Urteil vom Landgericht Aachen - 91 KLs 401 Js 170/08 29/08
Tenor
Der Angeklagte wird wegen Totschlags in Tateinheit mit Körperverletzung zu einer
Jugendstrafe von 6 Jahren
verurteilt.
Er hat die Kosten des Verfahrens, die notwendigen Auslagen der Nebenkläger und seine eigenen Auslagen zutragen.
- §§ 212, 223 Abs.1, 230, 52 StGB, 1, 105 ff JGG -
1
Gründe
2I.
3Der zum Tatzeitpunkt 18 Jahre alte, staatenlose Angeklagte wurde in T geboren und wuchs zusammen mit sechs weiteren Geschwistern bei seinen Eltern J und I B in seinem Geburtsort auf. Die Eltern waren vor 22 oder 23 Jahren wegen des K nach E geflohen. Ein älterer Bruder führt ein F, eine Schwester ist verheiratet, beide haben einen eigenen Haushalt. Die anderen vier Geschwister leben wie der Angeklagte noch bei den Eltern. Mit seinen Eltern spricht er arabisch, mit seinen Geschwistern deutsch.
4Sein heute 45 Jahre alter Vater war im Sicherheitsdienst tätig, ist jetzt jedoch erwerbslos. Seine jetzt 44 Jahre alte Mutter, zu der der Angeklagte eine enge und vertrauensvolle Beziehung hat, versorgt als Hausfrau die Familie.
5Der Angeklagte, der bis zu seiner Inhaftierung in dieser Sache nach wie vor bei seinen Eltern wohnte, besuchte nach dem Kindergarten ab 1996 vier Jahre die Grundschule in T-B1, wechselte von dort zunächst auf das S-Gymnasium, dann, da es ihm dort zu "stressig" war, auf die Realschule und erlangte XXXX die Mittlere Reife/Fachoberschulreife.
6Bis zu seiner Verhaftung (####) besuchte er dann seit August XXXX die Höhere Handelsschule in T (Berufsfachschule für Wirtschaft und Verwaltung) mit dem Ziel, das Abitur abzulegen. Wie sich aus deren in der Hauptverhandlung verlesenen Schreiben vom 30. April 2008 ergibt, war sein Schulverhalten von Fehlzeiten und häufigen Verspätungen gekennzeichnet. Aus diesem Grunde wurde er am 10. Januar 2007 zunächst in eine Parallelklasse und sodann nach T1 in die Außenstelle des Berufskollegs versetzt. Aufgrund der hohen Fehlzeiten – und nicht etwa wegen mangelnden Leistungsvermögens – wurde er jedoch nicht für die Oberstufe zugelassen. Als sich auch die Fehlzeiten fortsetzten, wurde der Angeklagte Ende Februar 2008 wieder an den Schulort T zurückversetzt. Aufgrund einer besonderen Vereinbarung mit dem Schulleiter (regelmäßige Meldepflicht) verringerten sich seine Fehlzeiten.
7Aktuell stellt sich der Angeklagte vor, eine Ausbildung zum Glaser oder Bürokaufmann zu absolvieren, ist aber diesbezüglich noch "ziemlich" offen.
8In seiner Freizeit spielt er Fußball, macht Musik – er hat sein Zimmer als Studio eingerichtet – und trifft sich mit Freunden. Er erhält Taschengeld und erzielte einen kleinen Nebenverdienst in einem Eiscafe. Der Angeklagte verfügt über eine Fahrerlaubnis.
9Politisch ist der Angeklagte weder engagiert noch interessiert.
10Der Angeklagte hat eine feste Freundin, T2, die Beziehung ist aber "jetzt stressig, wegen der Sache hier".
11"Speed und Marihuana" hat er mal probiert, konsumiert aber nicht. Alkohol nimmt er gelegentlich zu sich.
12Nennenswerte Unfälle hat der Angeklagte nicht erlitten. Wegen einer Virusinfektion war er 2007 für einige Zeit stationär im Krankenhaus, ohne bleibende Folgen.
13Jetzt in der Untersuchungshaft arbeitet der Angeklagte als Hausarbeiter, also in einer Vertrauensposition, wofür er monatlich etwa 50 € erhält.
14Die Eltern des Angeklagten sind wegen des Tatgeschehens, das außerordentlich großes öffentliches Aufsehen in allen Publikationen erregt hat und von rechtsextremgerichteten Gruppen massiv zu Propagandazwecken und Demonstrationen missbraucht worden ist, inzwischen in eine andere Stadt verzogen.
15Die vorstehend zur Person getroffenen Feststellungen beruhen auf den Angaben des Angeklagten, den Ausführungen der Jugendgerichtshilfe und auf den von der Sachverständigen K1 erhobenen biographischen Daten.
16Der Angeklagte ist bereits strafrechtlich in Erscheinung getreten. Sein in der Hauptverhandlung verlesener und von ihm als richtig bestätigter Bundeszentralregisterauszug vom 7. April 2008 nebst seinen Erläuterungen weist vier Eintragungen auf:
17Mit Verfügung vom 21. September 2006 sah die Staatsanwaltschaft B2 zum Aktenzeichen 204 Js 1197/06 von der weiteren Verfolgung der Tat einer gefährlichen Körperverletzung nach 45 Abs. 1 JGG ab.
18Dem Angeklagten war vorgeworfen worden, an einer Schlägerei in einem Omnibus am 28. Juni 2006 beteiligt gewesen zu sein. Nach Angaben des Angeklagten sei er mit dem Zeugen B3 unterwegs gewesen, als jemand dessen Freundin "angemacht" habe.
19Durch Beschluss vom 19. März 2007 stellte das Amtsgericht F1 zum Aktenzeichen 204 Js 1140/06 der Staatsanwaltschaft B2 ein Verfahren gegen den Angeklagten wegen des Vorwurfes des Diebstahls nach § 47 JGG ein.
20Am 15 Juli 2006 sah die Staatsanwaltschaft B2 im Verfahren 204 Js 540/07 in einem Verfahren gegen den Angeklagten wegen des Vorwurfes der Sachbeschädigung von der weiteren Verfolgung nach § 45 Abs. 2 JGG ab.
21Am 26. Juni 2007 sah die Staatsanwaltschaft B2 (204 Js 1686/06) wegen des Vorwurfes der gefährlichen Körperverletzung von der weiteren Verfolgung nach § 45 Abs. 1 JGG ab.
22Dem Angeschuldigten war vorgeworfen worden, am 14. September 2006 in der Euregio-Bahn am Bahnhof T-Hauptbahnhof Pfefferspray versprüht zu haben.
23Der Angeklagte wurde in vorliegender Sache am 5. April 2008 vorläufig festgenommen und befindet aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts Aachen vom 6. April 2008 (521 Gs 16/08) seitdem in Untersuchungshaft in der JVA L.
24II.
25Zur Tat, zu dem, was ihr vorausging und was sich danach ereignete hat die Kammer die folgenden Feststellungen getroffen:
26Zum Geschehen vor der Tat:
27Im Internet existiert unter dem Namen "Schüler.cc" eine Kommunikationsplattform, die es ihren Nutzern ermöglicht, unter Einstellung ihrer persönlichen Daten miteinander zu kommunizieren.
28Neben dem Angeklagten hatten dessen Bruder, der Zeuge L1 B, sowie das spätere Opfer, der am 7. Dezember 1988 geborene, zur Tatzeit also 18 Jahre alte Q, ihre Daten in diesem Forum eingestellt.
29Im Februar 2008 nahm der Q Kontakt zu der Zeugin F2 auf, die der Zeuge L1 Bals seine Freundin betrachtete. L1 B war deshalb mit der Kontaktaufnahme nicht einverstanden und sprach hierauf den Q auf virtuellem Wege an. In der Folgezeit entwickelte sich daraus zwischen dem Q und dem L1 B eine rein virtuelle, auch durch den Austausch von Auch heftigen Beleidigungen geführte Auseinandersetzung. An dieser Auseinandersetzung nahmen alsbald auf beiden Seiten eine Vielzahl von Freunden und Bekannten teil. Die Auseinandersetzung bekam mit Ausweitung des Teilnehmerkreises immer mehr den Charakter eines Streites zwischen Jugendlichen aus T auf der einen und Jugendlichen aus F1 auf der anderen Seite. Auch der Angeklagte nahm an der Auseinandersetzung auf Seiten seines Bruders teil.
30Im März 2008, etwa drei bis vier Wochen vor der nachfolgend geschilderten Tat, trafen sich der Q und der L1 B und legten unter Vermittlung der Zeugin I1 ihren Streit bei. Der Angeklagte wusste hiervon zum Tatzeitpunkt nicht.
31Hinsichtlich des Q verzeichnet der in der Hauptverhandlung verlesene Auszug aus dem Bundeszentralregister vom 13. Oktober 2008, dass am 8. März 2006 ein Verfahren wegen des Vorwurfs einer gefährlichen Körperverletzung gemäß § 45 Abs.2 JGG eingestellt worden ist; eine weitere Eintragung findet sich nicht.
32Zu den Vorgängen unmittelbar vor der Tat
33Am Abend des 4. April 2008 trafen sich zwischen 18:00 und 20:00 Uhr in der Wohnung des Zeugen T2 in T der Q, die Zeugen A, N, T3 und L2 sowie die T4, um zusammen Musik zu hören und Alkohol zu trinken. Der Zeuge T2 verließ im Laufe der Feier zusammen mit seiner Freundin T4 die Wohnung und begab sich nach I2-K2. Die übrigen Personen verblieben zunächst in der Wohnung.
34Gegen 22:00 Uhr erhielt der Zeuge T3 einen Anruf des Zeugen T5 . Dieser hatte ab 19:30 Uhr an einer Versammlung der NPD in der Gaststätte "L3" in T teilgenommen und wollte zu der Gruppe um den Q stoßen.
35Kurze Zeit nach seinem ersten Anruf nahm der T5 erneut fernmündlich Kontakt zu dem T3 auf und gab an, dass er mit irgendwelchen Leute Stress hätte. Soro erklärte: "Wir kommen runter". Daraufhin verließ die Gruppe um den Q die Wohnung des 2T, um dem T5 entgegen zu gehen. Als sie ihn trafen, erklärte er, er wäre geschubst und angepöbelt worde. Zwischenzeitlich hatte der L2 die Gruppe verlassen.
36In der T6-straße passierten der Q und die weiteren Mitglieder seiner Gruppe den Schnellimbiß "W" und nahmen die dort sich vor dem Imbiß aufhaltenden jugendlichen Zeugen T7, M und N1 wahr. Zu einer Kontaktaufnahme zwischen beiden Gruppen kam es zu dieser Zeit nicht.
37Auch umgekehrt waren den Zeugen T7, N1 und dem M die Gruppe um den Q aufgefallen. Insbesondere deshalb, weil dem T7 bekannt war, daß der L1 B mit dem Q den vorbeschriebenen Streit im Forum "Schüler.cc" gehabt hatte.
38Der T7 war zudem der Auffassung, in der Gruppe um den Q einen "N2" erkannt zu haben. Da man diesen nicht leiden konnte, wurde der T8, der ebenfalls eine Streitigkeit mit dem N2 hatte, angerufen und gebeten zu kommen. Kurze Zeit später stieß dann der T8 tatsächlich dazu und man folgte der Gruppe Q in Richtung C-straße. T8 wird vom Angeklagten als "guter Freund" bezeichnet. Man beschloss, auch den Angeklagten per Handy hinzuzurufen, da man annahm, dass dieser seinerseits auf den Q wegen dessen Streites mit dessen Bruder L1 Bnicht gut zu sprechen war.
39Der Angeklagte befand sich zu dem Zeitpunkt, als ihn der Anruf des Z8 erreichte, in Gesellschaft der Zeugen A1, B4, A2 und B5 im Café "X" in T in der T6-straße und sah diesen beim Kartenspiel zu, spielte zeitweise auch mit. Er trank bei dieser Gelegenheit eine Flasche Bier. Auf das Begehren des T8 , zu ihnen zu kommen und an der Begegnung mit dem Q teilzunehmen ("Hier sind ein paar aus F1, die machen Stress, auch Q, der hat mal mit Deinem Bruder Stress gehabt"), ging er sofort ein.
40Die dem Angeklagten im Ermittlungsverfahren noch zur Last gelegte Äußerung gegenüber den Zeugen B5: "Ich muss mich mit einem aus F1 schlagen" vermochte die Kammer nicht festzustellen.
41Der Angeklagte verließ das Café "X" und begab sich binnen weniger Minuten zu der Gruppe umZ8 , die er auf der N3 traf. Dabei führte er zu Verteidigungszwecken ("zur Sicherheit") – wie immer, wenn er unterwegs war, außer in der Schule – ein Taschenmesser mit aufklappbarer Klinge mit einer Klingenlänge von ca. 10 Zentimetern und einer Klingenbreite von ca. 2 Zentimetern bei sich.
42Zum Tatgeschehen
43Gegen 22:45 Uhr trafen der Angeklagte zusammen mit der Gruppe um den Zeugen T8 in der Nähe der C-Straße in T-N4 auf die Gruppe umQ. Aus der Gruppe um T8 wurde die andere Gruppe sinngemäß angerufen, "Hey, bleibt stehen".
44Es kam dann zunächst zu einem kurzen Wortwechsel, ob sich bei der Gruppe um Q der N2 befinde. Der Angeklagte sprach dann den Q an, der zu diesem Zeitpunkt unter dem Einfluss einer Blutalkoholkonzentration von 0,41 o/oo stand. Der Angeklagte wollte wissen, ob er Q sei, weil der Streit mit seinem, des Angeklagten Bruder habe.
45Als sich aus der Gruppe um den Q die Zeugin N zwischen die beiden stellte, um zu schlichten ("Lasst den Kinderscheiss" oder/und "Geh’ doch einfach"), nahm dies der Angeklagte zum Anlass, der Zeugin, die ihn zuvor nicht beleidigt hat, mit solcher Wucht mit der flachen Hand in das Gesicht zu schlagen, dass diese strauchelte und zu Boden stürzte. Sie erlitt durch den Schlag Schmerzen im Gesicht. Der Zeuge A half ihr hoch.
46Währenddessen kam es zu einer vom Angeklagten durchaus erwarteten Prügelei, an der der Zeuge T8 , der Angeklagte und ein Dritter aus dieser Gruppe auf der einen sowie der Q und der Zeuge T5 auf der anderen Seite beteiligt waren.
47Zumindest der Q zog nun einen Teleskopschlagstock mit einer Gesamtlänge von ca. 60 cm heraus. Dass noch ein weiterer Totschläger benutzt wurde, vermochte die Kammer allerdings nicht festzustellen.
48Q schlug mit dem Totschläger nach dem Angeklagten und traf ihn auch am Hals, wodurch dieser dort eine leichte Streifwunde erlitt.
49Hierauf kam es zu einer Auseinandersetzung zwischen Q undT8 , in die sogleich der Zeuge T5 eingriff. T8 stürzte zu Boden, lag dort bäuchlings und wurde dort von T5 attackiert.
50Der Angeklagte hatte sich zu diesem Zeitpunkt fluchtartig wenige Meter entfernt. Q stand in unmittelbarer Nähe zu T5 und T8.
51Da der Angeklagte, der sich umgedreht hatte und sah, dass T8 am Boden lag, annahm, Q wolle T8 ebenfalls massiv angreifen – was die Kammer zu Gunsten des Angeklagten im Zweifel auch annimmt – , zog der Angeklagte aufgrund eines spontanen Entschlusses sein Klappmesser aus der rechten Jackentasche, öffnete es mit beiden Händen und lief auf die Gruppe zu, um T8 zu helfen, um ihn, so der Angeklagte, "rauszuholen".
52Der Angeklagte entschloss sich spätestens jetzt, das Messer gegen Q auch einzusetzen.
53Gegenüber dem Zeugen K3 schilderte der Angeklagte später seinen Entschluss: "ich wollte ihn stechen".
54Ohne Vorwarnung, etwa durch einen Zuruf oder eine optische Drohung, stach der Angeklagte sofort viermal gezielt und mit großer Wucht auf den Oberkörper des Q ein. Dabei führte der Angeklagte die Stiche, wie er in der Hauptverhandlung demonstriert hat, gerade nach vorn, den Daumen oben auf dem Messer. Sämtliche Stiche wurden vom Angeklagten in die Nähe des Herzens in den linken Brustkorb des Q gesetzt. Nach dem ersten oder zweiten Stich klappte das Messer von selbst ein und wurde von dem Angeklagten erneut aufgeklappt. Den Tod seines Kontrahenten nahm er bei diesem Vorgehen nach alledem billigend in Kauf.
55Zwei der Stiche prallten an den Rippenbögen ab. Einer drang in die Leber ein. Ein anderer traf das Herz, öffnete den Herzbeutel und durchtrennte die linke Herzkammerwand. Die Stiche in Herz und Leber führten zu massiven Einblutungen in die Brusthöhle.
56Q brach schreiend ("Helft mir, ich blute") zusammen, der Zeuge T5 bemühte sich, mit dessen T-Shirt die Blutungen zu stillen.
57Obwohl die Auseinandersetzung nach den Stichen von allen Beteiligten sofort beendet und ein Krankenwagen herbeigerufen wurde, verstarb der Q kurze Zeit später trotz sofort eingeleiteter Notmaßnahmen im Krankenhaus T ausschließlich wegen der erlittenen Verletzungen an einem Blutvolumenmangelschock.
58Zur Tatzeit war die Fähigkeit des Angeklagten, das Unrechte seines Tuns einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln, nicht erheblich eingeschränkt.
59Zum Nachtatgeschehen
60Als der Angeklagte bemerkte, dass der Q blutete, forderte er die Mitglieder seiner Gruppe durch Zuruf ("Weg hier" o.ä.) auf, wegzulaufen.
61Ob der Angeklagte die Tatwaffe auf der Flucht in einen Flusslauf geworfen hat – wie er angibt – oder sie noch bei sich führte, konnte die Kammer nicht feststellen.
62Gemeinsam lief man zurück in das Cafe "X" und traf auf die weiterhin Karten spielenden Zeugen A1, B4, A2 und B5. Dort erklärte der Angeklagten, sie hätten sich "geprügelt", er habe "helfen" wollen und "zugestochen" oder "reingestochen" oder "einen Jungen aus F1 abgestochen". Der Angeklagte rief mit dem Handy seinen Bruder an, der konnte ihn aber nicht wunschgemäß abholen. Daraufhin begab sich der Angeklagte mit Hilfe eines Freundes nach Hause in die Wohnung seiner Eltern, es war jetzt etwa 23:00 Uhr. Um diese Zeit etwa telefonierte er dann mit seinem Bruder, dem Zeugen L1 B, und teilte ihm mit, es habe eine Schlägerei gegeben.
63In der Wohnung einer Eltern wurde er in den Morgenstunden des 5. April 2008 festgenommen. Hier erfuhr der Angeklagte von der Polizei, dass Q tot ist. Auf diese Mitteilung reagierte der Angeklagte erschrocken, geriet in Luftnot. Er äußerte spontan, er habe die Tatwaffe in einen Bach geworfen. Gegenüber dem Zeugen I3 gab der Angeklagte an, "was soll man denn machen, wenn die mit Schlagstöcken kommen".
64III.
65Die unter II. zur Sache getroffenen Feststellungen beruhen auf den Angaben des Angeklagten, soweit die Kammer ihnen Glauben schenken konnte, sowie auf den ausweislich des Hauptverhandlungsprotokolls erhobenen Beweisen.
66Der Angeklagte hat sich zur Sache im Wesentlichen wie unter II. festgestellt eingelassen. Abweichend hat er lediglich das Folgende angegeben:
67Die Zeugin N habe ihn vor der Ohrfeige beleidigt, er habe aber vergessen, womit, und ihn geschubst. Später in der Hauptverhandlung fiel ihm ein, das Mädchen habe ihn "Hurensohn" genannt.
68Das ist jedoch widerlegt durch die Angaben dieser Zeugin, die ausgesagt hat, beschwichtigend eingegriffen und den Angeklagten nicht berührt zu haben. Auch nach dem persönlichen Eindruck von der Zeugin hält die Kammer das für glaubhaft. Nicht nur, dass die Zeugin dem Angeklagten körperlich ersichtlich unterlegen ist, sie hat auch plausibel und mit nachvollziehbaren Gefühlsregungen geschildert, dass sie ohnehin unter den gegebenen Umständen große Angst und "Respekt" hatte, die Sache könne es eskalieren, da hätte sie niemals Öl ins Feuer geschüttet. Den gegenteiligen Angaben der Zeugen T8 und N1, die Zeugin N1 habe gesagt: "Ihr Kanaken, Scheißausländer, verpißt Euch, geht doch zurück in Euer Land" bzw. "Hurensohn, fick Dich" kann die Kammer angesichts der Situation, mit der sich die Zeugin N konfrontiert sah, aber auch im Hinblick auf den persönlichen Eindruck von den Zeugen nicht folgen. Ihre Angaben stimmen im Übrigen mit den Angaben des Angeklagten nicht überein.
69Der Angeklagte hat angegeben, er habe nur zwei Mal auf Q eingestochen.
70Die gerichtsmedizinische Untersuchung des Opfers, wie sie von dem Sachverständigen D der Kammer widerspruchfrei vermittelt wurden, die Feststellungen der Polizei am Tatort und die von der Kammer in Augenschein genommenen Lichtbilder des Opfers im Krankenhaus und bei der Obduktion belegen hingegen ohne Zweifel, dass Q in der bezeichneten Körpergegend von insgesamt vier Stichen getroffen wurde. Ein anderes Tatwerkzeug, das solche Stiche hätte verursachen können, ist von niemandem geschildert worden, so dass für alle vier Stiche nur der Angeklagte als Verursacher in Betracht kommt.
71Im Übrigen ergibt sich der festgestellte Sachverhalt – in Übereinstimmung bzw. ohne Widerspruch zu der Einlassung des Angeklagten – aus den Aussagen der Zeugen P (erste Polizeibeamtin am Tatort; hat u.a. die Stichverletzungen bei Q gesehen), I3 (Festnahme des Angeklagten und erste Anhörung, stellte keine Ausfallerscheinungen fest), K3 (vergebliche Suche nach der Tatwaffe, Vernehmung des Angeklagten), P1 (zu Verletzungen des T8), L1 B (u.a. Vorgeschichte mit dem Streit mit Q ), F2 (auch zur Vorgeschichte), I1 (zum Streit und dessen Beilegung zwischen L1 B und Q), N5 (zur Vorgeschichte), N, T3, T5, T8, T7, M, N1 und A (jeweils zum Geschehen am Tattag), T2 und L2 (zum Geschehen vor der eigentlichen Tat), B6 (hörte von T8 von dem Geschehen) sowie M1 und T9 (zu den Angaben ihrer Söhne nach der Tat), soweit die Kammer deren Angaben Glauben schenken konnte.
72Die Aussagen der Zeugen A1, B4, A2 und B5 zu den Geschehnissen im Café "X" über den von der Kammer bereits festgestellten Sachverhalt hinaus waren derart weitgehend von dem Bestreben geprägt, als unwissend zu erscheinen, sich nicht erinnern zu können (z.B. B5: "Ich habe Gedächtnisschwund.") und die Beteiligten zu schonen, dass die Kammer ihren Angaben keinerlei Beweiswert beimißt.
73Lichtbilder vom Tatort und den von der Polizei in der Nähe des Tatortes sichergestellte Schlagstock hat die Kammer in Augenschein genommen.
74Die Feststellungen zu den Verletzungen des Q und iher Ursächlichkeit für dessen Tod entnimmt die Kammer den Ausführunen des sachverständigen Rechtsmediziners D von der Universität zu L.
75Zur Schuldfähigkeit des Angeklagten hat die psychiatrische Sachverständige K1, der Kammer aus einer Vielzahl von Verfahren als kompetent, umsichtig und erfahren bekannt, im Wesentlichen ausgeführt, dass die kognitiven und voluntativen Leistungen des Angeklagten auch nicht ansatzweise eine tiefgreifende Bewusstseinsstörung im Sinne einer Alkoholintoxikation oder infolge eines affektiven Erregungszustandes erkennen lassen. Eine handlungsanalytische Betrachtung des Gesamtgeschehens lasse erkennen, dass der Angeklagte in einem zeitlich und räumlich ausgedehnten Geschehensablauf mit dynamischen Vorgängen unter zwei Gruppen mit jeweils mehreren Personen situationsgerecht und innerhalb eines "intentionalen Bogens ohne Brüche" geordnet und interessengerecht analysiert und gehandelt habe.
76Die anderen Eingangsmerkmale der §§ 20, 21 StGB lägen ohnehin nicht vor.
77Die Kammer sieht keine dem entgegenstehenden Anhaltspunkte und schließt sich dem nach eigener Überzeugungsbildung an.
78IV.
79Nach den getroffenen Feststellungen hat sich der Angeklagte eines Totschlags (an Q) in Tateinheit mit Körperverletzung (zum Nachteil der Zeugin N) schuldig gemacht.
80Der Angeklagte hat mit einem Messer mit einer Klingenlänge von ca. 10 cm und einer Klingenbreite von ca. 2 cm vier Stiche in eine Körperregion des Q geführt, bei der er annehmen musste, damit lebensnotwendige Organe zu verletzen. Wer mit einem solchen gefährlichen Werkzeug in den zentralen Oberkörperbereich eines Menschen sticht, weiß also, dass der Andere daran sterben kann. Wenn der Täter gleichwohl diese Hemmschwelle überwindet, so muss davon ausgegangen werden, dass er diese Folge, den Tod des Anderen, zumindest billigend in Kauf nimmt; die Annahme einer bloß bewussten Fahrlässigkeit nach Wertung der Kammer scheidet aus.
81Die spätere Reaktion des Angeklagten, als er vom Tod des Q erfuhr, führt zu keiner anderen Betrachtungsweise. Nachvollziehbar war er betroffen und auch körperlich mitgenommen, als er von der Endgültigkeit seines Tuns bei seiner Festnahme erfuhr.
82Der Totschlag war nicht durch Notwehr, § 32 Abs. 2 StGB, gerechtfertigt.
83Zwar nimmt die Kammer zu Gunsten des Angeklagten an, dass er unmittelbar vor den Stichen von einem gegenwärtigen Angriff des Q auf den T8 ausgehen durfte. Das zur Abwehr dieses Angriffs erforderliche Maß an Gegengewalt hat er jedoch – auch und insbesondere für ihn erkennbar – deutlich überschritten (zum Problemkreis vgl. Fischer, StGB, 55.A., § 32 Rn. 30). Es war auch für ihn erkennbar nicht erforderlich, einen oder gar mehrere Stiche in die Brust-/ Herzregion des Q zu führen, vielmehr hätten ihm naheliegende mildere Mittel zur Verfügung gestanden, den von ihm angenommenen Angriff abzuwehren. Beispielsweise hätte ein Anrufen des Q unter Hinweis auf das gefährliche Messer schon ausreichen können, Q von (möglichen) Aggressionen gegen T8 abzuhalten. Auch ein Eingriff mit einfacher körperlicher Gewalt lag nahe. Äußerstenfalls wäre ein ein-, nicht mehrfacher Einsatz des Messers gegen andere Körperregionen in Betracht gekommen, der einen Angriff gestoppt hätte, ohne lebensgefährliche Verletzungen zu verursachen, etwa in den Arm oder ein Bein. Das war dem Angeklagten auch zumutbar, drohte ihm doch keine andere Gefahr; der möglichen Bedrohung durch den Totschläger wäre er auf diese Weise Herr geworden.
84Ein Überschreiten der Notwehr aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken, § 33 StGB, liegt ersichtlich nicht vor. Während des engeren Tatgeschehens hat der Angeklagte aus seiner Sicht folgerichtig und mit Übersicht gehandelt, ohne selbst bedroht gewesen oder sonst in seiner Entschlussfreiheit beeinträchtigt gewesen zu sein.
85Eine Körperverletzung mit Todesfolge annehmen zu wollen, würde den bedingten Tötungsvorsatz negieren.
86Hinsichtlich der vorsätzlichen Körperverletzung zum Nachteil der Zeugin N hat die Staatsanwaltschaft das besondere öffentliche Interesse an der Strafverfolgung bejaht.
87V.
88Auf den zur Tatzeit wie heute heranwachsenden Angeklagten findet gemäß § 105 Abs.1 Nr.1 JGG Jugendstrafrecht Anwendung. Eine Gesamtwürdigung seiner Persönlichkeit ergibt nämlich, dass er zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung einem Jugendlichen wesentlich näher stand als einem Erwachsenen. Er wohnte bei seinen Eltern und war wirtschaftlich von ihnen abhängig (die Vertreterin der Jugendgerichtshilfe formulierte: in muslimischer Familie mit Rundumversorgung aufgewachsen), zeigte in seiner schulischen Entwicklung sehr wenig Eigenverantwortung, Einsatzbereitschaft und Zukunftsorientierung und legte ein jugendtypisches, weitestgehend unbekümmertes Freizeitverhalten an den Tag. Eine selbständige Lebensstellung hatte er noch bei weitem nicht erreicht.
89Angesichts der Schwere der Schuld im Hinblick auf die Tötung des Q kommt gemäß § 17 Abs.2 JGG nur die Verhängung von Jugendstrafe in Betracht.
90Bei der Strafzumessung hält die Kammer dem Angeklagten in erster Linie und mit besonderem Gewicht zugute, dass er das Geschehen in den meisten wesentlichen Punkten in tatsächlicher Hinsicht gestanden hat. Sein Geständnis ist nach dem Eindruck der Kammer auch ernsthaft geprägt von Reue und Einsicht in sein Fehlverhalten und den unwiederbringlich angerichteten schwersten Schaden.
91Es darf auch nicht übersehen werden, dass sich sein tödliches Verhalten auf einen spontanen, nicht geplanten Entschluss gründete. Zwar suchte er – gemeinsam mit seinen Begleitern – die Auseinandersetzung mit der anderen Gruppe. Insofern mag die Ohrfeige gegenüber der Zeugin N noch von dem ursprünglichen Plan umfasst gewesen sein. Dieses in verschiedenen Kreisen Jugendlicher zu beobachtende irrationale Kräftemessen ("Zoff") ist zwar gemeinschaftsschädlich und nicht zu dulden, aber leider verbreitet und häufig ein Ventil für Frust, Verärgerung oder das Gefühl von sozialem Ungleichgewicht. Dass er den Tod eines anderen Menschen verschulden könnte, hat der Angeklagte aber sicher bis zum letzten Augenblick nicht einkalkuliert.
92Weiter berücksichtigt die Kammer, dass es sich insgesamt um ein gruppendynamisches Geschehen handelte, das der Angeklagte zwar maßgeblich mit ausgelöst hat, dem er sich aber in der Eskalationsphase dann nicht mehr entziehen konnte bzw. mochte.
93Der Angeklagte verbüßt erstmals Haft und ist deshalb als besonders haftempfindlich anzusehen.
94Dass der Angeklagte dem T8 zu Hilfe kommen wollte, kann sich angesichts des Umstandes, dass der Angeklagte die Provokation zuvor geschürt hatte, nicht strafmildernd auswirken. Ein minder schwerer Fall im Sinne von § 213 StGB liegt keinesfalls vor.
95Für eine empfindliche Strafe spricht das hohe Gewicht des sinnlosen Tötungsdelikts und die Nichtigkeit des Anlasses. Neben dem Totschlag an Q hat der Angeklagte außerdem einen zweiten Tatbestand an einem zweiten Opfer, den der Körperverletzung an der Zeugin N, verwirklicht. Strafschärfend – insbesondere unter dem Gesichtspunkt des das Jugendstrafrecht beherrschenen Erziehungsgedankens – muss sich auswirken, dass es der Angeklagte war, der die Kette der Aggressionen in Gang gesetzt und schließlich für deren Eskalation gesorgt hat. Er hat es nicht bei einem oder wenigen Stichen belassen.
96Unter Berücksichtigung aller für und gegen den Angeklagten sprechenden Umstände, im Hinblick auf seine aufzuarbeitenen Erziehungsdefizite und in Anbetracht des schweren menschlichen Schadens, den er angerichtet hat, hält die Kammer eine
97Jugendstrafe von sechs Jahren
98für notwendig und angemessen.
99VI.
100Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 465 Abs.1, 472 Abs.1 StPO. Anlass, gemäß §§ 109 Abs.2, 74 JGG von der Auferlegung von Kosten und Auslagen abzusehen, besteht nicht.
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