Urteil vom Landgericht Frankenthal (Pfalz) (2. Zivilkammer) - 2 S 132/20
Tenor
1. Auf den Einspruch der Beklagten wird das Versäumnisurteil der Kammer vom
14.07.2021 abgeändert:
Auf die Berufung der Beklagten wird unter Zurückweisung ihres weitergehenden Rechtsmittels das Urteil des Amtsgerichts Grünstadt vom 10.06.2020, Az. 5 C 102/19, teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:
Die Beklagten werden verurteilt es zu dulden, dass der Kläger die von der an der Grenze stehenden Fichte auf dem Anwesen [...] auf das Anwesen [...] herüberwachsenden Wurzeln, die durch die Oberfläche der Grasnarbe hindurchgestoßen sind, entfernt.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
2. Die Beklagten haben vorab die durch die Säumnis im Termin vom 14.07.2021 entstandenen Kosten zu tragen. Im Übrigen werden die Kosten des Rechtsstreits gegeneinander aufgehoben.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
4. Die Revision gegen dieses Urteil wird nicht zugelassen.
5. Der Streitwert wird auf 4.000 € festgesetzt.
Gründe
I.
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Auf die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil wird Bezug genommen (§ 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO).
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Von der Darstellung etwaiger Änderungen oder Ergänzungen wird abgesehen (§§ 540 Abs. 2, 313a ZPO).
II.
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Der Einspruch der Beklagten gegen das Versäumnisurteil der Kammer vom 14.07.2021 ist zulässig. Das Versäumnisurteil ist dem Beklagtenvertreter am 19.07.2021 zugestellt worden, die Einspruchsschrift ist am 23.07.2021 eingegangen, so dass die Frist der §§ 539 Abs. 3, 339 Abs. 1 ZPO gewahrt wurde. Auch die Form der §§ 539 Abs. 3, 340 Abs. 1 ZPO ist gewahrt.
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Der Einspruch hat in der Sache teilweise Erfolg, da die zulässige Berufung der Beklagten in der Sache teilweise begründet ist.
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Der Kläger hat zwar gegen die Beklagten einen Anspruch, das Abschneiden der Wurzeln zu dulden, die von der Fichte auf dem Grundstück der Beklagten in seines hineinragen und dort durch die Oberfläche des Bodens hindurchbrechen; die Beklagten müssen aber nicht dulden, dass er die von dem Baum herüberragenden Äste abschneidet.
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1. Im Hinblick auf die in das Grundstück des Klägers eingedrungenen Wurzeln der Fichte hat das Amtsgericht zu Recht die Voraussetzungen des Selbsthilferechts nach § 910 Abs. 1 S. 2 BGB bejaht.
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Der Kläger als Eigentümer ist aufgrund des Selbsthilferechts befugt, die über die Grundstücksgrenze hinaus in sein Grundstück eingedrungenen Wurzeln abzuschneiden, soweit sie die konkrete Benutzung des klägerischen Grundstücks beeinträchtigen. Dementsprechend hat der Kläger gegen die Beklagten einen Anspruch auf Duldung des Abschneidens der Wurzeln.
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a) Nach den Feststellungen des erstinstanzlichen Sachverständigen hat sich - nachdem die Wurzeln im Garten der Beklagten vor 10 - 15 Jahren abgetrennt wurden und weder dort noch unter den benachbarten Garagen wachsen konnten - im Garten des Klägers ein mehrere Meter in den Garten hineinwachsendes, stark ausgebildetes Wurzelsystem der streitgegenständlichen Fichte entwickelt und sich dort ein Netz der über 5 cm dicken stark Wurzeln gebildet, die sich zum Teil sogar übereinander schieben (S. 7, 8 des Gutachtens). Die flach gelagerten Hauptwurzeln der Fichte stoßen oberflächlich durch die Grasnarbe und sind nach den Feststellungen des Sachverständigen an mehreren Stellen durch Rasenmähen beschädigt. Die Oberfläche ist uneben, es bilden sich Stolperstellen, und die Fläche ist schlecht mähbar; der Sachverständige vermutet aufgrund der erheblichen Schäden an den Wurzeln, dass auch Schäden am Mähwerk von Rasenmähern entstünden.
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b) Die für das Selbsthilferecht aus § 910 BGB notwendige Beeinträchtigung der Nutzung (s. § 910 Abs. 2 BGB) liegt danach vor.
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Erforderlich ist eine objektive Beeinträchtigung. Diese ist gegeben, wenn die konkrete Nutzung des Grundstücks durch die eingedrungenen Wurzeln oder Zweige erschwert oder verhindert wird; die Nutzung kann wirtschaftlichen Zwecken oder Freizeit und Erholung dienen (MüKoBGB/Brückner, 8. Aufl. 2020, § 910 Rn. 8). Der Entzug von Nahrung und Feuchtigkeit infolge von eingedrungenen Wurzeln reicht nicht aus, soweit dadurch allein der Erdboden, nicht aber seine Benutzung beeinträchtigt wird. Erst wenn die Beeinträchtigung auf diese Weise ein Ausmaß erreicht, das die Fruchtgewinnung verkürzt oder die Bestellung des Grundstücks erschwert, liegt eine Nutzungsbeeinträchtigung im Sinne dieser Vorschrift vor, etwa wenn die Anlage eines Zier- oder Nutzgartens unmöglich ist, Plattenwege angehoben werden oder Wurzeln in Fundamente oder Abflussrohre eindringen (MüKoBGB/Brückner, a.a.O., § 910 Rn. 10 m.w.N.).
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Bloße Natureinwirkungen an sich reichen somit nicht aus, sehr wohl aber durch Natureinwirkungen ausgelöste Beeinträchtigungen. Denn auch durch Naturereignisse ausgelöste Störungen können dem Eigentümer zurechenbar sein. Die Störereigenschaft der Beklagten als Eigentümer des Baumes ist danach zu bejahen.
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Denn nach dem Grundgedanken des § 903 BGB in der Ausprägung des § 910 BGB muss der Eigentümer dafür Sorge tragen, dass die Baumwurzeln nicht über die Grenzen seines Grundstücks hinauswachsen (BGH, NJW 2004, 603, 604).
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Dass nur solche Wurzeln zu entfernen wären, die zu einer konkreten Beschädigung von Grundstücksteilen wie beispielsweise der Garage führen, wie die Beklagten meinen, ist unzutreffend. Es kommt entscheidend auf die Beeinträchtigung der konkreten Benutzung an. Der Garten des Klägers ist ausweislich der in der Akte befindlichen Lichtbilder als Freizeitgarten genutzt; ein zum Haus hin gelegener Teil ist als Terrasse befestigt, auf der dem Beklagtengrundstück abgewandten Seite befinden sich Sträucher, rechts der Garagentür ebenfalls. Im Übrigen befindet sich im Garten des Klägers ein “lückig bestockter, krautreicher Grasbewuchs mit Moos“ (Gutachten S. 5; s.a. Fotos Bl. 32 d.A.). Die Nutzung eines Freizeitgartens mit Grasbewuchs wird erschwert, wenn der Rasen durch an der Oberfläche hervorstoßenden Wurzeln nicht mehr gemäht werden kann, ohne dass das Risiko besteht, die Messer des Rasenmähers dabei zu beschädigen. Außerdem wird die Nutzung bei Betreten des Grases im Rahmen des Aufenthalts im Garten durch die Stolperstellen, die aufgrund der Wurzeln entstehen, beeinträchtigt.
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Die Beeinträchtigungen sind zwar nicht so erheblich wie dann, wenn Wurzeln Plattenwege oder Garagenfundamente angreifen. Sie sind aber auch nicht ganz unerheblich. Ob der Kläger gänzlich unerhebliche Beeinträchtigungen hinnehmen muss, kann daher an dieser Stelle offenbleiben. Der Bundesgerichtshof hat bislang ausdrücklich offengelassen, ob - wie es Teile der Rechtsprechung annehmen (vgl. z.B. OLG Köln, NJW-RR 1997, 656; 1989, 1177; OLG Karlsruhe, MDR 2014, 893; OLG Koblenz, MDR 2014, 25; OLG Schleswig, NJOZ 2011, 344) - im Fall einer gänzlich unerheblichen Beeinträchtigung der Grundstücksnutzung eine Duldungspflicht nach § 910 BGB bestünde (vgl. BGH, Urteil vom 14.06.2019 - V ZR 102/18, NZM 2019, 898 Rn. 10 m.w.N.; NJW 2004, 1037, 1039).
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c) Die Beklagten müssen das Abschneiden der in das klägerische Grundstück eingedrungenen Wurzeln jedoch nur insoweit dulden, als die Wurzeln die konkrete Benutzung des klägerischen Grundstücks beeinträchtigen. Das Selbsthilferecht des Klägers bezieht sich daher vorliegend nur auf die durch die Oberfläche der Grasnarbe hindurchgebrochenen Wurzeln, wie sie auf den Fotos zu erkennen sind, die bei dem Ortstermin und vom Sachverständigen angefertigt wurden.
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2. Dass die Entfernung der Wurzeln - wovon nach dem Sachverständigengutachten auszugehen ist - zu einer Beeinträchtigung der Standsicherheit und zum Absterben der Fichte führen wird, steht dem Selbsthilferecht des Klägers gemäß § 910 BGB nicht entgegen.
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Für die Frage des Überhangs hat der Bundesgerichtshof die Frage, ob das durch § 910 BGB gewährte Selbsthilferecht des Nachbarn auch dann besteht, wenn der Baum infolge der Beseitigung des Überhangs seine Standfestigkeit verliert oder abzusterben droht, jüngst bejaht (vgl. BGH, Urteil vom 11.06.2021 - V ZR 234/19, nach Juris). Danach ist dann, wenn die Nutzung des Grundstücks des Nachbarn durch Überhang beeinträchtigt wird, die Entfernung des Überhangs durch den Nachbarn für den Eigentümer des Baumes auch dann nicht unzumutbar, wenn dadurch das Absterben des Baums oder der Verlust seiner Standfestigkeit droht. Denn das Selbsthilferecht aus § 910 Abs. 1 BGB sollte nach der Vorstellung des Gesetzgebers einfach und allgemein verständlich ausgestaltet sein und unterliegt daher insbesondere keiner Verhältnismäßigkeits- oder Zumutbarkeitsprüfung (BGH, a.a.O. Rn. 24, zit. n. Juris). Zudem liegt demnach die Verantwortung dafür, dass Äste und Zweige nicht über die Grenzen des Grundstücks hinauswachsen, bei dem Eigentümer des Grundstücks, auf dem der Baum steht; er ist hierzu im Rahmen der ordnungsgemäßen Bewirtschaftung seines Grundstücks gehalten (BGH, a.a.O., Rn. 25, zit. n. Juris). Kommt er dieser Verpflichtung nicht nach und lässt er die Zweige des Baumes über die Grundstücksgrenze wachsen, dann kann er nicht unter Verweis darauf, dass der Baum (nunmehr) droht, durch das Abschneiden der Zweige an der Grundstücksgrenze seine Standfestigkeit zu verlieren oder abzusterben, von seinem Nachbarn verlangen, das Abschneiden zu unterlassen und die Beeinträchtigung seines Grundstücks hinzunehmen (BGH, a.a.O., Rn. 25, zit. n. Juris).
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Nichts anderes kann für das drohende Absterben eines Baumes, hier der Fichte, durch das Abschneiden der Wurzeln auf dem Nachbargrundstück gelten.
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3. Das Selbsthilferecht des Klägers ist vorliegend auch nicht durch naturschutzrechtliche Regelungen wie etwa eine Baumschutzsatzung eingeschränkt. Ausweislich der Mitteilung der Stadtverwaltung Grünstadt vom 29.01.2020 besteht für Grünstadt keine Baumschutzsatzung.
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4. Dem Selbsthilferecht des Klägers steht - entgegen der Auffassung der Berufung - auch der Ablauf der in § 51 Abs. 3 LNRG bestimmten Ausschlussfrist nicht entgegen. Danach erlischt der Beseitigungsanspruch bzgl. Bäumen, die den vorgeschriebenen Grenzabstand nicht einhalten, wenn der betroffene Nachbar nicht innerhalb von 5 Jahren Klage auf Beseitigung erhoben hat.
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Die Ausschlussfrist des § 51 Abs. 3 LNRG betrifft ausschließlich die Ansprüche aus § 51 Abs. 1,2 LNRG auf Beseitigung oder Zurückschneiden, nicht aber Ansprüche, die sich aus anderen Rechtsgrundlagen ergeben, insbesondere aus Bundesrecht, wie vorliegend aus § 910 BGB (vgl. Hülbusch/Bauer/Schlick, Nachbarrecht für Rheinland-Pfalz und das Saarland, § 51 Rn. 6).
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Eine solche landesgesetzliche Ausschlussfrist kann nämlich, wie Art. 124 EGBGB zeigt, zwar das Grundstückseigentum (hier: der Beklagten) zugunsten des Nachbarn weitergehenden Beschränkungen unterwerfen, nicht aber umgekehrt dem Nachbarn (hier: dem Kläger) Rechte nehmen, die sich für ihn aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch ergeben (vgl. BGH, Urteil vom 11.06.2021 - V ZR 234/19, Rn. 9, zit. n. Juris; MDR 2004, 503 m.w.N.).
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5. Zutreffend hat das Amtsgericht auch die Verjährung des klägerischen Anspruchs verneint. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs verjährt zwar der Anspruch aus § 1004 Abs. 1 BGB in der regelmäßigen Verjährungsfrist der §§ 195, 199 BGB (vgl. BGH, Urteil vom 22.02.2019 - V ZR 136/18, NZM 2019, 350; Urteil vom 14.06.2019 - V ZR 102/18, NJW-RR 2019, 1356 Rn. 17; BGH NJW 2014, 3780 Rn. 11). Das Selbsthilferecht des § 910 BGB unterliegt dagegen keiner Verjährung, da es sich nicht um einen Anspruch im Sinne des § 194 BGB handelt (Staudinger/Roth (2020) BGB § 910 Rn. 28). Ist somit der Beseitigungsanspruch nach §§ 1004 Abs. 1, 195, 199 BGB verjährt, so bleibt der vom Störer geschaffene Zustand rechtswidrig und kann vom Gestörten nach § 910 BGB auf eigene Kosten beseitigt werden (vgl. BGH NJW 2011, 1068; LG Freiburg NJOZ 2015, 727, 730).
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6. Der Anspruch des Klägers ist auch nicht verwirkt.
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Zwar hat der Kläger sein Selbsthilferecht zum Kappen der Wurzeln etwa 8 Jahre lang nicht geltend gemacht. So ist der Baum nach den Ausführungen des Sachverständigen etwa 40 Jahre alt; die Beklagten haben zudem in der Berufungsbegründung unwidersprochen behauptet, dass sich sein Zustand hinsichtlich der Wurzeln in den letzten 10 Jahren nicht verändert habe und erst persönliche Animositäten den Kläger im Jahre 2018 bewogen hätten, ihnen erstmals Vorhaltungen wegen des Überwuchses zu machen. Für die Annahme der Verwirkung eines Rechts ist jedoch neben dem reinen Zeitablauf erforderlich, dass der Berechtigte durch sein gesamtes Verhalten bei dem Verpflichteten das Vertrauen geschaffen hat, er werde sein Recht nicht mehr geltend machen, und dass dieser sich darauf eingerichtet hat; der Vertrauenstatbestand kann nicht durch bloßen Zeitablauf geschaffen werden (BGH, Urteil vom 11.06.2021 - V ZR 234/19, Rn. 10; Urteil vom 15.12.2017 - XII ZR 275/16, Rn. 22, jew. zit. N. Juris).
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Besondere Umstände, die vorliegend zum Zeitablauf im Verhalten sowohl des Berechtigten als auch der Verpflichteten hinzugetreten sind und die es rechtfertigen, die späte Geltendmachung des Rechts als mit Treu und Glauben unvereinbar und für den Verpflichteten als unzumutbar anzusehen, haben die Beklagten nicht vorgetragen. Solche sind auch nicht ersichtlich.
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7. Erfolg hat die Berufung allerdings, soweit die Beklagten ihre Verurteilung zur Duldung der Entfernung von auf das Anwesen des Klägers herüberragenden Ästen angreifen.
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a) Es trifft zunächst allerdings nicht zu, dass, wie die Beklagten in der Berufung geltend
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machen, wegen Abnadelns grundsätzlich kein Abschneiden von überhängenden Ästen verlangt werden könne, da es sich um Naturereignisse handele. In dem von den Beklagten zitierten Urteil des Bundesgerichtshofs vom 20.09.2019 - V ZR 218/18 (BGHZ 223, 155) ist vielmehr ausgeführt, dass der Grundstückseigentümer für natürliche Einwirkungen auf das Nachbargrundstück, die von § 910 BGB (Überhang) nicht erfasst werden, regelmäßig nicht verantwortlich ist, wenn die Anpflanzungen mit dem Landesnachbarrecht in Einklang stehen, insbesondere den Abstandsvorschriften genügen. Der Grundstückseigentümer, der es zugelassen hat, dass Zweige oder Wurzeln über die Grundstücksgrenze hinüberwachsen konnten und zu Beeinträchtigungen geführt haben, ist dagegen als Störer im Sinne des § 1004 Abs. 1 BGB zu qualifizieren (vgl. BGH, a.a.O., Rn. 19; NJW 2004, 603; NZM 2005, 318; NJW- RR 2019, 1356). Dies beruht entscheidend darauf, dass der Eigentümer aufgrund der
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Spezialregelung des § 910 BGB dafür Sorge tragen muss, dass Baumwurzeln oder Zweige nicht über die Grenzen seines Grundstücks hinauswachsen. Hierzu ist er im Rahmen der ordnungsgemäßen Bewirtschaftung des Grundstücks gehalten (BGH NJW 2020, 607 Rn. 19; NJW 2004, 603; NJW-RR 2019, 1356). Im vorliegenden Fall hingegen ist der nach dem Landesnachbarrecht vorgesehene Abstand (nach § 41 Nr. 1 a) LNRG beträgt dieser 4 m) gerade nicht eingehalten; im Streit ist zudem Abfall von Nadeln und Pflanzenteilen von gerade in das Nachbargrundstück hinüberwachsenden Ästen.
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b) Es lässt sich jedoch keine Beeinträchtigung im Sinne des § 910 Abs. 2 BGB aufgrund des Überhangs von Ästen feststellen.
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Ob der Eigentümer eines Grundstücks vom Nachbargrundstück herüberragende Zweige ausnahmsweise dulden muss, bestimmt sich - vorbehaltlich naturschutzrechtlicher Beschränkungen eines Rückschnitts - allein nach § 910 Abs. 2 BGB. Der Maßstab des § 906 BGB gilt hierfür auch dann nicht, wenn die von den herüberragenden Zweigen ausgehende Beeinträchtigung in einem Laubnadeln und Zapfenabfall besteht. Auf das Kriterium der Ortsüblichkeit kommt es insoweit folglich nicht an (BGH, Urteil vom 11.06.2021 - V ZR 234/19, Rn. 7; Urteil vom 14.06.2019 - V ZR 102/18, NZM 2019, 898).
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Auch bei Zweigen genügt aber allein die Tatsache des Überhangs nicht. Hinzukommen müssen weitere Beeinträchtigungen, die sich aus den überhängenden Zweigen selbst oder aus dem von diesen ausgehenden Laub-, Blüten- oder Nadelfall ergeben können.
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Die ab einer Höhe von über 4 m überwachsenden Äste der Fichte selbst stellen vorliegend keine Beeinträchtigung dar, weil sie die Nutzung des klägerischen Grundstücks nicht stören.
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Auch eine objektive Beeinträchtigung der Grundstücksbenutzung durch das Abfallen von Nadeln und Zapfen der Fichte von den herüberragenden Ästen ist hier jedoch nicht feststellbar. Nach der Rechtsprechung wird in diesem Zusammenhang eine Beeinträchtigung des Grundstücks angenommen beispielsweise bei Abfallen zahlreicher Mostbirnen, Abfallen dicker Äste bzw. einer konkreten Gefahr dafür, Verstopfen von Regenrinnen, Abfallen von 480 l pro Jahr an Nadeln und Zapfen von den herüberragenden Ästen einer Douglasie. Auch wird erheblicher Laubfall auf eine Garageneinfahrt als Beeinträchtigung angesehen, nicht aber der Fall weniger Blätter, wenn es nicht zu Sachbeschädigungen kommen kann (vgl. BeckOGK/Vollkommer BGB § 910 Rn. 20-20.4 m.w.N.; LG Kleve, MDR 1982,230).
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Vorliegend ist weder die Beeinträchtigung einer Einfahrt oder eines Weges ersichtlich noch die Erforderlichkeit häufiger Reinigungsarbeiten durch Nadelfall. Auch ist weder vorgetragen noch erkennbar, wodurch die konkrete Nutzung des Gartens beeinträchtigt werden soll. Die auf das Sachverständigengutachten gestützte Feststellung des Amtsgerichts allein, dass der durch den hohen Anteil an durch Fichten gebildete Rohhumus starke Säuren bildet und deshalb für das Bodenleben und das Pflanzenwachstum nicht förderlich ist, genügt für die hier maßgebliche Frage der fühlbaren Beeinträchtigung der Grundstücksnutzung nicht, da bereits nicht dargetan ist, worin die Beeinträchtigung der Nutzung bestehen soll.
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Der Kläger hat erstinstanzlich zunächst lediglich vorgetragen, die Äste ragten auch über seine Garage, diese werde durch herabfallende Blätter (!) verunreinigt und es bilde sich durch hinüberwachsenden Äste Moos auf der Garage. Auf den in der Akte befindlichen Lichtbildern ist jedoch ein Moosbefall zum einen auch auf Garagendächern auszumachen, die sich nicht in der Nähe der Fichte befinden. Auf der Garage des Klägers hingegen lässt sich ein solcher nicht ausmachen (vgl. Foto 4, S. 13 des Gutachtens), ebensowenig wie Nadeln oder Zapfen.
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Auch ist nicht nachzuvollziehen, woher das Amtsgericht einen nicht unerheblichen Nadelfall im Garten des Klägers ableiten will und wie es zu der Folgerung gelangt, dass die „vorstehend geschilderte Beeinträchtigung ... aufgrund der Menge und des Ausmaßes nicht mehr als unerheblich angesehen werden“ könne. Soweit der Kläger in der Berufungserwiderung erstmals ein „massives Abnadeln“ behauptet, haben die Beklagten dies bestritten.
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Der Sachverständige hat zwar ausgeführt, dass sich ein Drittel der Kronenfläche der Fichte über dem Garten des Antragstellers befinde und dies in etwa auch der Verteilung der Streubelastung durch Nadeln, Zweige und Früchte entspreche (S. 10 des Gutachtens). Auch hat er dargelegt, dass die Vitalität des Baumes deutlich eingeschränkt sei und der Nadelverlust mit etwa 45 % gegenüber einem normal ausgebildeten Baum anzunehmen sei (S. 7/8 des Gutachtens). Zur Menge von abfallenden Nadeln, Zapfen oder Zweigen der Fichte ist indes nichts vorgetragen. Dass im Garten des Klägers, in dem zudem ebenfalls mehrere Sträucher stehen, gerade aufgrund des Abfalls der Fichte eine Beeinträchtigung der konkreten Nutzung gegeben wäre, hat der Kläger selbst schon nicht dargelegt.
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8. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 92 Abs. 1, 97, 344 ZPO, diejenige zur vorläufigen Vollstreckbarkeit aus § 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.
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Gründe für eine Zulassung der Revision im Sinne des § 543 Abs. 2 ZPO liegen nicht vor.
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Die Streitwertfestsetzung folgt aus §§ 48, 47 GKG.
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