Beschluss vom Schleswig Holsteinisches Oberverwaltungsgericht (4. Senat) - 4 MB 23/22, 4 O 13/22

Tenor

Der Antrag auf Beiladung des Migrationsamtes Bremen wird abgelehnt.

Die Beschwerde gegen den Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts - 11. Kammer - vom 31. Mai 2022, mit dem der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes abgelehnt wird, wird zurückgewiesen.

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird abgelehnt.

Auf die Beschwerde gegen die Ablehnung des Antrages auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Verfahren erster Instanz (11 B 1/22) wird dem Antragsteller unter Abänderung des Beschlusses des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts - 11. Kammer - vom 31. Mai 2022 Prozesskostenhilfe bewilligt und ihm Rechtsanwältin ... ..., Bremen, beigeordnet unter den Bedingungen einer in Schleswig-Holstein ansässigen Prozessbevollmächtigten.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 5.000,- Euro festgesetzt.

Gründe

I.

1

Der Antragsteller ist türkischer Staatsangehöriger. Seit dem negativen Abschluss seines in Schleswig-Holstein betriebenen Asylverfahrens im Jahre 2021 ist er vollziehbar ausreisepflichtig. Wegen eines fehlenden Passes erhielt er vom Antragsgegner Duldungen, zunächst ohne Beschäftigungserlaubnis. Nach Vorlage eines unbefristeten Arbeitsvertrages als Küchenchef in einem Schnellrestaurant eines Cousins in Bremerhaven erhielt er für die Zeit vom 1. Juli bis zum 9. August 2021 – mit Zustimmung der Bundesagentur für Arbeit – eine Beschäftigungserlaubnis; danach sollte eine erneute Prüfung stattfinden. Eine Verlängerung der Beschäftigungserlaubnis erfolgte nicht.

2

Mit Schreiben vom 24. August 2021 bat der Antragsteller brieflich, die Duldungsbescheinigung an eine Adresse in Bremen zu versenden. Er wolle sich in Bremerhaven anmelden, da er dort mit seiner Freundin zusammenleben wolle. Der Antragsgegner verfuhr entsprechend und übersandte ihm eine bis zum 28. August 2021 befristete Duldung. Spätere Duldungen, nach Aktenlage zuletzt am 8. November 2021, befristet bis zum 18. November 2021, wurden gemäß § 60b AufenthG erteilt; die Bescheinigung wurde dem Antragsteller wieder an die ihm zugewiesene Wohnung im Kreisgebiet des Antragsgegners übersandt. Am 18. November 2021 wurde die Anschrift des Antragstellers von Polizeibeamten aufgesucht. Sie ermittelten, dass der Antragsteller seit ca. 1,5 Jahren nicht mehr in der Wohnung wohne und einen Nachsendeauftrag nach Bremen gestellt habe. Daraufhin hob das Amt Sch... die Einweisungsverfügung für die Wohnung auf und meldete ihn nach unbekannt ab.

3

Mit Schreiben vom 24. November 2021 bat die Prozessbevollmächtigte des Antragstellers um Übersendung einer Duldungsbescheinigung nach Bremen und monierte, dass der Antragsgegner auf seinen Duldungsantrag nicht reagiere.

4

Am 4. Januar 2022 hat der Antragsteller beim Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgericht um Eilrechtsschutz nachgesucht und beantragt,

5

den Antragsgegner zu verpflichten, dem Antragsteller eine Duldungsbescheinigung gem. § 60a AufenthG zu erteilen,

6

dem Antragsgegner im Wege des Erlasses einer einstweiligen Anordnung zu untersagen, den Antragsteller in die Türkei abzuschieben sowie

7

dem Antragsteller für das Verfahren ratenfreie Prozesskostenhilfe unter Beiordnung der Prozessbevollmächtigten als Rechtsanwältin zu bewilligen.

8

Im Antrag selbst gab er die im Kreisgebiet des Antragsgegners liegende Wohnadresse an; im PKH-Antrag eine Adresse in Bremen.

9

Durch Beschluss vom 31. Mai 2022 hat das Verwaltungsgericht den PKH-Antrag mangels hinreichender Erfolgsaussicht und die beiden Sachanträge als unzulässig abgelehnt. Es bestünden bereits Zweifel daran, dass der Antragsteller eine ladungsfähige Anschrift angegeben und damit den Anforderungen des § 82 Abs. 1 Satz 1 VwGO genügt habe. Jedenfalls richteten sich die Anträge nicht gegen den richtigen Antragsgegner; dieser sei für den Antragsteller nicht (mehr) zuständig, weil dieser seinen maßgeblichen gewöhnlichen Aufenthalt nach Bremen verlegt habe. Die dem entgegenstehende, mit der Duldung des Antragsgegners gemäß § 61 Abs. 1d Satz 1 AufenthG verknüpfte Wohnsitzauflage sei erloschen, weil der Antragsteller zumindest im Juli 2021 seinen Lebensunterhalt habe sichern können. Sollte der Antragsteller seinen Lebensunterhalt aktuell nicht sichern können, würde die Wohnsitzauflage an seinem derzeitigen Wohnort in Bremen wieder aufleben; anderenfalls bleibe es bei der Zuständigkeit Bremens entsprechend § 3 Abs. 1 Nr. 3a VwVfG.

10

Dagegen richtet sich die rechtzeitig erhobene und begründete Beschwerde des Antragstellers. Er beantragt nunmehr,

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das Migrationsamt Bremen gemäß § 65 Abs. 2 VwGO beizuladen,

12

unter Abänderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts den Antragsgegner zu verpflichten, dem Antragsteller eine Duldungsbescheinigung mit der Nebenbestimmung "Erwerbstätigkeit gestattet" und ohne Wohnsitzauflage zu erteilen sowie

13

dem Antragsteller ratenfreie Prozesskostenhilfe für das Ausgangs- und das Beschwerdeverfahren zu bewilligen.

14

Der Antragsgegner beantragt,

15

die Beschwerde zurückzuweisen.

II.

16

I. Eine Beiladung des Migrationsamtes Bremen im Beschwerdeverfahren kommt nicht in Betracht.

17

Die vom Antragsteller geltend gemachte notwendige Beiladung setzt nach § 65 Abs. 2 VwGO voraus, dass Dritte an dem streitgegenständlichen Rechtsverhältnis derart beteiligt sind, dass die Entscheidung auch ihnen gegenüber nur einheitlich ergehen kann. Dies ist dann der Fall, wenn die von einem Antragsteller begehrte Sachentscheidung des Gerichts nicht getroffen werden kann, ohne dass dadurch gleichzeitig unmittelbar und zwangsläufig Rechte oder Rechtsverhältnisse Dritter gestaltet, bestätigt oder festgestellt, verändert oder aufgehoben werden oder anders gewendet, wenn die Entscheidung unmittelbar Rechte oder Rechtsbeziehungen Dritter gestalten soll, sie aber ohne deren Beteiligung am Verfahren nicht wirksam gestalten kann (BVerwG, Beschl. v. 29.07.2013 - 4 C 1/13 -, juris Rn. 7; VGH München, Beschl. v. 23.06.2015 - 10 C 15.772 -, juris Rn. 24). Ein solcher Fall liegt hier nicht vor. Zu entscheiden war lediglich, ob der Antragsgegner (noch) für die Erteilung der begehrten Duldungsbescheinigung zuständig ist und der Antragsteller gegen ihn einen Anspruch auf neuerliche Duldungsbescheinigung hat. Diese Entscheidung betrifft nicht unmittelbar konstitutiv und zwangsläufig etwaige Rechte oder Pflichten der Hansestadt Bremen (als angenommenem Wohnort).

18

Die Beiladung eines Dritten kann ferner dann notwendig sein, wenn das Begehren auf den Erlass eines mehrstufigen Verwaltungsakts gerichtet ist, der also kraft Gesetzes nur mit Zustimmung oder im Einvernehmen eines anderen, insoweit selbständigen Rechtsträgers oder dessen Behörde erlassen werden darf. In diesem Fall wird die Zustimmung oder das Einvernehmen als Bestandteil des streitigen Rechtsverhältnisses im Falle seiner Verweigerung durch die verwaltungsgerichtliche Entscheidung ersetzt (BVerwG, Beschl. v. 29.07.2013 - 4 C 1/13 -, juris Rn. 9). Eine derartige Mitwirkung des zuständigen Migrationsamtes in Bremen an der Feststellung eines Abschiebungsverbots und der Ausstellung der begehrten Duldungsbescheinigung (§ 60a Abs. 2 und 4 AufenthG) mit der gesetzlichen Folge einer Wohnsitzauflage im Kreisgebiet des Antragsgegners (§ 61 Abs. 1d Satz 1 und 2 AufenthG) wäre nicht geboten gewesen. Ein Fall des § 72 Abs. 3 AufenthG liegt nicht vor. Diese Vorschrift bezieht sich nicht auf gesetzliche Beschränkungen und gilt im Übrigen nur bei der Änderung oder Aufhebung von Maßnahmen durch eine andere Behörde als derjenigen, die die Maßnahme angeordnet hat (Senat, Beschl. v. 30.07.2020 - 4 MB 23/20 -, juris Rn. 26). Auch die Voraussetzungen des § 31 Abs. 3 LVwG SH (vgl. § 3 Abs. 3 VwVfG) liegen nicht vor. Danach wäre bei sich im Laufe des Verwaltungsverfahrens ändernden Umständen eine Zustimmung der neu zuständigen Behörde erforderlich, wenn die bisher zuständige Behörde das Verwaltungsverfahren fortführen will. Letzteres liegt im Ermessen der bisher zuständigen Behörde und wurde aufseiten des Antragsgegners offenkundig dahingehend betätigt, das Verfahren gerade nicht fortführen zu wollen. Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Ermessensreduzierung auf Null bestehen im Übrigen nicht, wobei eine solche Ermessensreduzierung keineswegs immer schon dann angenommen werden könnte, wenn die ermessenseröffnenden Tatbestandsvoraussetzungen des § 31 Abs. 3 LVwG SH erfüllt wären (Senat, Beschl. v. 26.09.2014 - 4 O 49/14 -,n.v.).

19

Von einer im Ermessen des Senats stehenden einfachen Beiladung nach § 65 Abs. 1 VwGO wird in Anbetracht des fortgeschrittenen Verfahrensstadiums und des nachfolgend unter II. und III. dargestellten Ergebnisses abgesehen.

20

II. Die Beschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 31. Mai 2022, mit dem der Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz abgelehnt wird, ist zulässig, soweit sich die Ablehnung auf den erstinstanzlich gestellten und im Beschwerdeverfahren weiter verfolgten Antrag bezieht, den Antragsgegner durch Erlass einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm eine Duldungsbescheinigung gemäß § 60a AufenthG zu erteilen und dem Antragsgegner zu untersagen, den Antragsteller in die Türkei abzuschieben. Insoweit ist die Beschwerde allerdings unbegründet. Die zu ihrer Begründung dargelegten Gründe, die allein Gegenstand der Prüfung durch den Senat sind (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), stellen das Ergebnis des angefochtenen Beschlusses nicht in Frage. Mit der tragenden Erwägung des Beschlusses setzt sich der Antragsteller entgegen § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO nicht auseinander.

21

Ungeachtet der Frage, ob der Antrag nach § 123 VwGO schon deshalb unzulässig ist, weil der Antragsteller keine ladungsfähige Anschrift angegeben hat (§ 82 Abs. 1 Satz 1 VwGO), hat das Verwaltungsgericht entscheidungserheblich auf die Unzuständigkeit des Antragsgegners abgestellt und dies wiederum maßgeblich darauf gestützt, dass der Antragsteller seinen gewöhnlichen Aufenthalt nach Bremen verlegt habe. Die entgegenstehende Wohnsitzauflage gemäß § 61 Abs. 1d Satz 1 AufenthG sei erloschen, weil der Antragsteller zumindest im Juli 2021 seinen Lebensunterhalt in Bremen habe sichern können. Ob dies aktuell noch der Fall sei, sei unerheblich. Der Antragsteller begründet seine Beschwerde hingegen lediglich damit, dass sein Lebensunterhalt aktuell nicht gesichert sei, weil er derzeit über keine gültige Duldungsbescheinigung verfüge und keine Beschäftigung aufnehmen dürfe, § 60b Abs. 5 Satz 2 AufenthG. Auch liege keine behördliche Erlaubnis der Beschäftigung vor.

22

Insofern kann zwar angenommen werden, dass der Antragsteller die verwaltungsgerichtliche Verneinung der Zuständigkeit des Antragsgegners angreifen will. Sein Vorbringen mag auch in der Sache zutreffen; allerdings waren die von ihm aufgeworfenen Fragen aus Sicht des Verwaltungsgerichts unerheblich. Auf den für das Verwaltungsgericht entscheidungserheblichen und ausreichenden Umstand, dass der Lebensunterhalt zumindest im Juli 2021 gesichert gewesen sei und dass dies ausreiche, um zu einem Erlöschen der Wohnsitzauflage – gegebenenfalls unter Wiederaufleben in Bremen – zu führen, geht er in der Beschwerdebegründung nicht ein.

23

III. Unter diesen Umständen kann der Senat offenlassen, ob der im Beschwerdeverfahren gestellte Antrag eine Antragsänderung i.S.d. § 91 Abs. 1 VwGO durch Einführung eines weiteren Streitgegenstands, gerichtet auf die zusätzlich zur Duldungsbescheinigung zu erteilende Nebenbestimmung "Erwerbstätigkeit gestattet" und dies ohne Wohnsitzauflage, darstellt oder ob insoweit nur eine zulässige Erweiterung des Antragsgegenstandes entsprechend § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 264 Nr. 2 ZPO gegeben ist. In beiden Fällen bleibt es bei der Unzulässigkeitsentscheidung des Verwaltungsgerichts:

24

Im erstgenannten Fall wäre die Antragsänderung unzulässig. Nach der Rechtsprechung des Senats dient das Beschwerdeverfahren ausschließlich der rechtlichen Überprüfung der erstinstanzlichen Entscheidung, so dass für eine Antragsänderung grundsätzlich kein Raum ist. Denn § 146 Abs. 4 Satz 3 und 6 VwGO bestimmen, dass die Beschwerdeführenden die Gründe darzulegen haben, aus denen aus ihrer Sicht die Entscheidung abzuändern oder aufzuheben ist und dass sie sich mit der angefochtenen Entscheidung auseinandersetzen müssen. Zudem prüft der Senat nur die dargelegten Gründe (Senat, Beschl. v. 20.05.2022 - 4 MB 16/22 -, juris Rn. 12; Beschl. v. 01.10.2021 - 4 MB 42/21 -, juris Rn. 19; Beschl. v. 11.01.2017 - 4 MB 43/16 -, juris Rn. 5, jeweils m.w.N.). Sollte vorliegend ausnahmsweise etwas anderes gelten oder es sich gemäß des zweitgenannten Falles ohnehin nur um eine zulässige Erweiterung des Antragsgegenstandes handeln, bliebe der Antrag aus den gleichen Gründen wie zu II. ohne Erfolg.

25

IV. Aus den Gründen zu II. und III. kommt eine Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren mangels hinreichender Erfolgsaussichten des Rechtsmittels (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO) nicht in Betracht. Hierüber kann der Senat auch dann entscheiden, wenn – wie hier – das Verwaltungsgericht auf die diesbezügliche Beschwerde entgegen § 148 Abs. 1 VwGO noch nicht über die Abhilfe entschieden hat. Nach der genannten Vorschrift hat das Verwaltungsgericht grundsätzlich vor der Vorlage an das Oberverwaltungsgericht zu prüfen und darüber zu entscheiden, ob die Beschwerde zulässig und begründet ist. Trotz der fehlenden Abhilfeentscheidung hält der Senat es unter den hier gegebenen Umständen allerdings nicht für sachdienlich, die Sache zunächst an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen.

26

In der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung ist die Möglichkeit einer Zurückverweisung gemäß § 173 VwGO i.V.m. § 572 Abs. 3 ZPO in Fällen formell fehlerhafter sowie fehlender Nichtabhilfeentscheidung zwar anerkannt, allerdings wäre eine solche Zurückverweisung nicht zwingend, sondern stünde im Ermessen des Beschwerdegerichts (OVG Greifswald, Beschl. v. 10.11.2010 - 10 O 92/10 -, juris Rn. 9; VGH Mannheim, Beschl. v. 30.03.2010 - 6 S 2429/09 -, juris Rn. 3; OVG Magdeburg, Beschl. v. 20.10.2008 - 2 O 196/08 -, juris Rn. 4; OVG Saarlouis, Beschl. v. 28.09.2007 - 1 D 399/07 -, juris Rn. 12 ff.; Guckelberger in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Auflage 2018, § 148 Rn. 14; für die Zurückverweisung, wenn über die Abhilfe nicht entschieden wurde: Rudisile in: Schoch/Schneider, VwGO, 41. EL Juli 2021, § 148 Rn. 10). Dabei fällt auch ins Gewicht, das es vornehmliche Aufgabe des Beschwerdegerichts ist, über die eingelegte Beschwerde zu befinden (VGH Mannheim, Beschl. v. 30.03.2010 - 6 S 2429/09 -, juris Rn. 3), nicht aber über die Nichtabhilfe (Guckelberger in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Auflage 2018, § 148 Rn. 14).

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Eine Beschleunigung des Verfahrens wäre mit einer Zurückverweisung nicht verbunden. Erst mit Begründung der Beschwerde gegen die Verweigerung vorläufigen Rechtsschutzes (§ 146 Abs. 4 VwGO) wurde klargestellt, dass sich die Beschwerde auch gegen die Ablehnung von Prozesskostenhilfe richtet – mithin zu einem Zeitpunkt, als die Sache dem Senat wegen dieser Beschwerde bereits vorlag und entscheidungsreif war. Ein besonderes Bedürfnis nach Erhaltung der Instanz ist nicht erkennbar, da keine wesentlichen neuen Tatsachen oder Rechtsfragen aufgeworfen worden sind. Schließlich erachtet der Senat als Beschwerdegericht die Beschwerde im Sinne des § 572 Abs. 3 ZPO aus den vorgenannten Erwägungen unter II. und III. nicht für begründet. Die Zurückverweisung wäre bei alledem ein rein formaler Akt (vgl. OVG Lüneburg, Beschl. v. 15.10.2012 - 19 ZD 10/12 -, juris Rn. 9).

28

V. Erfolgreich ist die Beschwerde hingegen in Bezug auf die Ablehnung der beantragten Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes. Insoweit wäre dem Antragsteller gemäß § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO Prozesskostenhilfe zu bewilligen gewesen. Er kann nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen. Sein Antrag nach § 123 Abs. 1 VwGO erschien auch nicht mutwillig und bot hinreichende Aussicht auf Erfolg.

29

1. Für die Beurteilung dieser Fragen stellt der Senat auf den Zeitpunkt der erstinstanzlichen Bewilligungsreife ab, ungeachtet des Umstandes, dass die Beschwerde des Antragstellers gegen die Ablehnung vorläufigen Rechtsschutzes nach den Ausführungen zu II. erfolglos bleibt und damit feststeht, dass der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes keine Erfolgsaussichten hatte (so aber OVG Koblenz, Beschl. v. 05.01.2017 - 7 B 11589/16 -, juris Rn. 12 f.). Zwar wird Prozesskostenhilfe nur für eine "beabsichtigte" Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung gewährt, weshalb ihre Bewilligung nach rechtskräftigem Abschluss der kostenverursachenden Instanz nur ausnahmsweise in Betracht kommt. Eine solche Ausnahme ist aber u.a. dann zu machen, wenn das erstinstanzliche Gericht im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes über einen entscheidungsreifen Prozesskostenhilfeantrag nicht vorab, sondern zeitgleich mit der Hauptsache entschieden hat. Zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes und zur weitgehenden Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten muss auch hier eine auf den Zeitpunkt der Bewilligungsreife des Antrags zurückwirkende Gewährung von Prozesskostenhilfe für die rechtskräftig abgeschlossene Instanz möglich sein. Anderenfalls könnte eine hinreichende Aussicht auf Erfolg nur dann angenommen werden, wenn die Rechtsverfolgung tatsächlich Erfolg hatte, also in einer Konstellation, in der der unbemittelte Rechtsschutzsuchende der Prozesskostenhilfe gar nicht bedarf, weil die unterlegene Gegenseite kostenpflichtig ist (vgl. OVG Münster, Beschl. v. 28.02.2020 - 4 B 946/18 -, juris Rn. 12 und v. 17.03.2010 - 5 E 1700/09 -, juris Rn. 3 - 11, m.w.N.; OVG Bremen LS zum Beschl. v. 04.02.1986 - 2 B 139/85 -, juris).

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2. „Hinreichende Aussicht auf Erfolg“ besteht dann, wenn die Erfolgschance in der Hauptsache nicht nur eine entfernte ist. Prozesskostenhilfe ist demgegenüber zu verweigern, wenn ein Erfolg in der Hauptsache zwar nicht schlechthin ausgeschlossen, die Erfolgschance aber nur eine entfernte ist (Beschl. v. 09.09.2019 - 4 O 25/19 -, juris Rn. 3 m.w.N.). Daran gemessen bestanden im Ausgangspunkt hinreichende Erfolgsaussichten.

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a. Ob der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zulässig war und die Voraussetzungen des § 82 Abs. 1 Satz 1 VwGO erfüllt waren, der Antragsteller insbesondere an der von ihm angegeben Wohnanschrift für das Gericht tatsächlich erreichbar gewesen wäre, hat das Verwaltungsgericht zwar bezweifelt, aber letztlich offengelassen.

32

b. Darüber hinaus wirft die Frage nach der Zuständigkeit des Antragsgegners und die davon abhängige Frage nach einem Anspruch auf Erteilung einer Duldungsbescheinigung gegenüber dem Antragsgegner komplexe ausländerrechtliche Fragen auf, die nach Auffassung des Senats nicht von vorneherein eindeutig zu beantworten sind. So erscheint es schon nicht selbstverständlich, nach nur einem Monat erlaubter Erwerbstätigkeit für die Zukunft (so BVerwG, Urt. v. 16.11.2010 - 1 C 20/09 -, juris Rn. 20) eine Sicherung des Lebensunterhaltes i.S.d. § 61 Abs. 1d Satz 1, § 2 Abs. 3 AufenthG zu prognostizieren, wenn diese bei einem geduldeten Ausländer zugleich zu einem Erlöschen der Wohnsitzauflage und zu einer Verschiebung nicht nur der ausländerrechtlichen, sondern auch der sozialrechtlichen Zuständigkeiten führt. Deshalb ist gerade auch bei geduldeten Ausländern maßgeblich auf die Fähigkeit abzustellen, ihren Lebensunterhalt nicht nur vorübergehend zu bestreiten (vgl. Haedicke in: HTK-AuslR, § 61 AufenthG zu Abs. 1d - Wohnsitzauflage -, Stand: 03.11.2020, Rn. 24 f.). Selbst wenn man dies mit dem Verwaltungsgericht für den Antragsteller annehmen wollte, stellte sich die weitere Frage, ob sein gewöhnlicher Aufenthalt nach Wegfall der nur einmonatigen Lebensunterhaltssicherung tatsächlich am Zuzugsort in Bremen oder nicht doch (wieder) an demjenigen Ort im Kreisgebiet des Antragstellers entstanden ist, an dem er zum Zeitpunkt der erstmaligen Entscheidung über seine Duldung gewohnt hat (so vergleichbar z.B. VG Münster, Beschl. v. 09.04.2018 - 8 L 44/18 -, juris Rn. 12-15 m.w.N.; s.a. Gordzielik in: Huber/Mantel, AufenthG, 3. Aufl. 2021, § 61 Rn. 20; beide mit Verweis auf § 61 Abs. 1d Satz 2 AufenthG).

33

Bei einer möglichen Zuständigkeit des Antragsgegners kann auch im Übrigen vom Bestehen eines Anordnungsanspruches ausgegangen werden. Dass die Abschiebung des Antragstellers wegen seiner Passlosigkeit tatsächlich unmöglich ist im Sinne des § 60a Abs. 2 AufenthG und dass ihm deshalb gemäß § 60a Abs. 4 AufenthG eine Bescheinigung über die Aussetzung der Abschiebung auszustellen ist, steht außer Streit. Ob die Duldung dann eine solche nach § 60b Abs. 1 AufenthG ist, weil die Abschiebung aus einem der dort genannten speziellen Gründen tatsächlich nicht vollzogen werden kann, kann dahinstehen.

34

Zweifel am Bestehen eines Anordnungsgrundes waren ebenfalls nicht angebracht.

35

VI. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2, § 52 Abs. 2 GKG.

36

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5, § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).


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