Beschluss vom Niedersächsisches Finanzgericht (9. Senat) - 9 K 168/20

Tatbestand

1

Streitig ist die Rechtzeitigkeit der Rücknahme eines Einspruchs zur Abwendung einer verbösernden Einspruchsentscheidung.

2

Der Kläger war im Streitjahr 2012 ledig und wurde einzeln zur Einkommensteuer veranlagt. Er war in der Zeit vom 1. Januar 2012 bis 2. Dezember 2012 als Angestellter bei der … Group mit Sitz in X und in der Zeit vom 3. Dezember 2012 bis zum 31. Dezember 2012 aufgrund lokaler Anstellung bei der … Group in Y beschäftigt. Aus dieser Tätigkeit erzielte der Kläger Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Darüber hinaus erzielte er Einkünfte aus Kapitalvermögen und solche aus der Vermietung einer Eigentumswohnung.

3

Mit der Einkommensteuererklärung für das Streitjahr beantragte der Kläger unter anderem die Anerkennung von Reisekosten als Werbungskosten sowie einen Verlust aus der Vermietung der Eigentumswohnung. Diese Wohnung war nach Aktenlage im Zeitraum 1. Oktober 2010 bis zum 30. September 2011 von Beginn an zeitlich befristet vermietet.

4

Im Einkommensteuerbescheid vom 7. November 2014 erkannte der Beklagte den geltend gemachten Verlust aus Vermietung und Verpachtung mangels nachgewiesener Einkünfteer-  zielungsabsicht im Streitjahr nicht an. Zudem forderte das beklagte Finanzamt (FA) den Kläger auf, die einbehaltenen Steuerabzugsbeträge zu seinen Kapitalerträgen durch die Vorlage der erforderlichen Steuerbescheinigungen nachzuweisen und eine Bescheinigung seines Arbeitgebers darüber vorzulegen, dass keine steuerfreien Reisekostenerstattungen erfolgt waren. Gegen diesen Bescheid richtete sich der fristgerechte Einspruch vom 25. November 2014.

5

Aufgrund weiterer Ermittlungen im Einspruchsverfahren kam der Beklagte zu dem Schluss, dass im Streitfall eine verbösernde Einspruchsentscheidung zu erfolgen habe und wies mit Schreiben vom 19. März 2019 auf die Verböserung sowie die Möglichkeit der Einspruchsrücknahme hin.

6

Die angekündigte Einspruchsentscheidung wurde daraufhin mit Datum 17. Oktober 2019 mit einfachem Brief zur Post aufgegeben und an die steuerliche Beraterin des Klägers, die … Treuhand- und Steuerberatungs GmbH, versendet. Dort ging die Einspruchsentscheidung  - unstreitig (Nachweis durch Eingangsstempel sowie Fristenkontrollblatt) - am 22. Oktober 2019 ein. Der genaue Eingang der Einspruchsentscheidung (Stunde, Minute) konnte nicht festgestellt werden.

7

Die … Treuhand- und Steuerberatungs GmbH nahm den Einspruch vom 25. November 2014 am 22. Oktober 2019 per Fax um 18:57 Uhr zurück.

8

Im unmittelbaren Anschluss an den Erhalt der Einspruchsrücknahme vom 22. Oktober 2019 teilte der Beklagte dem Kläger mit Schriftsatz vom 23. Oktober 2019 mit, dass bereits durch Einspruchsentscheidung vom 17. Oktober 2019 entschieden worden und die Einspruchsrücknahme damit gegenstandslos sei. Zudem bat das beklagte Finanzamt den steuerlichen Berater des Klägers darum, das Posteingangsbuch der Steuerkanzlei für Oktober 2019 einzureichen.

9

Mit Schriftsatz vom 29. Oktober 2019 wies der Kläger darauf hin, dass die Einspruchsrücknahme nicht gegenstandlos sei, da die Einspruchsentscheidung erst mit Ablauf des 22. Oktober 2019 (Tag des tatsächlichen Zugangs) bekanntgegeben worden sei. Die Rücknahme sei daher wirksam erfolgt.

10

Daraufhin teilte der Beklagte dem Kläger wörtlich mit, er „stimme dem Vortrag insoweit zu, als Ihre am 22. Oktober 2019 um 18:57 Uhr erfolgte Einspruchsrücknahme wegen Einkommensteuer 2012 wirksam sei, da die Einspruchsentscheidung vom 17. Oktober 2019 zu diesem Zeitpunkt noch nicht als bekannt gegeben gegolten habe“. Die Einspruchsentscheidung habe jedoch unabhängig davon formal und materiell-rechtlich ergehen können. Der Beklagte habe den Einkommensteuerbescheid 2012 entsprechend den Korrekturvorschriften der AO (§ 172 ff. AO) zum Nachteil des Klägers ändern dürfen. Einschlägig sei die Änderungsvorschrift des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO gewesen. Steuererhöhende Tatsachen seien die festgestellte private Veranlassung der Reisekosten und die Erhöhung der Einkünfte aus Kapitalvermögen. Damit sei die Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom 17. Oktober 2019 entbehrlich.

11

Am 21. November 2019 nahm der Kläger hierzu nochmals Stellung. Dieses Schreiben vom 21. November 2019 hat folgenden Wortlaut:

12

“Hiermit kommen wir auf Ihr Schreiben vom 8. November 2019 zurück, mit dem Sie die Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom 17. Oktober 2019 als entbehrlich erachtet und die Änderungen des Einkommensteuerbescheides 2012 über die Korrekturvorschrift des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO gerechtfertigt haben.

Auch für den Fall des Vorliegens neuer Tatsachen, die nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO grundsätzlich zur Änderung des Einkommensteuerbescheides zu Ungunsten des Steuerpflichtigen berechtigen, ist dies unseres Erachtens im vorliegenden Fall nicht möglich.

Eine Korrekturmöglichkeit über die §§ 172 ff. AO besteht nur, solange der Anspruch nicht verjährt ist. Dies liegt in unserem Fall aber vor.

Da die Steuererklärung für 2012 am 04.04.2014 abgegeben wurde, beginnt die vierjährige Festsetzungsfrist mit Ablauf des Kalenderjahres 2014 (vgl. §§ 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO).

Ein offener Einspruch hemmt den Ablauf der Festsetzungsfrist dabei gem. § 171 Abs. 3a Satz 1 AO. Diese Ablaufhemmung entfällt jedoch mit Wegfall des anhängigen Einspruchsverfahrens im Zeitpunkt des wirksamen Zugangs der Einspruchsrücknahme – im vorliegenden Fall demnach am 22.10.2019 um 18:57 Uhr.

Da die Festsetzungsverjährung ohne Ablaufhemmung bereits mit Ablauf des Jahres 2018 eingetreten wäre, besteht die Möglichkeit der Korrektur über § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO danach nach Rücknahme des Einspruchs nicht mehr (vgl. § 169 Abs. 1 Satz 1 AO).

Ihr Änderungsbescheid vom 17.Oktober 2019, in dem eine Korrektur über § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO zudem nicht angesprochen wird, ist nach unserem Erachten nichtig.

Wir legen gegen diesen daher hilfsweise

EINSPRUCH

ein und beantragen die Aussetzung der Vollziehung.“

13

Dieses Schreiben wertete der Beklagte als Antrag des Klägers auf Feststellung der Nichtigkeit der Einspruchsentscheidung wegen Einkommensteuer 2012 vom 17. Oktober 2019 und lehnte mit Bescheid vom 20. Februar 2020 diesen Antrag ab. Der gegen diesen Bescheid gerichtete Einspruch hatte keinen Erfolg. Bezüglich der Einzelheiten wird auf die Einspruchsentscheidung vom 31. März 2020 Bezug genommen. Hiergegen richtete sich die mit Schriftsatz vom 4. Mai 2020 bei Gericht erhobene Klage, die unter dem Az. 9 K 112/20 geführt wurde. Hiermit machte der Kläger nochmals geltend, dass die Einspruchsrücknahme am 22. Oktober 2019 um 18:57 Uhr noch fristgerecht erfolgt sei. Bei wirksamer Einspruchsrücknahme könne auch keine Änderung des Einkommensteuerbescheides 2012 nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO) erfolgt sein. Dem stehe der Eintritt der Festsetzungsverjährung entgegen. Bezüglich der Einzelheiten wird auf die Klageschrift vom 4. Mai 2020 Bezug genommen.

14

Mit Schreiben vom 11. Juni 2020 äußerte der Berichterstatter Bedenken gegen diese Auslegung des Rechtsmittels vom 21. November 2019 durch den Beklagten als Antrag auf Feststellung der Nichtigkeit der Einspruchsentscheidung (in der vom FA angenommenen Form eines Änderungsbescheides). Diese Auslegung hielt der Berichterstatter für fragwürdig, da zum Zeitpunkt des Eingangs dieses Rechtsmittels die Klagefrist bezüglich der Einspruchsentscheidung vom 17. Oktober 2019 noch nicht abgelaufen war. Nach seiner Auffassung hätte bei rechtsschutzgewährender Auslegung dieser „Einspruch“ als Klage gewertet und dem Finanzgericht übersandt werden müssen. Aufgrund dessen schlug er den Beteiligten vor, das Schreiben vom 21. November 2019 übereinstimmend als Klage zu werten und dies klarstellend gegenüber dem Finanzgericht zu erklären. Daraufhin sollte das beklagte FA die Einspruchsentscheidung vom 31. März 2020 aufheben. Die streitentscheidenden verfahrensrechtlichen Rechtsfragen sollten dann in einer neuen Klage vom Gericht bearbeitet werden. Bezüglich der weiteren Einzelheiten wird auf das Schreiben des Berichterstatters vom 11. Juni 2020 Bezug genommen.

15

Mit Schriftsatz vom 24. Juni 2020 erklärte sich der Kläger mit dieser vorgeschlagenen Verfahrensweise einverstanden.

16

Mit Schriftsatz vom 6. Juli 2020 hob der Beklagte daraufhin die Einspruchsentscheidung vom 31. März 2020 wegen des Bescheides über die Ablehnung des Antrags vom 21. November 2019 auf Nichtigkeit der Einspruchsentscheidung vom 17. Oktober 2019 auf und erklärte das Hauptsacheverfahren 9 K 112/20 für erledigt. Dieser Erledigungserklärung schloss sich der Kläger an. Das Klageverfahren 9 K 112/20 wurde daraufhin mit Beschluss vom 28. August 2020 beendet.

17

Mit Schriftsatz vom 7. Juli 2020 hat der Beklagte gemäß § 47 Abs. 2 Satz 2 FGO die „hier am 21. November 2019 eingegangene vermeintliche Klageschrift wegen Einkommensteuer 2012“ übersandt.

18

Im Weiteren wird die Klage wie folgt begründet:

19

Es sei davon auszugehen, dass eine Einspruchsrücknahme noch bis zum Ablauf des Tages des tatsächlichen Zuganges der Einspruchsentscheidung möglich gewesen sei. Es widerspräche dem allgemeinen Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG), wenn ein Steuerpflichtiger die Einspruchsrücknahme innerhalb der Drei-Tages-Fiktion zu einem beliebigen Tageszeitpunkt und damit grundsätzlich sogar noch nach dem Erhalt der Einspruchsentscheidung vornehmen könnte (Hinweis auf BFH, Urteil vom 26. Februar 2002, X R 44/00), der Steuerpflichtige bei unverschuldet späterem Zugang der Einspruchsentscheidung nicht die Möglichkeit haben solle, seinen Einspruch bis zum Ablauf des Tages zurückzunehmen. Im Übrigen könne im Streitfall gar nicht exakt festgestellt werden, wann der tatsächliche Zugang der Einspruchsentscheidung stunden- und minutengenau erfolgt sei. Es könne dahinstehen, ob üblicherweise beginnend ab Vormittag bis nachmittags die Postzustellung erfolge. Auch bei einer Einspruchsrücknahme ab früheren Nachmittag könne demnach keine fundierte Aussage hinsichtlich der zeitlichen Abfolge beziehungsweise einer potentiellen Überschneidung von Zugang und Einspruchsrücknahme getroffen werden. Dazu komme, dass dem FA zwar insoweit zuzustimmen sei, als dass die Post in der Regel eher vormittags als abends ausgetragen werde. Auch Letzteres komme jedoch durchaus vor. Dennoch könne eine frühere Zustellung keinesfalls rechtfertigen, das Recht des Steuerpflichtigen, den Einspruch bis zum tatsächlichen Zugang zurückzunehmen, zu schmälern.

20

Entgegen der Auffassung des beklagten FA könne in der Einspruchsentscheidung beziehungsweise der geänderten Steuerberechnung im Anhang kein Änderungsbescheid nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO gesehen werden. Ein Steuerbescheid könne nur geändert werden, sofern eine Korrekturvorschrift greife und keine Festsetzungsverjährung eingetreten sei. Da die Ablaufhemmung des § 171 Abs. 3a AO durch die Einspruchsrücknahme entfallen sei, sei am 22. Oktober 2019 um 18:57 Uhr Festsetzungsverjährung eingetreten. Die wirksame Einspruchsrücknahme habe den Verlust des eingelegten Einspruchs zur Folge. Die Einspruchsentscheidung sei damit gegenstandslos. Weil auch die Anlage zur Einspruchsentscheidung keinen selbstständigen Änderungsbescheid darstelle, habe kein Dokument i.S.d. § 169 Abs. 1 Satz 3 AO den Machtbereich des FA fristgerecht verlassen. Die Festsetzungsfrist sei damit nicht gewahrt und eine Änderung könne nicht mehr vorgenommen werden.

21

Der Kläger beantragt,

22

die Einspruchsentscheidung wegen Einkommensteuer 2012 vom 17. Oktober 2019 wegen rechtzeitig erfolgter Einspruchsrücknahme zur Klarstellung ersatzlos aufzuheben.

23

Der Beklagte beantragt,

24

die Klage abzuweisen.

25

Nach Auffassung des Beklagten handelt es sich bei dem Schriftsatz des Klägers vom 21. November 2019 um keine wegen Einkommensteuer 2012 erhobene, zulässige Klage. Nach dem Wortlaut dieses Schreibens habe sich der Kläger zwar mit einem vermeintlichen Änderungsbescheid i.S.d. § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO wegen Einkommensteuer 2012 nicht einverstanden erklärt, jedoch lediglich hilfsweise Einspruch eingelegt. Dies deutet zunächst darauf hin, dass eine Überprüfung im Verwaltungsverfahren erfolgen solle. Dafür spreche auch, dass sich der Kläger im Verlaufe des weiteren Verfahrens beim FA nicht nach der Weiterleitung der vermeintlichen Klage vom 21. November 2019 an das Niedersächsische Finanzgericht erkundigt habe, sondern sich auf den sich anschließenden Schriftsatz des FA sogar schriftlich geäußert habe. Das Schreiben des Klägers könne auch nicht abweichend von seinem Wortlaut als Klage ausgelegt werden. Dies setze voraus, dass ein derartiger Wille sich aus der verkörperten Erklärung anhand der erkennbaren Umstände entnehmen lasse. Diese sei jedoch vorliegend nicht der Fall, denn Umstände, die zweifelsfrei erkennen ließen, dass eine gerichtliche Überprüfung begehrt werde, seien dem hilfsweise eingelegten Einspruch vom 21. November 2019 nicht zu entnehmen. Im Übrigen sei darauf hinzuweisen, dass es ein Gebot der Rechtssicherheit sei, Rechtskundige, wie Angehörige der steuerberatenden Berufe mit ihren Verfahrenserklärungen beim Wort zu nehmen. Denn bei diesen Personen könne davon ausgegangen werden, dass sie sich über die rechtliche Tragweite ihrer Erklärungen im Klaren seien. Dementsprechend folge bereits aus der Eindeutigkeit des Schreibens vom 21. November 2019, dass eine Umdeutung des hilfsweise eingelegten Einspruchs in eine Klage ausscheide. Es bestehe kein Anlass, dem hilfsweise eingelegten Einspruch des Klägers einen anderen Sinn beizumessen, als er nach seinem Wortlaut und seinem Zweck habe. Nach alledem sei im Streitfall nicht ersichtlich, dass der Kläger mit seinem Schreiben vom 21. November 2019 um gerichtlichen Rechtsschutz in Form eines Urteils nachgesucht habe. Vielmehr habe er durch seinen gegen einen vermeintlichen Änderungsbescheid i.S.d. § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO wegen Einkommensteuer 2012 hilfsweise eingelegten Einspruch lediglich eine verwaltungsinterne Überprüfung der Sach- und Rechtslage beantragt.

26

Auch in der Sache könne die Klage keinen Erfolg haben. Unstreitig sei, dass die Einspruchsentscheidung vom 17. Oktober 2019 nicht innerhalb der Drei-Tages-Fiktion des § 122 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO mit Ablauf des 21. Oktober 2019 als bekanntgegeben gelte. Die Einspruchsentscheidung sei dem Kläger erst zu einem späteren Zeitpunkt, nämlich am 22. Oktober 2019 zugegangen. Im Streitfall löse daher der tatsächliche Zugang die Bekanntgabe aus. Im Streitfall könne dahingestellt bleiben, ob im Allgemeinen bei einer am früheren Nachmittag erfolgten Einspruchsrücknahme eine fundierte Aussage hinsichtlich der zeitlichen Abfolge beziehungsweise einer potentiellen Überschneidung von Zugang des Verwaltungsaktes und Einspruchsrücknahme getroffen werden könne. Denn es sei offensichtlich, dass die Einspruchsentscheidung dem Kläger tatsächlich am 22. Oktober 2019 vor 18:57 Uhr zugegangen sei und er von ihr auch tatsächlich bereits vor 18:57 Uhr Kenntnis genommen haben müsse. Ansonsten hätte er seinen Einspruch wegen Einkommensteuer 2012 nicht nachfolgend per Fax am 22. Oktober 2019 um 18:57 Uhr zurückgenommen. Eine Verletzung des Gleichheitssatzes sei vorliegend nicht anzunehmen. Denn die insgesamt zu § 122 AO ergangene Rechtsprechung beruhe auf dem Gedanken, dass der in § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO genannte Zeitraum eine Frist i.S.d. § 108 Abs. 3 AO sei. Diese Überlegung könne aber für den hier zu beurteilenden Sachverhalt nicht gelten. Denn die Bekanntgabefiktion greife dann nicht ein, wenn die Postsendung erst nach Ablauf der dort genannten drei Tage zugegangen sei. In diesem Fall komme es nach dem eindeutigen Wortlaut allein auf den tatsächlichen Zugangszeitpunkt an.

27

Ungeachtet dessen vertritt der Beklagte weiterhin die Auffassung, dass die Einspruchsentscheidung vom 17. Oktober 2019 als geänderte Steuerfestsetzung 2012 durch den Tatbestand auch des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO gedeckt sei. Der Beklagte habe zwar ursprünglich mit Schriftsätzen vom 11. Dezember 2019 bzw. 7. Januar 2020 zugestimmt, dass die Festsetzungsverjährung mit der Einspruchsrücknahme des Klägers am 22. Oktober 2019 um 18:57 Uhr eingetreten sei. Dies sei jedoch durch den nachfolgend stattgefundenen Schriftverkehr überholt. Entgegen der Auffassung des Klägers sei bei einer möglichen Änderung der Einkommensteuerfestsetzung 2012 nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO nicht darauf abzustellen, ob die Anlage zur Einspruchsentscheidung vom 17. Oktober 2019 als Bescheid anzusehen sei. Denn die verbösernde Einspruchsentscheidung vom 17. Oktober 2019 selbst sei die geänderte Steuerfestsetzung für das Streitjahr. Für den Erlass eines solchen Änderungsbescheides sei die Festsetzungsverjährung in keinem Fall eingetreten, denn dieser Änderungsbescheid sei rechtzeitig vor der Einspruchsrücknahme abgesandt worden.

28

Auf Anfrage des Berichterstatters haben die Prozessbevollmächtigten mit Schriftsatz vom 20. April 2021 nochmals zum tatsächlichen Geschehensablauf am 22. Oktober 2019 Stellung genommen und Folgendes im Wortlaut mitgeteilt:

29

„Die Einspruchsrücknahme am 22. Oktober 2019 um 18:57 Uhr ist erfolgt, ohne dass die betreffende Einspruchsentscheidung vom 17. Oktober 2019 wissentlich vorlag. Nach dem üblichen Geschäftsablauf der … Treuhand- und Steuerberatungsgesellschaft mbH wird die Post im Laufe des Nachmittags erfasst. Es besteht daher durchaus die Möglichkeit, dass sich die Einspruchsentscheidung zum Zeitpunkt der Rücknahme bereits in der Kanzlei, wenn auch nicht direkt bei dem zuständigen Partner oder Sachbearbeiter, befand. Wie wir anhand unseres Fristenkontrollblattes sowie dem Posteingangsstempel bereits nachgewiesen haben, wurde der Eingang der Einspruchsentscheidung am 22. Oktober 2019 erfasst. Die Erfassung der Post erfolgt täglich, so dass die Einspruchsentscheidung jedenfalls erst an diesem Tag tatsächlich zugegangen ist. Ein darüberhinausgehender Nachweis in Form einer konkreten Uhrzeit ist uns leider schlicht nicht möglich. Sowohl Verspätungen durch den Postdienstleister als auch eine durch erhöhtes Arbeitsaufkommen veranlasste Erfassung des Posteingangs erst am späten Abend kommen dabei natürlich gelegentlich vor. Ob dies am 22. Oktober 2019 der Fall war, kann rückwirkend allerdings nicht mehr nachvollzogen werden.“

Entscheidungsgründe

30

1. Die Klage ist zulässig und begründet.

31

a. Das Schreiben des Klägers vom 21. November 2019 erfüllt – entgegen der Auffassung des FA - die Voraussetzungen, die an eine ordnungsgemäße Klageerhebung zu stellen sind.

32

aa. Klageerhebung setzt voraus, dass sich die Eingabe als „Klageschrift“ qualifizieren lässt (bei fristgebundenen Klagen: bis zum Ende der Klagefrist, vgl. hierzu etwa BFH, Urteil vom 7. November 2007 I B 104/07, BFH/NV 2008, 799). Dies ist der Fall, wenn von einer Person erkennbar (und verbindlich) um gerichtlichen Rechtsschutz durch Urteil gegen behördliches (Nicht-)Handeln nachgesucht wird. Ist zweifelhaft, ob eine Klage vorliegt (insbesondere bei einer an die Behörde gerichteten Eingabe, die durchaus rechtsschutzsuchend motiviert sein kann), ist das Gewollte durch Auslegung zu klären. Dabei ist nicht am buchstäblichen Sinn des Ausdrucks zu haften, sondern der in der Erklärung verkörperte Wille unter Berücksichtigung der dem Gericht erkennbaren (Begleit-)Umstände zu ermitteln (so die ständige Rechtsprechung zur Auslegung einer prozessualen Willenserklärung [analog § 133 BGB], z. B. BVerfG, Beschluss vom 29. Oktober 2015 2 BvR 1493/11, NVwZ 2016, 238; BFH, Beschlüsse vom 26. März 2014 III B 133/13, BFH/NV 2014, 894; vom 20. Mai 2014 III B 82/13, BFH/NV 2014, 1505; vom 17. September 2014 VI B 75/14, BFH/NV 2015, 51; vom 15. Juli 2015 VIII B 56/15, BFH/NV 2015, 1429; vom 21. Juli 2016 V S 20/16, BFH/NV 2016, 1734). Zu diesen Umständen kann z.B. auch eine Adressierung der Eingabe an das Gericht zählen; im Übrigen können weitere Erkenntnisse z.B. aus den dem Gericht vorliegenden Unterlagen zu gewinnen sein.

33

Im Zweifel ist als gewollt anzusehen, was nach den Maßstäben der Rechtsordnung vernünftig ist und der recht verstandenen Interessenlage des Klägers entspricht (z. B. BVerfG, Beschluss vom 29. Oktober 2015 2 BvR 1493/11, NVwZ 2016, 238). Denn die Garantie effektiven Rechtsschutzes (Art 19 Abs. 4 Satz 1 GG) gewährleistet nicht nur formal die Möglichkeit, die Gerichte anzurufen, sondern gebietet auch die Effektivität des damit verbundenen Rechtsschutzes. Der Zugang zu Gericht darf daher nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden. Vor diesem Hintergrund haben die Gerichte etwa das Verfahrensrecht so anzuwenden, dass den erkennbaren Interessen des rechtsschutzsuchenden Bürgers bestmöglich Rechnung getragen wird (BVerfG, Beschluss vom 29. Oktober 2015 2 BvR 1493/11, NVwZ 2016, 238).

34

Es muss nicht ausdrücklich „Klage“ erhoben werden - eine unrichtige Bezeichnung des Rechtsbehelfs etwa als Einspruch oder Widerspruch (hierzu BFH, Urteil vom 8. November 1996 VI R 37/94, BFH/NV 1997, 363) ist unerheblich (BFH, Beschluss 20. Mai 2014 III B 82/13, BFH/NV 2014, 1505; Brandis in: Tipke/Kruse, AO/FGO, 164. Lieferung 02.2021, § 65 FGO Rz. 3).

35

bb. Unter Berücksichtigung der vorstehenden Rechtsprechungsgrundsätze, denen der Senat folgt, kann der Schriftsatz des Klägers vom 21. November 2019 nur als Klageschrift qualifiziert werden.

36

Der Schriftsatz ist zwar nicht an das Gericht adressiert und es ist auch nach dem Wortlaut nicht klar geäußert worden, dass um gerichtlichen Rechtschutz nachgesucht wird.

37

Gleichwohl ist mit dem „Einspruch“ ein Rechtsmittel – zumindest hilfsweise – eingelegt worden. Allein dieser Aspekt ist bei der vom FA vorgenommenen Wertung als Antrag auf Feststellung der Nichtigkeit völlig außer Acht gelassen worden.

38

Unter Einbeziehung des zuvor geführten Schriftverkehrs nach Erlass der streitbefangenen Einspruchsentscheidung und der Interessenlage des Klägers kann das Schreiben vom 21. November 2019 nur so verstanden werden, dass der Kläger zum einen die Einspruchsentscheidung wegen der aus Sicht des Klägers rechtzeitigen Rücknahme des Einspruchs als unwirksam ansieht und sich zudem dagegen wendet, dass – entgegen der Auffassung des FA – in der Einspruchsentscheidung ein gleichzeitiger Änderungsbescheid nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO zu sehen ist, der noch vor Ablauf der Festsetzungsverjährung erlassen worden ist.

39

Angesichts der so verstandenen Interessenlage des Klägers ist es aus Sicht des Senates einzig sachgerecht, das Schreiben vom 21. November 2019 als Klage gegen die Einspruchsentscheidung vom 17. Oktober 2019 auszulegen. Zum einen ist dieser Schriftsatz innerhalb der Klagefrist beim FA eingegangen. Zum anderen kann der Kläger sein geäußertes Begehren auf Klarstellung, dass seine Rücknahme des Einspruchs die gewünschte rechtliche Wirkung entfaltet, nur in einem Klageverfahren gegen die Einspruchsentscheidung erreichen.

40

Es kann in diesem Zusammenhang dahinstehen, ob eine Einspruchsentscheidung, die das FA nach einer wirksamen Rücknahme dennoch erlässt, von vorherein unwirksam (so Brandis in: Tipke/Lang, AO/FGO, 164. Lieferung 02/2021, § 362 Rz. 8; Werth in: Gosch, AO/FGO, Stand.1.8.2019, Rz. 18, 21) oder mangels Offenkundigkeit nur rechtswidrig und anfechtbar ist (so Keß in: Schwarz/Pahlke, AO, Stand: 12.3.2019, § 362 Rz. 58; Birkenfeld in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, Stand: 190. Lfg. Juni 2006, § 362 AO Rz. 71; Birnbaum in: BeckOK AO, § 362 AO Rz. 41; Koenig/Cöster, AO, 3. Aufl. 2014, § 362 Rz. 26).

41

In beiden Fällen ist eine Anfechtungsklage zum Zwecke der Beseitigung der Einspruchsentscheidung – ggf. des Rechtsscheins - geboten (vgl. Keß in: Schwarz/Pahlke, AO, Stand: 12.3.2019, § 362 Rz. 58; Jesse, Einspruch und Klage im Steuerrecht, 4. Aufl. 2017, Rz. 476; Hardtke in: Kühn/v. Wedelstädt, AO/FO, 22. Aufl. 2018, § 362 AO Rz. 21; Werth in: Gosch, AO/FGO, § 362 AO Rz. 18, 21; Brandis, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 362 AO Rz. 8).

42

Eine solche Auslegung durch den Senat ist zur Gewährung des effektiven Rechtsschutzes auch verfassungsrechtlich geboten.

43

Die Bezeichnung als „Einspruch“ gegen einen vom FA angenommenen Änderungsbescheid in Form einer Einspruchsentscheidung steht diesem Auslegungsergebnis nicht entgegen. Zu dieser unbeachtlichen Falschbezeichnung (vgl. hierzu BFH, Urteil vom 8. November 1996 VI R 37/94, BFH/NV 1997, 363) kam es im Streitfall im Übrigen nur deshalb, weil das FA zunächst die Wirksamkeit der Einspruchsrücknahme ausdrücklich bestätigte, um dann aber in der Einspruchsentscheidung gleichzeitig einen (erstmaligen) Änderungsbescheid nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO zu sehen. Bei dieser Sachlage kann sich der Beklagte schon aus Gründen von Treu und Glauben nicht darauf berufen, dass der steuerlich qualifizierte Prozessvertreter des Klägers am Wortlaut seiner Bezeichnung festzuhalten sei.

44

b. Auch in der Sache hat die Klage Erfolg.

45

Die Einspruchsentscheidung wegen Einkommensteuer 2012 vom 17. Oktober 2019 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO).

46

Die Rücknahme des Einspruchs vom 22. Oktober 2019 (18:57 Uhr) ist rechtzeitig vor Ablauf des Tages der Bekanntgabe erfolgt und damit wirksam. Die wirksame Einspruchsrücknahme führt zur Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom 17. Oktober 2019.

47

aa. Nach § 362 Abs. 1 Satz 1 AO kann der Einspruch "bis zur Bekanntgabe der Entscheidung über den Einspruch" zurückgenommen werden. Die Rücknahme hat den Verlust des eingelegten Einspruchs zur Folge (§ 362 Abs. 2 Satz 1 AO).

48

(1) Für die Bekanntgabe von Einspruchsentscheidungen gilt § 122 AO unmittelbar (über § 366 AO; Seer in: Tipke/Kruse, AO/FGO, 164. Lieferung 02.2021, § 366 AO Rz. 22; auch nach Wegfall des § 366 Satz 2 AO, der auf § 122 AO verwies, durch das Dritte Gesetz zur Änderung verwaltungsverfahrensrechtlicher Vorschriften vom 21. August 2002, siehe hierzu BT-Drucks. 14/9000, S. 38). Diese Vorschrift regelt die Frage, wem und wie ein Verwaltungsakt bekannt zu geben und zu welchem Zeitpunkt die Bekanntgabe zu vermuten ist. Die Vorschrift regelt allein die formal-rechtlichen Fragen der Bekanntgabe von Verwaltungsakten. An den Zeitpunkt der wirksamen Bekanntgabe eines Verwaltungsaktes sind einschneidende Rechtsfolgen geknüpft (z.B. Beginn der Einspruchsfrist, § 355 Abs. 1 Satz 1 AO; Beginn der Klagefrist, § 47 FGO; Fälligkeit einer Steuernachzahlung, § 220 Abs. 1 AO i.V. mit § 36 Abs. 4 EStG mit automatischem Anfall von Säumniszuschlägen nach § 240 AO bei Verzug oder Nichtzahlung). § 122 AO regelt aber nicht die Wirkungen der Bekanntgabe.

49

Für schriftliche Verwaltungsakte sieht § 122 Abs. 2 AO in der Regel die Übermittlung per Post vor und trifft eine Sonderregelung für den Zeitpunkt der Bekanntgabe (einfache Bekanntgabe). Öffentliche Bekanntmachung (§ 122 Abs. 3 AO) und Zustellung (§ 122 Abs. 5 AO) sind als Ausnahmen hierzu geregelt. So kommt etwa eine Zustellung nach dem Verwaltungszustellungsgesetz (VwZG) nur in Betracht, wenn dies gesetzlich vorgeschrieben ist oder behördlich angeordnet wird.

50

(2) Eine Einspruchsentscheidung, die - wie im Streitfall - mit der Post übermittelt wird, gilt gemäß §§ 122 Abs. 2 Nr. 1, 366 AO bei einer Übermittlung im Inland am dritten Tage nach der Aufgabe zur Post als bekanntgegeben, es sei denn, der Bescheid ist nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen (sog. Bekanntgabefiktion).

51

Geht eine Einspruchsentscheidung tatsächlich früher als am dritten Tag nach Aufgabe zur Post zu, ist diese frühere tatsächliche Bekanntgabe rechtlich unerheblich, weil die Bekanntgabe im Fall des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO nicht nur vermutet, sondern mit Ablauf des dritten Tages fingiert wird (BFH, Urteil vom 13. Dezember 2000 X R 96/98, BFHE 193, 512, BStBl II 2001, 774). Denn mit der Zugangsfiktion in § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO wollte der Gesetzgeber - zugunsten wie zuungunsten des Adressaten - generell einen Streit über den genauen Zeitpunkt des Posteingangs so weit wie möglich ausschließen.

52

Nach der Rechtsprechung des BFH (Urteil vom 26. Februar 2002 X R 44/00, BFH/NV 2002, 1409 zu § 366 AO a.F., der in Satz 2 einen Verweis auf § 122 AO vorsah) schloss die ausdrückliche und uneingeschränkte Bezugnahme in § 366 AO auf § 122 AO aus, für verbösernde Einspruchsentscheidungen i.S. des § 367 Abs. 2 Satz 2 AO auf einen tatsächlich - vor Ablauf der drei Tage liegenden - früheren Zeitpunkt der Bekanntgabe abzustellen, selbst wenn der Steuerpflichtige aufgrund eines derart frühen Zugangs der Einspruchsentscheidung die Möglichkeit erhält, die Verböserung bis zum Ablauf des dritten - für die Bekanntgabefiktion maßgeblichen - Tages durch Rücknahme des Einspruchs unwirksam zu machen. Denn der Zweck des § 362 Abs. 1 Satz 1 AO, überflüssige Rechtsbehelfsentscheidungen zu vermeiden, rechtfertige eine einschränkende Auslegung des § 122 AO schon deshalb nicht, weil das FA die Möglichkeit einer Einspruchsrücknahme nach Zugang der Einspruchsentscheidung innerhalb der drei Tage nach Aufgabe zur Post durch förmliche Zustellung der Einspruchsentscheidung nach § 3 Abs. 1 VwZG ausschließen könne.

53

(3) Wie allerdings hinsichtlich der Wirksamkeit einer Einspruchsrücknahme zu verfahren ist, wenn die Einspruchsentscheidung jedoch erst nach Ablauf des dritten - für die Bekanntgabefiktion maßgeblichen – Tages tatsächlich zugeht, ist bislang in der Finanzrechtsprechung – soweit ersichtlich – nicht ausgeurteilt worden.

54

In der steuerrechtlichen Literatur ist diese Problematik – soweit ersichtlich – bislang nur von Birkenfeld (in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO; Stand: 190. Lfg. Juni 2006, § 362 AO Rz. 65) behandelt worden. Danach ist außerhalb der Zugangsfiktion des § 122 Abs. 2 AO von einer Bekanntgabe einer Einspruchsentscheidung mit dem tatsächlichen Zugang auszugehen. Zwar beginne die Klagefrist (§ 47 FGO) erst mit dem darauf folgenden Tag (§ 54 Abs. 2 FGO i. V. mit § 222 Abs. 1 ZPO i.V. mit § 187 Abs. 1 BGB). Eine Einspruchsrücknahme sei jedoch nach der Bekanntgabe nicht mehr möglich, obwohl der Lauf der Klagefrist erst vom folgenden Tag ab berechnet werde. Der Steuerpflichtige könne unter diesen Umständen nicht wirksam zurücknehmen, wenn er die Sendung mit der Einspruchsentscheidung z.B. am vierten Tag nach Aufgabe zur Post vormittags erhalte und noch am selben Tag nachmittags die Einspruchsrücknahme erkläre.

55

(4) Der Senat räumt ein, dass im ersten Zugriff der Wortlaut des § 122 Abs. 2 AO („…außer, wenn er nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist;…“) dafür sprechen könnte, dass der Gesetzgeber den Bekanntgabezeitpunkt außerhalb der Drei-Tages-Fiktion (§ 122 Abs. 2 Nr. 1 AO) an dem tatsächlichen Zugang im Sinne einer konkreten Zeit innerhalb eines Tages (stunden-, minuten- und sekundengenau) festmacht und nicht den Ablauf dieses Tages als Bekanntgabezeitpunkt annimmt. Denn nach dem Verständnis der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist ein Verwaltungsakt zugegangen, wenn er derart in den Machtbereich des Bekanntgabeadressaten (Wohnung, Briefkasten, Postschließfach, Geschäft) gelangt ist, dass diesem die Kenntnisnahme normalerweise möglich war und nach den Gepflogenheiten des Rechtsverkehrs auch erwartet werden konnte (s. § 130 BGB; BFH, Urteil vom 11. Juli 2017 IX R 41/15, BFH/NV 2018, 195; vom 5. Dezember 1974 V R 111/74, BStBl. II 1975, 286; vom 14. August 1975 IV R 150/71, BStBl. II 1976, 764; vom 14. März 1990 X R 104/88, BStBl. II 1990, 612 [615]; vom 13. Oktober 1994 IV R 100/93, BStBl. II 1995, 484 [485]).

56

Aus teleologischen, gesetzessystematischen und letztlich auch verfassungsrechtlichen Erwägungen heraus erachtet der Senat jedoch – entgegen der Rechtsauffassung des FA und von Birkenfeld (in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO; Stand: 190. Lfg. Juni 2006, § 362 AO Rz. 65) - eine Auslegung des § 122 Abs. 2 AO in der Weise für zutreffend, dass von einer Bekanntgabe außerhalb der Drei-Tages-Fiktion immer erst mit Ablauf des Tages des tatsächlichen Zugangs – und nicht bereits stunden-, minuten- und sekundengenau innerhalb des Tages - auszugehen ist.

57

Eine solche Auslegung hält der Senat aus folgenden Gründen für geboten:

58

(a) Wenn der Gesetzgeber mit der Verwendung des Verbs „zugehen“ in § 122 Abs. 2 AO („…außer, wenn er nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist;…“) den stunden-/minuten- und sekundengenauen Zeitpunkt der Bekanntgabe hätte markieren wollen, wäre nach Ansicht des Senates zu erwarten gewesen, dass der Gesetzgeber zum einen den Begriff näher definiert und zum anderen – wenn damit bestimmte verfahrensrechtliche Folgen verbunden wären – ein Instrumentarium bereitstellt, wie dieser dann entscheidende Zeitpunkt festgehalten wird. Beides ist nicht geschehen. So hat der Gesetzgeber den Begriff „Zugang“ oder „zugehen“ zwar in weiteren Vorschriften der AO verwendet (etwa §§ 87a Abs. 1, 88 Abs. 4, 122a Abs. 2 und Abs. 4, 171 Abs. 10a AO), ohne jedoch eine genaue gesetzliche Definition anzugeben. Soweit ersichtlich kommt es auch in diesen weiteren Fällen auf die Bestimmung eines stunden-, minuten- und sekundengenauen Bekanntgabezeitpunktes nicht an.

59

Vielmehr ist für den Senat gar nicht ersichtlich, welche verfahrensrechtliche Bedeutung die Bestimmung eines stunden-, minuten- und sekundengenauen Bekanntgabezeitpunktes innerhalb des Tages überhaupt im Steuerrecht – anders als u. U. im Zivilrecht (§ 130 BGB) - haben sollte. Die Bekanntgabe ist entweder entscheidend für die grundsätzliche Wirksamkeit eines Verwaltungsaktes (§ 124 Abs. 1 AO) oder – tagegenau – für den Lauf von Fristen (Einspruchs-, Klage- und Verjährungsfristen) und das Entstehen von Säumniszuschlägen und Zinsen (vgl. etwa Güroff in: Gosch, Abgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, 1. Aufl. 1995, 159. Lieferung, § 122 Rz. 1.1).

60

Eine Anforderung einer stunden-, minuten- und sekundengenauen Festlegung des Zugangszeitpunkt ist mit dem Sinn und Zweck der vereinfachten, für das Massenverfahren gedachten Bekanntgabe durch einfachen Brief gemäß § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO nicht zu vereinbaren.

61

Die in Form einer Fiktion ausgestaltete Regelung soll nach der Intention des Gesetzgebers – zugunsten wie zuungunsten des Adressaten – generell einen Streit über den genauen Zeitpunkt des Posteingangs so weit wie möglich ausschließen; zudem kommt der Regelung eine Vereinfachungsfunktion zu (vgl. hierzu BFH, Urteil vom 13. Dezember 2000 X R 96/98, BStBl. II 2001, 274). Dazu geht die Bekanntgabefiktion von einer Postlaufzeit von 3 Tagen aus. Die Frist ist so großzügig bemessen, dass alle normalen Unwägbarkeiten der Postbeförderung erfasst werden und abgesehen von Besonderheiten von einem Zugang beim Adressaten auszugehen ist. Schließlich endet die Frist – als klare und einfache Regelung - mit Ablauf des dritten Tages nach Aufgabe zur Post.

62

Da der Satzteil („…außer, wenn er nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist;…“) steuersystematisch untrennbarer Bestandteil ein und derselben vereinfachten Bekanntgabe mit einfachen Brief ist und dem betroffenen Steuerpflichtigen als Adressaten eines ggf. belastenden Verwaltungsaktes lediglich zur Wahrung seiner Rechte (etwa durch eine Verkürzung der Einspruchs- und Klagefrist) die Widerlegung der Zugangsvermutung ermöglichen soll, ist nicht ersichtlich, warum der Gesetzgeber – in Abkehr von dem verfolgten Zweck – nunmehr einen stunden-, minuten- und sekundengenauen Zugangszeitpunkt fordern sollte. Wie der Streitfall zeigt, würden sich in einem solchen Fall Streitigkeiten über den genauen Zeitpunkt der Bekanntgabe innerhalb eines Tages ergeben können, die der Gesetzgeber ja gerade vermeiden will. Eine teleologische und steuersystematische Auslegung führt daher nach Überzeugung des Senats dazu, dass auch der Bekanntgabezeitpunkt nach Ablauf des Drei-Tages-Zeitraums immer mit Ablauf des Tages des tatsächlichen Zugangs anzunehmen ist. Nur diese Auslegung gewährleistet die Verwirklichung des mit der Bekanntgaberegelung insgesamt verfolgten Zwecks.

63

(b) Für dieses Auslegungsergebnis spricht auch die alternative Bekanntgabemöglichkeit durch förmliche Zustellung der Einspruchsentscheidung nach § 3 Abs. 1 VwZG hat (§ 122 Abs. 5 AO). Selbst hier wird in der Regel auf dem Umschlag des zuzustellenden Schriftstücks nur das Datum der Zustellung vermerkt (etwa § 180 Satz 3 ZPO betr. Ersatzstellung bei Einlegen in den Briefkasten; § 181 Abs. 1 Satz 4 ZPO betr. Ersatzzustellung durch Niederlegung). Selbst in der Postzustellungsurkunde, die als Nachweis der Zustellung gefertigt wird, wird in der Regel neben dem Ort nur das Datum der Zustellung eingetragen; die Uhrzeit wird nur auf besondere Anordnung der Geschäftsstelle aufgenommen (§ 182 Abs. 2 Nr. 6 ZPO). Eine strenge, ausschließlich am Wortlaut orientierte Auslegung des § 122 Abs. 2 AO im Sinne der Auffassung von Birkenfeld (in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO; Stand: 190. Lfg. Juni 2006, § 362 AO Rz. 65) ist auch aus diesem Grund nicht geboten.

64

(c) Zudem fügt sich ein solches Auslegungsergebnis in die Wertung der Drei-Tages-Fiktion als gesetzliche Frist ein.

65

Nach der Rechtsprechung des IX. Senats des BFH verlängert sich die Dreitagesfrist zwischen der Aufgabe eines Verwaltungsakts zur Post und seiner vermuteten Bekanntgabe (§ 122 Abs. 2 Nr. 1 AO), wenn das Fristende auf einen Sonntag, gesetzlichen Feiertag oder Sonnabend fällt, bis zum nächstfolgenden Werktag (§ 108 Abs. 3 AO; BFH, Urteil vom 14. Oktober 2003 IX R 68/98, BFHE 203, 26, BStBl II 2003, 898). Diese Rechtsprechungsänderung trägt dem verfassungsrechtlichen Gebot Rechnung, Vorschriften des Verfahrensrechts gemäß Art. 19 Abs. 4 GG im Zweifel so auszulegen, dass der Zugang zu den Gerichten eröffnet wird. Darüber hinaus stellt die Wertung als gesetzliche Frist in der Praxis der steuerberatenden Berufe und auch bei den Finanzbehörden eine Erleichterung in Fragen der Zugangsvermutung bzw. bei der Beweisführung im Postabsendeverfahren dar (so Brandt, KFR F 2 AO § 122, 1/04, S 5-8, H 1/2004).

66

Erfolgt feststellbar der Zugang außerhalb der Frist, ist jedoch nach Auffassung des I. Senats des BFH für materiell- und formalrechtliche Wirkungen (z.B. Beginn der Einspruchsfrist) dieser Zeitpunkt maßgeblich, und zwar auch dann, wenn es sich hierbei um einen Samstag, Sonntag oder Feiertag handelt (BFH, Urteil vom 9. November 2005 I R 111/04, BStBl II 2006, 219). Die Überlegung des IX. Senats des BFH könne für den Fall des feststellbaren Zugangs außerhalb der Drei-Tages-Frist nicht gelten, da die in § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO bestimmte Vermutung des Bekanntgabezeitpunkts von vornherein nicht eingreife. In diesem Fall komme es nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut allein auf den tatsächlichen Zugangszeitpunkt an. Eine Regelung, nach der die Bekanntgabe unmittelbar durch den Eintritt eines bestimmten Ereignisses ausgelöst wird, könne indessen auch bei weitester Auslegung dieses Begriffs nicht als Anknüpfung an den Ablauf einer "Frist" angesehen werden. Deshalb sei § 108 Abs. 3 AO auf sie nicht anwendbar.

67

Für die im vorliegenden Streitfall interessierende Problematik kann dahinstehen, ob der tatsächliche Zugang als Eintritt eines bestimmten Ereignisses (im Streitfall des BFH durch eine Zustellung) als Ablauf einer „Frist“ im Sinne des § 108 Abs. 3 AO gewertet wird. Im Streitfall ist der Tag des tatsächlichen Zugangs kein Sonntag, gesetzlichen Feiertag oder Sonnabend.

68

Zudem hat der I. Senat des BFH sich nicht mit der Problematik befassen müssen, wann genau im Laufe des Tages des tatsächlichen Zugangs die Bekanntgabe zu bestimmen ist. Eine solche Bestimmung ist im Bereich der Fristberechnung, in dem § 108 Abs. 3 AO eine Rolle spielt, auch irrelevant. Für die Fristenberechnung des Steuerverfahrensrechts gelten nämlich über den Verweis in § 108 Abs. 1 AO die zivilrechtlichen Regelungen der §§ 187 bis 193 BGB entsprechend. Damit gilt für die Fristberechnung auch im Steuerverfahrensrecht die Grundregel, dass die Frist nur nach ganzen Tagen berechnet wird (sog. Zivilkomputation). Sie beginnt mit dem Anfang eines Kalendertages um Mitternacht (0.00 Uhr) und endet mit dem Schluss eines solchen um Mitternacht (24.00 Uhr). Der Tag, in dessen Verlauf das Ereignis oder der Zeitpunkt fällt, nach welchem sich der Fristbeginn richten soll, bleibt gemäß § 187 Abs. 1 BGB grundsätzlich außer Betracht; es wird vom folgenden Tag an gezählt (sog. verlängernde Berechnungsweise; vgl. Staudinger/Repgen (2019), BGB-Kommentar, § 187 Rz. 4 f.).

69

Damit wird nur nochmals bestätigt, dass es bei der Bestimmung des Bekanntgabezeitpunktes einer Einspruchsentscheidung außerhalb des Drei-Tages-Zeitraums allein auf die Bestimmung des Tages des tatsächlichen Zugangs ankommen kann. Es sind neben der grundsätzlichen Wirksamkeit durch Bekanntgabe keine formellen oder materiellen Folgewirkungen ersichtlich, die nicht an den Ablauf des Tages der tatsächlichen Bekanntgabe anknüpfen. Dem trägt die Grundregel des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO (Drei-Tages-Fiktion) Rechnung und daher liegt es nahe, den Nachsatz („…außer, wenn er nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist;…“) ebenso zu verstehen, dass damit die Bekanntgabe mit Ablauf des Tages des tatsächlichen Zugangs vom Gesetzgeber gemeint und gewollt ist. Jedenfalls ist nicht klar und eindeutig ersichtlich, dass der Gesetzgeber bei dieser einheitlichen – einfachen - Bekanntgaberegelung, die zudem in einem Satz miteinander verbunden ist, eine unterschiedliche Behandlung vorgesehen hat, wenn sich hierfür kein besonderer Grund ergibt. Der Senat sieht in dem Nachsatz schlicht eine Verlängerungsregelung, die - wie die Drei-Tages-Fiktion - auf den Ablauf des Tages des tatsächlichen Zugangs abstellt.

70

(5) Selbst wenn man zu der Beurteilung gelangen würde, dass eine Auslegung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO in der vom Senat vorgenommenen Weise angesichts des Wortlautes nicht zulässig ist, ist die Einspruchsrücknahme im Streitfall bei verfassungskonformer Auslegung des § 362 Abs. 1 Satz 1 AO gleichwohl rechtzeitig.

71

(a) § 362 AO ist Ausfluss der Dispositionsmaxime; die Regelung ermöglicht dem Einspruchsführer, das Rechtsbehelfsverfahren einseitig zu beenden. Insbesondere soll die Vorschrift dem Steuerpflichtigen ermöglichen, eine von der Einspruchsbehörde dem Einspruchsführer nach § 367 Abs. 2 Satz 2 AO angekündigte Verböserung zu verhindern (Werth in: Gosch, AO/FGO, 1. Aufl. 1995, 159. Lieferung, § 362 Rz. 3). Dabei kann die Einspruchsrücknahme als Ausübung eines legitimen Verfahrensrechts weder als Verstoß gegen Treu und Glauben noch als illoyale Rechtsausübung angesehen werden (BFH, Urteile vom 5. November 2008 IV R 40/07, BStBl II 2010, 720; vom 7. November 2001 XI R 14/00, BFH/NV 2002, 745). § 362 AO soll mit der Regelung, unter welchen formalen Voraussetzungen die Einspruchsrücknahme zu erfolgen hat, Rechtsklarheit schaffen. Die Einspruchsrücknahme nach § 362 AO ist in jedem Stadium des Einspruchsverfahrens ab der Einlegung des Einspruchs bis zur Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung möglich (Werth in: Gosch, AO/FGO, 1. Aufl. 1995, 159. Lieferung, § 362 Rz. 3).

72

(b) Obwohl der Wortlaut des § 362 Abs. 1 Satz 1 AO („…bis zur Bekanntgabe der Entscheidung über den Einspruch …“) im ersten Zugriff vermuten lässt, dass eine Einspruchsrücknahme zumindest nach tatsächlicher Kenntnisnahme nicht mehr möglich sein könnte, ist nach gegenwärtiger Rechtslage eine Einspruchsrücknahme für den vom Gesetzgeber angenommenen Regelfall der Bekanntgabe mittels einfachem Brief per Post auch dann noch rechtzeitig, wenn die Einspruchsentscheidung am ersten, zweiten oder dritten Tag nach Aufgabe zur Post tatsächlich zugeht und die Rücknahme dann noch bis zum Ablauf des dritten Tages nach Aufgabe zur Post beim Finanzamt eingeht (vgl. BFH, Urteil vom 26. Februar 2002 X R 44/00, BFH/NV 2002, 1409).

73

Das bedeutet, dass in vermutlich über 99% der Fälle der Bekanntgabe einer Einspruchsentscheidung mittels einfachem Brief der Einspruchsführer eine Überlegungszeit von über 2 Tagen bis mindestens einigen Stunden nach Erhalt und Kenntnisnahme der Einspruchsentscheidung hat, um dann noch durch Einspruchsrücknahme der Verböserung zuvorzukommen.

74

Dies hat wiederum zur Folge, dass der Steuerbürger in nahezu allen Fällen darauf vertrauen kann, mindestens am dritten Tag noch einige Stunden nach Erhalt der Einspruchsentscheidung Zeit zu haben, zu reagieren und eine steuererhöhende Festsetzung zu verhindern.

75

Der Senat hält es aus Gründen der Gleichbehandlung (Art. 3 Abs. 1 GG) daher für geboten, § 362 Abs. 1 Satz 1 AO verfassungskonform so auszulegen, dass auch in den Fällen, in denen die Bekanntgabe außerhalb der Drei-Tages-Fiktion durch den tatsächlich späteren Zugang ausgelöst wird, eine Einspruchsrücknahme noch bis zum Ablauf des betreffenden Tages als zulässig und rechtzeitig angesehen wird.

76

Denn würde man die Anknüpfung an die „Bekanntgabe“ so verstehen, dass außerhalb der Drei-Tages-Fiktion auf den stunden-, minuten- und sekundengenauen Zeitpunkt des Zugangs abzustellen ist, würde dies bedeuten, dass nur diejenigen Steuerbürger, die ohne eigenes Zutun und Verschulden durch ungewöhnliche Umstände eine Einspruchsentscheidung nach mehr als 3 Tagen nach der Aufgabe zu Post erhalten, gänzlich von der Möglichkeit ausgeschlossen sind, die verbösernde Wirkung am Tag des Zugangs noch anschließend zu verhindern. Eine solche Unterscheidung und Rechtsbenachteiligung für eine kleine Gruppe von Steuerbürgern in der vergleichbaren Situation hält der Senat nicht für gerechtfertigt, zumindest wenn das Finanzamt für alle Einspruchsführer gleichermaßen die einfache Bekanntgabe mittels einfachen Briefes per Post wählt.

77

Der Senat geht vielmehr davon aus, dass der Gesetzgeber durch die Bezugnahme auf den Zeitpunkt der Bekanntgabe zu erkennen gegeben hat, dass er mit „Bekanntgabe“ den Ablauf des Tages der Bekanntgabe gemeint hat. Dies deshalb, weil es im gesetzlichen Regelfall der Drei-Tages-Fiktion des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO allein auf den Ablauf des Tages ankommt. Dass der Gesetzgeber für den Ausnahmefall des späteren Zugangs andere formale Anforderungen an eine wirksame Einspruchsrücknahme stellen wollte, ist nicht ersichtlich. Geht man insoweit angesichts des Gesetzeszwecks – Schaffung von Rechtsklarkeit bezüglich der formalen Voraussetzung einer Einspruchsrücknahme - von einer planwidrigen Gesetzeslücke aus (hierzu Englisch in: Tipke/Lang, Steuerrecht, 24. Aufl. 2021, Kap. 5, Rz. 5.75 ff.), ist diese Lücke zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen und aus Gründen der Gleichbehandlung so auszufüllen, dass zumindest alle Fälle der Bekanntgabe mittels einfachen Briefes per Post in der Weise gleich zu behandeln sind, dass es ohne Unterscheidung unerheblich ist, wann genau innerhalb eines Tages der tatsächliche Zugang erfolgt. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Rechtzeitigkeit der Rücknahme ist danach immer der Ablauf des Tages der Bekanntgabe, selbst wenn man die Bekanntgabe im Sinne des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO einem exakten Ereignis wie den Einwurf in den Postbriefkasten zuordnet.

78

(c) Letztlich fügt sich dieses Auslegungsergebnis auch ansonsten in das Steuerverfahrens-/Prozessrecht ein. Bezüglich der Klagerücknahme gilt § 72 FGO, der unter Berücksichtigung der Beteiligung der Finanzbehörde am finanzgerichtlichen Verfahren im Wesentlichen § 362 AO entspricht. Danach kann eine Klagerücknahme noch gemäß § 72 Abs. 1 Satz 1 FGO im Grundsatz bis zur Rechtskraft des Urteils erfolgen. Auch wenn die Wirksamkeit der Klagerücknahme nach Abschluss der mündlichen Verhandlung, bei Verzicht auf die mündliche Verhandlung und nach Ergehen eines Gerichtsbescheides nur mit Einwilligung des Beklagten möglich ist (§ 72 Abs. 1 Satz 2 AO), wird hier doch deutlich, dass die Rechts- und Verfahrensordnung eine Rücknahme eines Rechtsmittels nach Ergehen einer Entscheidung ermöglicht und dem Steuerbürger eine weitreichende Dispositionsmöglichkeit über den Lauf des Verfahrens bzw. seine Beendigung einräumt.

79

(6) Für das vorstehende Auslegungsergebnis des Senats spricht schlussendlich auch die Klarheit in der Rechtsanwendung.

80

Alles andere – insbesondere die Rechtsauffassung von Birkenfeld (in: Hübschmann /Hepp /Spitaler, AO/FGO; Stand: 190. Lfg. Juni 2006, § 362 AO Rz. 65) - würde für die hier vorliegende Rechtsproblematik dazu führen, dass es in Konfliktfällen, in denen die Rechtzeitigkeit einer Einspruchsrücknahme streitig ist, immer auf die Feststellung der genauen stunden-/minuten- und sekundengenauen Zeitpunkte der Bekanntgabe einer Einspruchsentscheidung und des Eingangs der Rücknahmeerklärung innerhalb eines Tages ankommt.

81

Da ein entsprechendes Festhalten des stunden-/ minuten- und sekundengenauen Zugangs weder bei der Bekanntgabe einer Einspruchsentscheidung mittels einfachen Briefes auf dem Postweg vorgesehen ist (wie dargelegt noch nicht einmal bei der förmlichen Zustellung), noch auf Seiten des Finanzamts hinsichtlich des Eingangs einer Rücknahmeerklärung per Post (Ausnahme: Übermittlung per Fax oder auf elektronischem Weg), käme es in Streitfällen im Regelfall dazu, dass die Finanzgerichte hierzu keine Feststellungen treffen könnten und es allein noch um die Frage ginge, zu wessen Nachteil dies ginge.

82

Selbst diese Rechtsfrage wäre nicht unproblematisch. Zwar geht das FG Hamburg für den Fall, dass der Zugangstag der Einspruchsentscheidung feststeht, davon aus, dass den Einspruchsführer die Feststellungslast für die Einspruchsrücknahme einschließlich des Zeitpunktes ihres Zugangs vor der Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung trifft, weil er sich auf den rechtzeitigen Zugang der Rücknahmeerklärung und auf diesem Wege die Herabsetzung der Steuer – auf die Höhe vor der Verböserung – beruft (Urteil vom 3. März 2009 3 K 176/08, DStRE 2009, 1272 unter Hinweis auf die ständige Rechtsprechung des BFH zur allgemeinen Beweislastverteilung, etwa BFH vom 9. August 2004 VI B 79/02, BFH/NV 2004, 1548; vom 8. Juli 2003 VIII B 3/03, BFH/NV 2003, 1441, DStRE 2003, 1301 m. w. N.; vom 19. Januar 1994 I R 40/92, BFH/NV 1995, 181; vom 10. August 1988 II R 252/83, BFHE 154, 232, BStBl II 1988, 987).

83

Dem mag für die dortige Fallkonstellation zuzustimmen sein. Der vorliegende Streitfall liegt jedoch anders. Vorliegend steht fest, wann genau die Einspruchsrücknahme beim beklagten Finanzamt eingegangen ist, nur der exakte Zugang der Einspruchsentscheidung kann weder vom Finanzamt noch vom Kläger dargelegt und nachgewiesen werden. Im Rahmen des vereinfachten Bekanntgabeverfahrens mittels einfachen Briefes ist ein solches Festhalten nicht vorgesehen und auch den Adressaten trifft keine diesbezügliche Verpflichtung (selbst als Steuerberater oder Rechtsanwalt).

84

Im Rahmen der Beweislastverteilung könnte aber der Einspruchsführer nur hinsichtlich des Zeitpunktes der Übermittlung der Rücknahmeerklärung beweispflichtig sein und nicht hinsichtlich des Zeitpunktes des Zugangs der Einspruchsentscheidung. Denn gemäß § 122 Abs. 2 2. Halbsatz AO („…im Zweifel hat die Behörde den Zugang des Verwaltungsaktes und den Zeitpunkt des Zugangs nachzuweisen.“) trägt das Finanzamt die Feststellungslast auch für den Zeitpunkt des Zugangs. Dies dürfte entsprechend im Rahmen der Beweislastverteilung bei § 362 AO gelten.

85

Eine Gesetzesauslegung, die als Folge in der Rechtsanwendung nicht praktisch handhabbar ist und – abgesehen von krassen Ausnahmefällen – in Konfliktfällen nur zu Beweislastentscheidungen führen kann, kann gerade auch angesichts des dargelegten Gesetzeszwecks des § 362 Abs. 1 i.V. mit § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO nicht dem Willen des Gesetzgebers entsprechen.

86

bb. Der Senat schließt – entgegen der Auffassung des Beklagten - aus, dass für den angenommenen Fall der wirksamen Rücknahme des Einspruchs die Einspruchsentscheidung als geänderter Einkommensteuerbescheid 2012 i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO angesehen werden kann und dieser dann noch innerhalb der verlängerten Festsetzungsverjährungsfrist (§§ 169 Abs. 2 Nr. 2, 171 Abs. 3a AO) ergangen ist.

87

(1) Eine wirksame Einspruchsrücknahme hat als unmittelbare Folge den Verlust des Einspruchs und die Bestandskraft des angefochtenen Einkommensteuerbescheid 2012 zur Folge („ex nunc“, s. Brandis in: Tipke/Kruse, AO/FGO, 164. Lieferung 02.2021, § 362 AO Rz. 8). Zudem endet eine etwaige Hemmung der Verjährung gemäß § 171 Abs. 3a AO.

88

(2) Im vorliegenden Streitfall hat der Kläger seinen Einspruch am 22. Oktober 2019 – entsprechend der dargelegten Rechtsauffassung des Senats - wirksam zurückgenommen. Bis zu diesem Zeitpunkt der Einspruchsrücknahme hätten sowohl eine – verbösernde – Einspruchsentscheidung als auch eine Änderung des Einkommensteuerbescheides 2012 nach den Vorschriften der § 172 ff. AO erlassen bzw. vorgenommen werden können, denn die Festsetzungsverjährung war infolge des eingelegten Einspruchs gehemmt (§ 171 Abs. 3a AO).

89

Der Beklagte hat sich für eine verbösernde Einspruchsentscheidung entschieden, die jedoch wegen der rechtzeitigen Einspruchsrücknahme (s.o.) keine Rechtswirkungen mehr entfalten konnte und aufzuheben war.

90

In einem solchen Fall, in dem der Beklagte sich klar und eindeutig für eine von mehreren Handlungsalternativen entschieden hat, kann keine Umdeutung einer unwirksamen Einspruchsentscheidung in einen – dann noch innerhalb der gehemmten Verjährungsfrist – ergangenen Änderungsbescheid gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO vorgenommen werden.

91

Etwas anderes ergibt sich – entgegen der Auffassung des Beklagten – auch nicht aus der Rechtsprechung der FG und des BFH zum unterbliebenen Verböserungshinweis bei allgemeiner Korrekturmöglichkeit.

92

Danach ist § 367 Abs. 2 Satz 2 AO auf Änderungen des angefochtenen Steuerbescheids während des Einspruchsverfahrens nach § 132 AO i.V.m. § 164 Abs. 2 AO entsprechend anzuwenden, wenn die Änderungsmöglichkeit nur deshalb besteht, weil die Festsetzungsfrist durch den Einspruch gemäß § 171 Abs. 3a AO in ihrem Ablauf gehemmt ist. Der Einspruchsführer soll mit dem Verböserungshinweis die Gelegenheit erhalten, den Einspruch zurückzunehmen und dadurch die Verböserung abzuwenden. Diesem Zweck entsprechend greift § 367 Abs. 2 Satz 2 AO - nur dann - nicht ein, wenn eine Entscheidung zum Nachteil des Steuerpflichtigen ungeachtet der Rücknahme seines Einspruchs nach den allgemeinen Korrekturvorschriften der §§ 172 ff. AO möglich wäre (etwa BFH, Urteile vom 10. November 1989 VI R 124/88, BFHE 159, 405, BStBl. II 1990, 414; vom 25. Februar 2009 IX R 24/08, BFHE 224, 390, BStBl II 2009, 587; vgl. auch FG München, Urteil vom 22. Oktober 2015 14 K 1049/13, juris).

93

Entgegen der Auffassung des FA folgt aus der Unschädlichkeit eines unterbliebenen Verböserungshinweises jedoch nicht, dass in jeder Einspruchsentscheidung zugleich ein Änderungsbescheid zu sehen ist. Entscheidet sich das Finanzamt wie im Streitfall dazu, auf eine mögliche Änderung des angefochtenen Einkommensteuerbescheides während des laufenden Einspruchsverfahrens zu verzichten, trägt es vielmehr das Risiko, dass durch eine rechtzeitige Einspruchsrücknahme formelle und materielle Bestandskraft eintritt und eine anschließende isolierte Änderung infolge des Eintritts der Festsetzungsverjährung dann nicht erfolgen kann (vgl. BFH, Urteil vom 11. März 1987 II R 206/83, BFHE 159, 136, BStBl. II 1987, 417 zur Änderung gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO nach Einspruchsrücknahme vor Eintritt der Festsetzungsverjährung).

94

Nach alledem hat die Klage Erfolg.

95

2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.

96

3. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i.V. mit den §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.

97

4. Die Revision war zuzulassen, weil die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat und der Fortbildung des Rechts dient (§ 115 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 FGO). Soweit ersichtlich ist die Frage der formalen Anforderungen an eine Einspruchsrücknahme, die am Tag des tatsächlichen Zugangs einer Einspruchsentscheidung außerhalb der Drei-Tages-Fiktion des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO beim Finanzamt eingeht, noch nicht Gegenstand der Finanzrechtsprechung gewesen.

 


Abkürzung FundstelleWenn Sie den Link markieren (linke Maustaste gedrückt halten) können Sie den Link mit der rechten Maustaste kopieren und in den Browser oder in Ihre Favoriten als Lesezeichen einfügen.', WIDTH, -300, CENTERMOUSE, true, ABOVE, true );" onmouseout="UnTip()"> Diesen Link können Sie kopieren und verwenden, wenn Sie genau dieses Dokument verlinken möchten:
http://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/?quelle=jlink&docid=STRE202175079&psml=bsndprod.psml&max=true

Verwandte Urteile

Keine verwandten Inhalte vorhanden.

Referenzen