Urteil vom Verwaltungsgericht Köln - 7 K 2851/17
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens trägt der Kläger.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kostenentscheidung vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
1
Tatbestand
2Mit der Klage begehrt der am 00.12.1929 geborene Kläger die nachträgliche Einbeziehung seines Enkels, K. B. , in den ihm am 11.10.2006 erteilten Aufnahmebescheid.
3Am 12.07.2004 stellte der Kläger einen Antrag auf Aufnahme als Spätaussiedler und auf Einbeziehung seiner Ehefrau und seiner Tochter V. B1. und ihrer Kinder K. und C. . Gleichzeitig waren die Tochter und die Enkelkinder als „weitere Familienangehörige, die gleichzeitig mit dem Spätaussiedler in das Bundesgebiet einreisen“ aufgeführt. Dem Kläger wurde am 11.10.2006 ein Aufnahmebescheid erteilt. Über den Einbeziehungsantrag wurde nicht entschieden. Am 27.11.2006 reiste der Kläger ohne seine Familie in das Bundesgebiet ein und erhielt eine Bescheinigung als Spätaussiedler. Im Registrierungsverfahren erklärte er, seine Ehefrau, seine Tochter und deren Kinder hätten nicht am Sprachtest teilgenommen. Sie sprächen kein Deutsch und müssten wohl in Russland bleiben. Die Ehefrau könne nach dem Ausländerrecht nachreisen.
4Am 25.01.2016 stellte der Kläger einen Antrag auf nachträgliche Einbeziehung seines am 00.10.1990 geborenen Enkels K. B. in seinen Aufnahmebescheid. Im Verlauf des Verfahrens wurde für diesen ein Goethe-Zertifikat der Stufe A1 vorgelegt. Ferner wurde auf Anforderung des Bundesverwaltungsamts ein Führungszeugnis des russischen Innenministeriums vom 12.02.2016 übersandt. Aus diesem ergab sich, dass der Enkel des Klägers am 17.02.2009 durch das Amtsgericht M. zu einer Bewährungsstrafe von 2 Jahren verurteilt wurde. Durch Urteil des Amtsgerichtsgerichts M. vom 28.09.2011 wurde er zu einem Jahr Freiheitsentzug ohne Bewährung verurteilt. Ferner wurde am 18.11.2015 ein weiteres Strafverfahren nach Art 161 des russischen Strafgesetzbuches eingeleitet, das noch nicht abgeschlossen war.
5Den übersandten deutschen Übersetzungen der Urteile von 2009 und 2011 ist zu entnehmen, dass die zweijährige Bewährungsstrafe wegen eines versuchten Diebstahls an der früheren Arbeitsstelle des Enkels verhängt wurde. Die einjährige Freiheitsstrafe ohne Bewährung wurde wegen eines „Mordes bei Notwehrüberschreitung“ ausgesprochen.
6Der Antrag des Klägers auf nachträgliche Einbeziehung seines Enkels wurde durch Bescheid des Bundesverwaltungsamts vom 19.08.2016 abgelehnt. In der Begründung wurde angegeben, der Enkel des Klägers sei von einer nachträglichen Einbeziehung gemäß § 5 Nr. 1 d BVFG ausgeschlossen, weil er eine rechtswidrige Tat begangen habe, die in der Bundesrepublik Deutschland als Verbrechen im Sinne des § 12 Abs. 1 StGB anzusehen wäre. Dies sei aus den Urteilen des Amtsgerichts M. vom 17.02.2009 und vom 28.09.2011 zu entnehmen.
7Hiergegen legte der Kläger am 25.08.2016 Widerspruch ein. Zur Begründung legte er ein Schreiben des Deutschen Roten Kreuzes, Standort J. , vom 15.09.2016 vor. Darin wurde ausgeführt, bei der im Jahr 2009 abgeurteilten Straftat handele es sich um eine qualifizierte Form des Diebstahls nach den §§ 242 StGB, die nach deutschem Recht kein Verbrechen sei und daher nicht die Voraussetzungen des § 5 Nr. 1 d BVFG erfülle. Die Verurteilung im Jahr 2011 sei wegen „Mordes in Notwehrüberschreitung“ erfolgt. Dieser Straftatbestand existiere im deutschen Strafrecht nicht. Ob die Tat nach ihrem abstrakten Strafrahmen ein Verbrechen sei, sei zweifelhaft. Im russischen Recht sei die Tat mit einer Freiheitsstrafe von bis zu 2 Jahren bedroht, also kein Verbrechen. Möglicherweise handele es sich um eine Tat nach § 227 StGB (Körperverletzung mit Todesfolge), ggfs. als minderschwerer Fall. Außerdem sei zu prüfen, ob wegen des jugendlichen Alters des Täters § 105 JGG zur Anwendung komme und ob ein Fall des Notwehrexzesses vorliege.
8Durch Widerspruchsbescheid vom 30.01.2017 wurde der Widerspruch zurückgewiesen. In der Begründung wurde ausgeführt, bei dem abgeurteilten Tötungsdelikt handele es sich nach deutschem Recht um eine Körperverletzung mit Todesfolge, die mit einer Mindeststrafe von 3 Jahren Freiheitsentzug bedroht sei und daher ein Verbrechen im Sinne des § 12 StGB sei. Die Verurteilung sei noch nicht aus dem Bundeszentralregister zu tilgen (§ 46 Abs. 1 Nr. 4 BZRG: 15-jährige Tilgungsfrist zuzüglich der 1-jährigen Freiheitsstrafe). Eine Notwehrsituation habe nicht vorgelegen. Vielmehr sei dem Enkel des Klägers in einer vermeintlichen Notwehrsituation eine unverhältnismäßige Überreaktion anzulasten. Dieser habe auch keinen Anspruch auf Anwendung des Jugendstrafrechts. Bei Heranwachsenden könne dieses nur dann angewendet werden, wenn der Täter im Zeitpunkt der Tat nach seiner geistigen und sittlichen Entwicklung einem Jugendlichen gleichgestanden habe. Hierzu sei jedoch nichts vorgetragen. Der Widerspruchsbescheid wurde am 01.02.2017 an den Kläger zugestellt.
9Hiergegen hat er am 01.03.2017 Klage erhoben, mit der er sein Begehren weiterverfolgt.
10Er ist der Auffassung, der Ausschlussgrund des § 5 Nr. 1 d BVFG sei nicht gegeben. Insbesondere könne dieser nicht auf die Verurteilung des Enkels des Klägers zu einer einjährigen Freiheitsstrafe wegen eines „Mordes in Notwehrüberschreitung“ durch das Urteil des Amtsgerichts M. vom 28.09.2011 gestützt werden. Der zugrunde liegende Straftatbestand des Art. 108 Teil I des Strafgesetzbuchs der Russischen Föderation finde sich im deutschen Strafgesetzbuch nicht. Es handele sich in der Sache um einen Totschlag, der durch Überschreitung der Notwehr begangen worden sei. Gemäß § 33 StGB werde derjenige, der die Grenzen der Notwehr aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken überschreite, gemäß § 33 StGB nicht bestraft.
11Nach den Feststellungen des Gerichts habe das Opfer der Tat den Enkel des Klägers mit einem Schlagring angegriffen und versucht, diesen mit dem Schlagring auf den Kopf zu schlagen. Hierbei seien beide auf den Boden gefallen und der Angreifer habe sich auf den Enkel des Klägers gesetzt. Er habe weiter versucht, mit dem Schlagring auf den Kopf des Enkels zu schlagen und dabei gerufen, er schlage ihm den Kopf ein. Hierdurch habe der Enkel des Klägers einen Schreck bekommen und habe ein Klappmesser herausgezogen. Mit diesem habe er einige Male in den Brust- und Bauchbereich des Opfers gestochen. Jedoch habe der Angreifer nicht von seinen Angriffshandlungen abgelassen. Erst nachdem der Enkel des Klägers erneut mehrmals mit dem Messer auf das Opfer eingestochen habe, habe dieses geschwächelt. Der Enkel des Klägers habe das Opfer schließlich von sich herunterschmeißen können und sei nach Hause gegangen.
12Er habe sich also tatsächlich, und nicht nur vermeintlich in einer Notwehrsituation befunden. Die Verteidigung sei auch erforderlich gewesen, um den Angriff abzuwehren. Denn das Opfer habe trotz der Messerstiche immer weiter versucht, den Enkel des Klägers mit dem Schlagring zu treffen. Die Messerstiche seien auch das mildeste Mittel gewesen, um den Angriff abzuwehren. Es stelle sich die Frage, welches mildere Mittel sonst in Frage gekommen wäre. Eine Überreaktion habe nicht vorgelegen. Die Voraussetzungen einer Notwehr nach § 32 StGB seien also erfüllt.
13Die Feststellungen des russischen Gerichts zur Notwehrüberschreitung seien fragwürdig und bei Anwendung des deutschen Strafrechts nicht zu Grunde zu legen. Denn die russischen Gerichte neigten dazu, auch in offensichtlichen Fällen die Voraussetzungen einer Notwehr zu verneinen und zu einer Notwehrüberschreitung zu kommen. Dies zeige sich darin, dass im Jahr 2010 845.000 Menschen in der Russischen Föderation verurteilt worden seien und nur 9.000 freigesprochen worden seien. Nach dieser Statistik spreche ein russischer Richter nur einmal in 10 Jahren einen Freispruch aus. Das Gericht habe offensichtlich versucht, seinen rechtswidrigen Spruch durch ein relativ mildes Strafmaß zu korrigieren, indem es nur ein Jahr in einer Strafkolonie verhängt habe.
14Falls jedoch den Feststellungen des russischen Gerichts zu folgen sei und eine Notwehrüberschreitung vorgelegen habe, liege offensichtlich eine Überschreitung der Notwehr nach § 33 StGB vor. Art. 108 des russischen Strafgesetzbuchs habe ebenfalls eine Notwehrüberschreitung zum Inhalt. Im Gegensatz zum deutschen Recht sei die Tat nicht straflos, sondern als Vergehen eingestuft. Der Enkel des Klägers habe im Fall der Notwehrüberschreitung jedenfalls aus Furcht und Schrecken gehandelt und sei daher nach deutschem Recht straflos. Es komme nicht darauf an, ob der Angegriffene die Notwehrlage provoziert habe oder sich dem Angriff hätte entziehen können.
15Die Handlung des Enkels des Klägers sei daher weder rechtswidrig gewesen, noch erfülle sie einen Tatbestand, der nach deutschem Recht als Verbrechen zu qualifizieren wäre. Der Straftatbestand der Körperverletzung mit Todesfolge liege nach den Feststellungen des russischen Gerichts nicht vor. In jedem Fall werde der Enkel des Klägers nach deutschem Recht nicht bestraft.
16Der Kläger beantragt,
17die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides des Bundesverwaltungsamts vom 19.08.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.01.2017 zu verpflichten, den Enkel des Klägers, Herrn K. B. , in den Aufnahmebescheid des Klägers einzubeziehen.
18Die Beklagte beantragt,
19die Klage abzuweisen.
20Sie hält an ihrer Auffassung fest, der nachträglichen Einbeziehung des Enkels des Klägers nach § 27 Abs. 2 Satz 3 BVFG stehe der Ausschlussgrund des § 5 Nr. 1 d BVFG entgegen. Dieser sei gegeben, wenn der Einzubeziehende eine rechtswidrige Tat begangen habe, die im Inland als Verbrechen im Sinne des § 12 Abs. 1 StGB anzusehen wäre, es sei denn, die Tat wäre nach deutschem Recht verjährt oder eine Verurteilung deswegen nach dem BZRG zu tilgen. Für die Frage, ob die Tat nach deutschem Recht als Verbrechen zu qualifizieren sei, komme es nach der Rechtsprechung des OVG Münster auf das tatsächliche Geschehen und dessen Würdigung nach Maßstäben des deutschen Strafrechts an (Beschluss vom 04.07.2017 – 11 E 215/17 – ). Die rechtliche Würdigung durch die Gerichte des Herkunftslandes sei nicht maßgebend. Daher sei auch nicht relevant, ob russische Gerichte nur in seltenen Fällen zu einem Freispruch kämen.
21Auf der Grundlage der Feststellungen des russischen Gerichts sei die Tat nach deutschem Strafrecht als Totschlag nach § 212 StGB zu werten, denn das Gericht sei davon ausgegangen, dass der Täter mit Tötungsabsicht gehandelt habe, als er dem Opfer mehr als 10 Mal in Brust- und Beckenbereich sowie die linke Schulter gestochen habe. Der Enkel des Klägers könne sich auch nicht auf den Rechtfertigungsgrund der Notwehr gemäß § 32 StGB oder den Entschuldigungsgrund der Notwehrüberschreitung gemäß § 33 StGB berufen.
22Die Tat sei nicht durch Notwehr gerechtfertigt, weil die Verletzungshandlung des Täters nicht das mildeste Mittel gewesen sei, das zur sofortigen und endgültigen Abwehr des Angriffs geeignet gewesen sei. Das russische Gericht sei gerade davon ausgegangen, dass dem Enkel des Klägers durchaus bewusst gewesen sei, dass es auch mildere Möglichkeiten zur Abwehr des Angriffs gegeben hätte, zumal der Angreifer stark betrunken gewesen sei. Es habe daher eine Notwehrüberschreitung angenommen. Der Angegriffene dürfe erst dann zu einer tödlichen Waffe greifen, wenn er alle Möglichkeiten der Schutzwehr ausgeschöpft habe.
23Die Überschreitung der Notwehr sei auch nicht aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken nach § 33 StGB entschuldigt. Bei dem Enkel des Klägers habe nach den Feststellungen des Gerichts gerade kein psychischer Ausnahmezustand vorgelegen, der durch ein Gefühl des Bedrohtseins oder Verwirrtseins hervorgerufen worden sei. Vielmehr habe dieser gezielt und mit Tötungsvorsatz gehandelt, als er zum Messer gegriffen habe.
24Wegen der Einzelheiten des Sach-und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die von der Beklagten vorgelegten Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
25E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
26Die Klage ist zulässig, aber unbegründet. Der Bescheid des Bundesverwaltungsamts vom 19.08.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.01.2017 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO. Der Kläger hat keinen Anspruch auf nachträgliche Einbeziehung seines Enkels K. B. in den ihm erteilten Aufnahmebescheid.
27Nach § 27 Abs. 2 Satz 3 BVFG kann der im Aussiedlungsgebiet verbliebene Abkömmling eines Spätaussiedlers, der seinen ständigen Aufenthalt im Geltungsbereich des Gesetzes hat, nachträglich nach Satz 1 der Vorschrift in den Aufnahmebescheid des Spätaussiedlers einbezogen werden, wenn die sonstigen Voraussetzungen vorliegen. Die sonstigen Voraussetzungen ergeben sich aus § 27 Abs. 2 Satz 1 BVFG. Danach erfolgt die Einbeziehung von Abkömmlingen in den Aufnahmebescheid der Bezugsperson, wenn in ihrer Person kein Ausschlussgrund im Sinne des § 5 vorliegt und die Bezugsperson die Einbeziehung ausdrücklich beantragt. Volljährige Abkömmlinge müssen auch Grundkenntnisse der deutschen Sprache besitzen.
28Die hiernach bestehenden Voraussetzungen für die Einbeziehung von Abkömmlingen des Spätaussiedlers liegen nicht vor, weil in der Person des Enkels des Klägers ein Ausschlussgrund nach § 5 Nr. 1 d BVFG vorliegt. Danach erwirbt die Rechtsstellung des Abkömmlings eines Spätaussiedlers nach § 4 Abs. 3 Satz 2 BVFG nicht, wer eine rechtswidrige Tat gegangen hat, die im Inland als Verbrechen im Sinne des § 12 Abs. 1 des StGB anzusehen wäre, es sei denn, die Tat wäre nach deutschem Recht verjährt oder eine Verurteilung deswegen nach dem BZRG zu tilgen.
29Nach den Feststellungen des Amtsgerichts M. vom 28.09.2011 hat der Enkel des Klägers einen Mann, der ihn mit einem Schlagring angegriffen hatte, bewusst und gezielt mit mehreren Messerstichen getötet. Die Feststellungen des russischen Urteils können bei der nach § 5 Nr. 1 d BVFG erforderlichen Beurteilung, ob der Einzubeziehende eine rechtswidrige Tat begangen hat, die nach deutschem Recht ein Verbrechen wäre, zugrunde gelegt werden. Es bestehen im vorliegenden Verfahren keine Anhaltspunkte dafür, dass die Feststellungen zum Tathergang und der Person des Täters nicht in einem rechtsstaatlichen Verfahren gewonnen worden sind,
30vgl. OVG NRW, Beschluss vom 04.07.2017 – 11 E 215/17 – juris, Rn. 8 und VG Köln, Urteil vom 23.10.2018 – 7 K 565/17 – juris, Rn. 48 ff.
31Soweit der Prozessbevollmächtigte des Klägers gerügt hat, die russischen Gerichte seien bei der Beurteilung der Notwehr übermäßig streng und verneinten diese selbst in offensichtlichen Fällen, betrifft dies die Rechtsanwendung, und nicht die Tatsachenfeststellung. Die rechtliche Beurteilung des russischen Gerichts ist aber nicht entscheidungserheblich. Vielmehr kommt es darauf an, ob nach den Maßstäben des deutschen Strafrechts – auf der Grundlage der tatsächlichen Feststellungen des ausländischen Gerichts – eine rechtswidrige Tat vorliegt, die als Verbrechen zu qualifizieren wäre.
32Dies ist hier der Fall. Da der Enkel des Klägers den Tod des Opfers „mit Mordabsicht“ herbeigeführt hat (Bl. 144 d.A. = Beiakte 2), liegt nach deutschem Strafrecht ein vorsätzliches Tötungsdelikt vor. Da ein Mordmerkmal nach § 211 StGB nicht erkennbar ist, kommt hier nur ein Totschlag nach § 212 StGB in Betracht. Die Feststellung des russischen Gerichts, der Täter habe mit Mordabsicht gehandelt, kann jedenfalls insoweit zugrunde gelegt werden, als der Tod mit Vorsatz, und nicht fahrlässig herbeigeführt worden ist. Das Gericht hat dem Täter nicht geglaubt, der angegeben hatte, er habe in Notwehr, nicht in Mordabsicht gehandelt. Es hat dies als einen Versuch angesehen, der Bestrafung zu entgehen (Bl. 144 d.A.).
33Die Feststellung des Vorsatzes als inneres Tatbestandsmerkmal ist nicht zu beanstanden und anhand objektiver Kriterien nachvollziehbar. Aus dem Tathergang ergibt sich, dass der Täter den Tod des Opfers zumindest als möglich angesehen und in Kauf genommen hatte, um dessen Angriff zu beenden. Denn er hat das Opfer mit einer 10 cm langen Klinge mehr als 10 Mal in den Brust-, Bauch- und Schulterbereich gestochen. Davon waren allein 4 Stiche tödlich, weil sie gezielt in den linken Brustbereich ausgeführt wurden und zu einer Verletzung lebenswichtiger Organe (Herz, Lunge) führten. Bei einer Vielzahl derartig schwerer Verletzungen in Bereichen mit lebenswichtigen Organen muss ein Täter mit dem Tod des Opfers rechnen,
34vgl. auch BGH, Urteil vom 01.07.2014 – 5 StR 134/14 – juris, Rn. 12.
35Aus der Einlassung des Täters ergibt sich auch nicht, dass dieser mit einem Überleben des Opfers rechnete oder dieses zumindest erhoffte. Seine Verteidigung, er habe nicht in Mordabsicht, sondern in Notwehr gehandelt (S. 134 d.A.), kann lediglich dahingehend verstanden werden, dass es ihm nicht auf die Tötung des Opfers ankam, er den Tod des Opfers aber für möglich gehalten und als Notwehrhandlung für berechtigt gehalten hat.
36Der Tod des Opfers war ihm offenbar gleichgültig, denn er hat auch nach der Tat nichts unternommen, um dem Opfer zu helfen, sondern ist schlicht zunächst nach Hause und dann zu Freunden gegangen. Ob er nach der Tat seiner Mutter auftrug, den Rettungsdienst zu rufen, lässt sich aus dem Urteil nicht eindeutig entnehmen. Dies wird zwar in seiner Einlassung vor Gericht so dargestellt (Bl. 134 d.A.). In seiner Stellungnahme im Ermittlungsverfahren gab er allerdings an, seine Mutter habe gesagt, dass man den Rettungsdienst rufen solle. Er habe nichts geantwortet und sei aus dem Haus weggegangen (Bl. 144 d.A.). Danach erscheint zumindest klar, dass er sich selbst nicht um die Benachrichtigung des Rettungsdienstes gekümmert und diese auch nicht am Tatort abgewartet hat. Er hat selbst auch keinerlei Versuch unternommen, dem Opfer erste Hilfe zu leisten. Angesichts dieses Verhaltens ist die Annahme gerechtfertigt, dass er bei Ausführung der Tat den Tod des Angreifers billigend in Kauf genommen, also mit bedingtem Vorsatz gehandelt hat.
37Die Tat, die den Tatbestand des vorsätzlichen Totschlages nach § 212 StGB verwirklicht, war auch rechtswidrig. Ein Rechtfertigungsgrund in Gestalt der Notwehr lag nicht vor. Auch bei der Beurteilung, ob eine rechtswidrige Tat oder ein Rechtfertigungsgrund gegeben ist, ist auf das deutsche Strafrecht und damit auf § 32 StGB abzustellen. Danach handelt nicht rechtswidrig, wer eine Tat begeht, die durch Notwehr geboten ist, § 32 Abs. 1 StGB. Notwehr ist die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden, § 32 Abs. 2 StGB.
38Erforderlich ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs eine Verteidigung, wenn sie zu einer sofortigen und endgültigen Abwehr des Angriffs führt und es sich bei ihr um das mildeste Abwehrmittel handelt, das dem Angegriffenen in der konkreten Situation zur Verfügung stand. Auf weniger gefährliche Verteidigungsmittel muss der Angegriffene nur dann zurückgreifen, wenn deren Abwehrwirkung unzweifelhaft ist und genügend Zeit zur Abschätzung der Lage zur Verfügung steht. Auch der sofortige, das Leben des Angreifers gefährdende Einsatz einer Waffe kann mithin durch Notwehr gerechtfertigt sein,
39vgl. BGH, Urteil vom 01.07.2014 – 5 StR 134/14 – juris, Rn. 8 ff. m.w.N.
40Zwar lag nach diesen Grundsätzen ein gegenwärtiger rechtswidriger Angriff des späteren Opfers vor, als dieser mit dem Schlagring auf den Enkel des Klägers losging und rief, er werde ihm den Kopf einschlagen. Dieser Angriff war gefährlich und wegen der Waffe, aber auch wegen der Position des Angreifers, der auf dem Enkel des Klägers saß und versuchte, diesen mit dem Ring zu schlagen, durchaus lebensbedrohlich.
41Gleichwohl war die Verteidigung des Enkels des Klägers durch den massiven, lebensgefährlichen Einsatz des Messers zu mehrfachen gezielten Stichen in Brust und Bauch des Täters nicht erforderlich. Dem Angegriffenen hätten mildere Mittel zur Verfügung gestanden, um den Angriff sofort und zuverlässig abzuwehren, was auch das russische Gericht annimmt, ohne diese Verteidigungsmittel zu nennen (Bl. 144 d.A.). Jedoch wurde die von dem Angreifer ausgehende Gefahr erheblich dadurch abgemildert, dass dieser mit einem Blutalkoholgehalt von 2,6 – 2,7 Promille hochgradig betrunken war, während der Enkel des Klägers auch alkoholisiert, aber nicht betrunken war (Bl. 141). Anders ist es kaum zu erklären, dass es dem unten liegenden Enkel des Klägers gelang, mit seiner linken Hand den rechten Arm des Angreifers mit dem Schlagring festzuhalten und den Schlägen auszuweichen (Bl. 132, 135, 136, 139). Letztlich trug er deswegen bei dem Kampf keinerlei eigene Verletzungen davon. Die nach der Tat bei ihm festgestellten Hautwunden und Druckstellen stammten von einer Schlägerei mit dem Sohn des Opfers, die dem tödlichen Kampf am selben Tag vorangegangen war (Bl. 137 d.A.).
42Nach den Feststellungen des Urteils hatte der Enkel des Klägers so oft mit dem Messer zugestochen, weil es ihm zuvor nicht gelungen war, den Angreifer von seinem Körper herunterzuwerfen und dieser nicht von den Schlägen abließ. Jedoch hätte der Enkel des Klägers den Angriff auch auf ein weniger sensibles Körperteil des Opfers lenken können, um ihn zu schwächen und sofort vom Angriff abzubringen. Beispielsweise hätte er den Angreifer mit einem gezielten Faustschlag gegen den Kopf außer Gefecht setzen können. Es hätte auch die Möglichkeit bestanden, mit dem Messer nach dem rechten Arm oder der rechten Hand des Angreifers mit dem Schlagring zu stechen und den Angreifer so kampfunfähig zu machen. Da der Enkel des Klägers den betrunkenen Angreifer durch das Festhalten der rechten Hand an der Ausführung der beabsichtigten Schläge auf seinen Kopf hindern konnte, hätte er auch den zeitlichen Spielraum gehabt, den Angriff auf ein weniger verletzliches Körperteil zu lenken. Dies schließt die Erforderlichkeit eines lebensgefährlichen Messereinsatzes aus,
43vgl. BGH, Urteil vom 01.07.2014, a.a.O., juris, Rn. 10.
44Es kann daher dahinstehen, ob der Enkel des Klägers auch deshalb in der Ausübung seines Notwehrrechts eingeschränkt war, weil er den Angriff durch ein eigenes rechtswidriges Verhalten provoziert hatte,
45vgl. BGH, Urteil vom 03.06.2015 – 2 StR 473/14 – juris, Rn. 16.
46Denn dem Kampf mit dem Opfer war am Nachmittag desselben Tages eine Schlägerei mit dessen Sohn vorangegangen, die der Enkel des Klägers wegen eines früheren Konfliktes mit der Familie des Opfers durch zwei gezielte Fußtritte in das Gesicht des Sohnes begonnen hatte. Die Tatsachenfeststellungen des russischen Gerichts lassen jedoch die erforderliche Bewertung nicht zu, ob zwischen dem sozialethisch zu mißbilligenden Vorverhalten des Enkels gegen den Sohn und der späteren Tat des Vaters ein enger zeitlicher und räumlicher Ursachenzusammenhang bestand und der Angriff als adäquate und voraussehbare Folge dieses Verhaltens erscheint. Jedoch zeigt die absichtliche Verwicklung des Enkels des Klägers in eine weitere gewaltsame Auseinandersetzung am selben Tag, dass diesem derartige Konflikte nicht fremd waren und er vermutlich einige Übung darin hatte, sich dabei zu behaupten.
47Der Enkel des Klägers hat somit eine rechtswidrige Tat, nämlich einen Totschlag nach § 212 StGB begangen, die als Verbrechen nach § 12 StGB einzuordnen ist, da sie mit einer Mindeststrafe von 5 Jahren bedroht ist. Der Umstand, dass der Enkel des Klägers im Tatzeitpunkt im April 2011 noch keine 21 Jahre alt war, ist nicht relevant. Zwar wäre dieser nach § 1 Abs. 2 JGG als Heranwachsender zu behandeln. Jedoch gilt nach § 4 JGG, der nach § 105 JGG auch auf Heranwachsende anzuwenden ist, dass die Einordnung der Tat als Verbrechen oder Vergehen und die Verjährung sich auch bei Jugendlichen und Heranwachsenden nach den Vorschriften des allgemeinen Strafrechts richtet. Die Milderungen des Jugendstrafrechts wirken sich also bei diesen Fragen nicht aus.
48Die Anwendung des § 5 Nr. 1 d BVFG ist auch nicht durch das Vorliegen eines Entschuldigungsgrundes, insbesondere durch den Tatbestand der Notwehrüberschreitung gemäß § 33 StGB ausgeschlossen.
49Hierbei kann dahinstehen, ob der Ausschlussgrund des § 5 Nr. 1 d BVFG neben der Rechtswidrigkeit der Tat auch ein Verschulden des Täters voraussetzt. Dagegen spricht der eindeutige Wortlaut der Vorschrift, der von einer rechtswidrigen Tat spricht, nicht von einer rechtswidrigen und schuldhaften Tat oder von einer strafbaren Tat. Demnach käme es für die Anwendung nicht darauf an, ob der Täter schuldfähig ist oder ihm ein Entschuldigungsgrund zur Seite steht. Auch Sinn und Zweck des Ausschlussgrundes in § 5 Nr. 1 d, der zusammen mit § 5 Nr. 1 e durch das 7. Gesetz zur Änderung des BVFG mit Wirkung vom 24.05.2007 eingeführt wurde, deuten in diese Richtung. Die Intention des Gesetzgebers war, eine Gesetzeslücke zu schließen und die Zuwanderung von Schwerkriminellen, gewaltbereiten Extremisten und Terroristen auch im Wege des Aufnahmeverfahrens zu verhindern, nachdem diese bereits durch das Aufenthaltsgesetz und das Einbürgerungsrecht von einer Übersiedlung ausgeschlossen waren. Die Gesetzesänderung zielte, wie das ganze 7. Änderungsgesetz, auf die Absicherung Deutschlands im Rahmen der aktuellen terroristischen Gefahr,
50vgl. Begründung zum Entwurf eines Siebten Gesetzes zur Änderung des BVFG vom 11.01.2007, BT-Drs. 16/4017, S. 9 und 10; von Schenckendorff, Vertriebenen- und Flüchtlingsrecht, Loseblatt-Slg., Stand: 11/2007, Teil B 2, § 5 Anm. 3 e, aa).
51Dieser Zweck knüpft somit eher an die Gefährlichkeit der genannten Personen für die Sicherheit und Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland an, und nicht an eine persönliche Unwürdigkeit der Aufnahmebewerber. Daher wird auch im Rahmen des § 5 Nr. 1 e BVFG die Auffassung vertreten, bei den dort genannten Gefährdungstatbeständen komme es auf die subjektive Vorwerfbarkeit des Handelns (Verschulden) nicht an,
52vgl. von Schenckendorff, a.a.O., § 5 Anm. 3 e, cc) und ee).
53Nach anderer Auffassung führt ein im Vollrausch begangener Totschlag nach deutschem Strafrecht nicht zur Anwendung des § 212 StGB, sondern wegen der Schuldunfähigkeit nur zu einer Strafbarkeit nach § 323 a StGB, eines Vergehens, das somit nicht unter den Ausschlussgrund des § 5 Nr. 1 d BVFG fällt,
54vgl. OVG NRW, Beschluss vom 24.08.2018 – 11 A 272/18 – und VG Köln, Urteil vom 18.12.2017 – 10 K 2131/16 – juris, Rn. 22.
55Die Frage, ob die Anwendung des § 5 Nr. 1 d BVFG ein Verschulden des Täters voraussetzt, kann jedoch offen bleiben, weil jedenfalls die Voraussetzungen des § 33 StGB nicht vorliegen.
56Nach dieser Vorschrift wird ein Täter nicht bestraft, der die Grenzen der Notwehr aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken überschreitet. Das russische Gericht hat keine Feststellungen zu der Frage getroffen, ob die Notwehrüberschreitung aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken erfolgte. Vermutlich ist dies für die Anwendung des russischen Tatbestandes des „Mordes bei Notwehrüberschreitung“ nicht erforderlich.
57Den Feststellungen zum Tathergang, dem nachfolgenden Verhalten des Enkels des Klägers und den Angaben zu seiner Persönlichkeit sind allerdings auch keine Anhaltspunkte dafür zu entnehmen, dass die Ausführung der Tat auf einem derartigen emotionalen Ausnahmezustand beruhte.
58Die Überschreitung der Notwehr aus „Furcht“ ist entschuldigt, wenn bei dem Täter ein durch das Gefühl des Bedrohtseins verursachter Ausnahmezustand mit einem solchen Störungsgrad vorliegt, dass er das Geschehen nur noch in erheblich reduziertem Maße verarbeiten kann; hierbei bezieht sich die Furcht – im Gegensatz zur Angst – auf einen konkreten realen Umstand,
59vgl. BGH, Urteil vom 03.06.2015 – 2 StR 473/14 – juris, Rn. 21; Zieschang, in: Leipziger Kommentar zum StGB, online-Kommentar, 13. Auf. 2019, § 33 Anm. 27.
60„Schrecken“ ist eine plötzliche emotionale Regung, eine Gesamtreaktion des Organismus auf eine überraschende Bedrohung. Kennzeichnend ist die Plötzlichkeit der Bedrohung,
61vgl. Zieschang, in: Leipziger Kommentar zum StGB, online-Kommentar, 13. Auf. 2019, § 33 Anm. 28.
62Zu Unrecht beruft sich der Prozessbevollmächtigte des Klägers auf einen Passus des Urteils, in dem es heißt, dass der Enkel des Täters aufgrund des Angriffs des Opfers mit dem Schlagring „einen Schrecken“ bekam und auf das Opfer einstach (Bl. 134 d.A.). In diesem Teil des Urteils wird jedoch nicht die gerichtliche Feststellung des Tathergangs wiedergegeben, sondern lediglich das teilweise Geständnis des Angeklagten vor Gericht und damit seine subjektive Darstellung der Geschehnisse. Der vom Gericht festgestellte Tatablauf befindet sich auf B. 142 d.A. Dort ist nicht davon die Rede, dass die tödlichen Messerstiche infolge eines Schreckens wegen einer plötzlichen Bedrohung ausgelöst wurden.
63Eine derartige Darstellung befindet sich auch nicht bei den Zeugenaussagen. Insbesondere hat die Mutter des Angeklagten als einzige Tatzeugin nur ausgesagt, ihr Sohn habe ihr nach der Tat gesagt, dass er nicht anders habe handeln können und dass er nach dem Geschehen sehr traurig gewesen sei. Dies deutet eher auf eine sehr rationale Verarbeitung des Geschehens und ein normales Gefühl der Trauer oder Besorgnis nach der Tat, aber nicht auf einen seelischen Ausnahmezustand, der durch Angst vor einer plötzlichen tödlichen Bedrohung ausgelöst wurde.
64Auch der Tathergang und das Verhalten nach der Tat geben keine Hinweise auf eine durch einen Schrecken ausgelöste Notwehrüberschreitung. Vielmehr deutet alles auf ein gezieltes, überlegtes und furchtloses Handeln des Angeklagten hin. Dieser konnte durch das Erscheinen des Opfers nicht überrascht sein, nachdem er im Verlauf des Tages dessen Sohn tätlich angegriffen hatte und nur nach dem Einschreiten eines Zeugen von diesem abgelassen hatte (Bl. 137, 138 d.A.). Er schildert das spätere Opfer auch in seinem Geständnis vor dem Angriff als betrunken und aggressiv (Bl. 134 d.A.). Dies und der Umstand, dass er beim Verlassen der Wohnung die Tür von außen abschloss (Bl. 134 d.A.), spricht dafür, dass er mit einem Angriff rechnete und seine in der Wohnung befindliche Mutter schützen wollte. Er hat auch keinerlei Versuche unternommen, den Angreifer verbal von seinem Vorhaben abzubringen oder sich diesem zu entziehen. Dies begründet die Annahme, dass er letztlich keine Angst vor seinem betrunkenen Kontrahenten hatte und sich für überlegen hielt, was sich im Endeffekt auch als zutreffend erwies. Denn während er das Opfer mit gezielten tiefen Messerstichen in den Brustbereich tödlich verletzt hatte, hatte dieser mit dem Schlagring keinen einzigen Schlag ausführen können.
65Auch das Verhalten nach der Tat deutet nicht auf einen seelischen Ausnahmezustand hin. Der Enkel des Klägers ging nach der Tat wieder in die Wohnung seiner Mutter zurück und berichtete dieser von der Tat. Danach verließ er die Wohnung und ging zu Freunden, denen er ebenfalls von der Tat erzählte und erklärte, er werde wohl ins Gefängnis gehen müssen und wolle sich am nächsten Tag selbst der Polizei stellen (Bl. 135, 136 d.A.). Das gesamte, distanziert und abgeklärt wirkende Verhalten deutet nicht darauf hin, dass der Täter sich kurze Zeit zuvor noch in einem hochgradigen Erregungszustand befunden hatte, in dem er einen lebensgefährlichen Angriff hatte abwehren müssen. Von einem emotionalen Ausnahmezustand berichten weder die Freunde noch der Polizeibeamte, der den Täter noch in der Tatnacht festnahm.
66Schließlich ergibt sich aus dem Urteil, dass der Enkel des Klägers zur Anwendung von körperlicher Gewalt neigte und eine Schlägerei für ihn kein seltenes und furchteinflößendes Ereignis war. Noch am selben Tag hatte er den Sohn des Getöteten ohne einen akuten Anlass wegen eines schwelenden Konfliktes angegriffen, ihm 2 Mal ins Gesicht getreten und sich anschließend geprügelt. Darüber hinaus ist davon die Rede, dass der Enkel des Klägers zu einem früheren Zeitpunkt in die Wohnung des späteren Opfers eingebrochen sei und den Vater des Opfers ebenfalls geschlagen habe (Bl. 134, 137 d.A.).
67Schließlich heißt es im Urteil, der Angeklagte neige unter Alkoholeinfluss zu Rechtsverletzungen (Bl. 145 d.A.), was durch die geschilderten Körperverletzungen sowie das im Jahr 2009 abgeurteilte Diebstahlsdelikt bestätigt wird. Diese Annahme wird auch dadurch gestützt, dass gegen den Enkel des Klägers im Jahr 2015 noch ein weiteres Strafverfahren eingeleitet wurde, das im Zeitpunkt der Ausstellung des vorgelegten Führungszeugnisses im Jahr 2016 noch nicht abgeschlossen war (Bl. 54 d.A.). Damit ist die Einschätzung der Mutter und der Freundin des Täters, dass er ein ruhiger, netter, milder Mensch sei, der nicht zu Aggressionen neige (Bl. 135, 136 d.A.), kaum zu vereinbaren. Diese Bewertung dürfte auf die persönliche Beziehung zu dem Täter zurückzuführen sein, in der sich dieser möglicherwiese von einer anderen Seite gezeigt hat. Die eigene Bewertung des Täters, er habe aus Schrecken das Messer gezogen und den Angreifer in Brust und Bauch gestochen, wird durch die objektiven Umstände der Tat nicht bestätigt und dürfte im erkennbaren Bestreben vorgetragen worden sein, ein möglichst mildes Urteil zu erwirken. Das Gericht hält diese Angabe daher nicht für glaubhaft.
68Der Umstand, dass im Urteil des russischen Gerichts keine ausdrücklichen Ausführungen zur emotionalen Verfassung des Täters während des Angriffs gemacht werden, kann diesen ebenfalls nicht entlasten. Denn den Antragsteller trifft eine Mitwirkungspflicht bei der Aufklärung der Umstände, die Ausschlussgründe im Sinne des § 5 BVFG erfüllen können. Insbesondere ist dieser verpflichtet, alle notwendigen, seinen persönlichen Bereich betreffenden Angaben zu machen, die die Behörde und das Gericht in den Stand setzen, zu prüfen, ob die Voraussetzungen des § 5 BVFG vorliegen,
69vgl. OVG NRW, Urteile vom 19.04.2002 – 2 A 1432/00 – juris, Rn. 41 und vom 18.05.2004 – 2 A 5813/00 – juris, Rn. 35 zum Ausschlussgrund des § 5 Nr. 2 b; OVG NRW, Beschluss vom 04.07.2017 – 11 E 215/17 – juris, Rn. 12 und VG Köln, Urteil vom 23.10.2018 – 7 K 565/15 – juris, Rn. 55 zum Ausschlussgrund des § 5 Nr. 1 d.
70Da der Kläger sich darauf berufen hat, sein Enkel habe die Notwehr aus Furcht und Schrecken überschritten, wäre er verpflichtet gewesen, hierzu substantiiert und nachvollziehbar vorzutragen. Die erforderlichen Schilderungen wären ihm bei einer Befragung seines Enkels zugänglich gewesen. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat sich aber allein auf die Angabe des Enkels in den Urteilsgründen gestützt, er habe vom Angriff des Opfers einen Schreck bekommen. Diese pauschale Angabe genügt nicht, um das Vorliegen der Voraussetzungen des § 33 StGB festzustellen, zumal die objektiven Umstände der Tat und die Feststellungen zur Persönlichkeit des Täters dagegen sprechen. Dieser Mangel geht zulasten des Klägers.
71Die Strafe für die rechtswidrige Tat, die nach deutschem Strafrecht ein Verbrechen ist, ist auch noch nicht aus dem Bundeszentralregister zu tilgen. Nach § 46 Abs. 1 Nr. 4 BZRG beträgt die Tilgungsfrist 15 Jahre zuzüglich der Dauer der Freiheitsstrafe, § 46 Abs. 3 BZRG, die hier 1 Jahr betrug. Die Tilgungsfrist beginnt am Tag des ersten Urteils, also hier am 28.09.2011, § 36 BZRG i.V.m. § 47 Abs. 1 BZRG. Die Tilgungsfrist läuft hier also am 28.09.2017 ab. Demnach steht die Verurteilung der Einbeziehung noch entgegen. (Da eine fiktive Verurteilung nach deutschem Recht, also nach § 212 StGB eventuell in Verbindung mit Jugendrecht, auch mindestens zu einer einjährigen Haftstrafe geführt hätte, kann dahinstehen, ob bei der Berechnung der Tilgungsfrist auf eine fiktive Strafe nach deutschem Recht abzustellen ist, vgl. VG Köln, Urteil vom 18.12.2017 – 10 K 2131/15 – juris, Rn. 28.)
72Die Klage war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen.
73Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 ‚VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
74Rechtsmittelbelehrung
75Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zu, wenn sie von diesem zugelassen wird. Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn
76- 77
1. ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen,
- 78
2. die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist,
- 79
3. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
- 80
4. das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
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5. ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.
Die Zulassung der Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, schriftlich zu beantragen. Der Antrag auf Zulassung der Berufung muss das angefochtene Urteil bezeichnen.
83Statt in Schriftform kann die Einlegung des Antrags auf Zulassung der Berufung auch als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a der Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) erfolgen.
84Die Gründe, aus denen die Berufung zugelassen werden soll, sind innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils darzulegen. Die Begründung ist schriftlich oder als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, einzureichen, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist.
85Vor dem Oberverwaltungsgericht und bei Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Oberverwaltungsgericht eingeleitet wird, muss sich jeder Beteiligte durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Als Prozessbevollmächtigte sind Rechtsanwälte oder Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, die die Befähigung zum Richteramt besitzen, für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts auch eigene Beschäftigte oder Beschäftigte anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts mit Befähigung zum Richteramt zugelassen. Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung im Übrigen bezeichneten ihnen kraft Gesetzes gleichgestellten Personen zugelassen.
86Die Antragsschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.
87Beschluss
88Der Wert des Streitgegenstandes wird auf
895.000,00 €
90festgesetzt.
91Gründe
92Der festgesetzte Streitwert entspricht dem gesetzlichen Auffangstreitwert im Zeitpunkt der Klageerhebung (§ 52 Abs. 2 GKG).
93Rechtsmittelbelehrung
94Gegen diesen Beschluss kann schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle, Beschwerde bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln eingelegt werden.
95Statt in Schriftform kann die Einlegung der Beschwerde auch als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a der Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) erfolgen.
96Die Beschwerde ist innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, einzulegen. Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann sie noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.
97Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200 Euro übersteigt.
98Die Beschwerdeschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.
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