Urteil vom Oberlandesgericht Stuttgart - 5 U 85/11

Tenor

1. Auf die Berufung der Beklagten wird der Rechtsstreit unter Aufhebung des Urteils des Landgerichts Heilbronn vom 26.04.2011 (Az. 3 O 104/10 I) zur erneuten Verhandlung und Entscheidung über den Einspruch der Beklagten gegen das Versäumnisurteil vom 02.11.2010 - auch über die Kosten des Berufungsverfahrens - an das Landgericht Heilbronn zurückverwiesen.

2. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

3. Die Revision wird zugelassen.

Streitwert des Berufungsverfahrens: 15.875,61 Euro.

Gründe

 
I.
Der Kläger verlangt von der Beklagten Schadensersatz in Höhe von 15.875,61 Euro zuzüglich Zinsen.
Der Kläger hat vorgetragen, er habe am 18.10.1999 in G... (Ortsname) einen Betrag von 31.050,00 DM bei der Beklagten angelegt. Im Rahmen des Anlagegesprächs habe A... der als Vertriebsmitarbeiter der Beklagten aufgetreten sei, ihm u. a. versprochen, er könne seine Anlage jederzeit - auch telefonisch - zurückfordern. Der Betrag werde spätestens nach drei Monaten zurückbezahlt. Auf ein Totalverlustrisiko sei er nicht hingewiesen worden. Vielmehr habe A... ihm versprochen, der angelegte Grundbetrag sei zu 100 % abgesichert. Ihm sei die Bezahlung seiner Anlage zunächst am 18.10.1999 quittiert worden. Später habe er die Quittung gegen Übergabe einer Beteiligungsübersicht (Anlage K 1) wieder zurückgeben müssen. Tatsächlicher Inhalt des Anlagegeschäfts sei - entgegen seiner Vorstellung - weder ein Darlehen noch eine Anleihe gewesen. Statt dessen habe er vinkulierte Namensaktien an einer nicht börsennotierten Gesellschaft erworben, die die Beklagte nach türkischem - und deutschem - Aktienrecht gar nicht zurückkaufen dürfe und für die von Anfang an auch kein offener Markt bestanden habe. Auf sein Rückzahlungsverlangen habe die Beklagte nicht reagiert.
Mit Verfügung vom 12.07.2010 ordnete der Vorsitzende der 3. Zivilkammer des Landgerichts Heilbronn als Einzelrichter das schriftliche Vorverfahren an. Er forderte die Beklagte auf, ihre Verteidigungsbereitschaft binnen vier Wochen ab Zustellung anzuzeigen und binnen weiterer vier Wochen zur Klage Stellung zu nehmen. Der Einzelrichter ordnete zudem an, dass die Beklagte - falls sie keinen Prozessbevollmächtigten bestelle - binnen vier Wochen ab Zustellung einen Zustellungsbevollmächtigten im Inland zu bestellen habe, der im Inland wohnt oder dort einen Geschäftsraum hat. Er wies die Beklagte gemäß § 184 Abs. 1 Satz 2 ZPO darauf hin, dass Zustellungen andernfalls künftig dadurch bewirkt werden können, dass das Schriftstück unter der Anschrift der Partei zur Post gegeben wird.
Die Klageschrift vom 08.04.2010 und die Verfügung vom 12.07.2010 wurden der Beklagten im Wege der Rechtshilfe gemäß § 183 ZPO am 17.09.2010 zugestellt.
Nachdem die Beklagte binnen der Frist von vier Wochen weder ihre Verteidigungsbereitschaft anzeigte noch einen Zustellungsbevollmächtigten im Inland benannte, erließ der Einzelrichter antragsgemäß aufgrund der Sach- und Rechtslage vom 02.11.2010 ein Versäumnisurteil gegen die Beklagte, das am 04.11.2010 auf der Geschäftsstelle einging. Die Einspruchsfrist wurde dabei auf vier Wochen festgesetzt. Eine beglaubigte Abschrift dieses Versäumnisurteils wurde dem Kläger am 24.11.2011 gegen Empfangsbekenntnis seiner Rechtsanwälte zugestellt. Eine weitere beglaubigte Abschrift wurde am 22.11.2010 zur Post gegeben, um sie der Beklagten gemäß § 184 ZPO zuzustellen.
Auf Antrag des Klägers vom 14.12.2010, der Beklagten das Versäumnisurteil auch nach § 183 ZPO zuzustellen, wurde die Zustellung einer weiteren beglaubigten Abschrift im Wege der Rechtshilfe bewirkt, die am 18.02.2011 erfolgt ist.
Mit am 18.03.2011 eingegangenem Schriftsatz haben sich die Prozessbevollmächtigten der Beklagten legitimiert, Einspruch gegen das Versäumnisurteil eingelegt und auf die Klage erwidert.
Die Beklagte hat die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte gerügt und die Einrede der Verjährung erhoben. Sie hat die die Aktivlegitimation des Klägers bestritten, denn es handle sich um Inhaberaktien, die der Kläger nicht vorgelegt habe.
Darüber hinaus hat die Beklagte vorgetragen, A... sei nicht ihr Mitarbeiter gewesen, sondern ein selbstständiger Vermittler. Seine behaupteten Äußerungen hat die Beklagte mit Nichtwissen bestritten. Zum Zeitpunkt der Anlageentscheidung des Klägers habe es sich bei ihr, der Beklagten, um ein gesundes Unternehmen gehandelt; die Einlage des Klägers sei keinem besonderen Risiko ausgesetzt gewesen. Ein Hinweis auf ein Verlustrisiko sei daher rechtlich nicht geboten gewesen. Ohnehin habe der Kläger gewusst, dass er Aktien erwerbe und es auch zu Verlusten kommen könne. Es habe keine allgemeine Zusicherung gegeben, dass das Kapital jederzeit zurückgefordert werden könne. Lediglich in dringenden Einzelfällen hätten ihre Tochtergesellschaften Aktien zurückgekauft. Die Forderung des Klägers sei jedenfalls um die Rendite zu reduzieren, die er mit der Anlage erzielt habe.
10 
Der Einzelrichter wies mit Verfügung vom 29.03.2011, der Beklagten zugestellt am 31.03.2011, darauf hin, dass die Einspruchsfrist abgelaufen und der Einspruch daher unzulässig sei. Die Beklagte hielt ihren Einspruch mit Schriftsatz vom 21.04.2011 aufrecht und beantragte hilfsweise Wiedereinsetzung in die Einspruchsfrist. Nur eine Zustellung im Wege der Rechtshilfe könne die Einspruchsfrist in Gang setzen.
11 
Aufgrund der Sach- und Rechtslage vom 26.04.2011 hat der Einzelrichter ein weiteres Urteil erlassen, mit dem er sowohl den Einspruch als auch den Wiedereinsetzungsantrag der Beklagten als unzulässig verworfen hat. Das Versäumnisurteil vom 02.11.2011 sei der Beklagten am 07.12.2010 gemäß § 184 ZPO zugestellt und der Einspruch daher verspätet eingelegt worden. Die erneute Zustellung im Wege der Rechtshilfe habe die Einspruchsfrist nicht erneut in Gang gesetzt. Auch der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sei unzulässig, da die Beklagte durch die am 31.03.2011 erfolgte Zustellung der Verfügung vom 29.03.2011 Kenntnis von der Fristversäumung erlangt habe und die 14-tägige Wiedereinsetzungsfrist am 14.04.2011 abgelaufen sei. Dieses Urteil ist am 02.05.2011 auf der Geschäftsstelle eingegangen; es ist dem Kläger am 09.05.2011 und der Beklagten am 06.05.2011 gegen Empfangsbekenntnis der Rechtsanwälte zugestellt worden.
12 
Die Beklagte hat gegen das Urteil am 06.06.2011 Berufung eingelegt und die Berufung zugleich begründet.
13 
Die Beklagte rügt, das Versäumnisurteil vom 02.11.2010 - und auch das Urteil vom 26.04.2011 - seien jeweils nur als beglaubigte Abschriften zugestellt worden; erforderlich sei aber die Zustellung einer Ausfertigung. Die Einspruchsfrist sei daher nicht ausgelöst worden. Die Zustellung auf Basis des - verfassungswidrigen bzw. „zumindest sehr bedenklichen“ - § 184 ZPO verstoße im Übrigen gegen vorrangige internationale Abkommen. Nur die Anwendung des Haager Zustellungsübereinkommens und eine förmliche Zustellung könne gewährleisten, dass die Beklagte den Schutz des (strengeren) türkischen Zustellungsrecht genieße, was auch ganz im Sinne des Art. 6 EMRK liege. Der Kläger habe missbräuchlich erst eine vereinfachte Zustellung und später eine förmliche Zustellung veranlasst, um der Beklagten zuerst inhaltliche Einwendungen abzuschneiden und danach eine den türkischen Anforderungen genügende Zustellung zu erwirken. Zudem habe es an den besonderen Gründen gefehlt, die für eine Anordnung nach § 184 ZPO erforderlich seien. Schließlich sei nur die Kammer als Gericht im Sinne des § 184 Abs. 1 Satz 1 ZPO befugt gewesen, die Anordnung auszusprechen, nicht aber der Einzelrichter.
14 
Die Beklagte beantragt,
15 
die Urteile vom 26.04.2011 und 02.11.2010 aufzuheben und die Klage abzuweisen, hilfsweise das Verfahren zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht Heilbronn zurückzuverweisen.
16 
Der Kläger beantragt,
17 
die Berufung zurückzuweisen.
18 
Der Kläger verteidigt das Urteil des Landgerichts als richtig. Die Zustellung gemäß § 184 BGB sei wirksam und habe die Einspruchsfrist in Gang gesetzt. Die nachfolgende förmliche Zustellung habe allein für die Anerkennung des deutschen Urteils in der Türkei Relevanz.
19 
Der Senat hat durch Beschluss vom 27.07.2011 darauf hingewiesen, dass er beabsichtige, die Berufung durch einstimmigen Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurück zu weisen, und Gelegenheit zur Stellungnahme bis 15.08.2011 gewährt. Zu Begründung hat der Senat ausgeführt, das Versäumnisurteil vom 02.11.2010 sei der Beklagten am 07.12.2010 zugestellt und der Einspruch daher nicht mehr innerhalb der vierwöchigen Frist eingelegt worden. Der Vorsitzende der 3. Zivilkammer habe - als originärer Einzelrichter - wirksam die Zustellung nach § 184 ZPO angeordnet. Um die Einspruchsfrist gegenüber der Beklagten in Gang zu setzen, habe es ausgereicht, eine beglaubigte Abschrift des Urteils vom 02.11.2010 zur Post zu geben. Die rechtlichen Einwände der Beklagten gegen die Zustellung nach § 184 ZPO verfingen nicht.
20 
In ihrer Stellungnahme vom 15.08.2011 wendet sich die Beklagte gegen die Auffassung des Senats, dass es ausgereicht habe, eine beglaubigte Abschrift des Versäumnisurteils vom 02.11.2010 zuzustellen. Die Beklagte bezieht sich auf einen Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 09.06.2010 (XII ZB 132/09 - NJW 2010, 2519). Im Zusammenhang mit der Berufungsfrist des § 517 ZPO hat der Bundesgerichtshof entschieden, dass nur die Zustellung einer Urteilsausfertigung Fristen in Gang setzen kann.
21 
Mit Verfügung vom 25.08.2011 hat der Vorsitzende den Parteien mitgeteilt, dass der Senat im Hinblick auf die Einwendung der Beklagten von einer Zurückweisung der Berufung gemäß § 522 Abs. 2 ZPO Abstand nehme. Es sei grundsätzlich beabsichtigt, die Sache zu terminieren; allerdings komme bei Zustimmung der Parteien auch eine Erledigung im schriftlichen Verfahren in Betracht. Falls die Berufung nicht aus den Gründen des Beschlusses vom 27.07.2011 zurückzuweisen sein sollte, dürfte eine Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Landgericht geboten sein.
22 
Nach Zustimmung beider Parteien hat der Senat am 08.09.2011 den Übergang ins schriftliche Verfahren beschlossen und mitgeteilt, dass Schriftsätze bis zum 19.09.2011 eingereicht werden können. Weitere Stellungnahmen sind nicht eingegangen.
II.
23 
Die Berufung ist zulässig und im Hilfsantrag begründet. Das Landgericht hat den Einspruch der Beklagten gegen das Versäumnisurteil vom 02.11.2010 zu Unrecht als unzulässig verworfen. Um die Einspruchsfrist in Gang zu setzen, hätte es der Zustellung einer Urteilsausfertigung an die Parteien bedurft.
1.
24 
Für die Statthaftigkeit der Berufung ist es unerheblich, ob das Urteil vom 26.04.2011, mit dem das Landgericht Heilbronn den Einspruch gegen das Versäumnisurteil verworfen hat, wirksam gemäß § 310 Abs. 3 Satz 1 und Satz 2 ZPO zugestellt und dadurch verkündet worden ist. Wie schon bei dem Versäumnisurteil vom 02.11.2010 hat das Landgericht Heilbronn jeweils beglaubigte Abschriften zugestellt. In jedem Fall ist die Berufung, die auch im Falle der Wirksamkeit rechtzeitig eingelegt wurde, statthaft, um den Rechtsschein eines wirksamen Urteils zu beseitigen (BGH, U. vom 17.04.1996 - VIII ZR 108/95, NJW 1996, 1969, juris-Tz 14).
2.
25 
Das Landgericht hat den Einspruch der Beklagten gegen das Versäumnisurteil vom 02.11.2010 zu Unrecht als unzulässig verworfen. Die Einspruchsfrist war bei Einlegung des Einspruchs am 18.03.2011 noch nicht abgelaufen. Die Frist wurde durch die erfolgte Zustellung von beglaubigten Abschriften nicht wirksam in Gang gesetzt, denn eine Zustellung „des Urteils“ gemäß § 310 Abs. 3 Satz 1 ZPO und § 339 Abs. 1 ZPO verlangt die Zustellung von Urteilsausfertigungen.
a)
26 
Der Senat hält an seiner Auffassung im Hinweisbeschluss vom 27.07.2011, auch die Zustellung von beglaubigten Abschriften könne die Einspruchsfrist in Gang setzen, nicht mehr fest. Der Senat ist vielmehr zu der Überzeugung gelangt, dass die im Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 09.06.2010 (Az. XII ZB 132/09, NJW 2010, 2519) genannten Gründe nicht nur für die Zustellung eines streitigen Endurteils, sondern auch für die Zustellung eines Versäumnisurteils gelten müssen.
27 
Gemäß dieser - zur Berufungsfrist des § 517 ZPO ergangenen - Entscheidung ist der Zweck, das Urteil nach außen zu vertreten, nicht erreicht, solange keine Ausfertigung der in den Akten verbleibenden Urschrift des Urteils erstellt ist. Nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs entspricht die Form der Ausfertigung der besonderen Bedeutung und Wichtigkeit der kundzugebenden Entscheidung. Erst der Ausfertigungsvermerk verleiht der Ausfertigung die Eigenschaft einer öffentlichen Urkunde und bezeugt deren Übereinstimmung mit der in den Akten verbleibenden Urschrift.
28 
Wenn dies gilt, muss es für Urteile aller Art gelten.
29 
Zumindest soweit ein Versäumnisurteil aufgrund der Säumnis einer Partei im Verhandlungstermin ergeht, sind auch keine Gründe ersichtlich, die eine abweichende Beurteilung rechtfertigen. Daher gilt für die Einspruchsfrist des § 339 Abs. 1 ZPO im Grundsatz nichts anderes als für die Berufungsfrist des § 517 ZPO. Die Frist wird nur in Lauf gesetzt, wenn den Parteien eine Urteilsausfertigung zugestellt wird.
b)
30 
Trotz des Spannungsverhältnisses zu § 317 Abs. 2 Satz 1 ZPO gilt - entgegen den Ausführungen im Hinweisbeschluss vom 27.07.2011 - auch dann nichts anderes, wenn das Versäumnisurteil gemäß § 331 Abs. 3 Satz 1 ZPO im schriftlichen Vorverfahren ergangen ist.
aa)
31 
Gemäß § 310 Abs. 3 Satz 1 ZPO wird die Verkündung eines Versäumnisurteils im schriftlichen Vorverfahren durch die Zustellung des Urteils ersetzt. § 317 Abs. 2 Satz 1 ZPO bestimmt jedoch, dass Ausfertigungen, Auszüge und Abschriften eines Urteils nicht erteilt werden dürfen, solange das Urteil nicht verkündet und nicht unterschrieben worden ist. Die beiden Vorschriften stehen daher in einem Spannungsverhältnis.
32 
Im Ergebnis liegt es auf der Hand, dass § 317 Abs. 2 Satz 1 ZPO zurücktreten muss, denn anderenfalls könnte ein Versäumnisurteil im schriftlichen Vorverfahren niemals existent werden. Das Spannungsverhältnis kann dadurch aufgelöst werden, dass unter „Erteilung“ einer Ausfertigung bzw. einer beglaubigten Abschrift gemäß § 317 Abs. 2 Satz 1 ZPO nur die Erstellung auf Antrag der Parteien verstanden wird. Alternativ ist eine teleologische Reduktion des § 317 Abs. 2 Satz 1 ZPO in dem Sinne denkbar, dass die Erstellung von Urteilsausfertigungen bzw. -abschriften zum Zweck einer Zustellung, die die Verkündung ersetzen soll, erlaubt sein muss, da sonst das Instrument des Versäumnisurteils im schriftlichen Vorverfahren gar nicht prozesstauglich einsetzbar ist.
bb)
33 
§ 317 Abs. 2 Satz 1 ZPO verbietet jedoch vor Verkündung gleichermaßen die Erteilung von Ausfertigungen und Abschriften. Für die Frage, ob nur die Zustellung einer Urteilsausfertigung die Einspruchsfrist des § 339 Abs. 1 ZPO in Gang setzen kann, ist dem Wortlaut des § 317 Abs. 2 Satz 1 ZPO daher nichts zu entnehmen.
cc)
34 
Auch dem Schutzzweck des in § 317 Abs. 2 Satz 1 ZPO enthaltenen Verbots kann nicht dadurch besser genügt werden, dass an Stelle einer Ausfertigung (nur) eine beglaubigte Abschrift des Urteils zugestellt wird.
(1)
35 
Die Vorschrift soll verhindern, dass ein noch unverbindlicher Entwurf nach außen bekannt gemacht wird und sich dabei der Anschein einer für das Gericht nicht mehr änderbaren Entscheidung gibt (MK-Musielak, ZPO, 3. Aufl. 2008, § 317 Rn. 8). Der Schein einer bindenden Entscheidung kann im Grundsatz aber ebenso durch eine beglaubigte Abschrift gesetzt werden wie durch eine Urteilsausfertigung. Die Lösung des Problems kann daher nicht darin gesehen werden, dass § 317 Abs. 2 Satz 1 ZPO - entgegen seinem Wortlaut - bei Versäumnisurteilen im schriftlichen Vorverfahren nur die Zustellung von Ausfertigungen verbietet, jedoch die Zustellung von Abschriften gestattet.
(2)
36 
Zu kurz greift die Argumentation der Beklagten im Schriftsatz vom 15.08.2011, dass das Urteil „in derselben juristischen Sekunde wie die Zustellung existent“ und daher die Schutzfunktion des § 317 Abs. 2 Satz 1 ZPO hinfällig werde. Richtig ist zwar, dass das Versäumnisurteil im schriftlichen Vorverfahren nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs erst mit der Zustellung „existent“ wird (BGH, U. vom 17.04.1996, aaO, juris-Tz 13 mwN). Allerdings verkennt die Beklagte, dass mindestens zwei Zustellungen - an den Kläger und an den Beklagten - zu bewirken sind. Das Urteil wird erst mit der letzten Zustellung existent; ab diesem Zeitpunkt läuft auch die (einheitliche) Einspruchsfrist (BGH, B. vom 05.10.1994 - XII ZB 90/94, NJW 1994, 3359). Mit der zuerst erfolgten Zustellung verfügt deshalb eine der Parteien vorübergehend über die Ausfertigung eines noch nicht existenten Urteils.
cc)
37 
Für das Erfordernis der Zustellung einer Ausfertigung spricht ihre besondere Bedeutung im Rechtsverkehr. Denn nur durch die Urteilsausfertigung können sich die Parteien zuverlässig über den Inhalt des Urteils und seine Gründe informieren (so auch der Bundesgerichtshof im Beschluss vom 09.06.2010, aaO). Auf dieser Information fußt die Entscheidung der Parteien, einen Rechtsbehelf gegen das Urteil einzulegen oder es unangefochten zu lassen. Hingewiesen sei darauf, dass es hierbei nicht um die Erteilung einer vollstreckbaren Ausfertigung geht. Diese darf - unzweifelhaft - erst nach der letzten Zustellung erteilt werden (BGH, B. vom 05.10.1994, aaO).
38 
Im Ergebnis bedarf es daher - in Konsequenz der BGH-Rechtsprechung - auch zur wirksamen Zustellung von Versäumnisurteilen im schriftlichen Vorverfahren der Zustellung von Urteilsausfertigungen.
c)
39 
Auch das mögliche Spannungsverhältnisses des § 317 Abs. 2 Satz 1 ZPO zur Vorschrift des § 318 ZPO ist für die hier zu entscheidende Frage ohne Relevanz.
aa)
40 
§ 318 ZPO regelt die Bindung des Gerichts an die von ihm erlassenen End- und Zwischenurteile. Es werden mindestens vier Meinungen zu dem Zeitpunkt vertreten, ab dem diese Bindungswirkung bei einem Versäumnisurteil im schriftlichen Vorverfahren eintritt. Eine Auffassung stellt auf den Zeitpunkt der letzten Zustellung ab (Rensen in Wieczorek/Schütze, ZPO, 3. Aufl., § 318 Rn. 17; so wohl auch Zöller-Vollkommer, ZPO, 28. Aufl., § 318 Rn. 12). Eine zweite Meinung hält den Zeitpunkt der ersten Zustellung für maßgeblich (MK-Musielak, ZPO, 3. Aufl. § 318 Rn 7; Leipold in Stein/Jonas, ZPO, 22. Aufl., § 318 Rn. 2; Thole in Prütting/Gehrlein, ZPO, 1. Aufl., § 318 Rn. 3). Die dritte Auffassung bezieht sich - in Anlehnung an die vorherrschende Auffassung zu nicht verkündeten Beschlüssen - auf die erste Hinausgabe aus dem inneren Geschäftsbetrieb des Gerichts (LG Bückeburg NJW-RR, 1986, 1508; Schneider NJW 1978, 832; Rau MDR 2001, 794, 795; vgl. auch Zöller/Vollkommer, ZPO, 28. Aufl., § 329 Rn. 6). Die vierte Meinung hält schließlich den Eingang des unterschriebenen Urteils in der Geschäftsstelle für maßgeblich (LG Stuttgart AnwBl 1981, 441; Baumbach/Lauterbach, ZPO, 69. Aufl., § 318 Rn. 4; Saenger, ZPO, 2. Aufl., § 318 Rn. 6).
bb)
41 
Es mutet paradox an, wenn das Gericht einerseits bereits eine Urteilsausfertigung in den Rechtsverkehr gibt, andererseits aber noch zur Abänderung des Urteils befugt sein soll. Angesichts der Funktion einer Urteilsausfertigung, die Urschrift im Rechtsverkehr zu vertreten, sollte die in einer Ausfertigung enthaltene Entscheidung für das Gericht bindend sein. Diese Problematik spricht nach Auffassung des Senats jedoch nicht für die Zustellung einer beglaubigten Abschrift. Vielmehr muss das Spannungsverhältnis zu § 318 ZPO dadurch gelöst werden, dass das Urteil ab einem entsprechend frühen Zeitpunkt als im Sinne des § 318 ZPO „erlassen“ gilt und damit bindend wird.
42 
Die Streitfrage braucht daher an dieser Stelle nicht entschieden werden. Für die Beurteilung des vorliegenden Falles ist es ausreichend, dass eine Auslegung des § 318 ZPO möglich ist, die einen Widerspruch zum Schutzzweck des § 317 Abs. 2 Satz 1 ZPO vermeidet.
3.
43 
Der Senat verweist den Rechtsstreit gemäß § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ZPO auf den Hilfsantrag der Beklagten an das Landgericht Heilbronn zurück, denn es ist eine weitere Verhandlung der Sache erforderlich. Eine Abweisung der Klage aus Rechtsgründen kommt nach derzeitigem Stand nicht in Betracht.
a)
44 
In Hinblick auf deliktische Ansprüche hat das Landgericht Heilbronn seine internationale Zuständigkeit zu Recht angenommen. Diese ergibt sich aus einer entsprechenden Anwendung des § 32 ZPO. Es genügt, dass der Kläger die deliktischen Ansprüche - nach dem insoweit maßgeblichen deutschen Recht - schlüssig behauptet. Die ihnen zu Grunde liegenden Tatsachen sind nämlich sowohl im Rahmen der Zulässigkeit als auch für die Begründetheit der Klage notwendigerweise erheblich. Ihr tatsächliches Vorliegen wird erst im Zusammenhang mit der Begründetheit der klägerischen Ansprüche geprüft (sogenannte doppelrelevante Tatsachen). Es müssen daher (nur) konkrete Tatsachen vorgetragen werden, die - ihre Richtigkeit unterstellt - bei zutreffender rechtlicher Würdigung alle Tatbestandsmerkmale der Deliktsnorm erfüllen (BGH in ständiger Rechtsprechung, zuletzt Urteil vom 29.06.2010 - VI ZR 122/09, MDR 2010, 943). Das ist hier der Fall.
b)
45 
Der Kläger hat zumindest einen Anspruch §§ 831, 823 Abs. 2 BGB i.V.m. 263 StGB und § 826 BGB gegen die Beklagte schlüssig vorgetragen. Er hat vorgebracht, A... sei als Mitarbeiter der Beklagten aufgetreten. Beim Verkauf der Aktien an der Beklagten habe er dem Kläger u. a. mitgeteilt, er könne sein eingesetztes Kapital jederzeit zurückfordern. Im Vertrauen auf diese falsche Angabe habe der Kläger die Anlage getätigt.
46 
Ein Schaden des Klägers kann bereits darin liegen, dass er überhaupt eine insoweit ungünstige Art der Vermögensanlage gewählt hat, unabhängig von dem seinerzeitigen oder gegenwärtigen Stand dieses Vermögens (BGH, U. vom 19.07.2004 - II ZR 354/02, NJW-RR 2004, 1407). Unter dem Gesichtspunkt der eingeschränkten Fungibilität hat der Senat deshalb bereits einigen Schadensersatzklagen in vergleichbaren Fällen gegen die Beklagte stattgegeben (vgl. z.B. Urteil vom 28.04.2008 - 5 U 6/08, WM 2008, 1368).
47 
Auch zu den subjektiven Tatbestandsmerkmalen hat der Kläger vorgetragen. Inwieweit ein Schadensersatzanspruch im konkreten Fall unter Würdigung des genauen Sachverhalts, ggf. nach Beweisaufnahme, tatsächlich besteht, bedarf der weiteren Verhandlung und ggf. Aufklärung durch das Landgericht.
c)
48 
Die von der Beklagten erhobene Verjährungseinrede greift, zumindest soweit sie die kenntnisunabhängige Verjährung betrifft, nicht durch. Die absolute Frist des § 199 Abs. 3 BGB in der seit 01.01.2002 geltenden Fassung war bei Klageerhebung noch nicht abgelaufen.
49 
Deliktische Ansprüche des Klägers unterlagen zunächst der Frist aus § 852 Abs. 1 BGB in der bis zum 31.12.2001 geltenden Fassung. Es galt eine absolute Verjährungsfrist von dreißig Jahren. Als Überleitung zum neuen Verjährungsrecht bestimmt Art. 229 § 6 Abs. 4 Satz 1 EGBGB, dass eine kürzere Verjährungsfrist nach neuem Recht ab dem 01.01.2002 beginnt. In diesen Fristenvergleich ist sowohl die kenntnisabhängige Frist aus §§ 195, 199 Abs. 1 BGB als auch die kenntnisunabhängige Frist aus § 199 Abs. 2 bis 4 BGB einzubeziehen; maßgeblich ist die im konkreten Fall früher ablaufende Frist. Insoweit folgt der Senat dem Urteil des Bundesgerichtshofs vom 23.01.2007 (Az. XI ZR 44/06, NJW 2007, 1584). Daher tritt eine kenntnisunabhängige Verjährung gemäß § 199 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 BGB nicht vor dem Ablauf des 31.12.2011 ein.
50 
Nicht auszuschließen ist zwar, dass die Verjährung aufgrund einer kenntnisabhängigen Frist bereits zu einem früheren Zeitpunkt endete. Dies bedarf jedoch weiterer tatsächlicher Feststellungen. Aus dem Vortrag des Klägers folgt ein Durchgreifen der Verjährungseinrede jedenfalls nicht. Gegebenenfalls wäre auch die Vorschrift des § 852 BGB in der seit 01.01.2002 geltenden Fassung in die Prüfung einzubeziehen.
4.
51 
Über die Kosten des Berufungsverfahrens wird das Landgericht im Rahmen des weiteren erstinstanzlichen Verfahrens zu entscheiden haben.
5.
52 
Das zurückverweisende Urteil ist für vorläufig vollstreckbar zu erklären (hierzu vgl. Zöller/Heßler, ZPO, 28. Aufl. § 538 Rn. 59 und Zöller/Herget, § 708 Rn. 12).
6.
53 
Die Revision wird zugelassen. Es handelt sich bei der streitentscheidenden Frage, wie im schriftlichen Vorverfahren ergehende Versäumnisurteile zuzustellen sind, um eine Rechtssache von grundsätzlicher Bedeutung, denn die entscheidungserhebliche Rechtsfrage stellt sich in einer Vielzahl von Verfahren. Die Zustellung (nur) einer beglaubigten Abschrift wurde im vorliegenden Verfahren auf einem Formular angeordnet. Es besteht daher die Vermutung, dass es sich im Bezirk des Landgerichts Heilbronn - und womöglich darüber hinaus - um eine gängige Praxis handelt. Der Senat in seinem Bezirk hat Erkundigungen angestellt, die diese Vermutung teilweise bestätigen. Ergänzend wird auf das von der Beklagten vorgelegte Urteil des Oberlandesgerichts Köln vom 16.06.2011 verwiesen (Az. 18 U 59/11, Anlage BK 2).

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