Urteil vom Landgericht Bonn - 20 O 191/20
Tenor
1.
Die Klage wird abgewiesen.
2.
Auf die Hilfswiderklage wird die Klägerin verurteilt, an die Beklagte EUR 2.120.580,00 nebst Zinsen in Höhe von 9 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 12. Mai 2020 zu zahlen.
3.
Die Klägerin wird verurteilt, an die Beklagte weitere Verzugszinsen in Höhe von EUR 14.351,63 zu zahlen.
4.
Die Klägerin wird verurteilt, an die Beklagte weitere Verzugszinsen in Höhe von EUR 4.704,67 zu zahlen.
5.
Die Klägerin wird verurteilt, an die Beklagte vorgerichtliche Rechtsverfolgungskosten in Höhe von EUR 10.631,90 nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 4. Dezember 2020 zu zahlen.
6.
Die Kosten des Rechtsstreits werden der Klägerin auferlegt.
7.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages.
1
Tatbestand:
2Die Parteien sind durch einen sog. Open-House-Vertrag über die Lieferung von Atemschutzmasken miteinander verbunden.
3Ein Open-House-Verfahren ist dadurch geprägt, dass ein öffentlicher Auftraggeber zum Zwecke der Güterbeschaffung Rahmenvertragsvereinbarungen veröffentlicht, zu deren Bedingungen jeder interessierte Lieferant ein vorformuliertes Angebot abgeben kann, das dann per Zuschlag angenommen wird, ohne dass eine Auswahlentscheidung getroffen wird. Da in der Konsequenz sämtliche Angebote angenommen werden, findet kein Wettbewerb zwischen den Teilnehmern statt. Das Verfahren unterfällt daher keinen vergaberechtlichen Vorschriften. Weitere Konsequenz ist, dass das Auftragsvolumen nicht immer klar vorhersehbar ist.
4Anlass für das hier streitgegenständliche Open-House-Verfahren war der Beginn der Corona-Pandemie und der damit verbundene große Bedarf an medizinischer Schutzausrüstung für Personen (PSA), insb. in Form von Atemschutzmasken.
5Unter dem 00.00.2020 erfolgte durch die Klägerin eine Auftragsbekanntmachung über einen Lieferauftrag für Schutz- und Sicherheitskleidung, und zwar „FFP2 Masken, OP-Masken und Schutzkittel“ (Anlage K 27, Bl. 406 ff. d.A.). Darin ist u.a. folgendes festgehalten:
6Das Vertragssystem beginnt ab sofort zu laufen und endet mit Ablauf des 30.4.2020. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass spätester Liefertermin der 30.4.2020 innerhalb der üblichen Geschäftszeiten der A, Anschrift 1, ist.
7Nachträglich verkürzte die Klägerin das Ende der Ablaufzeit zur Einreichung von Angeboten auf den 08.04.2020 (Bl. 412 d.A.).
8Die Beklagte reichte unter dem 08.04.2020 ein Angebot mittels des klägerseits vorgefertigten Vertragstextes ein (Anlage K1, Bl. 33 ff. d.A.). Sie bot die Lieferung von 2.000.000 „FFP2-Masken“ an. Wegen der Einzelheiten wird auf den Vertragstext Bezug genommen. Dieser enthält u.a. folgende Regelungen:
9§ 2 Vertragsbestandteile
102.1. Folgende Unterlagen und Bestimmungen sind in Ergänzungen der Regelungen dieses Vertrages Bestandteile des Vertragsverhältnisses:
11a. die Leistungsbeschreibung mit den Stückpreisen für die einzelnen Produktgruppen (….)
12§ 3 Leistung/Lieferung (…)
133.2 Die Lieferung der Produkte hat an die A, Anschrift 1, während der üblichen Geschäftszeiten zu erfolgen; die üblichen Geschäftszeiten sind von dem AN bei der A zu erfragen. Die Lieferung ist der A in Textform mit einer Frist von mindestens drei Kalendertagen vor dem Liefertermin anzukündigen. Spätester Liefertermin ist der 30.04.2020 innerhalb der Geschäftszeiten gemäß S. 1. Bei Nichteinhaltung des spätesten Liefertermins entfallen die gegenseitigen Pflichten der Vertragspartner; eine verspätete Lieferung stellt keine Erfüllung des Vertrages durch den AN dar (absolutes Fixgeschäft).
14§ 5 Zahlung
155.1 Der AG zahlt die vereinbarte Vergütung bargeldlos binnen einer Woche nach erfolgter Lieferung und Eingang einer den Vorschriften des Umsatzsteuerrechts entsprechenden Rechnung bei der A, Anschrift 1, auf das von dem AN angegebene Konto. 5.2 Jede Zahlung erfolgt unter dem Vorbehalt des Anspruchs auf Rückerstattung wegen nicht oder mangelhaft erbrachter Leistungen (…)
16§ 6 Mängelansprüche
176.1 Für Sach- und Rechtsmängelansprüche gelten die gesetzlichen Vorschriften, soweit nachfolgend nichts anderes bestimmt ist.
186.2 Eine Untersuchungs-/Rügeobliegenheit des AG beschränkt sich auf Mängel, die nach der Ablieferung unter äußerlicher Begutachtung offen zutage treten (z. B. Transportbeschädigungen, Falsch- und Minderlieferungen). Eine Rüge/Mängelanzeige gilt als unverzüglich und rechtzeitig, wenn sie innerhalb von sieben Kalendertagen beim AN eingeht.
19§ 7 Laufzeit des Vertrages/sonstige Vereinbarungen
207.1 Der Vertrag tritt mit Zuschlagserteilung des AG auf das im Open-House-Verfahren abgegebene Angebot des AN in Kraft und endet mit Ablauf des 30.04.2020. Die durch eine innerhalb der Vertragslaufzeit erfolgte Lieferung begründeten Rechte und Pflichten des AG und des AN bestehen auch nach dem Ablauf der Vertragslaufzeit fort.
21Die vertragliche Leistungsbeschreibung (Anlage 1 zum Vertrag, Bl. 415 d.A.) enthält folgende Vorgaben:
22FFP2 Masken: Preis pro Stück (€) netto 4,50
23Beschreibung:
24- Atmungsaktives Design, das nicht gegen den Mund zusammenfällt (z.B. Entenschnabel, becherförmig)
- Versehen mit einer Metallplatte an der Nasenspitze ·
- Kann wiederverwendbar* (aus robustem Material, das gereinigt und desinfiziert werden kann) oder Einwegartikel sein
Normen/Standards:
26Atemschutzgerät "N95" gemäß FDA Klasse II, unter 21 CFR 878.4040, und CDC NIOSH, oder "FFP2" gemäß EN 149 Verordnung 2016/425 Kategorie III
27oder gleichwertige Normen, auch KN95 (CHN)
28Die Klägerin bestätigte den Zuschlag unter dem 10.04.2020 (Anlage K3, Bl. 40 d.A.).
29Am 15.04.2020 (also nach Vertragsschluss) versandte die Klägerin an ihre Vertragspartner Unterlagen über Lieferstandards (Anlage K 24, Bl. 425 ff. (428) d.A.). Darin ist u.a. vorgegeben:
30Jede Palette muss hersteller- und sortenrein sein.
31Mit Email vom 23.04.2020 teilte die Klägerin ihren Vertragspartnern mit, dass aufgrund der Vielzahl von Teilnehmern eine Annahme aller Lieferungen zum 30.04.2020 nicht möglich sei. Sofern Lieferungen für den 30.04.2020 avisiert und möglich gewesen wären, dürften diese in Abstimmung mit den Logistikern auch später durchgeführt werden, soweit dies logistisch zwingend erforderlich sei (vgl. Anlage K25, Bl. 432 ff. d.A.).
32Die Beklagte hatte ihre Lieferung rechtzeitig avisiert und lieferte an die Klägerin auf deren Weisung am 04.05.2020 die vertraglich vereinbarte Menge an Masken aus. Hierüber wurden drei Lieferscheine unter den Avis-Nummern $$0001-$$0003 erstellt und vom Logistiker abgezeichnet (Anlagen K7-K9, Bl. 156 ff. d.A., die im gedruckten Text versehentlich auf den 05.04.2020 datieren). Der Lieferartikel wurde darin wie folgt angegeben: „KN95 Protective Masks, EN149:2001 +A1:2009 Manufacturer: B“. Die gelieferten Masken trugen auf der Verpackung und den Masken selbst die Aufschrift „KN95“, und auf der Verpackung den Verweis auf den Herstellungsstandard GB2626 – 2006.
33Die Klägerin ließ die Masken sodann von der TÜV NORD GmbH bzw. deren Tochtergesellschaft C überprüfen. Die Details hierzu sind umstritten. Die technische Prüfung des TÜVs erfolgte jedenfalls unstreitig nicht nach der chinesischen Norm GB2626 für KN95-Masken, sondern „in Anlehnung“ an die EU-Norm für FFP2-Masken, EN 149:2001+A1:2009. (im folgenden: EN 149).
34Der TÜV erstellte über die Prüfungen vom 06.05.-09.05.2020 Prüfberichte (Anlagen K13, K14, Bl. 169 f. d.A für die Avis Nr $$0001; Anlage K48, Bl. 543 d.A. für die Avis-Nr. $$0003). Zudem erstellte er eine genauere Dokumentation über Sensorikprüfungen vom 04.05.2020 und 05.05.2020 (Anlage K 44, Bl. 523ff. d.A. für die Avis-Nr. $$0001; Anlage K 47, Bl. 540 ff. d.A für die Avis-Nr. $$0003). Das Ergebnis für die Prüfung der Lieferungen $$0001 und $$0003 lautete „nicht bestanden“.
35Die Klägerin zahlte am 28.05.2020 die Masken der Lieferungen $$0002 und $$0003 ohne Beanstandungen, und für die Lieferung $$0001 nur 50% der vereinbarten Summe, nämlich 2.120.580,00 EUR (Anlagen K15, K16, Bl. 171 f. d.A.). Die Rechnungsprüfung der Klägerin (Anlage K17, Bl. 173 d.A.) enthält folgende Anmerkungen:
36a) TÜV Berichte für $$0002 und $$0003 vorhanden =› 100% Zahlung
37b) TÜV Bericht für $$0001 unvollständig (Labor ausstehend) =› 50%
38Entsprechend sind 8.589.420,00 EUR zur Anweisung zu bringen
39Details siehe Anlage 1
40Mit Email vom 24.06.2020 teilte die Klägerin der Beklagten mit, dass die unter der Nr. $$0001 gelieferten Masken die Laborprüfung nicht bestanden hätten. Sie übersandte der Beklagten die Prüfberichte zu der Lieferung $$0001 und erklärte hinsichtlich dieser Teil-Lieferung den (teilweisen) Rücktritt von dem geschlossenen Vertrag (Anlage K18, Bl. 174 ff. d.A.).
41Während des laufenden Klageverfahrens hat die Klägerin mit Schriftsatz vom 28.05.2021 auch den Rücktritt hinsichtlich der Avis-Nr. $$0003 erklärt und nunmehr die entsprechenden TÜV Berichte aus 2020 eingereicht (Anlage K 47).
42Die Parteien streiten über das Bestehen eines Rücktrittsrechts der Klägerin.
43Die Klägerin behauptet, die gelieferten Masken der Avis-Nr. $$0001 sowie Avis-Nr. $$0003 seien insgesamt mangelhaft. Sie beruft sich auf die Mangelhaftigkeit aller gelieferten Masken der Lieferscheine der Avis-Nr. $$0001 und Avis-Nr. $$0003, nicht nur auf die vom TÜV geprüften Masken. Sie hält die Prüfungsmaßnahmen des TÜV aus zahlreichen sachlichen Gründen für zutreffend und geeignet, letztlich diene dieses Prüfergebnis aber nur zur Substantiierung ihrer Mängelrüge. Die Mangelhaftigkeit folge daraus, dass die Masken nicht der Norm GB2606 für KN95-Masken entsprächen. Auf andere mögliche technische Normen komme es nicht an. Die Leistungsbeschreibung begründe ein echtes Wahlschuldverhältnis (§ 262 BGB), alternativ aber jedenfalls ein einseitiges Leistungsbestimmungsrecht (§ 315 BGB). Weil die von der Beklagten gelieferten Masken – an sich unstreitig – als KN95-Masken nach der Norm GB2606 gekennzeichnet seien, müssten die Masken auch diese Norm erfüllen. Die TÜV-Überprüfung habe jedoch ergeben, dass die Masken eine unzulässig hohe Durchlässigkeit für Partikel aufwiesen und deswegen weder der Norm GB 2626 noch der Norm EN 149 entsprächen, noch für den Vertragszweck zum Schutze gegen das Coronavirus geeignet seien oder eine übliche Beschaffenheit für medizinische Schutzausrüstung aufwiesen. Obgleich der TÜV nach Parametern der EU-Norm EN 149 geprüft habe, könne daraus geschlussfolgert werden, dass die Masken auch nicht der Norm GB2626 entsprächen, weil in die Prüfung genügend Toleranzbereiche implementiert worden seien, und die Klägerin abweichend von den deutlich strengeren Normvorgaben (6% nach EN 149, 5% nach GB 2626) sogar jede Durchlässigkeit bis zu 15% akzeptiert habe. Überdies ist die Klägerin der Ansicht, dass es zur Feststellung einer mangelhaften Gesamt-Leistung genüge, wenn nur eine einzige Maske aus einer Lieferung mangelhaft sei, denn angesichts der Bedeutsamkeit einerseits und der Vorgaben der technischen Normen andererseits gelte für solche Produkte ein sog. Null-Toleranz-Prinzip.
44Die Klägerin ist weiterhin der Ansicht, ein Rücktrittsrecht sei nicht wegen eines Verstoßes gegen eine etwaige Rügeobliegenheit gem. § 377 HGB ausgeschlossen, weil die Voraussetzungen für einen Handelskauf schon nicht einschlägig seien. Zudem sei eine etwaige Rügeobliegenheit nach dem Vertragsinhalt ohnehin auf offensichtliche Mängel beschränkt worden.
45Die Klägerin ist darüber hinaus der Meinung, sie habe von dem Vertrag umgehend zurücktreten dürfen, ohne eine Nachfrist zur Nachbesserung der Mängel setzen zu müssen. Dies folge schon aus den Vertragsunterlagen und Ausschreibungstexten, woraus sich zumindest ein relatives Fixgeschäft ergebe. Soweit es vereinzelt aus zwingenden logistischen Gründen dazu gekommen sei, dass Lieferungen doch noch nach dem 30.04.2020 angenommen worden seien, stehe das der Annahme eines Fixgeschäftes nicht entgegen. Die Klägerin habe die Bedeutung der zeitnahen Lieferung stets betont und im Umgang mit allen Lieferanten hierauf bestanden. Nachbesserungen seien keinem anderen Lieferanten gestattet worden. Auch ergebe sich aus den besonderen Umständen im Zeitpunkt der Ausschreibung des Open House Verfahrens, dass eine Nachlieferungsmöglichkeit nicht bestehen sollte.
46Ursprünglich hat die Klägerin mit ihrer Klage nur Ansprüche auf Rückabwicklung zzgl. Nebenforderungen hinsichtlich der Lieferung mit der Avis-Nr. $$0001 (Anträge 1-4) verfolgt. Mit Schriftsatz vom 28.09.2021 hat sie ihre Klage auf die Rückabwicklung der Lieferung mit der Avis-Nr. $$0003 erweitert (Anträge 5-7).
47Die Klägerin beantragt nunmehr,
481. die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin EUR 2.120.580,00 nebst Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 3. Juli 2020 zu zahlen, und zwar Zug um Zug gegen Rückgabe der noch bei der Klägerin befindlichen unter der Avis-Nr. $$0001 gelieferten mangelhaften Schutzmasken,
492. festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin die Aufwendungen zu ersetzen, die ihr im Zusammenhang mit der Lagerung der noch bei der Klägerin befindlichen unter der Avis-Nr. $$0001 gelieferten mangelhaften Schutzmasken seit dem 00.00.2020 bis zum Zeitpunkt der Abholung der Schutzmasken durch die Beklagte tatsächlich entstanden sind und künftig noch entstehen werden,
503. festzustellen, dass sich die Beklagte seit dem 00.00.2020 mit der Abholung der noch bei der Klägerin befindlichen unter der Avis-Nr. $$0001 gelieferten mangelhaften Schutzmasken in Annahmeverzug befindet,
514. die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin weitere EUR 10.631,90 nebst Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 28. November 2020 zu zahlen,
525. die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin EUR 2.227.680,00 nebst Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem siebten Kalendertag nach Zustellung des Schriftsatzes der Klägerin vom 28. Mai 2021 zu zahlen, und zwar Zug um Zug gegen Rückgabe der noch bei der Klägerin befindlichen unter der Avisnummer $$0003 gelieferten mangelhaften KN95 Schutzmasken,
536. festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin die Aufwendungen zu ersetzen, die ihr im Zusammenhang mit der Lagerung der noch bei der Klägerin befindlichen unter der Avisnummer $$0003 gelieferten mangelhaften KN95 Schutzmasken seit dem zweiten Werktag nach Zustellung des Schriftsatzes der Klägerin vom 28. Mai 2021 bis zum Zeitpunkt der Abholung der Schutzmasken durch die Beklagte tatsächlich entstanden sind und künftig noch entstehen werden,
547. festzustellen, dass sich die Beklagte seit dem zweiten Werktag nach Zustellung des Schriftsatzes der Klägerin vom 28. Mai 2021 mit der Abholung der noch bei der Klägerin befindlichen unter der Avisnummer $$0003 gelieferten mangelhaften KN95 Schutzmasken in Annahmeverzug befindet.
55Die Beklagte beantragt,
56die Klage abzuweisen.
57Hilfswiderklagend für den Fall der Klageabweisung beantragt die Beklagte,
581. die Klägerin zu verurteilen, an die Beklagte EUR 2.120.580,00 nebst Zinsen in Höhe von 9 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 12. Mai 2020 zu zahlen,
592. die Klägerin zu verurteilen, an die Beklagte weitere Verzugszinsen in Höhe von EUR 14.351,63 zu zahlen,
603. die Klägerin zu verurteilen, an die Beklagte weitere Verzugszinsen in Höhe von EUR 4.704,67 zu zahlen,
614. die Klägerin zu verurteilen, an die Beklagte vorgerichtliche Rechtsverfolgungskosten in Höhe von 10.631,90 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 4. Dezember 2020 zu zahlen.
62Die Klägerin beantragt,
63die Hilfswiderklage abzuweisen.
64Die Beklagte behauptet, die Masken seien mangelfrei und erfüllten die Voraussetzungen der Norm GB2626 für KN95-Masken. Die TÜV-Prüfung sei nicht geeignet, Rückschlüsse auf die Einhaltung der Norm GB2626 zuzulassen, denn diese sei in Anlehnung an die Norm EN149 für FFP2-Masken durchgeführt worden. Gerade weil beide Normen aber – an sich unstreitig – etwas unterschiedliche Prüfparameter vorsehen, könne die Einhaltung der Norm GB2626 nicht zuverlässig beurteilt werden. Die Beklagte rügt weiter, dass sich aus den Prüfprotokollen auch nicht ergebe, mit welchem konkreten Versuchsaufbau der Durchlassgrad – insb. mit welchen Partikeln in welcher Partikelgröße und mit welchem Volumenstrom etc. – gemessen worden sei. Außerdem sei keine repräsentative Menge an Stichproben genommen worden.
65Die Beklagte vertritt weiterhin die Ansicht, ein Rücktritt sei schon gemäß § 377 HGB ausgeschlossen, weil die Klägerin die Mängel nicht unverzüglich gerügt habe. Die Vorschrift sei auch anzuwenden, weil die Klägerin ausweislich diverser Dokumente des X mit Gewinnerzielungsabsicht, jedenfalls aber entgeltlich gehandelt habe, was unter Berücksichtigung des Auftragsvolumens für die Annahme eines Handelsgeschäfts genüge. Soweit der Vertrag eine Begrenzung der Rügepflicht auf offensichtliche Mängel vorsehe, sei diese Vereinbarung unwirksam.
66Die Beklagte ist zudem der Ansicht, die Klägerin hätte nicht vom Vertrag zurücktreten dürfen, ohne der Beklagten vorher unter Fristsetzung Gelegenheit zu geben, etwaige Mängel nachzubessern. Von einem Fixgeschäft könne nicht ausgegangen werden, da die Klägerin durch ihren Umgang mit diversen anderen Lieferanten deutlich zum Ausdruck gebracht habe, dass es ihr nicht auf die Einhaltung des Lieferdatums ankomme. Aus der Dokumentation diverser Auskünfte im Y ergebe sich, dass die Klägerin in den Monaten nach April und Mai 2020 kontinuierlich weitere Lieferungen von Masken zugelassen und entgegengenommen habe. Zudem habe die Klägerin anderen Lieferanten auch das Recht zur Nacherfüllung eingeräumt. Da in Open-House-Verträgen von öffentlichen Auftraggebern der Gleichheitsgrundsatz gelte, hätte sie der Beklagten daher erst recht die Möglichkeit zur Nachbesserung einräumen müssen.
67Die der Klageerweiterung zugrundeliegende Rücktrittserklärung zu der Avis-Nr. $$0003 hält die Beklagte außerdem für treuwidrig, weil die angeblichen Prüfberichte ein Jahr vor der Rücktrittserklärung datierten, und die Klägerin durch die vorbehaltslose Zahlung einen Vertrauenstatbestand geschaffen habe.
68Die Beklagte erklärt zunächst die Hilfsaufrechnung mit Ansprüchen auf Verzugszinsen in Höhe von 14.351,63 EUR und 4.704,67 EUR (insgesamt 19.056,31 EUR) die daraus resultieren, dass die Klägerin – an sich unstreitig – nicht entsprechend dem Vertrag binnen einer Woche nach Lieferung zahlte.
69Mit der Hilfswiderklage verfolgt sie – für den Fall, dass die Klage abgewiesen werden sollte – diese Ansprüche weiter und fordert außerdem die noch offene Rest-Kaufpreiszahlung sowie Ersatz vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten.
70Die Klägerin tritt der Hilfswiderklage entgegen mit der Begründung, eine Kaufpreisforderung und Nebenansprüche bestünden aufgrund der wirksamen Rücktrittserklärungen nicht.
71Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zu den Akten gereichten Schriftsätze nebst Anlagen sowie die sonstigen Aktenbestandteile Bezug genommen.
72Entscheidungsgründe:
73Die zulässige Klage ist unbegründet, während die zulässige Hilfswiderklage begründet ist.
741. Klage
75Die Klage ist unbegründet, weil der Klägerin gegen die Beklagte keiner der geltend gemachten Klageansprüche zusteht.
76a.
77Der Klägerin steht gegen die Beklagte kein Anspruch auf (Teil)-Rückabwicklung des Kaufvertrages bezüglich der Lieferungen mit den Avis-Nr. $$0001 und $$0003 zu.
78Es kann dahinstehen, ob die gelieferten Masken mangelhaft waren, und ob es sich um ein beiderseitiges Handelsgeschäft handelte und die Klägerin rechtzeitig im Sinne etwaiger Rügeobliegenheiten handelte. Ein Anspruch auf Rückabwicklung scheitert jedenfalls daran, dass ein Rücktritt vorliegend nicht ohne vorherige Fristsetzung erfolgen durfte.
79Ein Rücktritt von einem Kaufvertrag wegen mangelhafter Leistungen setzt gemäß §§ 323 Abs. 1, 437, 440 BGB grundsätzlich voraus, dass eine Frist zur Nacherfüllung gesetzt wurde und erfolglos verstrichen ist. Hiervon gibt es gesetzlich geregelte Ausnahmen, von denen jedoch keine einschlägig ist. Die Fristsetzung war hier insbesondere nicht gemäß § 323 Abs. 2 Nr. 2 BGB (oder § 376 HGB) aufgrund eines sog. Fixgeschäfts entbehrlich.
80Ein sog. „absolutes“ Fixgeschäft liegt vor, wenn bei der Nichteinhaltung der Leistungszeit bei wertender Betrachtung Unmöglichkeit eintritt, weil die Leistungszeit so wesentlich ist, dass eine verspätete Leistung keine Erfüllung mehr sein kann (vgl. Palandt, BGB 81. Aufl. § 271 Rz. 17 m.w.N.; z.B. Bestellungen für bestimmte Veranstaltungen, die danach nie mehr benötigt werden). Bei einem absoluten Fixgeschäft greifen daher die Regelungen über die Unmöglichkeit ein (§§ 275, 283 BGB). Bei einem „relativen“ Fixgeschäft muss die Einhaltung der Leistungszeit aber auch so wesentlich sein, dass mit der zeitgerechten Leistung das Geschäft „stehen und fallen“ soll (vgl. Palandt, BGB 81. Aufl. § 323 Rz. 19 ff m.w.N.). Ob ein Fixgeschäft vorliegt, ist grundsätzlich durch Auslegung zu ermitteln.
81Soweit die Klägerin in die von ihr einseitig vorgegebenen Vertragsklauseln, die damit der Klauselkontrolle nach §§ 305 ff. BGB unterfallen, eine Vereinbarung aufgenommen hat, wonach ein „absolutes Fixgeschäft“ vorliege, ist diese Vereinbarung nach § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB unwirksam. Denn der Fixcharakter einer Lieferfrist im Kaufrecht kann nach ständiger Rechtsprechung nicht wirksam in allgemeinen Geschäftsbedingungen vereinbart werden (vgl. u.a. BGH, Urteil vom 17. Januar 1990 – VIII ZR 292/88 - NJW 1990, 2065). Dadurch würde der Klauselverwender/Käufer von der Verpflichtung zur Fristsetzung gemäß § 323 Abs. 1 BGB (§ 326 BGB a.F.) entbunden, was eine unangemessene Benachteiligung des Verkäufers i.S.v. § 307 BGB (§ 9 AGBG a.F.) bewirken würde (BGH a.a.O.). Denn dieser hat nach den gesetzlichen Vorschriften regelmäßig das Recht, nachliefern bzw. nacherfüllen zu dürfen, um seinen Kaufpreisanspruch zu erhalten. Dieses Recht wird ihm durch die Fixgeschäftsklausel genommen.
82Entgegen der Ansicht der Klägerin rechtfertigt der vorliegende Fall auch keine Abweichung vom gesetzlichen Leitbild, und zwar unabhängig davon, ob man dem ausdrücklichen Wortlaut zufolge von einem absoluten Fixgeschäft ausgeht oder eine Umdeutung der Klausel in ein relatives Fixgeschäft in Erwägung zieht. Denn beide Varianten bewirken gleichermaßen eine unangemessene Benachteiligung des Verkäufers, indem dieser sein Recht auf Nachbesserungen bzw. Nachlieferungen verliert. Der Bundesgerichtshof hat in seiner oben zitierten Rechtsprechung zwar ausdrücklich offengelassen, ob es anders zu bewerten wäre, wenn eine fixe Lieferfrist durch allgemeine Geschäftsbedingungen dort vereinbart wird, wo Fixgeschäfte branchenüblich sind. Medizinische Schutzartikel sind aber Waren, die üblicherweise wie jede andere Ware gehandelt werden, ohne dass es einer Fixabrede bedürfte. Denn diese Waren werden üblicherweise fortlaufend, und gerade nicht nur für einen ganz bestimmten Termin oder Zeitraum benötigt, nach welchem sie wertlos würden – anders als z.B. spezielle Saisonartikel oder Artikel für singuläre Ereignisse (wie Jubiläumsfeiern, Volksfeste, Sportfestspiele etc.). Auch ein Open-House-Verfahren oder der Sonderfall einer Notfallbeschaffung von Schutzartikeln durch den Staat aufgrund einer Pandemie rechtfertigen kein Abweichen vom gesetzlichen Leitbild. Denn beides verdeutlicht zwar die Dringlichkeit einer schnellen Vertragsabwicklung, erfordert aber nicht per se ein fixes Lieferdatum; und zwar schon deswegen nicht, weil bereits zum Zeitpunkt der Auftragsbekannmachung Ende März 2020 offensichtlich war, dass die Pandemie nicht etwa am 30.04.2020 beendet wäre, sondern noch weit über diesen Zeitpunkt hinaus andauern würde. Eine bloße Dringlichkeit alleine macht es aber noch lange nicht angemessen, einem Verkäufer von Waren sein Nachbesserungsrecht gänzlich zu verwehren, zumal dem Käufer auch ohne Fixabrede genügend Druckmittel zur Verfügung gestanden hätten, um über die gesetzlichen Verzugsvorschriften mit entsprechend kurzen Fristsetzungen auf eine schnelle Lieferung hinzuwirken. Zudem wird der Verlust des Rechts auf Fristsetzungen und Nachbesserungen durch das gewählte Vertragskonstrukt auch nicht angemessen kompensiert. Denn der Beklagten als Verkäuferin werden hierin gerade keine besonderen Vorteile gewährt, welche einen solch gravierenden Nachteil ausgleichen könnten. Entgegen der Ansicht der Klägerin enthält ihr Vertrag in § 5 gerade keine Vorleistungspflicht ihrerseits, vielmehr zahlt sie nach dem Vertragswerk nicht einmal Zug-um-Zug gegen Leistungserhalt, wie es das gesetzliche Leitbild vorsieht, sondern sogar noch später. Der gewählte Ankaufspreis von 4,50 EUR kann auch nicht als „vergleichsweise hoch“ eingestuft werden. Denn nach dem unbestrittenen und urkundlich belegten Beklagtenvorbringen hatte die Klägerin für die Weitergabe der Masken bereits Verträge abgeschlossen, die einen höheren Weiterverkaufspreis vorsahen, was per se gegen die Annahme spricht, dass die von ihr gezahlten 4,50 EUR schon ein vergleichsweise hoher Preis sein könnten.
83Mangels wirksamer schriftlicher Vereinbarung eines Fixgeschäftes kann eine Fixabrede nur im Wege einer Auslegung ermittelt werden. Eine vertragliche Festlegung der Leistungszeit alleine genügt jedoch dafür nicht, sie kann nur ein Indiz sein. Vielmehr ist nach dem Sinn und Zweck des Vertrages auszulegen, wie wesentlich die Leistungszeit nach dem Willen der Parteien sein soll; bei Zweifeln ist ein Fixgeschäft zu verneinen (vgl. statt vieler BGH, Urteil vom 18. April 1989 – X ZR 85/88; Palandt a.a.O.; MüKo, BGB, 8. Aufl. § 323 Rz. 113 m.w.N.). Gemessen an diesen Voraussetzungen spricht nichts für ein Fixgeschäft, nicht einmal der Wortlaut der Vertragsunterlagen. Denn der Wortlaut ist missverständlich und irreführend, weil er ein „absolutes“ Fixgeschäft vorsieht, obwohl die Klägerin die Masken evident nicht für ein einmaliges singuläres Ereignis bis zum 30.04.2020 benötigte, und sie danach bei wertender Betrachtung objektiv unbrauchbar geworden wären. Folglich käme allenfalls ein relatives Fixgeschäft in Betracht, für welches sich im Vertragswortlaut aber keine zwingenden Anhaltspunkte finden lassen. Vielmehr sieht der Vertrag in § 7 Ziff. 7.1 vor, dass die durch eine fristgerechte Lieferung begründeten Rechte und Pflichten des Auftraggebers und des Auftragnehmers auch nach dem Ablauf der Vertragslaufzeit fortbestehen sollten. Diese Regelung kann nur dahingehend gedeutet werden, dass zwar die Lieferfrist zwingend eingehalten werden musste, Rechte und Pflichten nach der Lieferung, so z.B. auch Rechte infolge von Mängeln der Lieferung, namentlich das Recht auf Nacherfüllung, aber gerade nicht ausgeschlossen werden sollten. Damit legt der Vertragswortlaut nahe, dass jedenfalls eine Fixabrede i.S.v. § 323 Abs. 2 Nr. 2 BGB mit der Folge eines Rücktrittsrechts ohne Nachbesserungsfrist gerade nicht gewünscht war.
84Auch der Vertragszweck und die bekannten Umstände des Vertragsschlusses lassen nicht die Annahme zu, dass ein (relatives) Fixgeschäft vereinbart werden sollte. Denn mit ihrem Open-House Verfahren bezweckte die Klägerin, schnellstmöglich eine große Menge Schutzausrüstung zu beschaffen für eine gerade erst begonnene weltweite Pandemie. Die Dringlichkeit der gewünschten Lieferung wurde von ihr deutlich kommuniziert, durch die gewählte Verfahrensart, den Ausschreibungstext und die sehr kurzen Fristen für Angebotsabgabe und Lieferung. Zudem war die Dringlichkeit auch offensichtlich, da sich weltweit dasselbe Problem auftat: Plötzlich benötigte man überall Schutzausrüstung in großen Mengen für nahezu jeden Lebensbereich, worauf bis dahin niemand vorbereitet war. Allerdings war ebenso offensichtlich, dass die Pandemie nicht binnen weniger Tage, Wochen oder Monate vorbei sein würde, sondern die Schutzausrüstung am 01.05.2020 oder 30.05.2020 objektiv natürlich noch genauso dringlich benötigt werden würde, wie am 30.04.2020. Warum das Geschäft dennoch mit der Einhaltung der klägerseits geforderten Lieferfrist „stehen oder fallen“ sollte, und etwaige kurze Nachfristsetzungen gänzlich ausgeschlossen sein sollten, erschließt sich daher nicht. Die Klägerin hat zwar deutlich gemacht, dass sie eine exakte Einhaltung der Lieferfrist wünsche, sie hat aber weder durch individuelle Kommunikation mit der Beklagten, noch im Rahmen der Ausschreibung oder in den Vertragsunterlagen deutlich gemacht, warum der exakte Liefertermin (30.04.2020) so wichtig wäre, und warum die Leistung ab dem 01.05.2020 für sie uninteressant sein sollte. Dies alleine genügt aber nicht, weil § 323 Abs. 2 Nr. 2 BGB erfordert, dass die Wesentlichkeit des Fixcharakters für den Vertragspartner erkennbar sein muss. Wenn aber ausschließlich die Wesentlichkeit eines Liefertermins kommuniziert wird, ohne dass dieser Zeitpunkt einen erkennbaren Sinn ergibt, während gleichzeitig der Vertrag bei fristgerechter Lieferung das Fortbestehen aller weiteren Rechte und Pflichten vorsieht, wird damit gerade nicht kommuniziert, dass die Lieferfrist so wesentlich sein soll, dass damit auch bei Mängeln der Lieferung das Nachbesserungsrecht entfallen und ein sofortiges Rücktrittsrecht bestehen sollte.
85Entgegen der Ansicht der Klägerin ergab sich die Notwendigkeit eines Fixgeschäfts und des Ausschlusses von Nachbesserungsrechten auch nicht aus den bekannten Umständen des Vertragsschlusses. Insoweit wird auf die Ausführungen zur Klauselkontrolle Bezug genommen; weder die Pandemie noch die konkrete Verfahrensart erforderten demnach ein Fixgeschäft. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus einer etwaig nur temporären Zulassung von Schutzausrüstung durch die EU. Vielmehr war Schutzausrüstung, die – wie hier – nicht die Norm EN 149 erfüllt, bereits mit EU-Verordnung 2016/425 vom 09.03.2016 (Anlage K4) – und damit vor Beginn der Pandemie – zugelassen worden, und zwar keineswegs temporär oder mit zeitlicher Begrenzung, und erst recht nicht befristet bis zum 30.04.2020.
86Obgleich sich die Frage eines Fixgeschäftes nur nach dem Zeitpunkt des Vertragsschlusses bestimmt, untermauert das spätere Verhalten der Klägerin als Indiz ebenfalls die Annahme, dass das Geschäft keineswegs mit einer Lieferung am 30.04.2020 stehen oder fallen sollte. Denn die Vorgabe an alle Liefernden, in Absprache mit den Logistikern wegen Engpässen auf spätere Anlieferungszeitpunkte auszuweichen, steht im Widerspruch zu dem behaupteten Wegfall des Lieferinteresses nach dem 30.04.2020. Und obgleich die Darstellungen der Beklagtenseite zu den zahlreichen anderen Vertragsverhältnissen in vielen Details und ihrer Vergleichbarkeit umstritten sind, ist es jedoch dem Grunde nach unstreitig, dass es klägerseits jedenfalls in den Wochen und Monaten nach dem 30.04.2020 noch diverse weitere Annahmen von Maskenlieferungen aus dem streitgegenständlichen Open-House-Verfahren gab (z.B. Fa. D, Lieferungen 19./25.5.; Fa. E, Lieferungen 19./21./23.05.2020; Fa. F, Lieferung August bis November 2020; Fa. G, Lieferung 18.05.2020). Zudem schloss die Klägerin unstreitig weitere Direktbeschaffungsverträge über Atemschutzmasken mit späteren Lieferzeitpunkten ab (z.B. Fa H, vertragliche Lieferfrist 22.5., tatsächliche Lieferung gestattet am 30.06./01.07.2020; Fa I, Lieferung 22.12.2020). Dies belegt eindeutig, dass auch nach dem 30.04.2020 – und insbesondere in einem Zeitraum von ca. 3 Wochen danach, in welchem eine Fristsetzung zur Nachbesserung durch die Beklagte ohne weiteres möglich gewesen wäre – entsprechende Schutzmasken für die Klägerin weiterhin von Interesse waren.
87Es spricht vieles dafür, kann aber letztlich dahinstehen, ob der Umgang mit den weiteren Vertragspartnern über §§ 242 BGB, Art. 3 GG (i.V.m. der Rechtsprechung EuGH, Urt. v. 02.06.2016 - C-410/14) ebenfalls dazu führen würde, dass ein Rücktritt ohne vorherige Fristsetzung unwirksam wäre.
88Es spricht ebenfalls vieles dafür, dass die Anweisung an die Beklagte, tatsächlich doch erst nach dem 30.04.2020 zu liefern, als Verzicht der Klägerin auf eine etwaige Fixabrede zu deuten wäre, mit der Konsequenz, dass sich der Vertrag damit in einen normalen Kaufvertrag ohne Fixabrede umgewandelt hätte.
89Sofern man das Vorliegen eines Handelsgeschäfts annähme, wäre durch die Anweisung an die Beklagte, erst am 04.05.2020 zu liefern, der Charakter eines Fixhandelsgeschäfts ohnehin gänzlich entfallen, denn der Vertrag hätte sich durch das Erfüllungsverlangen nach Fristablauf gem. § 376 Abs. 1 S. 2 HGB in einen normalen Handelskauf umgewandelt (vgl. BGH, Urteil vom 27. Oktober 1982 – VIII ZR 190/81).
90Eine Nachfristsetzung war vorliegend auch nicht wegen einer ernsthaften Verweigerung der Leistung bzw. Nacherfüllung entbehrlich (§ 323 Abs. 2 Nr. 1 BGB). Die Beklagte hat im vorliegenden Prozess zwar das Vorliegen von Mängeln sehr nachdrücklich bestritten. Ein solches Bestreiten alleine genügt jedoch nicht für die Annahme, dass ein Schuldner sich von einer Nacherfüllungsaufforderung nicht umstimmen lassen und die Erfüllung seiner Vertragspflichten zur mangelfreien Lieferung ablehnen werde (vgl. BGH, Urteil vom 01. Juli 2015 – VIII ZR 226/14; Urteil vom 18. Januar 2017 – VIII ZR 234/17). Gerade dann, wenn jemand – wie hier – über das Bestreiten der Mängel hinaus auch die fehlende Nachfristsetzung rügt, darf keine ernsthafte Erfüllungsverweigerung unterstellt werden (BGH, Urteil vom 21. Dezember 2005 – VIII ZR 49/05).
91b.
92Die Feststellungsanträge der Klägerin waren abzuweisen, weil sie ihrem Inhalt nach ein Recht auf Rückabwicklung und ein Rückgewährschuldverhältnis voraussetzen, welches nach den obigen Darstellungen jedoch nicht besteht.
93c.
94Der Klägerin steht gegen die Beklagte auch kein Anspruch auf Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten zu. Denn die Beauftragung eines Anwalts zwecks Verfolgung von Rücktrittsrechten war aus den genannten Gründen nicht erforderlich.
952. Hilfswiderklage
96Die Hilfswiderklage ist zulässig. Eine Widerklage darf an die prozessuale Bedingung der Abweisung der Klage geknüpft werden (vgl. MüKo, Kommentar zur ZPO, 6. Aufl. § 33 ZPO Rz. 24 m.w.N.).
97Die Widerklage ist auch vollumfänglich begründet.
98a.
99Mangels Rücktrittsrechts der Klägerin besteht das Vertragsverhältnis zwischen den Parteien fort. Die Klägerin schuldet der Beklagten daher noch den vertraglich vereinbarten Rest-Kaufpreis, den sie für die Lieferung mit der Avis-Nr. $$0001 nur hälftig gezahlt hatte. Konkrete rechtserhebliche Einwendungen, welche der Zahlungspflicht entgegengehalten werden könnten, sind von der Klägerin im Prozess nicht vorgebracht worden.
100Der Anspruch auf Restkaufpreiszahlung ist gem. §§ 280, 286 BGB antragsgemäß zu verzinsen. Verzug trat nach § 286 Abs. 2 Nr. 2 BGB automatisch mit Ablauf der vertraglichen Zahlungsfrist von einer Woche ab Lieferung (04.05.2020), mithin mit Ablauf des 11.05.2020, ein.
101b.
102Die Klägerin schuldet der Beklagten aus den gleichen Gründen gem. §§ 280, 286 BGB auch Zinsen hinsichtlich der geleisteten Zahlungen, die alle erst nach Ablauf der vertraglichen Zahlungsfrist erfolgten.
103c.
104Der Anspruch der Beklagten auf Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten folgt aus §§ 280, 286 ZPO.
1053. Keine Wiedereröffnung
106Die Kammer sah sich nicht veranlasst, dem Antrag der Klägerseite vom 29.12.2021 stattzugeben und die mündliche Verhandlung wiederzueröffnen. Denn es liegt keiner der zwingenden Wiedereröffnungsgründe des § 156 Abs. 2 ZPO vor, und die Klägerseite hat mit ihrem Schriftsatz vom 29.12.2021 auch keine neuen entscheidungserheblichen Tatsachen vorgebracht, die eine Wiedereröffnung nach § 156 Abs. 1 ZPO rechtfertigen würden.
107Soweit die Klägerin sich darauf beruft, die Kammer bewerte die Voraussetzungen des § 323 Abs. 2 Nr. 2 BGB unzutreffend und dies sei für sie überraschend und hätte eines früheren Hinweises bedurft, teilt die Kammer diese Rechtsauffassung nicht. Die Voraussetzungen des § 323 Abs. 2 Nr. 2 BGB wurden von beiden Parteien in der Klage, Klageerwiderung, Replik, Duplik und Triplik auf vielen hunderten Schriftsatzseiten umfassend und unter allen in Betracht kommenden Gesichtspunkten erörtert, sowohl in rechtlicher als auch in tatsächlicher Hinsicht. Vor diesem Hintergrund gab es für die Kammer keinen Anlass zur Annahme, die Klägerin könnte diesen entscheidungserheblichen Punkt übersehen haben oder ihr Vortrag hierzu könnte lückenhaft sein. Dass sich die Kammer letztlich einer der beiden umstrittenen Rechtsansichten anschließen würde, konnte auch für keine der Parteien überraschend sein. Der Schriftsatz vom 29.12.2021 enthält auch keinen neuen Tatsachenvortrag, der für die rechtliche Beurteilung von Bedeutung wäre, sondern beschränkt sich auf die Wiederholung des bisherigen Vorbringens der Klägerseite zum Vorliegen der Rücktrittsvoraussetzungen.
1084.
109Die Entscheidungen über die Kosten und vorläufige Vollstreckbarkeit beruhen auf §§ 91, 709 ZPO.
110Der Streitwert wird wie folgt festgesetzt: Insgesamt 6.637.896,20 EUR.
111Er setzt sich aus folgenden Einzelwerten zusammen:
112Klageantrag 1: 2.120.580,00 EUR
113Klageantrag 2: 100.000,00 EUR geschätzt
114Klageantrag 5: 2.227.680,00 EUR
115Klageantrag 6: 50.000,00 EUR geschätzt
116Klageantrag 3,4 und 7: ohne Ansatz
117Hilfswiderklageantrag 1: 2.120.580,00 EUR
118Hilfswiderklageantrag 2: 14.351,63 EUR
119Hilfswiderklageantrag 3: 4.704,67 EUR
120Hilfswiderklageantrag 4: ohne Ansatz
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Referenzen
- BGB § 275 Ausschluss der Leistungspflicht 1x
- BGB § 283 Schadensersatz statt der Leistung bei Ausschluss der Leistungspflicht 1x
- §§ 305 ff. BGB 1x (nicht zugeordnet)
- BGB § 242 Leistung nach Treu und Glauben 1x
- BGB § 280 Schadensersatz wegen Pflichtverletzung 2x
- BGB § 286 Verzug des Schuldners 3x
- ZPO § 280 Abgesonderte Verhandlung über Zulässigkeit der Klage 1x
- ZPO § 286 Freie Beweiswürdigung 1x
- BGB § 262 Wahlschuld; Wahlrecht 1x
- BGB § 315 Bestimmung der Leistung durch eine Partei 1x
- HGB § 377 2x
- HGB § 376 2x
- BGB § 326 Befreiung von der Gegenleistung und Rücktritt beim Ausschluss der Leistungspflicht 1x
- BGB § 307 Inhaltskontrolle 2x
- § 9 AGBG 1x (nicht zugeordnet)
- ZPO § 33 Besonderer Gerichtsstand der Widerklage 1x
- BGB § 323 Rücktritt wegen nicht oder nicht vertragsgemäß erbrachter Leistung 7x
- ZPO § 156 Wiedereröffnung der Verhandlung 2x
- VIII ZR 292/88 1x (nicht zugeordnet)
- X ZR 85/88 1x (nicht zugeordnet)
- VIII ZR 190/81 1x (nicht zugeordnet)
- VIII ZR 226/14 1x (nicht zugeordnet)
- VIII ZR 234/17 1x (nicht zugeordnet)
- VIII ZR 49/05 1x (nicht zugeordnet)