Urteil vom Verwaltungsgericht München - M 4 K 20.32787

Tenor

I.Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 29. September 2020 wird aufgehoben.

II.Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

III.Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.  

Tatbestand

Der Kläger begehrt die Aufhebung des Widerrufsbescheids der Beklagten vom 29. September 2020, mit der die Feststellung, dass ein Abschiebungsverbot nach § 51 Abs. 1 AuslG besteht, widerrufen wurde.

Der Kläger ist 29 Jahre alt und irakischer Staatsangehöriger arabischer Volkszugehörigkeit.

Mit Bescheid vom 11. April 2000 stellte das damalige Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge fest, dass ein Abschiebungsverbot nach § 51 Abs. 1 AuslG für den Kläger besteht. Die Entscheidung beruhte im Wesentlichen auf der Annahme, dass dem Ausländer bei einer Rückkehr in seine Heimat Irak aufgrund der Stellung eines Asylantrags Verfolgungsmaßnahmen i.S.v. § 51 Abs. 1 AuslG drohen.

Das Amtsgericht München verurteilte den Kläger mit Urteil vom 12. November 2015, rechtskräftig seit 20. November 2015, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr wegen Diebstahls in Tatmehrheit mit Körperverletzung in zwei tateinheitlichen Fällen, welcher Einzelstrafen von sieben bzw. acht Monaten zugrunde lagen. Die Vollstreckung der Strafe wurde gemäß § 56 StGB wegen positiver Sozialprognose zur Bewährung ausgesetzt. Der Kläger hatte ausweislich der abgekürzten Gründe des Urteils der Geschädigten am 10. Februar 2015 vorgetäuscht, 20 € wechseln zu wollen. Als die Geschädigte daraufhin 190,00 € in Scheinen aus ihrer Hosentasche nahm, ergriff der Kläger das Bargeld, um es ohne Berechtigung für sich zu behalten. Der Verurteilung wegen Körperverletzung in zwei tateinheitlichen Fällen lag zugrunde, dass der Kläger am 24. April 2015 der Geschädigten mit dem Kopf einen Stoß gegen die Nase versetzte und ihr sodann mindestens einmal mit der Faust gegen die rechte Wange schlug, wodurch diese zumindest Schmerzen erlitt. Einen Zeugen, der versuchte, den Kläger von der Geschädigten zu trennen, traf er mit der Faust an dessen Kinn, wodurch dieser eine Subluxation im rechten Kiefergelenk und Schmerzen erlitt.

Am 2. März 2017 versuchte der Kläger, eine besonders schwere räuberische Erpressung (Banküberfall) zu begehen. Er litt zum Tatzeitpunkt nach Feststellung des Gerichts unter einer krankhaften seelischen Störung, der zufolge er wahnhafte Gedanken entwickelte. Seine Steuerungsfähigkeit war gänzlich aufgehoben. Der Kläger wurde am selben Tag noch in der Sparkassenfiliale festgenommen und befand sich zunächst bis zum 27. März 2017 in Untersuchungshaft. Am 23. März 2017 erließ das Amtsgericht München einen Unterbringungsbefehl. Mit rechtskräftigem Urteil vom 24. Oktober 2017 ordnete das Landgericht München I die Unterbringung des Klägers als Beschuldigter in einem psychiatrischen Krankenhaus an, §§ 20, 63 StGB, 465 StPO. Das Gericht bejahte die rechtswidrige Verwirklichung des Tatbestands der versuchten besonders schweren räuberischen Erpressung gemäß §§ 253, 255, 249, 250 Abs. 2 Nr. 1, 20, 12, 22, 23, 63 StGB und ging davon aus, dass vom Kläger in unbehandeltem Zustand weiter vergleichbare erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten seien, durch die die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden könnten; der Kläger stelle eine Gefahr für die Allgemeinheit dar. Der Kläger habe gemäß § 20 StGB ohne Schuld gehandelt, da er aufgrund seiner Erkrankung an einer paranoiden Schizophrenie in seiner Steuerungs- und Einsichtsfähigkeit aufgehoben gewesen sei.

Mit Verfügung vom 16. Mai 2018 leitete die Beklagte ein Widerrufsverfahren gegen den Kläger ein, weil er wegen Straffälligkeit die Voraussetzungen des Ausschlusstatbestands des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG erfülle, hörte ihn mit Schreiben vom 13. Juli 2018 zum beabsichtigten Widerruf der Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 51 Abs. 1 AuslG an. Die Beklagte gab dem Kläger Gelegenheit zur Stellungnahme innerhalb eines Monats und forderte ihn auf, alle Gründe vorzutragen, die seiner Meinung nach einem Widerruf des Abschiebungsverbots bzw. einer Rückkehr in sein Heimatland entgegenstehen könnten.

Mit Schriftsatz vom 20. September 2018 nahm die Prozessbevollmächtigte Stellung. Die Widerrufsvoraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG lägen nicht vor. Es fehle auch an einer Wiederholungsgefahr bzw. einer Gefahr für die Allgemeinheit. Die strafrechtliche Verurteilung vom 12. November 2015 reiche für einen Widerruf nicht aus. Außerdem könne der Kläger als Christ nicht in den Irak zurückkehren.

Mit streitgegenständlichem Bescheid vom 29. September 2020 widerrief das Bundesamt die mit Bescheid vom 11. April 2000 getroffene Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 des Ausländergesetzes vorliegen (Nr. 1), erkannte die Flüchtlingseigenschaft und den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Nr. 2, Nr. 3) und verneinte das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG (Nr. 4). Der Bescheid wurde im Wesentlichen damit begründet, dass die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorlägen, gemäß § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylG zu widerrufen sei. Die Voraussetzungen der Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 51 Abs. 1 AuslG lägen nicht mehr vor, weil Ausschlusstatbestände gemäß § 3 Abs. 4 AsylG i.V.m. § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG erfüllt seien.

Mit Schriftsatz vom 11. Oktober 2020, bei Gericht am selben Tag per Telefax eingegangen, ließ der Kläger durch seine Prozessbevollmächtigte unter Ankündigung einer ergänzenden Klagebegründung Klage erheben und beantragte zuletzt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 29. September 2020 hilfsweise zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen, sowie weiter hilfsweise festzustellen, dass beim ihm Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG vorliegen.

Mit Schriftsatz vom 30. Oktober 2020 legte die Beklagte die Behördenakte vor und teilte „ergänzend“ mit, dass es sich bei dem im Aktenvermerk vom 30. Oktober 2020 genannten Referenzverfahren „…“ nur um eine Akte handele, in der die Einleitung eines Widerrufsverfahrens mit negativem Ergebnis geprüft worden sei.

Mit Beschluss vom 12. Januar 2022 wurde der Rechtsstreit zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen.

Wegen der weiteren Einzelheiten nimmt das Gericht Bezug auf die Niederschrift der mündlichen Verhandlung, die Gerichtsakte sowie die vorgelegte Behördenakte.

Gründe

Der Klage hat Erfolg. Der Bescheid der Beklagten wird aufgehoben.

I. Der Bescheid der Beklagten vom 29. September 2020 wird aufgehoben. Er ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.

Der Widerruf der mit Bescheid vom 11. April 2000 getroffenen Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen, in Nr. 1 des Bescheids ist rechtswidrig. Mit der Aufhebung dieses Widerrufs fehlt es an einem Anlass nach § 73 Abs. 3 AsylG für die unter Nr. 2 und Nr. 3 getroffenen negativen Feststellungen zur Flüchtlingseigenschaft und zum subsidiären Schutzstatus und für die Entscheidung unter Nr. 4 zu einem Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG, womit diese gegenstandslos werden und der Bescheid somit insgesamt aufzuheben war.

Der Widerruf der mit Bescheid vom 11. April 2000 getroffenen Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen, ist rechtswidrig, weil die Voraussetzungen des § 73 Abs. 2a Satz 5 AsylG i.V.m. § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG nicht vorliegen. Im nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts kann der Widerruf entgegen der Ansicht der Beklagten nicht darauf gestützt werden, dass das Bundesamt nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen hat, weil die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG nicht vorliegen (1.). Andere Widerrufsgründe waren vom Gericht nicht zu prüfen, weil eine Entscheidung des Bundesamts im Hinblick auf andere Widerrufsgründe wegen § 73 Abs. 2a Satz 5 AsylG nach Ermessen zu ergehen hätte. Das Bundesamt hat vorliegend den Widerruf jedoch zwingend verfügt (2.).

1. Der Widerruf in Nr. 1 des Bescheids ist rechtswidrig, weil die Widerrufsvoraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG nicht vorliegen.

Nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG kann von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder es sich um eine Straftat nach § 177 StGB handelt.

Diese tatbestandlichen Voraussetzungen für einen Widerruf liegen nicht vor. Die Verurteilung des Klägers durch das Amtsgericht München am 12. November 2015 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr beruht nämlich auf der Bildung aus zwei Einzelfreiheitsstrafen, von denen keine eine Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr ist. Außerdem wurde eine der der Verurteilung zugrundeliegende Straftat nicht in der nach § 60 Abs. 8 Satz 3 Hs. 2 AufenthG erforderlichen Tatmodalität verübt, so dass sie im Zusammenhang mit einem Widerruf wegen § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG keine Berücksichtigung finden kann. Das Gericht ist der Auffassung, dass der Widerruf der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG tatbestandlich voraussetzt, dass die geforderte Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr durch eine Einzelstrafe erreicht wird. Die Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von mindestens einem Jahr genügt nicht, wenn - wie vorliegend - keine der zugrundeliegenden Einzelstrafen dieses Strafmaß erfüllt (1.1.). Selbst wenn man dieser Auffassung nicht folgt und die Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr ausreichen lässt, die ihrerseits auf der Erhöhung einer Einsatzstrafe, die weniger als ein Jahr beträgt, genügen lässt, scheitert eine Berufung auf § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG vorliegend daran, dass nicht jede der Straftaten, die zur Gesamtstrafenbildung geführt haben, in der gemäß § 60 Abs. 8 Satz 3 Hs. 2 AufenthG erforderlichen Tatmodalität begangen worden ist. Der Kläger hat keinen Diebstahl mit List begangen (1.2.). Die Frage, ob die in § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG genannten Straftaten die in § 60 Abs. 8 Satz 3 Hs. 2 AufenthG genannten Tatmodalitäten bereits strafrechtlich als ein qualifizierendes Merkmal aufweisen müssen, wie es zuletzt das Oberverwaltungsgericht Hamburg entschieden hat (OVG Hamburg, U.v. 8.11.2021 - 2 Bf 539/19.A - BeckRS 2021, 44499), bedarf vorliegend daher keiner Klärung; nach Auffassung des Gerichts sprechen jedoch die überzeugenderen Gründe für diese Auffassung (1.3). Ein Widerruf wegen § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG scheidet damit vorliegend nach jeder Betrachtungsweise aus und ist rechtswidrig.

1.1. Der Widerruf kann vorliegend nicht auf die Verurteilung durch das Amtsgericht München vom 12. November 2015 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr gestützt werden, weil keine der zugrundeliegenden Einzelstrafen das Strafmaß von mindestens einem Jahr erreicht.

Es ist zwar zutreffend, dass § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG - insoweit im Unterschied zu § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG - es nach seinem Wortlaut genügen lässt, dass der Ausländer „wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten“ zu einer Jugend- oder Freiheitsstrafe verurteilt worden ist, und dies nahelegen könnte, dass in diesem Zusammenhang deshalb - wiederum anders als für § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG höchstrichterlich entschieden (BVerwG, U.v. 31.1.2013 - 10 C 17/12 - juris) - auch die Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe ausreicht, ohne dass zumindest eine der zugrundeliegenden Katalogstraftaten nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG dieses Mindeststrafmaß erreicht (so VG Trier, U.v. 6.10.2020 - 1 K 25/20.TR - juris zu einer Einheitsjugendstrafe). Die Norm ist jedoch völker- und unionsrechtskonform auszulegen. Diese Auslegung ergibt, dass (auch) für § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG zu fordern ist, dass die erforderliche Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr durch eine Einzelstrafe erreicht wird (so auch VG Berlin, B.v. 17.12.2021 - 23 K 699/21.A - BeckRS 2021, 42124; VG Augsburg, B.v. 26.3.2020 - Au 4 S 20.30367 - BeckRS 2020, 5111; VG Freiburg, B.v. 8.8.2019 - A 14 K 2915/19 - BeckRS 2019, 19424).

§ 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG ist durch Art. 1 Nr. 3 des Gesetzes zur erleichterten Ausweisung von straffälligen Ausländern und zum erweiterten Ausschluss der Flüchtlingsanerkennung bei straffälligen Asylbewerbern vom 11. März 2016 eingefügt worden (BGBl I, S. 394). Den Gesetzesmaterialien (BT-Drs. 18/7537, insbes. S. 8 f.) lässt sich nichts dazu entnehmen, dass im Rahmen dieser neu geschaffenen Norm, was die Ermittlung des relevanten Strafmaßes angeht, andere Maßstäbe gelten sollten als im bisherigen § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG. Dieser Umstand spielt bei der Auslegung des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG umso mehr eine Rolle, als die Einleitung des Gesetzgebungsverfahrens mehrere Jahre nach der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG erfolgte, so dass der Gesetzgeber ohne weiteres die Möglichkeit gehabt hätte, auf diese höchstrichterliche Rechtsprechung zu reagieren; zumindest hätte in den Gesetzesmaterialien klargestellt werden können bzw. vor dem völker- und unionsrechtlichen Hintergrund der Norm (s. nachfolgend) müssen, dass im Hinblick auf diese Rechtsprechung durch die abweichende Formulierung des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG im Vergleich zu § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG auch eine Änderung der Rechtslage beabsichtigt ist. Dies ist nicht geschehen. Vielmehr lässt sich den Gesetzesmaterialien entnehmen, dass der Gesetzgeber zwar eine zusätzliche Fallgruppe schaffen wollte, wegen der vom Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit ausgehen kann, dass dabei aber auf dem Verständnis der bisherigen Regelungen in § 60 Abs. 8 AufenthG aufgebaut werden sollte (vgl. BT-Drs. 18/7537, S. 9) (vgl. VG Augsburg, B.v. 26.3.2020 - 4 S 20.30367, BeckRS 2020, 5111 Rn. 19). Nach Auffassung der Kammer sind daher sowohl § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG als auch § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG als Ausnahme vom völkerrechtlichen Refoulement-Verbot gemäß Art. 33 Abs. 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) restriktiv und insbesondere so auszulegen, dass die Sicherung insbesondere des völkerrechtlichen Flüchtlingsrechts gegen eine Abschiebung in den Verfolgerstaat nicht relativiert wird. Der Widerruf der Asyl- und Flüchtlingseigenschaft kann deshalb gegenüber kriminellen Flüchtlingen nur als ultima ratio in Betracht kommen, wenn ihr kriminelles Verhalten die Schwelle der besonders schweren Strafbarkeit überschreitet. Dies bestätigt auch die Entstehungsgeschichte der Genfer Flüchtlingskonvention. Während im ursprünglichen Textentwurf noch keine Einschränkung des Refoulement-Verbots vorgesehen war, setzte sich der Gedanke, dass Staaten zur Hinnahme von Gefahren für ihre Sicherheit oder für die Allgemeinheit nicht unbeschränkt gezwungen sein dürften, erst nach einer intensiven Debatte über die Grenzen des Refoulement-Schutzes durch. Der schließlich verabschiedeten Textfassung lag die Einschätzung zu Grunde, dass die Abschiebung eines Flüchtlings nur ausnahmsweise und als Reaktion auf besonders schwerwiegendes kriminelles Verhalten des Flüchtlings zulässig ist, wenn eine Gefahr für die nationale Sicherheit oder der Allgemeinheit besteht (vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 - 10 C 17/12 - juris). In den Gesetzesmaterialien wird zudem auf Art. 33 Abs. 2 GFK sowie Artikel 14 Abs. 4 der RL 2011/95/EU und deren Wortlaut verwiesen; diese sprechen - wie Art. 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG - von „einem“ Verbrechen oder Vergehen bzw. von „einer“ Straftat (vgl. BT-Drs. 18/7537, S. 8); auch dies spricht gegen ein von § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG abweichendes Verständnis des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG (vgl. VG Augsburg, B.v. 26.3.2020 - Au 4 S 20.30367, BeckRS 2020, 5111 Rn. 19). Dass der Gesetzgeber trotz abweichenden Wortlauts von dem höchstrichterlichen Verständnis des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG im Hinblick auf den neu eingefügten Satz 3 abweichen wollte, ist auch nicht aus der Entstehungsgeschichte erkennbar; im Gegenteil unter A.

V. geht der Gesetzgeber in der Begründung davon aus, dass der Gesetzentwurf sowohl mit dem Recht der Europäischen Union als auch mit völkerrechtlichen Verträgen, insbes. der GFK vereinbar ist. Letztlich wäre die Frage offen, ob eine andere Auslegung überhaupt mit Unions- und Völkerrecht vereinbar wäre (vgl. VG Freiburg, U.v. 5.2.2021 - A 5 K 7139/18 - BeckRS 2021, 7244 Rn. 30, allerdings zu subsidiärem Schutz).

1.2. Selbst wenn man jedoch wegen des unterschiedlichen Wortlauts die Grundsätze des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG nicht auf § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG übertragen und die Verurteilung zu einer Gesamtstrafe grundsätzlich ausreichen lassen würde, liegen die Voraussetzungen dieser Norm nicht vor. Denn dann ist zumindest zu fordern, dass alle der Gesamtstrafenbildung zugrundeliegenden Delikte von § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG erfasst sind (vgl. VG Freiburg, B.v. 8.8.2019 - A 14 K 2915/19 - BeckRS 2019, 19424 Rn. 9). Dies ist vorliegend nicht der Fall, weil zumindest der Diebstahl nicht in einer der nach § 60 Abs. 8 Satz 3 Hs. 2 AufenthG erforderlichen Tatmodalitäten begangen wurde. Der Diebstahl als vorsätzliche Straftat gegen das Eigentum müsste nämlich mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden sein. Dies ist nicht der Fall.

In Betracht kommt vorliegend allenfalls eine listige Begehung des Diebstahls, hätte der Kläger hierbei Gewalt angewendet, hätte eine Verurteilung wegen Raubes gemäß § 249 StGB erfolgen müssen. Der Begriff der List ist weder im Gesetzestext noch in der Gesetzesbegründung definiert; im Strafgesetzbuch findet er sich nur bei § 232 Abs. 2 Nr. 1 StGB (Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung) und § 234 Abs. 1 StGB (Menschenraub). Das Strafgericht hat in den abgekürzten Gründen eine listige Begehung nicht festgestellt; diesen Gründen lassen sich - und sind, insbesondere vor dem Hintergrund, dass es im deutschen Strafrecht eine entsprechende Qualifizierung des Diebstahls nicht gibt, auch nicht zu erwarten - keine Ausführungen zu einer listigen Begehungsweise entnehmen. Der Begriff „List“ soll Vorgänge erfassen, bei denen Täter auf hintertriebene, trickreiche, subtile oder manipulative Art und Weise vorgehen (Bergmann/Dienelt/Dollinger, AufenthG, § 60 Rn. 62; zu diesem Merkmal Bergmann/Hörich, Besonders schwerwiegende Ausweisungsrechtsfehler - Kritische Anmerkungen zur jüngsten Reform des Ausweisungsrechts, ZAR 2016, 296, 300). Davon kann vorliegend nach Auffassung der Kammer keine Rede sein. Der Kläger hat bei der Geschädigten zwar einen Irrtum über seine Absichten hervorgerufen, wie es für den Tatbestand des Betrugs als Straftat gegen das Vermögen erforderlich ist, hat aber im Hinblick auf den Diebstahl nicht „hintertrieben, trickreich, subtil oder manipulativ“ gehandelt.

1.3. Auf die Frage, ob für § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG zudem erforderlich ist, dass die in der Norm genannten Straftaten die im zweiten Halbsatz genannten Tatmodalitäten bereits strafrechtlich als ein qualifizierendes Merkmal aufweisen (so OVG Hamburg, U.v. 8.11.2021 - 2 Bf 539/19.A - BeckRS 2021, 44499), kommt es für die Entscheidung vorliegend daher nicht mehr entscheidend an. Das Gericht neigt jedoch dazu, sich dieser Auffassung anzuschließen. Die Auslegung des Oberverwaltungsgerichts Hamburg unter völker- und unionsrechtlichen Gesichtspunkten, nach Entstehungsgeschichte und Zweck der Vorschrift ist überzeugend; insbesondere unter Berücksichtigung der Schwierigkeiten, die sich in der Anwendung des Merkmals der List ergeben (s.o. 1.2.). Auch nach dieser strengen Auffassung käme ein Widerruf auf Grundlage von § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG vorliegend nicht in Betracht, weil es einen listigen Diebstahl im deutschen Strafrecht nicht gibt.

Die Auslegung des Oberverwaltungsgerichts Hamburg nimmt ihren Ausgangspunkt in der Feststellung, dass der auf §§ 73 Abs. 1 Satz 1, 3 Abs. 4 AsylG gestützte Widerruf einer Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG die konkrete Gefahr der Wiederholung der dort genannten Straftaten voraussetzt. Dies ergibt sich zum einen aus dem Wortlaut der Vorschrift und zum anderen aus der Erwägung, dass die damit möglich werdende Abschiebung eines politisch Verfolgten in den Verfolgerstaat einen Eingriff in den Kernbereich der verfassungs- und völkerrechtlich verankerten Schutzgewährung bedeutet, der nur zulässig sein darf, wenn bei einer Würdigung der gesamten Umstände des einzelnen Falles die Sicherheit des Zufluchtstaates und der in ihm lebenden Menschen ein Zurücktreten des Schutzes für den politisch Verfolgten erfordert (BVerwG, U.v. 31.1.2013, a.a.O., Rn. 11). Nichts Anderes könne für die Auslegung des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG gelten, der gleichfalls von einer Gefährdung der Allgemeinheit durch den Schutzsuchenden ausgehe und bei herabgesetzten Anforderungen an die von diesem begangenen Straftaten und nach einer Ermessensentscheidung ihn vor die gleichen Folgen wie Satz 1 stelle. Rechtfertige daher bereits die Überschreitung der notwendigen Gefahrenschwelle den Rechtsentzug, von dem im Ermessenswege, insbesondere aufgrund einer Verhältnismäßigkeitsprüfung, nur abgesehen werden könne, habe deren Bestimmung ebenfalls den unions- und völkerrechtlichen Rahmen zu berücksichtigen, auf dem die Schutzgewährung beruhe. Ohne zumindest eine hinreichende Schwere der Straftat ließen aber beide Rechtskreise keine Abschiebung eines Flüchtlings zu, weshalb bei weniger schweren Taten das Abschiebungsverbot erhalten bleiben müsse. Ein Absehen von ihm auszuschließen, gelinge nur mit der erforderlichen Sicherheit, wenn dies bereits durch eine restriktive Auslegung der Katalogstraftaten des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG berücksichtigt werde. Diese Annahme werde durch die Entstehungsgeschichte und den Zweck der Vorschrift bestätigt. Sie beruhe auf Art. 14 Abs. 4 lit. b) der RL 2011/95/EU (Anerkennungsrichtlinie), der - wie zuvor die (Qualifikations-)RL 2004/83/EG an gleicher Stelle - Art. 33 Abs. 2 GFK und der darin normierten Ausnahme vom völkerrechtlichen Refoulement-Verbot nachgebildet sei. Sie solle Gefahren von dem Aufnahmestaat und dessen Bevölkerung abwehren, die ein Flüchtling durch dessen kriminelles Verhalten verursacht (BT-Drs. 18/ 7537, S. 8). Die Auslegung der Anerkennungsrichtlinie habe aufgrund von Art. 78 Abs. 1 AEUV die Regeln der Genfer Flüchtlingskonvention zu wahren (EuGH, Urt. v. 14.5.2019, C-391/16 u.a., EuGRZ 2019, 220, Rn. 74), so dass die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft nur in Betracht komme, wenn der Flüchtling im Sinne des Art. 33 Abs. 2 GFK rechtskräftig verurteilt worden ist (vgl. EuGH, U.v. 14.5.2019, a.a.O., Rn. 93; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: Jan. 2021, § 60 AufenthG Rn. 130; Marx, AsylG, 10. Aufl. 2019, § 3 Rn. 79). Hiervon weiche § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG nicht ab, mit dem über die bis dahin bestehende Rechtslage hinaus, also vor allem in Ergänzung zu § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG, der Rahmen für den Widerruf einer Asyl- und Flüchtlingsanerkennung weiter ausgeschöpft werden solle (BT-Drs. 18/7537, S. 9), ohne dessen Grenzen zu überschreiten (siehe BT-Drs. 18/7537, S. 6, Ziff. V.). Aus den gleichen Gründen wie bei § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG müsse die Vorschrift daher restriktiv so ausgelegt werden, dass die Sicherungen insbesondere des völkerrechtlichen Flüchtlingsrechts gegen eine Abschiebung in den Verfolgerstaat nicht relativiert würden. Der Widerruf der Asyl- und Flüchtlingsgewährung könne deshalb gegenüber kriminellen Flüchtlingen nur als ultima ratio in Betracht kommen, wenn ihr kriminelles Verhalten die Schwelle der besonders schweren Strafbarkeit überschreite (BVerwG, U.v. 31.1.2013, a.a.O., Rn. 14 m.w.N.). Die Entstehungsgeschichte der Genfer Flüchtlingskonvention bestätige zudem die Erforderlichkeit einer restriktiven Auslegung des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG. Die demgemäß für die Auslegung von § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG maßgebliche Genfer Flüchtlingskonvention knüpfe nach Wortlaut und Entstehungsgeschichte für den Ausschluss von dem Abschiebungsverbot des Art. 33 Abs. 1 GFK nur an die strafrechtliche Beurteilung des Verhaltens eines Flüchtlings an. Sei für jenen Ausschluss das Gewicht seiner Verfehlung maßgebend, sei dieses und damit die Schwere der Straftat deshalb allein nach strafrechtlichen Kategorien zu bemessen. Dies habe zur Folge, dass die von § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG zur Bestimmung der Schwere der Straftat geforderte Kombination von Delikt und Tatmodalität bereits im Strafrecht selbst angelegt sein müsse. Die Straftaten des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG müssten daher die im zweiten Halbsatz genannten Tatmodalitäten als ein qualifizierendes, strafschärfendes Merkmal aufweisen (ebenso: Koch in: Kluth/Heusch, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2021, § 60 AufenthG Rn. 56).

2. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts hat das Gericht zwar den Widerrufsbescheid umfassend auf seine Rechtmäßigkeit zu prüfen und dabei in seine Betrachtung auch vom Kläger nicht geltend gemachte Anfechtungsgründe sowie von der Behörde nicht angeführte Widerrufsgründe einzubeziehen (vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 - 10 C 17.12 - juris). Andere Widerrufsgründe als den Ausschluss des Klägers nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG von der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft hat die Beklagte nicht geltend gemacht. Eine Prüfung anderer Widerrufsgründe durch das Gericht kommt vorliegend jedoch nicht in Betracht, weil die Beklagte diesbezüglich wegen § 73 Abs. 2a Satz 5 AsylG eine Ermessensentscheidung treffen müsste. Die Beklagte hat in der mündlichen Verhandlung bestätigt, dass sie in Bezug auf den Kläger bereits vor dem streitgegenständlichen Widerruf ein Widerrufsverfahren eingeleitet hat, das nicht zu einem Widerruf geführt hat. In diesem Fall ist die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nicht einschlägig.

Der Bescheid war somit insgesamt aufzuheben.

II. Die Beklagte hat gemäß § 154 Abs. 1 VwGO die Kosten des gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfreien Verfahrens zu tragen.

III. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit des Urteils nach § 167 VwGO beruht auf §§ 708 Nr. 11, 711 Satz 1 ZPO.

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