopp/Schenke, VwGO, 27. Auflage 2021, § 43 Rn. 25; Sodan, in: Sodan/Ziekow, 5. Auflage 2018, § 43 Rn. 18.
104Dafür sieht die Kammer hier auch unter Würdigung des klägerischen Vorbringens keine Anhaltspunkte.
1053. Zumindest aus dem Grund des fehlenden Feststellungsinteresses bleibt auch dem weiteren Feststellungsantrag der Klägerin, der ebenso am 00.00.0000 klageerweiternd gestellt und in der mündlichen Verhandlung neugefasst worden ist, der Erfolg versagt. Das vom Jugendamt im 00.00.0000 aufgrund der Tatsache, dass die Klägerin den Analbereich ihres Sohns unstreitig fotografiert hatte, nach § 8a SGB VIII eingeleitete Verfahren war mit der Abgabe ihrer Erklärung, dies zukünftig zu unterlassen, beendet. Dass von dem - etwaigen - der Vergangenheit angehörenden Rechtsverhältnis noch Wirkungen ausgehen, ist nicht ersichtlich und auch von der Klägerin nicht mit Substanz vorgetragen worden.
106Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit fußt auf § 188 Satz 2 Halbsatz 1, Satz 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO, § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.
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- 6 C 39/06 1x (nicht zugeordnet)
- § 42 SGB VIII 3x (nicht zugeordnet)
- 00 K 00/21 1x (nicht zugeordnet)
- 12 E 123/19 1x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 43 2x
- BGB § 1671 Übertragung der Alleinsorge bei Getrenntleben der Eltern 1x
- VwGO § 188 1x