Urteil vom Landessozialgericht Baden-Württemberg - L 1 U 3714/20

Tenor

Das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 22. Juli 2020 wird im Kostenpunkt aufgehoben und im Übrigen abgeändert. Es wird festgestellt, dass die Forderung der Beklagten auf Erstattung von Halbwaisenrente in Höhe von EUR 48.951,73 aus dem Bescheid vom 1. April 2008 verjährt ist. Im Übrigen ist das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 22. Juli 2020 gegenstandslos.

Die Beklagte erstattet der Klägerin die außergerichtlichen Kosten beider Instanzen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

 
Die Klägerin wendet sich gegen die Erstattung von Halbwaisenrente. In diesem Rahmen hatte sie in diesem Verfahren zunächst primär die Rücknahme des Aufhebungs- und Erstattungsbescheids begehrt. Den jetzigen Hauptantrag, die Verjährung der Erstattungsforderung festzustellen, hat sie ausdrücklich erst im Berufungsverfahren gestellt.
Der Vater der Klägerin war am 1959 geboren und am 31. August 1988 bei einem Bergwerksunglück in der Steinkohlegrube „P.“ in C (bis 1945: K in O.) in seiner Tätigkeit als Schießbergwerksmann ums Leben gekommen.
Die Klägerin ist 1987 in P geboren. Ihre Mutter und sie zogen am 27. Mai 1989 nach Deutschland. Die B erkannte beide durch Erteilung des Vertriebenenausweises B am 11. Dezember 1991 als Heimatvertriebene (Aussiedler) an (Nr. .../.../...). Mit Bescheiden vom 24. Februar 1992 bewilligte die B1-Berufsgenossenschaft, eine Rechtsvorgängerin der Beklagten, der Klägerin ab dem 1. Juni 1989 eine Halbwaisenrente und ihrer Mutter eine (große) Witwenrente. Die Bescheide waren auf „§ 1583 und § 1569a Reichsversicherungsordnung (RVO) i.V.m. dem Fremdrentengesetz (FRG)“ gestützt. Sie verwiesen jeweils auf ein „beiliegendes Merkblatt“, das nicht aktenkundig ist. Der Zahlbetrag der Halbwaisenrente betrug ab Juli 1991 DM 953,24 monatlich. Die Nachzahlung von DM 30.884,64 wurde teilweise mit Erstattungsforderungen anderer Sozialleistungsträger verrechnet. Parallel zu diesen Renten bezogen die Klägerin und ihre Mutter Halbwaisen- bzw. Witwenrente aus der gesetzlichen (knappschaftlichen) Rentenversicherung von der damaligen B2. Die Renten wurden teilweise aufeinander angerechnet.
Im April 2005 schrieb die Beklagte die Klägerin und ihre Mutter an, um - wegen des bevorstehenden 18. Geburtstags der Klägerin - die Voraussetzungen der Rentengewährung zu überprüfen. Die Klägerin teilte eine „aktuelle Wohnadresse“ in B mit und legte eine Schulbescheinigung einer Gesamtschule in C vor. Daraufhin stellte die Beklagte Ende Mai 2005 vorläufig die Zahlung der Waisenrente ein, die zuletzt EUR 593,77 monatlich betragen hatte. Auf Nachfrage der Beklagten legte die Klägerin weitere Bescheinigungen vor, aus denen sich ergab, dass sie bereits seit dem 1. September 1998 in P zur Schule ging. Sie gab an, sie besuche ihre Mutter in Deutschland so oft wie möglich. Es stellte sich heraus, dass sie während der Schulzeiten bei Verwandten in P untergebracht war. Mit Bescheid vom 19. September 2005 teilte ihr die Beklagte mit, ein Anspruch auf Halbwaisenrente „über den 31. Juli 2005 hinaus“ bestehe nicht mehr. Die Zahlbeträge für Juni und Juli wurden auf das Konto der Mutter nachgezahlt.
Die Staatsanwaltschaft B ermittelte gegen die Mutter der Klägerin (831 Js 52027/05) u.a. wegen Steuerhinterziehung (Kindergeld). Sie bat auch die Beklagte um Angaben und Unterlagen. In diesem Zusammenhang gab es (vgl. Aktenvermerk vom 9. Februar 2007) bei der Beklagten erstmals interne Überlegungen, die Rentenbewilligungen auch für die Vergangenheit aufzuheben und Rentenbeträge zurückzufordern. Mit Bescheiden vom 15. November 2007 hob die Deutsche Rentenversicherung K1 (als Rechtsnachfolgerin der B2) die dortigen Bewilligungen an die Klägerin und ihre Mutter rückwirkend ab dem 1. Juli 1998 auf, weil sich beide seitdem nicht mehr dauerhaft in Deutschland aufgehalten hätten. Die Mutter erhob hiergegen Klage zum SG Dortmund. Nachdem die Mutter einen Wohnsitz in H angemeldet hatte, ging die Beklagte davon aus, sie sei zurück nach Deutschland gezogen, und nahm die Zahlung der unfallversicherungsrechtlichen Witwenrente am 21. Januar 2008 wieder auf.
Am 19. Februar 2008 hörte die Beklagte die Klägerin zu einer Zurücknahme der Bewilligung und einer Erstattung der Rente ab 1. Juli 1998 an. Der Anspruch habe einen ständigen Aufenthalt in Deutschland vorausgesetzt. Hierüber sei die Mutter in dem an sie gerichteten Witwenrentenbescheid der B2 unterrichtet worden. Die Klägerin bzw. ihre Mutter hätten den Umzug nach P mindestens grobfahrlässig nicht mitgeteilt. Die Klägerin bestritt unter dem 17. März 2008, nicht in Deutschland gewohnt zu haben. Selbst wenn sie sich ständig in P aufgehalten habe, so könne ihr kein Vorwurf gemacht werden. Sie habe als Minderjährige etwaigen Merkblättern nicht folgen können. Ein Verschulden der Eltern sei ihr nicht zuzurechnen.
Mit Bescheid vom 1. April 2008 hob die Beklagte den Bescheid vom 24. Februar 1992 über die Bewilligung der Waisenrente nach § 48 SGB X vom 1. Juli 1998 bis zum 31. Juli 2005 auf und forderte gezahlte Leistungen in Höhe von 48.951,73 EUR zurück, weil die Klägerin in diesem Zeitraum ihnen gewöhnlichen Aufenthalt nicht in Deutschland gehabt hatte. Der Umzug nach P sei eine wesentliche Änderung der Verhältnisse gewesen, die hätte mitgeteilt werden müssen. Ein Fehlverhalten des gesetzlichen Vertreters sei der Klägerin zuzurechnen. Der Erstattungsanspruch habe sich gegen die selbstständig rentenberechtigte Waise zu richten.
Im Widerspruchsverfahren trugt die Klägerin - zur Frage der groben Fahrlässigkeit - ergänzend vor, die Regelungen seien sehr kompliziert. Ob ein Rentenanspruch entfalle, hänge von der Staatsangehörigkeit, der Art der zurückgelegten Zeiten, dem Geburtsdatum und dem Zielland ab. Gleichwohl erließ die Beklagte den zurückweisenden Widerspruchsbescheid vom 28. Mai 2008.
Die Klägerin erhob am 9. Juni 2008 Klage zum Sozialgericht (SG) Dortmund (S 36 KN 58/08 U), die durch Urteil ohne mündliche Verhandlung am 27. Januar 2011 abgewiesen wurde. Das SG führte aus, nach den lückenlosen Schulbescheinigungen sei davon auszugehen, dass sich die Klägerin überwiegend in P aufgehalten habe. Der Umzug habe den Rentenanspruch wegfallen lassen. Die Klägerin bzw. ihre Mutter als gesetzliche Vertreterin hätten den Umzug mitteilen müssen. Der Bewilligungsbescheid habe ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Rente „mit dem Ersten des auf den Tag der Begründung des ständigen Aufenthalts in der BRD folgenden Monats“ beginne. Es sei daher unerheblich, ob die Klägerin oder ihre Mutter Merkblätter erhalten hätten. Das Verschulden der Mutter sei der Klägerin zuzurechnen. Da die Klägerin keine Berufung erhob, wurde dieses Urteil rechtskräftig.
10 
Nach Erhalt dieses Urteils verfügte die Beklagte intern Wiedervorlagen mit dem Vermerk „Eskalation“ bzw. „Vollstreckung“ (21. März 2011 und 6. Juni 2011). Diese Wiedervorlagen wurden später gelöscht. Weitere Maßnahmen wurden nicht eingeleitet.
11 
Auch wegen der Witwenrente der Mutter hatte die Beklagte einen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid (vom 14. März 2008) erlassen. Der Mutter gegenüber erging außerdem den Bescheid vom 17. April 2008, mit dem sie die Aufrechnung der Erstattungsforderung mit den wieder laufenden Rentenzahlungen erklärte. Wegen dieser beiden Bescheide führte die Mutter zwei Klagen vor dem SG Hamburg (S 36 U 203/08, 237/08). Auch diese Verfahren blieben ohne Erfolg (Rücknahme am 27. November 2008).
12 
Die Staatsanwaltschaft B stellte das Strafverfahren gegen die Mutter nach § 170 Abs. 2 StPO ein (Verfügung vom 22. Juni 2011). Ferner hatte die Mutter der Klägerin mit ihrer Klage gegen den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid der DRV K1 Erfolg (Anerkenntnis vom 5. August 2011 in dem Verfahren S 24 KN 246/11 WA vor dem SG Dortmund).
13 
Unter Hinweis auf diese beiden Umstände stellte die Mutter der Klägerin bei der Beklagten wegen der Aufhebung und Erstattung ihrer Witwenrente Überprüfungsantrag. Nach einem Aktenvermerk vom 6. August 2012 sah die Beklagte wegen dieses Antrags der Mutter von Vollstreckungsmaßnahmen gegen die Klägerin ab. Das Überprüfungsverfahren der Mutter endete durch angenommenes Anerkenntnis der Beklagten in dem Prozess S 36 U 323/13 vor dem SG Hamburg im August 2015. Es schloss sich längerer Schriftwechsel wegen der Nachzahlungen an die Mutter an.
14 
Am 30. Juni 2016 frage die Beklagte bei der Mutter nach der aktuellen Anschrift der Klägerin. Am 18. Juli 2016 legitimierte sich ihr Bevollmächtigter zur Akte. Mit Schreiben vom 9. August 2016 an ihn „bat“ die Beklagte darum, „die Klägerin zu veranlassen, den Erstattungsbetrag von 48.951,73 EUR zu zahlen.“ Eine Überschrift oder eine Rechtsbehelfsbelehrung war nicht beigefügt. Am 27. September 2016 übersandte sie das Schreiben erneut mit dem Zusatz „Erinnerung“.
15 
Am 6. Oktober 2016 beantragte die Klägerin über ihren Bevollmächtigten, die Höhe des Erstattungsbetrags bzw. den bestandkräftigen Bescheid zu überprüfen. Sie verwies darauf, dass nach § 22 Abs. 4 FRG die Rente nur gesenkt werde. Die „vom polnischen Versicherungsträger zustehende Rente“ (die nicht gewährt wurde) müsse nach § 11 FRG berücksichtigt werden.
16 
Mit formlosem Schreiben vom 9. Dezember 2016 bestand die Beklagte darauf, dass die gewährten Leistungen zurückgezahlt würden. Sofern keine Zahlungsbereitschaft bestehe, werde um die Anschrift der Klägerin „zur Einleitung des Zwangsvollstreckungsverfahrens“ gebeten.
17 
Den Überprüfungsantrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 20. Dezember 2017 ab. Nach dem deutsch-polnischen Sozialversicherungsabkommen vom 8. Dezember 1990 (DPSVA 1990) sei auf Ansprüche, die vor dem 31. Dezember 1990 entstanden seien, weiterhin das DPSVA vom 9. Oktober 1975 (DPSVA 1975) anzuwenden. Dort gelte das Leistungsexportprinzip nicht, sondern es komme auf den gewöhnlichen Aufenthalt an. §§ 22 und 31 FRG beträfen nur die Renten- und nicht die Unfallversicherung. Es liege auch kein Hinweis darauf vor, dass der Klägerin nach dem Umzug nach P ein weiterer Rentenanspruch zugestanden habe, der bei der Berechnung des Rückforderungsbetrags zu berücksichtigen gewesen wäre. Den nicht weiter begründeten Widerspruch der Klägerin wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 6. Juli 2018 zurück.
18 
Hiergegen hat die Klägerin am 7. August 2018 beim SG Mannheim Klage erhoben. Sie hat ihre Ausführungen zum DPSVA 1975/1990 und zum FRG vertieft. Sie hat vorgetragen, nach den Regelungen der VO EG 883/2004 und der DurchführungsVO EG 987/2009 habe sie ihren Rentenanspruch trotz eines Umzugs nach P behalten. Ferner hat sie gerügt (Schriftsatz vom 30. August 2018, S. 6), der Anspruch (auf Erstattung) sei verwirkt, weil die Beklagte sie erst Ende Juni 2016 zur Zahlung aufgefordert und die Zwangsvollstreckung angedroht habe, obwohl der Bescheid am 1. April 2008 erlassen und am 27. Januar 2011 bestandskräftig geworden sei. Nach so vielen Jahren habe sie nicht mehr mit der verspäteten Inanspruchnahme rechnen müssen.
19 
Das SG Mannheim hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 19. März 2019 an das SG Freiburg (Kammer für Knappschaftssachen) verwiesen. Danach hat die Klägerin (Schriftsatz vom 6. Dezember 2019) noch ausgeführt, der Erstattungsanspruch scheitere auch an § 1629a BGB. Sie sei bei der Ausreise nach P noch minderjährig gewesen. Ihre Mutter habe damals darüber entschieden. Bei Erreichen der Volljährigkeit habe sie - die Klägerin - über kein Vermögen verfügt.
20 
Mit Urteil ohne mündliche Verhandlung vom 22. Juli 2020 hat das SG Freiburg die Klage abgewiesen. Der Bescheid vom 1. April 2008 sei rechtmäßig. Die Rente, die die Klägerin bezogen habe, unterliege nach § 12 Abs. 1 FRG dem Territorialprinzip und sei nur zu leisten, wenn der Wohnsitz in Deutschland liege. Die Klägerin sei aber nach P verzogen. Das nach dem DPSVA 1990 weiterhin anwendbare DPSVA 1975 regle nichts Anderes. Verstöße gegen Europarecht beständen nicht. Die Mutter der Klägerin habe gerade angesichts der nicht leichten Rechtslage grob fahrlässig gehandelt, als sie nach dem Umzug der Klägerin nach P nicht einmal nachgefragt habe, ob der Rentenanspruch fortbestehe. Der Bewilligungsbescheid habe auf den gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland Bezug genommen. Weiterhin hat das SG ausgeführt, Verwirkung scheide hier aus, da es an einem Umstandsmoment fehle, im Übrigen sei „die Klägerin (...) hinreichend geschützt durch die Verjährungsvorschrift des § 50 Abs. 4 SGB X“. Auch auf die Haftungsbeschränkung nach § 1629a BGB könne sie sich nicht berufen. Ob dieses Rechtsinstitut auch im Sozialversicherungsrecht anwendbar sei (Hinweis auf das Soll-Ermessen in atypischen Fällen, § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X), sei fraglich. Jedenfalls habe die Klägerin die in der Norm vorausgesetzte Einrede nicht in dem damaligen Verfahren erhoben. Ferner habe sie - damals - auch nicht substanziiert dargelegt, vermögenslos zu sein.
21 
Gegen dieses Urteil, das ihr am 23. Oktober 2020 zugestellt worden ist, hat die Klägerin am 23. November 2020 Berufung zum LSG Baden-Württemberg erhoben. In der Berufungsschrift hat sie ausdrücklich die Einrede der Verjährung erhoben. Sie beruft sich auf die vierjährige Verjährungsfrist nach § 50 Abs. 4 SGB X. Zur einer möglichen Haftungsbeschränkung trägt sie vor, § 1629a BGB sei zumindest im Sozialleistungsrecht keine Einrede, sondern von Amts wegen zu berücksichtigen. Zum Beweis dafür, bei Erreichen der Volljährigkeit vermögenslos gewesen zu sein, hat sie - in polnischer Sprache - Kopien ihrer Steuererklärung und eines Steuerbescheids für 2005 sowie eines Vertrags über die Eröffnung eines Girokontos vorgelegt.
22 
Nach Hinweisen des Senats, unter anderem zu dem Urteil des BSG (B 11 AL 5/20 R) vom 4. März 2021, hat die Klägerin ihren Antrag, der bislang ausdrücklich nur auf die Zurücknahme des Aufhebungs- und Erstattungsbescheids gerichtet war, primär um einen Feststellungsantrag ergänzt.
23 
Sie beantragt nunmehr (sinngemäß nach dem Schriftsatz vom 12. März 2021),
24 
das Urteil des SG Freiburg vom 22. Juli 2020 aufzuheben und
25 
festzustellen, dass die Erstattungsforderung der Beklagten gegen die Klägerin aus dem Bescheid vom 1. April 2008 verjährt ist,
26 
hilfsweise, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 20. Dezember 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 6. Juli 2018 zu verpflichten, den Rückforderungsbescheid vom 1. April 2008 zurückzunehmen.
27 
Die Beklagte beantragt (zu Protokoll des Erörterungstermins am 12. April 2021),
28 
die Berufung zurückzuweisen,
29 
hilfsweise, die Revision zuzulassen.
30 
Sie meint, es gelte hier die dreißigjährige Verjährungsfrist des § 52 Abs. 1 SGB X. Der Bescheid vom 1. April 2008 enthalte neben der Aufhebung der Rentenbewilligung die Festsetzung der Erstattungsforderung. Daher sei dies bereits die „weitere“ Verfügung zur Durchsetzung. Der Bescheid sei auch innerhalb der vierjährigen Verjährungsfrist erlassen worden.
31 
Die Klägerin hat sich mit Schriftsatz vom 17. Mai 2021, die Beklagte am 18. Mai 2021 mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
32 
Mit Schreiben vom 17. Mai 2021 hat die Klägerin ihre Vermögenslosigkeit an Eides Statt versichert und den polnischen Einkommensteuerbescheid für 2005 im Original vorgelegt. Der Senat hat diese Unterlagen der Beklagten übermittelt und am 19. Mai 2021 Hinweise zum weiteren Verfahren einschließlich einem etwaigen Heraufholen von Prozessresten gegeben.

Entscheidungsgründe

 
33 
Der Senat entscheidet durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG). Die Einverständnisse der Beteiligten zu diesem Verfahren wirken fort, auch wenn nach ihrer Erteilung noch der Schriftsatz der Klägerin vom 17. Mai 2021 eingegangen ist. Aus diesen Unterlagen ergeben sich keine neuen Umstände, die erörtert werden müssten. Darauf sind die Beteiligten rechtzeitig hingewiesen worden.
34 
1. Die Berufung der Klägerin ist statthaft (§ 143, § 144 Abs. 1 SGG) und auch im Übrigen zulässig.
35 
a) Dabei entscheidet der Senat über alle Anträge der Klägerin im Rahmen ihrer Berufung. Dies gilt auch für den Feststellungsantrag wegen der Verjährung. Zwar hat die Klägerin diesen Antrag ausdrücklich erstmals in der Berufungsinstanz formuliert. Gleichwohl ist er kein neuer Antrag, der unter Umständen den Voraussetzungen einer Klageänderung (§ 99 Abs. 1, Abs. 2 SGG) genügen müsste und über den der Senat nur „auf Klage“ entscheiden könnte (vgl. dazu BSG, Beschluss vom 18. Februar 2021 - B 8 SO 63/20 B -, Rn. 7, juris; vgl. zu der dann folgenden Frage der Zulässigkeit der geänderten Klage, insbesondere der instanziellen Zuständigkeit eines LSG für neue Klageanträge: Schreiber in: Fichte/Jüttner, SGG, 3. Aufl. 2020, § 29 SGG, Rn. 7).
36 
aa) Der Senat legt die Prozesserklärungen der Klägerin vor dem SG dahin aus, dass sie bereits in erster Instanz konkludent die Verjährungseinrede erhoben und Antrag auf Feststellung der Verjährung gestellt hat.
37 
Ausdrücklich hatte die Klägerin dort zwar - nur - die Überprüfung und die Zurücknahme des Bescheids vom 1. April 2008 nach § 44 Abs. 1 SGB X begehrt. Insoweit hat sie sich in der Sache auf eine anfängliche Rechtswidrigkeit dieses Bescheids wegen Verstößen gegen das DPSVA, das FRG und gegen Europarecht, evtl. auch gegen § 1629a BGB, berufen. Daneben hat sie aber, schon in ihrer Klagebegründung vom 30. August 2018 (S. 6), auch „Verwirkung“ der Erstattungsforderung eingewandt. Zur Begründung dafür hat sie sich auf Umstände berufen, die nach Erlass des Erstattungsbescheids entstanden waren, insbesondere darauf, dass die Beklagte die festgesetzte Erstattungsforderung „so viele Jahre“ lang nicht geltend gemacht habe, obwohl die Möglichkeit der Vollstreckung bestanden habe.
38 
Mit diesem Vortrag hat die Klägerin - bei sachgerechter Auslegung - in der Sache auch Verjährung (§§ 194, 214 Abs. 1 BGB) eingewandt. An die Geltendmachung der Verjährung sind keine überzogenen Anforderungen zu stellen. Insbesondere muss der Schuldner nicht ausdrücklich das Wort „Verjährung“ benutzen. Zu fordern ist nur, dass er deutlich macht, dass die Verweigerung der Leistung auf dem Zeitablauf beruht, damit sich der Gläubiger gegen diesen Einwand adäquat verteidigen kann (Lakkis in: Herberger/Martinek/Rüßmann/Weth/Würdinger, jurisPK-BGB, 9. Aufl., § 214 BGB [Stand: 1. Mai 2020], Rn. 8). In jedem Fall reicht es für die Geltendmachung (auch) einer Verjährung aus, wenn sich der Schuldner auf lange Untätigkeit und „Verwirkung“ eines Anspruchs beruft (BGH, Urteil vom 3. April 1996 - XII ZR 86/95 -, Rn. 12, juris). Dies beruht auch darauf, dass eine Verjährung weniger strenge Voraussetzungen hat als eine Verwirkung nach § 242 BGB, insbesondere kein Umstandsmoment verlangt (vgl. auch BSG, Urteil vom 1. Juli 2010 - B 13 R 67/09 R -, SozR 4-2400 § 24 Nr 5, Rn. 33, juris).
39 
Auch prozessrechtlich war dieses Vorbringen der Klägerin dahin auszulegen, dass ein Antrag auf Feststellung der Verjährung (oder ggfs. der Verwirkung) der Erstattungsforderung gestellt werden sollte. Nach § 123 SGG entscheidet das Gericht über die erhobenen Ansprüche, ohne an die Fassung der Anträge gebunden zu sein. Klageanträge sind daher nach dem Meistbegünstigungsprinzip unabhängig vom Wortlaut unter Berücksichtigung des wirklichen Willens und der Auslegungsregel des § 133 BGB so auszulegen, dass das klägerische Begehren möglichst weitgehend zum Tragen kommt. Auszugehen ist von dem Antrag, den ein Kläger nach seinem Vorbringen, ggfs. bei entsprechender Beratung durch das Gericht (§ 112 Abs. 2 Satz 2 SGG), stellen würde, wenn keine Gründe für ein anderes Verhalten vorliegen. Dabei muss das erkennbare gesamte Vorbringen einschließlich der Verwaltungsvorgänge herangezogen werden (BSG, Urteil vom 6. April 2011 - B 4 AS 119/10 R -, Rn. 29, juris). Nach diesen Maßstäben konnte der Vortrag der Klägerin zu der langjährigen Untätigkeit der Beklagten prozessual nur als Feststellungsantrag aufgefasst werden, weil dies der einzige sachgerechte Antrag war. Das Vorbringen konnte sich nicht auf die Rücknahme des Erstattungsbescheids beziehen, weil ein Bescheid nicht im Sinne von § 44 Abs. 1 SGB X von Anfang an rechtswidrig ist und auch nicht mit Rückwirkung ex tunc (vgl. zu einer solchen nachträglichen Rechtswidrigkeit von Anfang an: LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 7. November 2017 - L 11 KR 763/17 -, Rn. 23, juris) rechtswidrig wird, wenn die Erstattungsansprüche, die er festsetzt, später verjähren oder verwirkt werden (LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 27. September 2018 - L 1 AL 88/17 -, Rn. 22, juris). Diesen Punkt hat das SG auch gesehen, indem es (S. 9 Urteil) ausgeführt hat, dass solche späteren Veränderungen die Rechtmäßigkeit des ursprünglichen Bescheids nicht berührten. Es lag daher auf der Hand, dass das Vorbringen der Klägerin zu diesem Punkt einen Feststellungsantrag darstellte.
40 
bb) Der Senat lässt an dieser Stelle offen, ob das SG zumindest konkludent auch über den Antrag auf Feststellung der Verjährung (bzw. der Verwirkung) entschieden hat und die Klägerin insoweit beschwert ist.
41 
Dem klagabweisenden Tenor des Urteils vom 22. Juli 2020 lassen sich dazu keine Erkenntnisse entnehmen. Allerdings hat sich das SG in den Entscheidungsgründe, aus denen sich die Reichweite der Entscheidung ergibt, mit dem Verwirkungseinwand beschäftigt (S. 9) und dabei ausdrücklich auf die Verjährungsfrage hingewiesen. Jedoch sind seine Ausführungen, die Klägerin könne „sich hier nicht (darauf) berufen“, nicht eindeutig. Möglicherweise bezog sich dieser Punkt nur darauf, dass Verjährung und Verwirkung für die Rechtmäßigkeit des Erstattungsbescheids unerheblich seien. Eventuell wollte das SG aber auch über diese Punkte entscheiden. Darauf deutet der Hinweis hin, die Klägerin sei durch die Verjährung ausreichend geschützt.
42 
Sofern das SG konkludent einen Feststellungsantrag wegen der Verjährung abgelehnt hat, ist dieser ohne Weiteres zulässiger Gegenstand des Berufungsverfahrens.
43 
Wenn dies nicht der Fall ist, so kann der Senat diesen „Prozessrest“ in das Berufungsverfahren übernehmen. Ein solches „Heraufholen“ ist möglich, wenn das Erstgericht - aus der Sicht des Berufungsgerichts - über einen geltend gemachten Anspruch versehentlich nicht entschieden hat (BSG, Urteil vom 21. Juli 2009 - B 7 AL 49/07 R -, BSGE 104, 76-83, SozR 4-4300 § 22 Nr 2, Rn. 19, juris; Schmidt, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl. 2020, § 99 Rn. 12). Hierzu sind grundsätzlich die Zustimmungen aller Beteiligter notwendig (BSG, Beschluss vom 18. September 2019 - B 14 AS 317/18 B -, Rn. 6, juris). Diese Zustimmung kann aber auch konkludent erfolgen (BSG, Urteil vom 7. November 2006 - B 7b AS 8/06 R -, BSGE 97, 217-230, SozR 4-4200 § 22 Nr 1, Rn. 27). Zum Teil wird auch verlangt, dass die Voraussetzungen einer Klageänderung vorliegen, wenn die beschwerte Partei im Berufungsverfahren (erneut) Prozessreste aus der ersten Instanz geltend macht (vgl. zu den Nachweisen Schmidt, a.a.O.). Diese Voraussetzungen liegen hier aber vor. Die Beklagte hat bereits in dem Erörterungstermin am 12. April 2021 - nur - Zurückweisung der Berufung beantragt, sich also rügelos auf den Feststellungsantrag der Klägerin aus dem Schriftsatz vom 12. März 2021 eingelassen (vgl. auch § 99 Abs. 2 SGG). Darin ist auch eine Zustimmung zu sehen, in der Sache über die Verjährungsfrage zu entscheiden. Der Senat hat die Beteiligten mit Schreiben vom 19. Mai 2021 darüber unterrichtet, wie er die beiderseitigen Prozesserklärungen versteht.
44 
b) Die übrigen Voraussetzungen einer zulässigen Berufung liegen vor. Insbesondere hat die Klägerin ihre Berufung form- und fristgerecht (§ 151 Abs. 1 SGG) erhoben.
45 
2. Die Berufung ist auch mit dem Hauptantrag begründet. Es war festzustellen, dass die Erstattungsforderung der Beklagten aus dem Bescheid vom 1. April 2008 verjährt ist. Der entsprechende Klageantrag ist zulässig und begründet.
46 
a) Die Feststellungsklage der Klägerin ist nach § 55 Abs. 1 Halbsatz 1 Nr. 1 SGG statthaft und auch im Übrigen zulässig.
47 
Das BSG hat bereits mit seinem Urteil vom 9. Februar 1995 (7 RAr 78/93, SozR 3-4427 § 5 Nr 1, SozR 3-1500 § 55 Nr 21, Rn. 26, juris) entschieden, dass ein feststellungsfähiges Rechtsverhältnis im Sinne dieser Norm auch dann besteht, wenn der Schuldner eines (ggfs. bestandskräftig) festgesetzten Erstattungsanspruchs einwendet, der Anspruch sei wegen Verjährung nicht mehr durchsetzbar, also nicht mehr verrechnungsfähig bzw. vollstreckbar. In diesen Fällen erreicht er sein Ziel schon mit der bloßen Feststellung des Verjährungseintritts (BSG, a.a.O., Rn. 27). Er muss nicht die Feststellung begehren, die verjährte Forderung sei erloschen oder sie sei - nur - dauerhaft nicht mehr durchsetzbar (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 26. Juni 2020 - L 8 AL 3185/19 -, Rn. 38, juris, unter Hinweis auf die abweichenden Regelungen in §§ 228, 232 AO). Diese Rechtsprechung hat das BSG in seinem - noch nicht im Volltext veröffentlichten - Urteil vom 4. März 2021 bestätigt (B 11 AL 5/20 R, Terminbericht des BSG Nr. 7/21, Nr. 2, juris). Diese Feststellung muss nicht mit einer Anfechtungsklage nach § 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG verbunden werden (so auch LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 27. September 2018 - L 1 AL 88/17 -, Rn. 20, juris). Zwar ist in Über- und Unterordnungsverhältnissen zwischen Leistungsträger und Bürger auch im Streit über eine bloße Feststellung zu fordern, dass ein Verwaltungsakt zum strittigen Rechtsverhältnis ergangen ist, ggfs. mit einer negativen Feststellung. Hiervon besteht jedoch eine Ausnahme, wenn der Leistungsträger konkreten Anlass zur Erhebung der konkreten Feststellungsklage gegeben (BSG, Urteil vom 22. Mai 1985 - 12 RK 30/84 -, BSGE 58, 150-154, SozR 1500 § 55 Nr. 27, Rn. 8, juris; Urteil vom 9. Februar 1995 - 7 RAr 78/93 -, SozR 3-4427 § 5 Nr 1, SozR 3-1500 § 55 Nr 21, Rn. 30, juris). So ist es hier. Die Beklagte hat in ihren Schreiben an die Klägerin und ihren Bevollmächtigten vom 9. August, vom 27. September 2016 und vor allem in der Mahnung vom 9. Dezember 2016 deutlich gemacht, dass sie trotz des Zeitablaufs seit der Titulierung der Erstattungsforderung (nunmehr) eine Zwangsvollstreckung beabsichtige. An dieser Ansicht hat sie auch im laufenden gerichtlichen Verfahren festgehalten, nachdem die Klägerin - ausdrücklich zunächst Verwirkung, aber in der Sache auch - Verjährung eingewandt hatte.
48 
Das Feststellungsinteresse des Klägers scheitert nicht an dem Nachrang der Feststellungsklage gegenüber Gestaltungs- und Leistungsklagen bzw. ihren Sonderformen, nämlich den Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen. Hiernach kann die Klägerin zunächst nicht darauf verwiesen werden, sich im Vollstreckungsverfahren zur Wehr zu setzen, ggfs. durch eine Vollstreckungsgegenklage analog § 767 Abs. 2 ZPO, die ebenfalls eine Gestaltungsklage wäre. Nach ganz überwiegender Ansicht ist diese Klageart im sozialgerichtlichen Verfahren nicht statthaft, soweit ein bundesunmittelbarer Sozialleistungsträger nach den bundesrechtlichen Vollstreckungsvorschriften (§ 5 Abs. 1 VwVfG i.V.m. §§ 249 ff. AO) vollstreckt (LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 5. November 2020 - L 14 AL 4/20 -, Rn. 53 f. juris, unter Verweis auf BSG, Urteil vom 25. Juni 2015 - B 14 AS 38/14 R -, BSGE 119, 170-180, SozR 4-1300 § 63 Nr 23, Rn. 13, juris). Ebenso besteht hier kein Vorrang der Verpflichtungsklage. Der Subsidiaritätsgrundsatz greift nur ein, wenn im Rahmen der anderen Klagearten über jene Sach- und Rechtsfrage zu entscheiden ist, die der begehrten Feststellung zugrunde liegt. Eine solche Fallgestaltung ist im anhängigen Verfahren nicht gegeben (vgl. zu einer ähnlichen Konstellation BSG, Urteil vom 9. Februar 1995, a.a.O., Rn. 34 f.). Mit ihrem nunmehrigen Hilfsantrag begehrt die Klägerin die Zurücknahme des Bescheids vom 1. April 2008. Auf dieser Ebene aber kann sie - wie schon zur Auslegung ihrer Anträge in erster Instanz ausgeführt - mit dem Verjährungseinwand keinen Erfolg haben.
49 
b) Die Erstattungsforderung der Beklagten aus dem bestandskräftigen Bescheid vom 1. April 2008 ist verjährt.
50 
aa) Die Verjährungsfrist lief am 31. Dezember 2015 ab.
51 
Erstattungsforderungen nach § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB X verjähren nach § 50 Abs. 4 Satz 1 SGB X binnen vier Jahren, beginnend mit Ablauf des Jahres, in dem der Bescheid, der sie feststellt, bestandskräftig (§ 77 SGG) wird (vgl. im Einzelnen LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 26. Juni 2020 - L 8 AL 3185/19 -, Rn. 31, juris, bestätigt durch das Urteil des BSG vom 4. März 2021, a.a.O.). Offenkundig bezieht sich § 50 Abs. 4 Satz 1 SGB X auf solche Erstattungen, die nach § 50 Abs. 3 Satz 1 SGB X durch Verwaltungsakt festgesetzt werden. Hierbei handelt es sich zumindest um Erstattungsforderungen nach § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB X, die aus der (rückwirkenden) Aufhebung oder Rücknahme eines Leistungsbescheids folgen. Um einen solche Forderung handelt es sich hier: die Klägerin war nach der rückwirkenden Aufhebung der Waisenrentenbewilligung (§ 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X) verpflichtet, die erhaltenen Rentenzahlbeträge zurückzuzahlen.
52 
Die Verjährung begann am 1. Januar 2012. Dieser Tag war der Beginn des Kalenderjahrs nach dem Jahr, in dem der Erstattungsbescheid bestandskräftig geworden war. Die Klägerin hatte den Bescheid vom 1. April 2008 mit Widerspruch und Klage angefochten. Dadurch wurde die Bestandskraft aufgeschoben. Diese trat erst Anfang 2011 ein, als das SG Dortmund die Klage abwies und die Klägerin keine Rechtsmittel einlegte.
53 
Die Verjährungsfrist wurde nicht nach § 52 Abs. 2 SGB X auf dreißig Jahre verlängert.
54 
Der Senat schließt sich bei der rechtlichen Abgrenzung der Verjährungsfristen aus § 50 Abs. 4 Satz 1 SGB X und § 52 Abs. 2 SGB X den Ausführungen des 8. Senats des LSG Baden-Württemberg in seinem Urteil vom 26. Juni 2020 (L 8 AL 3185/19 -, Rn. 32, juris) an, die das BSG in dem genannten Urteil vom 4. März 2021 bestätigt hat. Danach ist von einem Vorrang der Verjährungsregelung in § 50 Abs. 4 SGB X auszugehen. Diese Norm trifft eine Sonderregelung für die Feststellung des Erstattungsanspruchs durch Verwaltungsakt. Erst wenn zusätzliche Verwaltungsakte zur Durchsetzung des Anspruchs ergehen, unterfallen diese aufgrund der Verweisung in § 50 Abs. 4 Satz 3 SGB X der 30-jährigen Verjährungsfrist in § 52 Abs. 2 SGB X (so auch Baumeister in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Aufl., § 50 SGB X [Stand: 25.02.2020], Rn. 126 ff.; Merten in: Hauck/Noftz, SGB, 08/16, § 50 SGB X Rn. 95; Lang in Diering/Timme/Stähler, SGB X, 5. Aufl. 2019, § 50 Rn. 61; Schütze in von Wulffen/Schütze, SGB X, 8. Aufl. 2014, § 50 Rn. 32; ebenso LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 14. Dezember 2018 - L 34 AS 2224/18 B ER -, Rn. 16, juris; LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 27.09.2018 - L 1 AL 88/17 -, in juris). Für einen Vorrang von § 50 Abs. 4 Satz 1 SGB X spricht zum einen, dass es sich nach Systematik, aber auch nach dem Wortlaut, um die speziellere Vorschrift handelt. Zum anderen verbliebe bei einem anderen Verständnis die Regelung in § 50 Abs. 4 SGB X ohne jeden Anwendungsbereich, da ein Erstattungsbescheid im Sinne des § 50 Abs. 4 S. 1 SGB X zugleich auch die Voraussetzung des § 52 Abs. 1 S. 1 SGB X erfüllt und somit die vierjährige Verjährungsfrist nie zur Anwendung käme. Dies beruht nicht auf einem Redaktionsversehen (vgl. im Einzelnen LSG Berlin-Brandenburg, a.a.O., Rn. 17, juris). Vielmehr hat der Gesetzgeber den Behörden über die Verweisung in § 50 Abs. 4 Satz 3 SGB X auf § 52 Abs. 2 SGB X auch für Erstattungsansprüche die Möglichkeit eingeräumt, sich selbständig zu einer längeren Verjährungsfrist zu verhelfen, indem sie einen Verwaltungsakt zur Durchsetzung im Sinne von § 52 Abs. 1 SGB X erlassen.
55 
Diese Einordnung des § 50 Abs. 4 Satz 1 SGB X als spezielle Regelung lässt sich auch sachlich begründen:
56 
Zum einen ist es ein Grundsatz des Sozialrechts, dass Ansprüche eines Leistungsträgers gegen einen Versicherten (oder einen Dritten) in vier Jahren verjähren und dass Verjährungsfristen mit der Entstehung und ggfs. der Fälligkeit des Anspruchs beginnen. Dies gilt z.B. für Beitragsansprüche (§ 25 Abs. 1 Satz 1 SGB IV), aber auch für spezielle Erstattungsansprüche, z.B. bei einer Rentenzahlung nach dem Tode des Rentners gegen die Bank oder einen anderen Empfänger (§ 118 Abs. 4a Satz 1 SGB VI). In diesen Fällen entstehen die genannten Ansprüche aber kraft Gesetzes, also allein durch materiell-rechtliche Umstände. Das Gleiche gilt für ihre Fälligkeit. Diese Ansprüche selbst setzen nicht den Erlass eines Zahlungs- oder Erstattungsbescheids voraus, auch wenn ein solcher für ihre Durchsetzung bzw. Vollstreckung möglich oder vorgeschrieben ist (vgl. § 24 Abs. 2 Satz 1 SGB IV, § 118 Abs. 4 Satz 2 SGB VI) ist. In solchen Fällen ließe sich § 52 Abs. 2 Satz 1 SGB X dahin auslegen, dass bereits ein solcher Zahlungs- oder Erstattungsbescheid die dreißigjährige Verjährungsfrist auslöst, weil er nur noch der „Durchsetzung“ des schon bestehenden Anspruchs dient. Dies ist bei Erstattungsforderungen nach § 50 Abs. 3, Abs. 4 SGB X anders, zumindest in den Fällen des § 50 Abs. 1 SGB X. Sie entstehen auch materiell-rechtlich erst mit der Aufhebung oder Rücknahme des Bewilligungsbescheids mit Wirkung für die Vergangenheit, denn dieser bildet, solange er wirksam ist, einen „Behaltensgrund“ für die bewilligten Leistungen. Wenn, wie üblich und in § 50 Abs. 3 Satz 2 SGB X für den Regelfall vorgeschrieben, die Aufhebung und die Erstattung gleichzeitig festgesetzt werden, entsteht der Erstattungsanspruch daher erst mit seiner Titulierung. In diesen Fällen kann sich § 52 Abs. 1 SGB X nur auf weitere Bescheide beziehen, die nach Erlass des Erstattungsbescheids ergehen.
57 
Zum anderen liegt auch eine inhaltliche Erwägung dafür vor, dass Erstattungsforderungen nach § 50 Abs. 3, Abs. 4 SGB X, wenn keine Bescheide zur Durchsetzung nach § 52 Abs. 1 SGB X ergehen, deutlich schneller verjähren als sonstige titulierte Ansprüche eines Leistungsträgers gegen einen Versicherten. Bereits bei der rückwirkenden Aufhebung oder Zurücknahme einer Leistungsbewilligung besteht ein starker Vertrauensschutz des Empfängers, der sich nicht nur materiell (vgl. § 45 Abs. 2, 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X), sondern auch in engen Fristen für den Leistungsträger äußert (§ 45 Abs. 4 Satz 2, § 48 Abs. 4 SGB X). Es ist nachvollziehbar, dass der Leistungsträger dann auch bei der Durchsetzung des Anspruchs an engere Fristen gebunden ist als üblich, weil längere Untätigkeit - erneut - Vertrauen bei dem Leistungsempfänger begründen kann, er werde nicht mehr in Anspruch genommen.
58 
Ob für Erstattungsansprüche nach § 50 Abs. 2 Satz 1 SGB X etwas Anderes gilt, ist an dieser Stelle nicht zu entscheiden. Auch dort besteht aber ein erhöhter Vertrauensschutz (§ 50 Abs. 2 Satz 2 SGB X), der möglicherweise ebenfalls dazu führt, für einen entsprechenden Erstattungsbescheid eine nur vierjährige Verjährungsfrist anzunehmen.
59 
Ein weiterer Bescheid im Sinne des § 52 Abs. 1 SGB X zur „Durchsetzung“ des Erstattungsanspruchs gegen die Klägerin ist nicht ergangen. Während der gesamten laufenden Verjährungsfrist finden sich in den Akten nur interne Vermerke, wonach eine Vollstreckung beabsichtigt sei, später wurde die Vollstreckung sogar ausdrücklich (allerdings weiterhin intern) zurückgestellt. Die Schreiben an die Klägerin bzw. ihren Bevollmächtigten vom 9. August 2016 und 27. September 2016, aber auch die „Mahnung“ am 9. Dezember 2016, stellten weder nach ihrem äußeren Erscheinungsbild noch nach ihrem Inhalt Verwaltungsakte zur Durchsetzung der Erstattungsforderung dar (vgl. zu derartigen Mahnschreiben LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 26. Juni 2020 - L 8 AL 3185/19 -, Rn. 35, juris, ebenfalls bestätigt durch das Urteil des BSG vom 4. März 2021, a.a.O.). Zur Auslösung der 30-jährigen Verjährungsfrist des § 52 Abs. 2 SGB X wäre z.B. ein Pfändungsbescheid oder ein Aufrechnungsbescheid nötig gewesen, wie er z.B. am 17. April 2008 gegenüber der Mutter der Klägerin, bezogen auf ihre Witwenrente, ergangen ist. Im Falle der Klägerin kommt hinzu, dass die genannten Schreiben und die Mahnung nicht in unverjährter Zeit zugegangen sind. Eine bereits abgelaufene Verjährungsfrist kann aber nicht mehr gehemmt werden, neu beginnen oder durch eine neue, längere Verjährungsfrist ersetzt werden.
60 
Die gleichen Erwägungen betreffen andere Vollstreckungshandlungen der Beklagten, also z.B. ein Pfändungsversuch nach dem VwVG, die nach § 50 Abs. 4 Satz 2 SGB X i.V.m. § 212 BGB zu einer Hemmung hätten führen können. Solche Vollstreckungshandlungen wurden intern erwogen, aber zurückgestellt und am Ende nicht durchgeführt.
61 
bb) Die Verjährungseinrede ist erhoben. Es schadet nicht, dass dies erstmals Ende 2018 geschah, als sich die Klägerin im erstinstanzlichen Verfahren auf „Verwirkung“ bzw. allgemein den langen Zeitablauf seit Titulierung der Erstattungsforderung berief. Die Verjährungseinrede kann sinnvollerweise erst nach Ablauf der Verjährungsfrist erhoben werden. Anhaltspunkte dafür, dass die Erhebung der Einrede wegen eines Verstoßes gegen Treu und Glauben (§ 242 BGB) auf Seiten der Klägerin verwirkt sein könnte, liegen nicht vor. Zu keinem Zeitpunkt hat die Klägerin auf diese Einrede verzichtet oder sonst den Eindruck erweckt, sie werde sich nicht mehr auf sie berufen.
62 
3. Da die Klägerin mit ihrem Hauptantrag Erfolg hat, war über den hilfsweise gestellten Antrag auf Rücknahme des Erstattungsbescheids nicht mehr zu entscheiden, weder stattgebend noch durch Zurückweisung der Berufung. Vielmehr war das Urteil des SG Freiburg, soweit es über den Überprüfungsantrag der Klägerin entschieden hat, für gegenstandslos zu erklären. Der Senat muss sich daher nicht zu der Frage verhalten, ob bei Erlass des Aufhebungs- und Rücknahmebescheids vom 1. April 2008 die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X vorlagen und ob die Beklagte in diesem Rahmen die Minderjährigenhaftungsbeschränkung aus § 1629a BGB hätte beachten müssen (vgl. dazu grundsätzlich BSG, Urteil vom 7. Juli 2011 - B 14 AS 153/10 R -, BSGE 108, 289-299, SozR 4-4200 § 31 Nr. 2, Rn. 41, juris).
63 
4. Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens beruht auf § 193 Abs. 1 SGG. Da - wie ausgeführt - nach Ansicht des Senats die Verjährungseinrede schon Gegenstand des erstinstanzlichen Verfahrens war, kam keine Kostenquote in Betracht.
64 
5. Gründe für eine Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor. Daher war der entsprechende Hilfsantrag der Beklagten abzulehnen. Insbesondere weicht der Senat mit seiner Rechtsprechung nicht von Entscheidungen des BSG ab (§ 160 Abs. 2 Nr. 2 SGG). Hinsichtlich der Verjährungsfrage folgt er vielmehr dem Urteil des BSG vom 4. März 2021. Auch kommt der Verjährungsfrage keine Grundsatzbedeutung zu, es handelt sich um Rechtanwendung im Einzelfall. Ob hinsichtlich der übrigen Rechtsfragen, die im Verfahren erörtert worden sind, insbesondere hinsichtlich der Minderjährigenhaftungsbeschränkung, die Revision zuzulassen wäre, kann offen bleiben. Über diese Punkte hat der Senat nicht entschieden.

Gründe

 
33 
Der Senat entscheidet durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG). Die Einverständnisse der Beteiligten zu diesem Verfahren wirken fort, auch wenn nach ihrer Erteilung noch der Schriftsatz der Klägerin vom 17. Mai 2021 eingegangen ist. Aus diesen Unterlagen ergeben sich keine neuen Umstände, die erörtert werden müssten. Darauf sind die Beteiligten rechtzeitig hingewiesen worden.
34 
1. Die Berufung der Klägerin ist statthaft (§ 143, § 144 Abs. 1 SGG) und auch im Übrigen zulässig.
35 
a) Dabei entscheidet der Senat über alle Anträge der Klägerin im Rahmen ihrer Berufung. Dies gilt auch für den Feststellungsantrag wegen der Verjährung. Zwar hat die Klägerin diesen Antrag ausdrücklich erstmals in der Berufungsinstanz formuliert. Gleichwohl ist er kein neuer Antrag, der unter Umständen den Voraussetzungen einer Klageänderung (§ 99 Abs. 1, Abs. 2 SGG) genügen müsste und über den der Senat nur „auf Klage“ entscheiden könnte (vgl. dazu BSG, Beschluss vom 18. Februar 2021 - B 8 SO 63/20 B -, Rn. 7, juris; vgl. zu der dann folgenden Frage der Zulässigkeit der geänderten Klage, insbesondere der instanziellen Zuständigkeit eines LSG für neue Klageanträge: Schreiber in: Fichte/Jüttner, SGG, 3. Aufl. 2020, § 29 SGG, Rn. 7).
36 
aa) Der Senat legt die Prozesserklärungen der Klägerin vor dem SG dahin aus, dass sie bereits in erster Instanz konkludent die Verjährungseinrede erhoben und Antrag auf Feststellung der Verjährung gestellt hat.
37 
Ausdrücklich hatte die Klägerin dort zwar - nur - die Überprüfung und die Zurücknahme des Bescheids vom 1. April 2008 nach § 44 Abs. 1 SGB X begehrt. Insoweit hat sie sich in der Sache auf eine anfängliche Rechtswidrigkeit dieses Bescheids wegen Verstößen gegen das DPSVA, das FRG und gegen Europarecht, evtl. auch gegen § 1629a BGB, berufen. Daneben hat sie aber, schon in ihrer Klagebegründung vom 30. August 2018 (S. 6), auch „Verwirkung“ der Erstattungsforderung eingewandt. Zur Begründung dafür hat sie sich auf Umstände berufen, die nach Erlass des Erstattungsbescheids entstanden waren, insbesondere darauf, dass die Beklagte die festgesetzte Erstattungsforderung „so viele Jahre“ lang nicht geltend gemacht habe, obwohl die Möglichkeit der Vollstreckung bestanden habe.
38 
Mit diesem Vortrag hat die Klägerin - bei sachgerechter Auslegung - in der Sache auch Verjährung (§§ 194, 214 Abs. 1 BGB) eingewandt. An die Geltendmachung der Verjährung sind keine überzogenen Anforderungen zu stellen. Insbesondere muss der Schuldner nicht ausdrücklich das Wort „Verjährung“ benutzen. Zu fordern ist nur, dass er deutlich macht, dass die Verweigerung der Leistung auf dem Zeitablauf beruht, damit sich der Gläubiger gegen diesen Einwand adäquat verteidigen kann (Lakkis in: Herberger/Martinek/Rüßmann/Weth/Würdinger, jurisPK-BGB, 9. Aufl., § 214 BGB [Stand: 1. Mai 2020], Rn. 8). In jedem Fall reicht es für die Geltendmachung (auch) einer Verjährung aus, wenn sich der Schuldner auf lange Untätigkeit und „Verwirkung“ eines Anspruchs beruft (BGH, Urteil vom 3. April 1996 - XII ZR 86/95 -, Rn. 12, juris). Dies beruht auch darauf, dass eine Verjährung weniger strenge Voraussetzungen hat als eine Verwirkung nach § 242 BGB, insbesondere kein Umstandsmoment verlangt (vgl. auch BSG, Urteil vom 1. Juli 2010 - B 13 R 67/09 R -, SozR 4-2400 § 24 Nr 5, Rn. 33, juris).
39 
Auch prozessrechtlich war dieses Vorbringen der Klägerin dahin auszulegen, dass ein Antrag auf Feststellung der Verjährung (oder ggfs. der Verwirkung) der Erstattungsforderung gestellt werden sollte. Nach § 123 SGG entscheidet das Gericht über die erhobenen Ansprüche, ohne an die Fassung der Anträge gebunden zu sein. Klageanträge sind daher nach dem Meistbegünstigungsprinzip unabhängig vom Wortlaut unter Berücksichtigung des wirklichen Willens und der Auslegungsregel des § 133 BGB so auszulegen, dass das klägerische Begehren möglichst weitgehend zum Tragen kommt. Auszugehen ist von dem Antrag, den ein Kläger nach seinem Vorbringen, ggfs. bei entsprechender Beratung durch das Gericht (§ 112 Abs. 2 Satz 2 SGG), stellen würde, wenn keine Gründe für ein anderes Verhalten vorliegen. Dabei muss das erkennbare gesamte Vorbringen einschließlich der Verwaltungsvorgänge herangezogen werden (BSG, Urteil vom 6. April 2011 - B 4 AS 119/10 R -, Rn. 29, juris). Nach diesen Maßstäben konnte der Vortrag der Klägerin zu der langjährigen Untätigkeit der Beklagten prozessual nur als Feststellungsantrag aufgefasst werden, weil dies der einzige sachgerechte Antrag war. Das Vorbringen konnte sich nicht auf die Rücknahme des Erstattungsbescheids beziehen, weil ein Bescheid nicht im Sinne von § 44 Abs. 1 SGB X von Anfang an rechtswidrig ist und auch nicht mit Rückwirkung ex tunc (vgl. zu einer solchen nachträglichen Rechtswidrigkeit von Anfang an: LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 7. November 2017 - L 11 KR 763/17 -, Rn. 23, juris) rechtswidrig wird, wenn die Erstattungsansprüche, die er festsetzt, später verjähren oder verwirkt werden (LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 27. September 2018 - L 1 AL 88/17 -, Rn. 22, juris). Diesen Punkt hat das SG auch gesehen, indem es (S. 9 Urteil) ausgeführt hat, dass solche späteren Veränderungen die Rechtmäßigkeit des ursprünglichen Bescheids nicht berührten. Es lag daher auf der Hand, dass das Vorbringen der Klägerin zu diesem Punkt einen Feststellungsantrag darstellte.
40 
bb) Der Senat lässt an dieser Stelle offen, ob das SG zumindest konkludent auch über den Antrag auf Feststellung der Verjährung (bzw. der Verwirkung) entschieden hat und die Klägerin insoweit beschwert ist.
41 
Dem klagabweisenden Tenor des Urteils vom 22. Juli 2020 lassen sich dazu keine Erkenntnisse entnehmen. Allerdings hat sich das SG in den Entscheidungsgründe, aus denen sich die Reichweite der Entscheidung ergibt, mit dem Verwirkungseinwand beschäftigt (S. 9) und dabei ausdrücklich auf die Verjährungsfrage hingewiesen. Jedoch sind seine Ausführungen, die Klägerin könne „sich hier nicht (darauf) berufen“, nicht eindeutig. Möglicherweise bezog sich dieser Punkt nur darauf, dass Verjährung und Verwirkung für die Rechtmäßigkeit des Erstattungsbescheids unerheblich seien. Eventuell wollte das SG aber auch über diese Punkte entscheiden. Darauf deutet der Hinweis hin, die Klägerin sei durch die Verjährung ausreichend geschützt.
42 
Sofern das SG konkludent einen Feststellungsantrag wegen der Verjährung abgelehnt hat, ist dieser ohne Weiteres zulässiger Gegenstand des Berufungsverfahrens.
43 
Wenn dies nicht der Fall ist, so kann der Senat diesen „Prozessrest“ in das Berufungsverfahren übernehmen. Ein solches „Heraufholen“ ist möglich, wenn das Erstgericht - aus der Sicht des Berufungsgerichts - über einen geltend gemachten Anspruch versehentlich nicht entschieden hat (BSG, Urteil vom 21. Juli 2009 - B 7 AL 49/07 R -, BSGE 104, 76-83, SozR 4-4300 § 22 Nr 2, Rn. 19, juris; Schmidt, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl. 2020, § 99 Rn. 12). Hierzu sind grundsätzlich die Zustimmungen aller Beteiligter notwendig (BSG, Beschluss vom 18. September 2019 - B 14 AS 317/18 B -, Rn. 6, juris). Diese Zustimmung kann aber auch konkludent erfolgen (BSG, Urteil vom 7. November 2006 - B 7b AS 8/06 R -, BSGE 97, 217-230, SozR 4-4200 § 22 Nr 1, Rn. 27). Zum Teil wird auch verlangt, dass die Voraussetzungen einer Klageänderung vorliegen, wenn die beschwerte Partei im Berufungsverfahren (erneut) Prozessreste aus der ersten Instanz geltend macht (vgl. zu den Nachweisen Schmidt, a.a.O.). Diese Voraussetzungen liegen hier aber vor. Die Beklagte hat bereits in dem Erörterungstermin am 12. April 2021 - nur - Zurückweisung der Berufung beantragt, sich also rügelos auf den Feststellungsantrag der Klägerin aus dem Schriftsatz vom 12. März 2021 eingelassen (vgl. auch § 99 Abs. 2 SGG). Darin ist auch eine Zustimmung zu sehen, in der Sache über die Verjährungsfrage zu entscheiden. Der Senat hat die Beteiligten mit Schreiben vom 19. Mai 2021 darüber unterrichtet, wie er die beiderseitigen Prozesserklärungen versteht.
44 
b) Die übrigen Voraussetzungen einer zulässigen Berufung liegen vor. Insbesondere hat die Klägerin ihre Berufung form- und fristgerecht (§ 151 Abs. 1 SGG) erhoben.
45 
2. Die Berufung ist auch mit dem Hauptantrag begründet. Es war festzustellen, dass die Erstattungsforderung der Beklagten aus dem Bescheid vom 1. April 2008 verjährt ist. Der entsprechende Klageantrag ist zulässig und begründet.
46 
a) Die Feststellungsklage der Klägerin ist nach § 55 Abs. 1 Halbsatz 1 Nr. 1 SGG statthaft und auch im Übrigen zulässig.
47 
Das BSG hat bereits mit seinem Urteil vom 9. Februar 1995 (7 RAr 78/93, SozR 3-4427 § 5 Nr 1, SozR 3-1500 § 55 Nr 21, Rn. 26, juris) entschieden, dass ein feststellungsfähiges Rechtsverhältnis im Sinne dieser Norm auch dann besteht, wenn der Schuldner eines (ggfs. bestandskräftig) festgesetzten Erstattungsanspruchs einwendet, der Anspruch sei wegen Verjährung nicht mehr durchsetzbar, also nicht mehr verrechnungsfähig bzw. vollstreckbar. In diesen Fällen erreicht er sein Ziel schon mit der bloßen Feststellung des Verjährungseintritts (BSG, a.a.O., Rn. 27). Er muss nicht die Feststellung begehren, die verjährte Forderung sei erloschen oder sie sei - nur - dauerhaft nicht mehr durchsetzbar (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 26. Juni 2020 - L 8 AL 3185/19 -, Rn. 38, juris, unter Hinweis auf die abweichenden Regelungen in §§ 228, 232 AO). Diese Rechtsprechung hat das BSG in seinem - noch nicht im Volltext veröffentlichten - Urteil vom 4. März 2021 bestätigt (B 11 AL 5/20 R, Terminbericht des BSG Nr. 7/21, Nr. 2, juris). Diese Feststellung muss nicht mit einer Anfechtungsklage nach § 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG verbunden werden (so auch LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 27. September 2018 - L 1 AL 88/17 -, Rn. 20, juris). Zwar ist in Über- und Unterordnungsverhältnissen zwischen Leistungsträger und Bürger auch im Streit über eine bloße Feststellung zu fordern, dass ein Verwaltungsakt zum strittigen Rechtsverhältnis ergangen ist, ggfs. mit einer negativen Feststellung. Hiervon besteht jedoch eine Ausnahme, wenn der Leistungsträger konkreten Anlass zur Erhebung der konkreten Feststellungsklage gegeben (BSG, Urteil vom 22. Mai 1985 - 12 RK 30/84 -, BSGE 58, 150-154, SozR 1500 § 55 Nr. 27, Rn. 8, juris; Urteil vom 9. Februar 1995 - 7 RAr 78/93 -, SozR 3-4427 § 5 Nr 1, SozR 3-1500 § 55 Nr 21, Rn. 30, juris). So ist es hier. Die Beklagte hat in ihren Schreiben an die Klägerin und ihren Bevollmächtigten vom 9. August, vom 27. September 2016 und vor allem in der Mahnung vom 9. Dezember 2016 deutlich gemacht, dass sie trotz des Zeitablaufs seit der Titulierung der Erstattungsforderung (nunmehr) eine Zwangsvollstreckung beabsichtige. An dieser Ansicht hat sie auch im laufenden gerichtlichen Verfahren festgehalten, nachdem die Klägerin - ausdrücklich zunächst Verwirkung, aber in der Sache auch - Verjährung eingewandt hatte.
48 
Das Feststellungsinteresse des Klägers scheitert nicht an dem Nachrang der Feststellungsklage gegenüber Gestaltungs- und Leistungsklagen bzw. ihren Sonderformen, nämlich den Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen. Hiernach kann die Klägerin zunächst nicht darauf verwiesen werden, sich im Vollstreckungsverfahren zur Wehr zu setzen, ggfs. durch eine Vollstreckungsgegenklage analog § 767 Abs. 2 ZPO, die ebenfalls eine Gestaltungsklage wäre. Nach ganz überwiegender Ansicht ist diese Klageart im sozialgerichtlichen Verfahren nicht statthaft, soweit ein bundesunmittelbarer Sozialleistungsträger nach den bundesrechtlichen Vollstreckungsvorschriften (§ 5 Abs. 1 VwVfG i.V.m. §§ 249 ff. AO) vollstreckt (LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 5. November 2020 - L 14 AL 4/20 -, Rn. 53 f. juris, unter Verweis auf BSG, Urteil vom 25. Juni 2015 - B 14 AS 38/14 R -, BSGE 119, 170-180, SozR 4-1300 § 63 Nr 23, Rn. 13, juris). Ebenso besteht hier kein Vorrang der Verpflichtungsklage. Der Subsidiaritätsgrundsatz greift nur ein, wenn im Rahmen der anderen Klagearten über jene Sach- und Rechtsfrage zu entscheiden ist, die der begehrten Feststellung zugrunde liegt. Eine solche Fallgestaltung ist im anhängigen Verfahren nicht gegeben (vgl. zu einer ähnlichen Konstellation BSG, Urteil vom 9. Februar 1995, a.a.O., Rn. 34 f.). Mit ihrem nunmehrigen Hilfsantrag begehrt die Klägerin die Zurücknahme des Bescheids vom 1. April 2008. Auf dieser Ebene aber kann sie - wie schon zur Auslegung ihrer Anträge in erster Instanz ausgeführt - mit dem Verjährungseinwand keinen Erfolg haben.
49 
b) Die Erstattungsforderung der Beklagten aus dem bestandskräftigen Bescheid vom 1. April 2008 ist verjährt.
50 
aa) Die Verjährungsfrist lief am 31. Dezember 2015 ab.
51 
Erstattungsforderungen nach § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB X verjähren nach § 50 Abs. 4 Satz 1 SGB X binnen vier Jahren, beginnend mit Ablauf des Jahres, in dem der Bescheid, der sie feststellt, bestandskräftig (§ 77 SGG) wird (vgl. im Einzelnen LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 26. Juni 2020 - L 8 AL 3185/19 -, Rn. 31, juris, bestätigt durch das Urteil des BSG vom 4. März 2021, a.a.O.). Offenkundig bezieht sich § 50 Abs. 4 Satz 1 SGB X auf solche Erstattungen, die nach § 50 Abs. 3 Satz 1 SGB X durch Verwaltungsakt festgesetzt werden. Hierbei handelt es sich zumindest um Erstattungsforderungen nach § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB X, die aus der (rückwirkenden) Aufhebung oder Rücknahme eines Leistungsbescheids folgen. Um einen solche Forderung handelt es sich hier: die Klägerin war nach der rückwirkenden Aufhebung der Waisenrentenbewilligung (§ 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X) verpflichtet, die erhaltenen Rentenzahlbeträge zurückzuzahlen.
52 
Die Verjährung begann am 1. Januar 2012. Dieser Tag war der Beginn des Kalenderjahrs nach dem Jahr, in dem der Erstattungsbescheid bestandskräftig geworden war. Die Klägerin hatte den Bescheid vom 1. April 2008 mit Widerspruch und Klage angefochten. Dadurch wurde die Bestandskraft aufgeschoben. Diese trat erst Anfang 2011 ein, als das SG Dortmund die Klage abwies und die Klägerin keine Rechtsmittel einlegte.
53 
Die Verjährungsfrist wurde nicht nach § 52 Abs. 2 SGB X auf dreißig Jahre verlängert.
54 
Der Senat schließt sich bei der rechtlichen Abgrenzung der Verjährungsfristen aus § 50 Abs. 4 Satz 1 SGB X und § 52 Abs. 2 SGB X den Ausführungen des 8. Senats des LSG Baden-Württemberg in seinem Urteil vom 26. Juni 2020 (L 8 AL 3185/19 -, Rn. 32, juris) an, die das BSG in dem genannten Urteil vom 4. März 2021 bestätigt hat. Danach ist von einem Vorrang der Verjährungsregelung in § 50 Abs. 4 SGB X auszugehen. Diese Norm trifft eine Sonderregelung für die Feststellung des Erstattungsanspruchs durch Verwaltungsakt. Erst wenn zusätzliche Verwaltungsakte zur Durchsetzung des Anspruchs ergehen, unterfallen diese aufgrund der Verweisung in § 50 Abs. 4 Satz 3 SGB X der 30-jährigen Verjährungsfrist in § 52 Abs. 2 SGB X (so auch Baumeister in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Aufl., § 50 SGB X [Stand: 25.02.2020], Rn. 126 ff.; Merten in: Hauck/Noftz, SGB, 08/16, § 50 SGB X Rn. 95; Lang in Diering/Timme/Stähler, SGB X, 5. Aufl. 2019, § 50 Rn. 61; Schütze in von Wulffen/Schütze, SGB X, 8. Aufl. 2014, § 50 Rn. 32; ebenso LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 14. Dezember 2018 - L 34 AS 2224/18 B ER -, Rn. 16, juris; LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 27.09.2018 - L 1 AL 88/17 -, in juris). Für einen Vorrang von § 50 Abs. 4 Satz 1 SGB X spricht zum einen, dass es sich nach Systematik, aber auch nach dem Wortlaut, um die speziellere Vorschrift handelt. Zum anderen verbliebe bei einem anderen Verständnis die Regelung in § 50 Abs. 4 SGB X ohne jeden Anwendungsbereich, da ein Erstattungsbescheid im Sinne des § 50 Abs. 4 S. 1 SGB X zugleich auch die Voraussetzung des § 52 Abs. 1 S. 1 SGB X erfüllt und somit die vierjährige Verjährungsfrist nie zur Anwendung käme. Dies beruht nicht auf einem Redaktionsversehen (vgl. im Einzelnen LSG Berlin-Brandenburg, a.a.O., Rn. 17, juris). Vielmehr hat der Gesetzgeber den Behörden über die Verweisung in § 50 Abs. 4 Satz 3 SGB X auf § 52 Abs. 2 SGB X auch für Erstattungsansprüche die Möglichkeit eingeräumt, sich selbständig zu einer längeren Verjährungsfrist zu verhelfen, indem sie einen Verwaltungsakt zur Durchsetzung im Sinne von § 52 Abs. 1 SGB X erlassen.
55 
Diese Einordnung des § 50 Abs. 4 Satz 1 SGB X als spezielle Regelung lässt sich auch sachlich begründen:
56 
Zum einen ist es ein Grundsatz des Sozialrechts, dass Ansprüche eines Leistungsträgers gegen einen Versicherten (oder einen Dritten) in vier Jahren verjähren und dass Verjährungsfristen mit der Entstehung und ggfs. der Fälligkeit des Anspruchs beginnen. Dies gilt z.B. für Beitragsansprüche (§ 25 Abs. 1 Satz 1 SGB IV), aber auch für spezielle Erstattungsansprüche, z.B. bei einer Rentenzahlung nach dem Tode des Rentners gegen die Bank oder einen anderen Empfänger (§ 118 Abs. 4a Satz 1 SGB VI). In diesen Fällen entstehen die genannten Ansprüche aber kraft Gesetzes, also allein durch materiell-rechtliche Umstände. Das Gleiche gilt für ihre Fälligkeit. Diese Ansprüche selbst setzen nicht den Erlass eines Zahlungs- oder Erstattungsbescheids voraus, auch wenn ein solcher für ihre Durchsetzung bzw. Vollstreckung möglich oder vorgeschrieben ist (vgl. § 24 Abs. 2 Satz 1 SGB IV, § 118 Abs. 4 Satz 2 SGB VI) ist. In solchen Fällen ließe sich § 52 Abs. 2 Satz 1 SGB X dahin auslegen, dass bereits ein solcher Zahlungs- oder Erstattungsbescheid die dreißigjährige Verjährungsfrist auslöst, weil er nur noch der „Durchsetzung“ des schon bestehenden Anspruchs dient. Dies ist bei Erstattungsforderungen nach § 50 Abs. 3, Abs. 4 SGB X anders, zumindest in den Fällen des § 50 Abs. 1 SGB X. Sie entstehen auch materiell-rechtlich erst mit der Aufhebung oder Rücknahme des Bewilligungsbescheids mit Wirkung für die Vergangenheit, denn dieser bildet, solange er wirksam ist, einen „Behaltensgrund“ für die bewilligten Leistungen. Wenn, wie üblich und in § 50 Abs. 3 Satz 2 SGB X für den Regelfall vorgeschrieben, die Aufhebung und die Erstattung gleichzeitig festgesetzt werden, entsteht der Erstattungsanspruch daher erst mit seiner Titulierung. In diesen Fällen kann sich § 52 Abs. 1 SGB X nur auf weitere Bescheide beziehen, die nach Erlass des Erstattungsbescheids ergehen.
57 
Zum anderen liegt auch eine inhaltliche Erwägung dafür vor, dass Erstattungsforderungen nach § 50 Abs. 3, Abs. 4 SGB X, wenn keine Bescheide zur Durchsetzung nach § 52 Abs. 1 SGB X ergehen, deutlich schneller verjähren als sonstige titulierte Ansprüche eines Leistungsträgers gegen einen Versicherten. Bereits bei der rückwirkenden Aufhebung oder Zurücknahme einer Leistungsbewilligung besteht ein starker Vertrauensschutz des Empfängers, der sich nicht nur materiell (vgl. § 45 Abs. 2, 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X), sondern auch in engen Fristen für den Leistungsträger äußert (§ 45 Abs. 4 Satz 2, § 48 Abs. 4 SGB X). Es ist nachvollziehbar, dass der Leistungsträger dann auch bei der Durchsetzung des Anspruchs an engere Fristen gebunden ist als üblich, weil längere Untätigkeit - erneut - Vertrauen bei dem Leistungsempfänger begründen kann, er werde nicht mehr in Anspruch genommen.
58 
Ob für Erstattungsansprüche nach § 50 Abs. 2 Satz 1 SGB X etwas Anderes gilt, ist an dieser Stelle nicht zu entscheiden. Auch dort besteht aber ein erhöhter Vertrauensschutz (§ 50 Abs. 2 Satz 2 SGB X), der möglicherweise ebenfalls dazu führt, für einen entsprechenden Erstattungsbescheid eine nur vierjährige Verjährungsfrist anzunehmen.
59 
Ein weiterer Bescheid im Sinne des § 52 Abs. 1 SGB X zur „Durchsetzung“ des Erstattungsanspruchs gegen die Klägerin ist nicht ergangen. Während der gesamten laufenden Verjährungsfrist finden sich in den Akten nur interne Vermerke, wonach eine Vollstreckung beabsichtigt sei, später wurde die Vollstreckung sogar ausdrücklich (allerdings weiterhin intern) zurückgestellt. Die Schreiben an die Klägerin bzw. ihren Bevollmächtigten vom 9. August 2016 und 27. September 2016, aber auch die „Mahnung“ am 9. Dezember 2016, stellten weder nach ihrem äußeren Erscheinungsbild noch nach ihrem Inhalt Verwaltungsakte zur Durchsetzung der Erstattungsforderung dar (vgl. zu derartigen Mahnschreiben LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 26. Juni 2020 - L 8 AL 3185/19 -, Rn. 35, juris, ebenfalls bestätigt durch das Urteil des BSG vom 4. März 2021, a.a.O.). Zur Auslösung der 30-jährigen Verjährungsfrist des § 52 Abs. 2 SGB X wäre z.B. ein Pfändungsbescheid oder ein Aufrechnungsbescheid nötig gewesen, wie er z.B. am 17. April 2008 gegenüber der Mutter der Klägerin, bezogen auf ihre Witwenrente, ergangen ist. Im Falle der Klägerin kommt hinzu, dass die genannten Schreiben und die Mahnung nicht in unverjährter Zeit zugegangen sind. Eine bereits abgelaufene Verjährungsfrist kann aber nicht mehr gehemmt werden, neu beginnen oder durch eine neue, längere Verjährungsfrist ersetzt werden.
60 
Die gleichen Erwägungen betreffen andere Vollstreckungshandlungen der Beklagten, also z.B. ein Pfändungsversuch nach dem VwVG, die nach § 50 Abs. 4 Satz 2 SGB X i.V.m. § 212 BGB zu einer Hemmung hätten führen können. Solche Vollstreckungshandlungen wurden intern erwogen, aber zurückgestellt und am Ende nicht durchgeführt.
61 
bb) Die Verjährungseinrede ist erhoben. Es schadet nicht, dass dies erstmals Ende 2018 geschah, als sich die Klägerin im erstinstanzlichen Verfahren auf „Verwirkung“ bzw. allgemein den langen Zeitablauf seit Titulierung der Erstattungsforderung berief. Die Verjährungseinrede kann sinnvollerweise erst nach Ablauf der Verjährungsfrist erhoben werden. Anhaltspunkte dafür, dass die Erhebung der Einrede wegen eines Verstoßes gegen Treu und Glauben (§ 242 BGB) auf Seiten der Klägerin verwirkt sein könnte, liegen nicht vor. Zu keinem Zeitpunkt hat die Klägerin auf diese Einrede verzichtet oder sonst den Eindruck erweckt, sie werde sich nicht mehr auf sie berufen.
62 
3. Da die Klägerin mit ihrem Hauptantrag Erfolg hat, war über den hilfsweise gestellten Antrag auf Rücknahme des Erstattungsbescheids nicht mehr zu entscheiden, weder stattgebend noch durch Zurückweisung der Berufung. Vielmehr war das Urteil des SG Freiburg, soweit es über den Überprüfungsantrag der Klägerin entschieden hat, für gegenstandslos zu erklären. Der Senat muss sich daher nicht zu der Frage verhalten, ob bei Erlass des Aufhebungs- und Rücknahmebescheids vom 1. April 2008 die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X vorlagen und ob die Beklagte in diesem Rahmen die Minderjährigenhaftungsbeschränkung aus § 1629a BGB hätte beachten müssen (vgl. dazu grundsätzlich BSG, Urteil vom 7. Juli 2011 - B 14 AS 153/10 R -, BSGE 108, 289-299, SozR 4-4200 § 31 Nr. 2, Rn. 41, juris).
63 
4. Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens beruht auf § 193 Abs. 1 SGG. Da - wie ausgeführt - nach Ansicht des Senats die Verjährungseinrede schon Gegenstand des erstinstanzlichen Verfahrens war, kam keine Kostenquote in Betracht.
64 
5. Gründe für eine Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor. Daher war der entsprechende Hilfsantrag der Beklagten abzulehnen. Insbesondere weicht der Senat mit seiner Rechtsprechung nicht von Entscheidungen des BSG ab (§ 160 Abs. 2 Nr. 2 SGG). Hinsichtlich der Verjährungsfrage folgt er vielmehr dem Urteil des BSG vom 4. März 2021. Auch kommt der Verjährungsfrage keine Grundsatzbedeutung zu, es handelt sich um Rechtanwendung im Einzelfall. Ob hinsichtlich der übrigen Rechtsfragen, die im Verfahren erörtert worden sind, insbesondere hinsichtlich der Minderjährigenhaftungsbeschränkung, die Revision zuzulassen wäre, kann offen bleiben. Über diese Punkte hat der Senat nicht entschieden.

Verwandte Urteile

Keine verwandten Inhalte vorhanden.

Referenzen