Urteil vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg - 1 S 803/19

Tenor

Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Sigmaringen vom 13.02.2019 - 1 K 4335/17 - geändert. Die Klage wird hinsichtlich der Klageanträge zu 1 bis 4 und 7 bis 9 abgewiesen.

Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits in beiden Rechtszügen tragen der Kläger zu 7/9 und der Beklagte zu 2/9.

Die Revision wird zugelassen, soweit die Klage abgewiesen wurde.

Tatbestand

 
Der Kläger begehrt die Feststellung der Rechtswidrigkeit verschiedener polizeilicher Maßnahmen.
Die Partei „Alternative für Deutschland“ (AfD) veranstaltete vom 30.04.2016 bis 01.05.2016 im Internationalen Congresscenter Stuttgart (ICS) in der Landesmesse Stuttgart einen Bundesparteitag. Im Vorfeld kündigten verschiedene Gruppierungen Protest- und Gegenveranstaltungen an. Ein „Aktionsbündnis“ meldete als Versammlung eine Kundgebung und vier Mahnwachen auf der gesamten Fläche des Busbahnhofs Flughafen/Messe, einer Teilfläche der Messepiazza und auf der Flughafenstraße an. Die Polizei hatte am 25.04.2016 Kenntnis von der bundesweiten Anreise von 850 bis 1.000 gewaltbereiten Störern aus dem linksautonomen Spektrum erhalten, deren Absicht es nach den polizeilichen Aufklärungsergebnissen war, die Zufahrtswege zu blockieren und ähnlich wie bei den schweren Ausschreitungen anlässlich der Eröffnung der Europäischen Zentralbank (EZB) in Frankfurt am Main im Jahr 2015 Kraftfahrzeuge und Ladengeschäfte in Brand zu setzen und die Infrastruktur an der Landesmesse Stuttgart so zu zerstören, dass der Parteitag nicht stattfinden kann.
Am 30.04.2016 reisten ab 06.35 Uhr 13 Reisebusse mit polizeilich geschätzten 450 bis 500 Personen im Bereich des Kreisverkehrs an der Aus- und Abfahrt zu der Bundesautobahn (A) 8 östlich der Messepiazza und nördlich der Flughafenstraße an. Die aussteigenden Personen, die fast ausschließlich schwarz oder in weißen Einmalanzügen gekleidet und teilweise mit Kapuzen, Mützen, Schals und Sonnenbrillen vermummt waren, begaben sich auf direktem Weg zu dem Kreisverkehr. Innerhalb weniger Minuten sammelten sich auf dem Kreisverkehr mindestens 200 Personen. Aus der gesamten Menge wurde wiederholt Pyrotechnik (bengalisches Feuer, Rauchbomben und Böller) gezündet und geworfen. Die Ausfahrten des Kreisverkehrs wurden ab ca. 06.40 Uhr mit herbeigeholten Baustellenmaterialien (Zäune, Holzlatten, sonstige Bauprodukte) blockiert. Einzelne Personen hielten mehrere großflächige Transparente hoch (u.a. mit den Beschriftungen „AfD-Parteitag verhindern - Nationalismus ist keine Alternative“, „Den nationalistischen Konsens brechen“, „Let’s tear down the walls of fortress Europe“, „Nazistorten überall“).
Als Einsatzfahrzeuge der Polizei eintrafen, verließ die Personengruppe den Kreisverkehr in Richtung der zum Flughafen-Terminal führenden Ausfahrt; Polizeikräfte folgten. Gegen 06.59 Uhr kam die Personengruppe im Kreuzungsbereich auf der Flughafenstraße zum Stehen. In der Gruppe wurden weiter vereinzelte Transparente hochgehalten (u.a. „Antifeminismus ist keine Alternative“). Gegen 06.59 Uhr wurde den sich aus Westen nähernden weiteren Polizeikräften eine Rauchbombe entgegengeworfen. Zeitgleich formierten sich Polizeikräfte östlich der Personengruppe. Danach verließen einige Personen die Gruppe in Richtung Flughafen-Terminal. Gegen 07.02 Uhr umschlossen die Polizeikräfte die Personengruppe. Aus der Personengruppe wurde u.a. skandiert „AfD-Faschistenpack, wir haben Euch zum Kotzen satt“ und „AfD, Pegida, Faschisten - Scheiße“. Gegen 07.12 Uhr ordnete der Polizeiführer den Gewahrsam an und eröffnete dies den 419 umschlossenen Personen durch Lautsprecherdurchsage; unter diesen befand sich auch der Kläger.
Zeitgleich stieg eine etwa 300 Personen starke Personengruppe an der S-Bahn-Haltestelle Leinfelden-Echterdingen aus, zog über die Felder zur Landesmesse und blockierte die Bundesstraße (B) 27 und die A 8 unter Einsatz von Pyrotechnik und in Brand gesetzten Autoreifen. Im Flughafen-Terminal wurde ein Mülleimer angezündet.
Die Polizei teilte der Personengruppe auf der Flughafenstraße mit im Wesentlichen inhaltsgleichen Lautsprecherdurchsagen um 07.20 Uhr, 07.22 Uhr und 07.38 Uhr mit:
„Achtung, Achtung! Es folgt eine Durchsage der Polizei an alle Teilnehmer, die den friedlichen Verlauf der Versammlung stören. Aufgrund Ihrer Vermummung und der Errichtung von Barrikaden genießen Sie nicht mehr den Schutz des Versammlungsrechts. Sie befinden sich in polizeilichem Gewahrsam und werden in Kürze polizeilich bearbeitet. Bleiben Sie ruhig. Weitere Maßnahmen folgen.“
Die in Gewahrsam genommenen Personen wurden - der Kläger um 08.10 Uhr - durch zwei Einsatzkräfte einzeln aus der Umschließung herausgelöst; ihre Hände wurden mit Einwegschließen auf dem Rücken fixiert. Anschließend wurden sie mit Bussen - der Kläger stehend in einem Linienbus - zu einer in der Halle 9 der Messe provisorisch eingerichteten Gefangenensammelstelle gebracht, die nach der polizeilichen Konzeption ursprünglich für 300 bis 350 Personen geplant war. Aufgrund der Vielzahl der zeitgleich in Gewahrsam genommenen Personen kam es vor der Halle in dem Bus zu einer längeren Wartezeit. Gegen 13.30 Uhr wurde der Kläger identifiziert, durchsucht, als Beschuldigter über den Tatvorwurf des Landfriedensbruchs belehrt und videofotografiert. Um 13.33 Uhr wurde er in Einzelgewahrsam in einen Gefangenenbus eingeschlossen. Gegen 16.40 Uhr wurde mit der Entlassung der in Gewahrsam genommenen Personen begonnen. Die Entlassung erfolgte entweder direkt vor Ort bei der Messe oder durch Transport mit Linienbussen zu verschiedenen S-Bahn-Stationen in der Umgebung. Der Kläger verließ die Gefangenensammelstelle um 17.54 Uhr; ihm wurde mündlich ein Platzverweis für das Gelände der Landesmesse Stuttgart bis zum 01.05.2016 um 20.00 Uhr unter Aushändigung eines Lageplans mit seinem Geltungsbereich erteilt. Sodann wurde der Kläger in Begleitung von Polizeikräften mit einem Bus zum Bahnhof Esslingen verbracht und dort aus dem Gewahrsam entlassen. Eine richterliche Entscheidung über die Anordnung des Gewahrsams des Klägers wurde nicht herbeigeführt. Die Polizei hatte um 13.26 Uhr die Prognose getroffen, dass mit einer richterlichen Entscheidung vor Wegfall des Grundes für den Gewahrsam nicht zu rechnen sei.
Am 02.05.2017 hat der Kläger die von dem Verwaltungsgericht Stuttgart mit Beschluss vom 17.05.2017 an das Verwaltungsgericht Sigmaringen verwiesene Klage erhoben. Der Kläger hat beantragt, festzustellen, dass die gegen ihn gerichteten polizeilichen Maßnahmen am 30.04.2016, namentlich die Einschließung auf der Flughafenstraße gegen 07.00 Uhr, die Ingewahrsamnahme von ca. 07.30 bis ca. 19.50 Uhr, die Fixierung der Hände mittels Kabelbindern, der Transport mit dem Bus ohne Sitzmöglichkeit trotz Fesselung, das Versagen eines gewünschten Toilettengangs, das Vorenthalten von Trinkwasser, die Feststellung der Personalien und Herstellung von Fotos, der Platzverweis für das Messegelände und die Verbringung nach Esslingen, rechtswidrig waren.
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Zur Begründung hat er geltend gemacht, er sei erst unmittelbar vor der Einkesselung auf die festgesetzte Personengruppe getroffen. Er sei in einem Transporter mit sechs weiteren Personen aus Köln angereist, um ein Zeichen gegen den „Rechtsruck“ zu setzen und an einer der Demonstrationen gegen den AfD-Parteitag teilzunehmen. Auf dem Weg von dem Restaurant McDonald’s zu einer der Kundgebungen sei die Personenansammlung im Kreuzungsbereich der Flughafenstraße die erste gewesen, die ihm aufgefallen sei, weswegen er sich dieser angeschlossen habe. Bei seinem Eintreffen habe eine friedliche Stimmung geherrscht. Dennoch sei die Gruppe unmittelbar nach seinem Eintreffen eingeschlossen worden. Er habe die Polizisten noch gefragt, ob er gehen könne; dies sei jedoch verneint worden. Obwohl er keinen Widerstand geleistet habe, sei er gefesselt worden. Während des Transportes in einem überfüllten Bus zur Halle 9 habe er stehen müssen. Aufgrund der Fixierung der Hände auf dem Rücken habe er sich nicht festhalten können; es sei dem Zufall zu verdanken, dass er nicht gestürzt sei. Er habe gültige Ausweisdokumente mitgeführt; besondere Gegenstände oder zur Vermummung geeignete Kleidungsstücke habe er nicht bei sich gehabt. Da in der Einzelzelle des Gefangenenbusses niemand nach ihm gesehen habe, sei ein Toilettenbesuch nicht möglich gewesen und habe er nichts zu trinken erhalten.
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Die polizeilichen Maßnahmen seien rechtswidrig. Die Maßnahmen hätten ausschließlich auf Grundlage des Versammlungsgesetzes erfolgen dürfen. Denn die polizeiliche Einschätzung, dass es sich bei der eingeschlossenen Personengruppe nicht um eine Versammlung gehandelt habe, sei fehlerhaft. Zwar erstrecke sich der Schutz der Versammlungsfreiheit durch Art. 8 GG nur auf friedliche Versammlungen. Die Versammlung auf der Flughafenstraße sei jedoch nicht unfriedlich gewesen. Die Vorfälle, die sich zuvor auf dem Kreisverkehr ereignet hätten, dürften aufgrund der räumlichen und zeitlichen Zäsur nicht berücksichtigt werden. Zudem könne die Gewalttätigkeit Einzelner nicht den Grundrechtsschutz aller entfallen lassen. Überdies verkenne der Beklagte den Anwendungsbereich des Versammlungsgesetzes. Das Versammlungsgesetz gelte auch für unfriedliche Versammlungen. Die Polizeirechtsfestigkeit einer Versammlung entfalle erst, wenn diese aufgelöst worden sei. An einer wirksamen Auflösung fehle es hier, da der Inhalt der Lautsprecherdurchsage widersprüchlich und unklar sei. Die Einschließung der Teilnehmer der Versammlung sei überdies unverhältnismäßig gewesen. Richtigerweise hätte den Teilnehmern die Möglichkeit eingeräumt werden müssen, sich freiwillig zu entfernen. Der fortgesetzte Gewahrsam sei rechtswidrig, da seine Identität bereits zur Mittagszeit festgestellt worden sei. Angesichts seines kooperativen Verhaltens sei eine Fixierung nicht erforderlich gewesen. Der Transport in fixiertem Zustand in dem Bus habe ihn in seinem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit und seiner Menschenwürde verletzt. Weitere erhebliche Eingriffe stellten die Verweigerung des Toilettengangs und das Vorenthalten von Trinkwasser dar. Die Rechtswidrigkeit der Feststellung der Personalien und der Fertigung von Videobildern folge aus der Rechtswidrigkeit der Einschließung; da die Versammlung nicht aufgelöst worden sei, bestehe ein Anonymitätsinteresse. Der Platzverweis habe nicht ausgesprochen werden dürfen, weil im Zeitpunkt seiner Erteilung die Proteste gegen den Parteitag bereits beendet gewesen seien. Für die Verbringung nach Esslingen gebe es keine Rechtsgrundlage.
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Der Beklagte ist der Klage entgegengetreten. Die auf Vorschriften des Polizeigesetzes gestützten Maßnahmen seien rechtmäßig erfolgt. Der Polizeiführer habe entschieden, dass es sich nicht um eine Versammlung handelte, da die Personengruppe, die nach Verlassen der Busse sofort Pyrotechnik gezündet und Barrikaden errichtet habe und deren Angehörige teilweise vermummt gewesen seien, bereits am Kreisverkehr planmäßig gewalttätig vorgegangen sei. Zudem sei die Berufung auf die Versammlungsfreiheit ausgeschlossen, wenn Störerhandlungen auf die Verhinderung einer anderen Versammlung - hier des AfD-Parteitages - zielten. Die ergriffenen Maßnahmen richteten sich gegen den Kläger jedenfalls als Anscheinsstörer; der Kläger hätte die Personengruppe jederzeit vor der Umschließung verlassen können. Polizeiliches Ziel der Umschließung sei es gewesen, ein Zusammentreffen mit weiteren im Nahbereich der Messe auftretenden Störergruppen zu verhindern, nachdem die Personengruppe erkennbar keinen der angemeldeten Versammlungsorte aufgesucht habe. Die Aufrechterhaltung des Gewahrsams nach der Identitätsfeststellung des Klägers habe weitere Gewalttätigkeiten verhindern sollen. Die Fixierung sei wegen der geringen Anzahl der Begleitkräfte und der nicht einzuschätzenden Gefährdungslage in den Bussen zur Eigensicherung erfolgt. Der Bustransport sei in langsamer Fahrweise durchgeführt worden. Ein Toilettengang sei allen in Gewahrsam genommenen Personen in den hierzu aufgestellten Toilettenhäuschen ermöglicht worden. Für die Verpflegung einschließlich Getränke sei gesorgt worden. Der Platzverweis habe erneute Störungen verhindern sollen. Die Verbringung nach Esslingen sei eine Minusmaßnahme gegenüber einer Fortdauer des Gewahrsams gewesen.
13 
Mit Urteil vom 13.02.2019 hat das Verwaltungsgericht der Klage stattgegeben und die Rechtswidrigkeit der polizeilichen Maßnahmen festgestellt.
14 
Das Verwaltungsgericht hat seine Entscheidung damit begründet, dass die polizeirechtlichen Vorschriften, auf die der Beklagte seine Maßnahmen stütze, aufgrund der Sperrwirkung des Versammlungsrechts nicht anwendbar gewesen seien. Maßnahmen, welche die Teilnahme an einer Versammlung beendeten, seien rechtswidrig, solange die Versammlung nicht aufgelöst oder der Teilnehmer von der Versammlung ausgeschlossen worden sei. Zwar habe es sich bei der Versammlung auf der Flughafenstraße nicht um eine in den Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG fallende friedliche Versammlung gehandelt, da ein Großteil der Personen planmäßig vermummt gewesen sei, bereits unmittelbar nach Ankunft der Busse im Bereich des Kreisverkehrs Pyrotechnik gezündet und die Ausfahrten des Kreisverkehrs mit Baustellenabsperrungen blockiert habe. Die Gewalt sei dabei von der Solidarität der Mehrheit getragen worden. Jedenfalls habe es sich aber um eine Verhinderungsblockade gehandelt, um den Teilnehmern des AfD-Parteitages die Anreise unmöglich zu machen und diesen so zu verhindern. Dass die Versammlungsteilnehmer sich anschließend auf der Flughafenstraße deutlich zurückhaltender verhielten, habe den Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG nicht eröffnet, da es sich um ein einheitliches Geschehen ohne zeitliche Zäsur gehandelt habe und die Teilnehmer ihre Vermummung aufrechterhalten, die Flughafenstraße blockiert und eine Rauchbombe in Richtung der Einsatzkräfte geworfen hätten. Der Umstand, dass die Versammlung nicht in den Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG falle, eröffne jedoch keine polizeirechtlichen Befugnisse. Denn auch eine unfriedliche Versammlung sei eine Versammlung im Sinne des Versammlungsgesetzes, die ausschließlich durch ihre Auflösung unterbunden werden könne. Ausnahmsweise dürften anderenfalls nicht mehr durchführbare notwendige polizeiliche Maßnahmen - wie hier - auch vor einer Auflösung der Versammlung erfolgen. Die Auflösungsverfügung sei dann aber unverzüglich nachzuholen. Dies sei hier jedoch nicht geschehen. Denn die polizeiliche Durchsage um 07.20 Uhr könne nicht als eine wirksame Auflösungsverfügung qualifiziert werden, da sie nicht eindeutig und unmissverständlich formuliert gewesen sei. Es sei nicht erkennbar gewesen, dass diese sich an die Personengruppe in ihrer Gesamtheit richten sollte.
15 
Der Beklagte hat am 11.03.2019 die von dem Verwaltungsgericht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassene Berufung eingelegt.
16 
Zur Begründung führt er an: Die Anwendung polizeirechtlicher Befugnisse sei eröffnet gewesen. Denn die Personengruppe, in der sich der Kläger befand, habe zu keinem Zeitpunkt unter dem Schutz der Versammlungsfreiheit gestanden; es habe sich nicht um eine friedliche Versammlung gehandelt. Die vereinzelt sichtbaren Plakate, die als politische Meinungsäußerung zu bewerten seien, reichten nicht, um der Ansammlung einen kommunikativen Charakter zu geben. Denn sie träten hinter das Ziel, den Verkehr zu stören, zurück. Der unfriedliche Charakter der Ansammlung habe auf der Flughafenstraße fortbestanden. Die Personen seien weiter vermummt gewesen. Es habe keine größere zeitliche Zäsur gegeben. Jedenfalls eine Versammlung, die nicht erst in ihrem Verlaufe, sondern - wie hier - von Beginn an gewalttätig verlaufe, müsse nicht erst aufgelöst werden. Ungeachtet dessen sei die Versammlung jedenfalls mit den Lautsprecherdurchsagen rechtmäßig aufgelöst worden. Folglich sei die Ingewahrsamnahme rechtmäßig erfolgt. Eine erhebliche Störung der öffentlichen Sicherheit sei bereits mit der Blockade des Kreisverkehrs eingetreten. Zudem habe eine weitere Störung unmittelbar bevorgestanden, da sich die Gruppe 150 m von dem Eingang des Flughafen-Terminals befunden habe. Nachdem erkennbar keine Versammlungsorte aufgesucht wurden, sei aufgrund des gezeigten Verhaltens und der polizeilichen Aufklärungsergebnisse konkret zu befürchten gewesen, dass die Personengruppe gewalttätig gegen Teilnehmer des Parteitages vorgehen, das Flughafen-Terminal besetzen oder neuralgische Kreuzungen blockieren würde. Zur Begründung der Rechtmäßigkeit der weiteren polizeilichen Maßnahmen wiederholt der Beklagte sein erstinstanzliches Vorbringen und ergänzt: Die Identitätsfeststellung des Klägers sei rechtmäßig als doppelfunktionale Maßnahme zur Strafverfolgung und Gefahrenabwehr erfolgt. Der Polizeiführer habe angeordnet, dass jede in Gewahrsam genommene Person einem Richter vorgeführt werde. Das Amtsgericht Nürtingen sei durch vier Richterinnen und Richter ab 07.00 Uhr vor Ort gewesen. Im Vorfeld sei mit der Ingewahrsamnahme von lediglich bis zu 300 Personen gerechnet worden. Letztlich seien dem Amtsgericht insgesamt 50 Personen vorgeführt worden.
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Der Beklagte beantragt,
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das Urteil des Verwaltungsgerichts Sigmaringen vom 13.02.2019 - 1 K 4335/17 - abzuändern und die Klage abzuweisen.
19 
Der Kläger beantragt,
20 
die Berufung zurückzuweisen.
21 
Er verteidigt das angefochtene Urteil, auf dessen Ausführungen er verweist, und ergänzt: Die Behauptung des Beklagten, er habe die Versammlung zumindest rechtmäßig aufgelöst, stelle sich als widersprüchlich dar; denn die Polizeiführung habe die Personengruppe gerade nicht als Versammlung qualifiziert. Jedenfalls im Zeitpunkt der Einschließung habe die Versammlung auch keinen unfriedlichen Charakter mehr besessen. Ungeachtet dessen sei sie als sogenannte „demonstrative Blockade“ von der Versammlungsfreiheit geschützt; die Transparente und Sprechchöre belegten eine Meinungskundgabe. Schließlich falle aber auch eine bloße „Verhinderungsblockade“, die nicht primär ein kommunikatives Anliegen verfolge, in den Anwendungsbereich des Versammlungsgesetzes.
22 
Der Senat hat Beweis erhoben zu dem Polizeieinsatz am 30.04.2016 durch die Inaugenscheinnahme der polizeilichen Videoaufzeichnungen und die Vernehmung der Polizeibeamten ..., ... und ... als Zeugen; wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Sitzungsniederschrift (SN) Bezug genommen. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Streitakte, die Verfahrensakte des Verwaltungsgerichts (2 Bände) sowie den Verwaltungsvorgang des Polizeipräsidiums Reutlingen (- VV -; 1 Band mit zwei DVDs mit Video- und Lichtbildaufnahmen) Bezug genommen, die jeweils beigezogen worden sind.

Entscheidungsgründe

 
23 
Die nach Zulassung durch das Verwaltungsgericht statthafte und auch im Übrigen zulässige, insbesondere fristgerecht erhobene und begründete Berufung ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Das Verwaltungsgericht hat der Klage zu Unrecht vollumfänglich stattgegeben. Der Verwaltungsrechtsweg ist eröffnet (I.). Die Klage ist zulässig (II.), aber überwiegend unbegründet (III.).
24 
I. Der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten (§ 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO) ist gegeben. Gemäß § 17a Abs. 5 GVG prüft das Gericht, das über ein Rechtsmittel gegen eine Entscheidung in der Hauptsache entscheidet, nicht, ob der beschrittene Rechtsweg zulässig ist. Danach ist der Senat an die Entscheidung des Verwaltungsgerichts gebunden, welches den Verwaltungsrechtsweg mit der zutreffenden Begründung bejaht hat, dass die angegriffenen Maßnahmen, soweit es sich bei der Identitätsfeststellung und der erkennungsdienstlichen Behandlung um sogenannte doppelfunktionale Maßnahmen der Gefahrenabwehr und der Strafverfolgung handelt, nach dem maßgeblichen Eindruck des betroffenen Klägers zumindest auch auf polizeirechtlicher Grundlage erfolgten (vgl. Senat, Urt. v. 27.09.2004 - 1 S 2206/03 -, juris Rn. 28) und eine verwaltungsgerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit des Gewahrsams nicht ausgeschlossen ist, weil eine Entscheidung des Amtsgerichts nach § 28 Abs. 4 Satz 8 PolG in der zum maßgeblichen Zeitpunkt am 30.04.2016 geltenden Fassung (a.F.) nicht ergangen ist.
25 
II. Die Klage ist zulässig.
26 
1. Die Klage ist ungeachtet der Frage, ob es sich bei den angegriffenen polizeilichen Maßnahmen im Einzelnen um eigenständige Verwaltungsakte mit entsprechendem Regelungsgehalt (wie die Ingewahrsamnahme und den Platzverweis) oder bloße Realakte bei Vollzug des polizeilichen Gewahrsams (wie die Ermöglichung eines Toilettengangs und die Versorgung mit Trinkwasser) handelt, jedenfalls als Fortsetzungsfeststellungsklage entsprechend § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO (st. Rspr.;vgl. Senat, Urt. v. 27.01.2015 - 1 S 257/13 -, juris Rn. 23; BVerwG, Urt. v. 24.11.2010 - 6 C 16.09 -, juris Rn. 26) oder als allgemeine Feststellungsklage gemäß § 43 Abs. 1 VwGO statthaft, nachdem sich diese vor Klageerhebung erledigt haben.
27 
2. Eine Klage, die - wie hier - auf die Feststellung der Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsakts gerichtet ist, der sich vorprozessual vor Eintritt der Bestandskraft erledigt hat, unterliegt keiner Frist (vgl. Senat, Urt. v. 14.04.2005 - 1 S 2362/04 -, juris Rn. 21; BVerwG, Urt. v. 14.07.1999 - 6 C 7.98 -, juris Rn. 19).
28 
Das Klagerecht war im Zeitpunkt der Klageerhebung am 02.05.2017 ein Jahr nach Erledigung der polizeilichen Maßnahmen am 30.04.2016 nicht verwirkt.Die Verwirkung des Klagerechts setzt voraus, dass die Klageerhebung gegen Treu und Glauben verstößt, weil der Kläger trotz Kenntnis von der Möglichkeit der Klageerhebung über einen längeren Zeitraum erst zu einem derart späten Zeitpunkt Klage erhebt, dass der Beklagte nicht mehr mit einer Klagerhebung rechnen musste und sich hierauf auch tatsächlich eingerichtet hat (vgl. BVerwG, Urt. v. 10.08.2000 - 4 A 11.99 -, juris Rn. 16). Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor. Ein schutzwürdiges Vertrauen wird entsprechend der gesetzlichen Wertung in § 58 Abs. 2 VwGO regelmäßig erst nach Ablauf eines Jahres entstehen können (vgl. VG Leipzig, Urt. v. 05.12.2018 - 1 K 2069/17 -, juris Rn. 19; s.a. Senat, Urt. v. 14.04.2005 - 1 S 2362/04 -, juris Rn. 21). Angesichts des anwaltlichen Akteneinsichtsgesuchs vom 11.05.2016 musste der Beklagte im Zeitpunkt der Klageerhebung von einem fortbestehenden rechtlichen Klärungsinteresse des Klägers ausgehen.
29 
3. Der Kläger hat ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit der polizeilichen Maßnahmen.
30 
Die (Fortsetzungs-)Feststellungsklage ist nur zulässig, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit des erledigten Verwaltungsakts (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO) oder des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses (vgl. § 43 Abs. 1 VwGO) hat. Ein solches Interesse kann rechtlicher, wirtschaftlicher oder auch ideeller Natur sein (st. Rspr; vgl. nur BVerwG, Urt. v. 29.03.2017 - 6 C 1.16 -, juris Rn. 29; Beschl. v. 04.12.2018 - 6 B 56.18 -, juris Rn. 9). Es muss im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung vorliegen.
31 
Hier kann der Kläger ein berechtigtes Feststellungsinteresse zwar nicht auf ein Rehabilitierungsinteresse (a), aber auf die grundgesetzliche Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) stützen (b).
32 
a)Auf ein Rehabilitierungsinteresse kann der Kläger sich im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht (mehr) berufen.Ein Rehabilitationsinteresse ist zu bejahen, wenn sich aus der angegriffenen Maßnahme eine Stigmatisierung des Betroffenen ergibt, die geeignet ist, sein Ansehen in der Öffentlichkeit oder im sozialen Umfeld herabzusetzen, diese Stigmatisierung Außenwirkung erlangt hat und noch in der Gegenwart andauert (BVerwG, Urt. v. 16.05.2013 - 8 C 14.12 -, juris Rn. 25; Beschl. v. 04.12.2018 - 6 B 56.18 -, juris Rn. 11; Beschl. v. 25.06.2019 - 6 B 154.18 u.a. -, juris Rn. 5). Letzteres lässt sich hier nicht feststellen. Denn es erscheint zweifelhaft, dass von den polizeilichen Maßnahmen gegenüber dem Kläger am 30.04.2016, die ursprünglich unzweifelhaft eine diskriminierende Wirkung entfalteten, nach Ablauf von fünfeinhalb Jahren weiterhin nachteilige Wirkungen ausgehen, die im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung andauern.Der Kläger hat ungünstige Nachwirkungen im beruflichen oder gesellschaftlichen Bereich nicht dargetan. Die zahlreichen, bis heute im Internet abrufbaren Zeitungsartikel, die von der Ingewahrsamnahme am 30.04.2016 berichten, erwähnen den Kläger nicht namentlich.
33 
b) Das Gebot effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) verlangt, ein berechtigtes Feststellungsinteresse über die einfach-rechtlichen Konkretisierungen hinaus auch dann anzuerkennen, wenn ein tiefgreifender Eingriff in die Grundrechte sich typischerweise so kurzfristig erledigt, dass gerichtlicher Rechtsschutz in einem Hauptsachverfahren regelmäßig nicht erlangt werden kann (st. Rspr.; vgl. nur Senat, Urt. v. 14.04.2005 - 1 S 2362/04 -, juris Rn. 25; BVerwG, Beschluss vom 20.12.2017 - 6 B 14.17 -, juris Rn. 13; Beschl. v. 25.06.2019 - 6 B 154.18 u.a. -, juris Rn. 5; Urt. v. 12.11.2020 - 2 C 5.19 -, juris Rn. 15). Verfassungsrecht gebietet nur dann, eine drohende Rechtsschutzlücke zu schließen, wenn es sich bei der angegriffenen Maßnahme um einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff handelt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 07.12.1998 - 1 BvR 831/89 -, juris Rn. 25 f.; Beschl. v. 03.03.2004 - 1 BvR 461/03 -, juris Rn. 28, 36; Beschl. v. 04.02.2005 - 2 BvR 308/04 -, juris Rn. 19; BVerwG, Beschl. v. 30.04.1999 - 1 B 36.99 -, juris Rn. 9; Beschl. v. 20.12.2017 - 6 B 14.17, juris Rn. 13; Urt. v. 12.11.2020 - 2 C 5.19 -, juris Rn. 15; s.a. SächsOVG, Beschl. v. 17.11.2015 - 3 A 440/15 -, juris Rn. 8; OVG RP, Urt. v. 27.03.2014 - 7 A 11202/13 -, juris, Rn. 26).
34 
Dies trifft hier auf die polizeiliche Ingewahrsamnahme und deren Vollstreckung mittels Fesselung (Klageanträge zu 1 bis 3 und 9), die von dem Kläger gerügte Durchführung des Bustransportes, Verweigerung eines Toilettengangs und Versagung von Trinkwasser (Klageanträge zu 4 bis 6), die Identitätsfeststellung und erkennungsdienstliche Behandlung (Klageantrag zu 7) sowie den Platzverweis (Klageantrag zu 8), welche in die Freiheit der Person nach Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG, das allgemeine Persönlichkeitsrecht nach Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG, die Menschenwürdegarantie nach Art. 1 Abs. 1 GG und - mit der nach dem klägerischen Vortrag zumindest möglich erscheinenden tatsächlichen Unterbindung einer Versammlung auch schwerwiegend (vgl. BVerfG, Beschl. v. 03.03.2004 - 1 BvR 461/03 -, juris Rn. 37) - in die Versammlungsfreiheit nach Art. 8 Abs. 1 GG eingreifen und typischerweise nur von kurzer Dauer sind, zu.
35 
III. Die Klage ist überwiegend unbegründet. Die Einkesselung der Personengruppe (Klageantrag zu 1), die Ingewahrsamnahme des Klägers (Klageantrag zu 2) und seine Fesselung (Klageantrag zu 3), die Durchführung des Bustransports (Klageantrag zu 4), die Identitätsfeststellung und die Fertigung von Lichtbildern (Klageantrag zu 7), der Platzverweis (Klageantrag zu 8) und die Verbringung nach Esslingen (Klageantrag zu 9) waren rechtmäßig; nur die Versagung eines Toilettenganges (Klageantrag zu 5) und das Vorenthalten von Trinkwasser (Klageantrag zu 6) waren rechtswidrig und verletzten den Kläger in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
36 
1. Die Einkesselung der Personengruppe auf der Kreuzung Flughafenstraße um 7.02 Uhr (Klageantrag zu 1) war rechtmäßig.
37 
a) Als Rechtsgrundlage für die Einschließung des Klägers als Teilnehmer der Ansammlung auf der Kreuzung Flughafenstraße, die mit der Aufhebung der körperlichen Bewegungsfreiheit in jede Richtung und über einen längeren Zeitraum eine Freiheitsentziehung darstellt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 08.03.2011 - 1 BvR 47/05 -, juris Rn. 20) und damit polizeirechtlich als eine Ingewahrsamnahme zu qualifizieren ist (vgl. VG Karlsruhe, Urt. v. 12.01.2017 - 3 K 141/16 -, juris Rn. 28; Urt. v. 10.12.2018 - 1 K 6428/16 -, juris Rn. 59; jeweils m.w.N.; BeckOK PolR BW/Hauser, 22. Ed. 17.1.2021, BWPolG § 33 Rn. 18; Groscurth, in: Peters/Janz, Handbuch Versammlungsrecht, 2. Aufl. 2021, G Rn. 178), die als solche auch nicht als eine sogenannte „Minusmaßnahme“ gegenüber einer Auflösung der Versammlung auf § 15 Abs. 3 VersG gestützt werden könnte, kommt allein § 28 Abs. 1 Nr. 1 PolG a.F. in Betracht.
38 
Die Vorschrift war in jenem Zeitpunkt anwendbar. Der Anwendbarkeit stand die abschließende spezialgesetzliche Regelung der Befugnisse zur Abwehr versammlungsspezifischer Gefahren durch das Versammlungsgesetz, die einen Rückgriff auf polizeirechtliche Befugnisse grundsätzlich erst nach der Auflösung einer Versammlung erlaubt, nicht entgegen.
39 
Polizeiliche Maßnahmen können nach Beginn einer Versammlung zur Abwehr von versammlungsspezifischen Gefahren, die ihre Ursache in der Versammlung und ihrem Ablauf haben, grundsätzlich nur auf die im Versammlungsgesetz besonders und abschließend geregelten Befugnisse gestützt werden, die insoweit als Spezialgesetz den allgemeinen polizeirechtlichen Vorschriften vorgehen (sog. „Polizei[rechts]festigkeit“ der Versammlung; vgl. Senat, Urt. v. 26.01.1998 - 1 S 3280/96 -, juris Rn. 34; BVerwG, Urt. v. 25.07.2007 - 6 C 39.06 -, juris Rn. 30; Beschl. v. 03.05.2019 - 6 B 149.18 -, juris Rn. 8; BVerfG, Beschl. v. 30.04.2007 - 1 BvR 1090/96 -, juris Rn. 43; Dürig-Friedl/Enders/Dürig-Friedl, VersammlG § 15 Rn. 6; Groscurth, in: Peters/Janz, Handbuch Versammlungsrecht, 2. Aufl. 2021, G Rn. 24 ff.;Kniesel/Poscher, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 7. Aufl. 2021, J Rn. 28). Die im Vergleich zum allgemeinen Polizeirecht besonderen Voraussetzungen für beschränkende Maßnahmen nach dem Versammlungsgesetz sind Ausprägungen des Grundrechts der Versammlungsfreiheit. Soweit das Versammlungsgesetz - wie etwa hinsichtlich der Störerauswahl oder der Vollstreckung von auf versammlungsrechtlicher Grundlage erlassenen Verfügungen - Regelungslücken aufweist, ist ein ergänzender Rückgriff auf polizeirechtliche Bestimmungen nicht ausgeschlossen (vgl.BVerwG, Urt. v. 25.07.2007 - 6 C 39.06 -, juris Rn. 30; Beschl. v. 03.05.2019 - 6 B 149.18 -, juris Rn. 8; Groscurth, in: Peters/Janz, Handbuch Versammlungsrecht, 2. Aufl. 2021, G Rn. 10). Findet danach das Versammlungsgesetz Anwendung, darf auf andere Rechtsgrundlagen, die zu einem polizeilichen Einschreiten ermächtigen, erst dann zurückgegriffen werden, wenn die Versammlung zuvor rechtmäßig aufgelöst worden ist (vgl. Senat, Urt. v. 25.04.2007 - 1 S 2828/06 -, juris Rn. 25; BVerfG, Beschl. v. 30.04.2007 - 1 BvR 1090/96 -, juris Rn. 40; Dürig-Friedl/Enders/Dürig-Friedl, VersammlG § 15 Rn. 6; Groscurth, in: Peters/Janz, Handbuch Versammlungsrecht, 2. Aufl. 2021, G Rn. 9; Kniesel/Poscher, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 7. Aufl. 2021, J Rn. 30).
40 
Danach konnte die Polizei die Ingewahrsamnahme des Klägers auf polizeirechtliche Befugnisse stützen. Denn bei der Ansammlung auf der Kreuzung Flughafenstraße handelte es sich im maßgeblichen Zeitpunkt des polizeilichen Einschreitens nicht um eine Versammlung im Sinne des Versammlungsgesetzes.
41 
aa) Die Anwendbarkeit und Sperrwirkung des Versammlungsgesetzes setzt eine Versammlung voraus.
42 
aaa) Der Versammlungsbegriff ist im Versammlungsgesetz nicht definiert. Nach ständiger Rechtsprechung ist unter einer Versammlung in Übereinstimmung mit dem verfassungsrechtlichen Begriff der Versammlung im Sinne des Art. 8 GG (vgl. BVerfG, Beschl. v. 30.08.2020 - 1 BvQ 94/20 -, juris Rn. 14), der nicht gleichbedeutend mit dem Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG ist, die örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zum Zwecke der gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung zu verstehen (vgl. Senat, Urt. v. 26.01.1998 - 1 S 3280/96 -, juris Rn. 35; Urt. v. 25.04.2007 - 1 S 2828/06 -, juris Rn. 25; BVerwG, Urt. v. 16.05.2007 - 6 C 23.06 -, juris Rn. 15; Beschl. v. 05.03.2020 - 6 B 1.20 -, juris Rn. 7; Dürig-Friedl/Enders/Enders, 1. Aufl. 2016, VersammlG § 1 Rn. 6; Lux, in: Peters/Janz, Handbuch Versammlungsrecht, 2. Aufl. 2021, D Rn. 39).
43 
Für die Bejahung der Versammlungseigenschaft genügt danach nicht schon jeder beliebige von einer Personengruppe verfolgte Zweck. Einen abweichenden Schluss rechtfertigt auch die Bestimmung des § 17 VersG nicht, wonach die §§ 14 bis 16 VersG nicht für Gottesdienste unter freiem Himmel, kirchliche Prozessionen, Bittgänge und Wallfahrten, gewöhnliche Leichenbegräbnisse, Züge von Hochzeitsgesellschaften und hergebrachte Volksfeste gelten. Bei der Vorschrift handelt es sich um eine entbehrliche Klarstellung, da die genannten Veranstaltungen ohnehin regelmäßig nicht auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichtet sind. Die Ansicht, wonach sich hieraus im Umkehrschluss ein weiter Versammlungsbegriff des Versammlungsgesetzes ableiten lasse (Kniesel/Poscher, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 7. Aufl. 2021, J Rn. 54; Rusteberg, NJW 2011, 2999 <3003>), übersieht, dass es sich bei § 17 VersG um die nur historisch zu erklärende unreflektierte Übernahme früherer, insbesondere staatskirchenrechtlich begründeter Regelungen handelt, die nicht geeignet ist, den Begriff der Versammlung im Sinne des Versammlungsgesetzes verallgemeinerungsfähig zu erhellen (Dürig-Friedl/Enders/Enders, 1. Aufl. 2016, VersammlG § 1 Rn. 8; Lux, in: Peters/Janz, Handbuch Versammlungsrecht, 2. Aufl. 2021, D Rn. 39 jeweils m.w.N.). Hinzukommt, dass sich ein derart weitreichendes Begriffsverständnis verfassungsrechtlichen Bedenken ausgesetzt sähe, da der Bund nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 3 GG a.F. die Gesetzgebungskompetenz für das Versammlungsrecht nur im Umfang des grundgesetzlichen Versammlungsbegriffes im Sinne des Art. 8 GG hatte (vgl. BeckOK GG/Seiler, 48. Ed. 15.8.2021, GG Art. 74 Rn. 17).
44 
bbb) Der Anwendungsbereich des Versammlungsgesetzes umfasst auch die unfriedliche Versammlung; denn auch eine unfriedliche Versammlung, die nicht den grundrechtlichen Schutz des Art. 8 Abs. 1 GG genießt, ist eine Versammlung im Sinne des Versammlungsgesetzes (vgl. Senat, Urt. v. 21.04.1986 - 1 S 650/86 -, VBlBW 1986, 305; BVerwG, Beschl. v. 14.01.1987 - 1 B 219/86 -, juris Rn. 10; SaarlOVG, Urt. v. 27.10.1988 - 1 R 169/86 -, juris Rn. 29; OVG Bremen, Urt. v. 04.11.1986 - 1 BA 15/86 -, NVwZ 1987, 235 <236>; Dürig-Friedl/Enders/Dürig-Friedl, VersammlG § 15 Rn. 7; Lux, in: Peters/Janz, Handbuch Versammlungsrecht, 2. Aufl. 2021, D Rn. 23). Dies ergibt sich aus der Systematik des Versammlungsgesetzes, welches Eingriffsbefugnisse auch gegenüber unfriedlichen Versammlungen regelt. So bestimmt § 5 Nr. 3 VersG, dass die Abhaltung einer Versammlung nur im Einzelfall und nur dann verboten werden kann, wenn Tatsachen festgestellt sind, aus denen sich ergibt, dass der Veranstalter oder sein Anhang einen gewalttätigen oder aufrührerischen Verlauf der Versammlung anstreben. § 13 Abs. 1 Nr. 2 VersG legt fest, dass die Polizei die Versammlung nur dann und unter Angabe des Grundes auflösen kann, wenn die Versammlung einen gewalttätigen oder aufrührerischen Verlauf nimmt oder unmittelbare Gefahr für Leben und Gesundheit der Teilnehmer besteht. Handelte es sich bei derartigen Veranstaltungen schon tatbestandlich nicht um Versammlungen, wäre eine Regelung im Versammlungsgesetz entbehrlich. Für ein umfassendes Verständnis des Versammlungsbegriffs des Versammlungsgesetzes unter Einschluss unfriedlicher Versammlungen spricht auch die gesetzgeberische Intention, bis zu einer Auflösung der Versammlung selbst die Verantwortung für die Einhaltung der gesetzlichen Regelungen und behördlichen Auflagen zu übertragen (vgl. Kniesel/Poscher, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 7. Aufl. 2021, J Rn. 30).
45 
ccc) Danach können auch sogenannte Blockadeaktionen in den Anwendungsbereich und damit unter den Auflösungsvorbehalt des Versammlungsgesetzes fallen, wenn und soweit diese von dem - tatbestandlich für die Annahme einer Versammlung vorausgesetzten - gemeinschaftlichen Zweck der Meinungskundgabe getragen sind (vgl. BVerwG, Beschl. v. 14.01.1987 - 1 B 219.86 -, juris Rn. 10 für eine unfriedliche Sitzblockade).
46 
(1) Unter den Begriff der Versammlung fallen auch solche Zusammenkünfte, bei denen die Versammlungsfreiheit zum Zwecke plakativer oder aufsehenerregender Meinungskundgabe in Anspruch genommen wird (vgl. BVerfG, Beschl. v. 07.03.2011 - 1 BvR 388/05 -, juris Rn. 32 m.w.N.).
47 
Dies erfasst Veranstaltungen, bei denen die Teilnehmer ihre Meinungen zusätzlich oder ausschließlich auf andere Weise als in verbaler Form, etwa durch ihre bloße Anwesenheit z.B. in der Gestalt einer Blockade, zum Ausdruck bringen (sog. „demonstrative Blockade“; vgl. BVerfG, Beschl. v. 24.10.2001 - 1 BvR 1190/90 u.a. -, juris Rn. 39). Die Blockade darf dabei jedoch nicht Selbstzweck, sondern muss ein dem Kommunikationsanliegen untergeordnetes Mittel zur symbolischen Unterstützung des Protests und damit zur Verstärkung der kommunikativen Wirkung in der Öffentlichkeit sein (BVerfG, Beschl. v. 24.10.2001 - 1 BvR 1190/90 u.a. -, juris Rn. 42; HessVGH, Beschl. v. 02.10.2020 - 2 B 2369/20 - juris, Rn. 18; OVG Bln-Bbg, Beschl. v. 18.01.2016 - OVG 1 N 86.14 -, juris Rn. 14; Dürig-Friedl/Enders/Enders, 1. Aufl. 2016, VersammlG § 1 Rn. 10; Hong, in: Peters/Janz, Handbuch Versammlungsrecht, 2. Aufl. 2021, D Rn. 29).
48 
Demgegenüber handelt es sich bei strategischen Blockaden, die nicht nur kurzfristig symbolischen Protest ausdrücken wollen, bei dem die Behinderung Dritter bloße Nebenfolge ist, sondern deren primärer Zweck es ist, eigene Forderungen zwangsweise durchzusetzen, die Rechte Dritter gezielt zu beeinträchtigen oder das, was - wie etwa eine andere Versammlung - politisch missbilligt wird, tatsächlich zu stören oder zu verhindern, nicht um eine geschützte Versammlung (sogenannte „Verhinderungsblockade“; vgl. Senat, Urt. v. 06.11.2013 - 1 S 1640/12 -, juris Rn. 51; BVerfG, Beschl. v. 24.10.2001 - 1 BvR 1190/90 u.a. -, juris Rn. 44; HambOVG, Beschl. v. 03.07.2017 - 4 Bs 142/17 -, juris Rn. 70; HessVGH, Beschl. v. 02.10.2020 - 2 B 2369/20 - juris, Rn. 18; OVG Nds., Urt. v. 29.5.2008 - 11 LC 138/06 -, juris, Rn. 53). Derartige Veranstaltungen erfüllen nicht die tatbestandlichen Voraussetzungen einer Versammlung im Sinne des Art. 8 GG und des Versammlungsgesetzes, weil sie nicht auf eine Meinungskundgabe gerichtet sind. Sie verlassen das Feld der geistig-inhaltlichen Auseinandersetzung; denn ihnen fehlt die Bereitschaft, die abweichende Meinung und Versammlung in ihrem Bestand hinzunehmen und abweichende Ziele allein mit kommunikativen Mitteln zu verfolgen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 11.06.1991 - 1 BvR 772/90 -, juris Rn. 17).
49 
(2) Die im Schrifttum vertretene - unterschiedlich begründete und weit verstandene - abweichende Ansicht, wonach auch sogenannte „Verhinderungsblockaden“ in den Anwendungsbereich des Versammlungsgesetzes fallen sollen (vgl. Rusteberg, NJW 2011, 2999 <3003>; ohne nähere Begründung jeweils Dürig-Friedl/Enders/Enders, 1. Aufl. 2016 VersammlG § 1 Rn. 10; Kniesel/Poscher, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 7. Aufl. 2021, J, Rn. 440 ff.; s.a. Hong, in: Peters/Janz, Handbuch Versammlungsrecht, 2. Aufl. 2021, D Rn. 31), überzeugt nicht. Sie entbehrt eines normativen Anknüpfungspunktes, ist erkennbar von der einseitigen Vorstellung einer friedlichen Sitzblockade getragen und lässt hierbei andere Formen der Störung oder Verhinderung einer Veranstaltung außer Betracht. Vor allem aber übergeht sie, dass eine Zusammenkunft, die nicht in erster Linie auf eine Meinungskundgabe zielt, bereits tatbestandlich nicht die Voraussetzungen einer Versammlung erfüllt. Der Versammlungsbegriff im Sinne des Versammlungsgesetzes verlangt, wie unter III. 1. a) aa) aaa) dargelegt, dass die Veranstaltung im Vordergrund auf eine Meinungskundgabe gerichtet ist (a.A. Rusteberg, NJW 2011, 2999 <3003>). Hierzu genügt es nicht, dass sie nur mittelbar der Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung dient (so aber Rusteberg, a.a.O.). Der final auf die öffentliche Meinungskundgabe zielende Charakter der Zusammenkunft muss vielmehr erkennbar im objektiven Gesamtgepräge der Ansammlung Ausdruck finden. Bei diesem zutreffenden Verständnis verlangt auch der Sinn und Zweck des Versammlungsgesetzes nicht, seinen Anwendungsbereich auf Veranstaltungen auszudehnen, die nicht die Anforderungen einer Versammlung im Sinne des Art. 8 Abs. 1 GG erfüllen, weil Teilnehmer und Beamte vor Ort reine „Verhinderungsblockaden“ aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes nicht sicher von Blockaden unterscheiden könnten, die auch der öffentlichen Meinungsbildung dienen (so Rusteberg, NJW 2011, 2999 <3003>). Dies gilt jedenfalls dann, wenn die Zusammenkunft von Beginn an nicht die Voraussetzungen einer Versammlung erfüllt. Dem Vorschlag, eine sogenannte „Verhinderungsblockade“ zunächst für einen Zeitraum von bis zu 20 min als eine Versammlung im Sinne des Art. 8 Abs. 1 GG zu behandeln, um sich Gewissheit über deren tatsächliche Absicht zu verschaffen, und diese sodann gegebenenfalls aufzulösen (Kniesel/Poscher, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 7. Aufl. 2021, J, Rn. 441 ff.), mangelt es an einer gesetzlichen Begründung. Schließlich wird der Begriff der „Verhinderungsblockade“ überdehnt, wenn eine solche auch in einer Demonstration gesehen wird, die sich gegen eine andere Versammlung richtet, dabei aber nicht die Verhinderung der anderen Versammlung, sondern die Erzielung der öffentlichen Aufmerksamkeit für den eigenen, positiv bestimmbaren Standpunkt im Vordergrund steht (vgl. Hong, in: Peters/Janz, Handbuch Versammlungsrecht, 2. Aufl. 2021, D Rn. 31); denn richtigerweise handelt es sich hierbei um nicht um eine „Verhinderungsblockade“, sondern eine „demonstrative Blockade“.
50 
(3) Für die Abgrenzung einer „demonstrativen Blockade“ von einer bloßen „Verhinderungsblockade“ kommt es maßgeblich darauf an, ob die Ansammlung sich nach ihrem anhand der objektiven Umstände zu ermittelnden Gesamtgepräge im Kern kommunikativer Mittel bedient und nicht ausschließlich bezweckt, die Veranstaltung, gegen die sie sich richtet, mit physischen Mitteln zu verhindern (vgl. BVerfG, Beschl. v. 11.06.1991 - 1 BvR 772/90 -, juris Rn. 15; OVG Bln-Bbg, Beschl. v. 18.01.2016 - OVG 1 N 86.14 -, juris Rn. 15). Hierzu bedarf es substantiierter Anhaltspunkte dafür, dass der Kommunikationszweck im Vordergrund steht (vgl. BVerfG, Beschl. v. 24.10.2001 - 1 BvR 1190/90 u.a. -, juris Rn. 44 f.); nicht ausreichend ist es dagegen, wenn die Teilnehmer lediglich bei bloßer Gelegenheit einer Blockade ihre Meinung kundtun. Ob dies der Fall ist, ist im Einzelfall anhand Art, Umfang und Dauer der Blockade sowie ihres sachlichen Zusammenhangs mit dem inhaltlichen Gegenstand der Versammlung zu beurteilen (vgl. HessVGH, Beschl. v. 02.10.2020 - 2 B 2369/20 - juris, Rn. 19 ff.; Dürig-Friedl/Enders/Dürig-Friedl, VersammlG § 15 Rn. 46 m.w.N.; Trurnit, NVwZ 2016, 873 <875>). Die Intensität der Blockademaßnahmen kann Aufschluss über den Zweck der Zusammenkunft geben.Denn entgegen einer im Schrifttum vertretenen Auffassung verhält es sich keineswegs zwangsläufig so, dass Demonstrationen, die in Blockadeform erfolgen, regelmäßig nichts Anderes wollen, als auch auf die öffentliche Meinungsbildung Einfluss zu nehmen, und hierbei nicht nur das Recht des Anderen negativ bestreiten, sondern zugleich ihre eigene Meinung positiv zum Ausdruck bringen (so aber Rusteberg, NJW 2011, 2999 <3001 f.>). Eine Blockade, die rein symbolischer Natur und nach kürzester Zeit beendet ist, wird im Zweifel nicht von einer Verhinderungsabsicht getragen sein. Umgekehrt wird eine Ansammlung, die von Beginn nicht maßgeblich durch Elemente einer öffentlichen Meinungsbekundung geprägt ist, regelmäßig nicht die Voraussetzungen einer Versammlung erfüllen. Für die Beurteilung des symbolhaften Charakters einer Blockade kann zu berücksichtigen sein, ob sie objektiv überhaupt geeignet ist, das erklärte Ziel vor Ort tatsächlich mit physischen Mitteln zu erreichen (vgl. HessVGH, Beschl. v. 02.10.2020 - 2 B 2369/20 - juris, Rn. 20; VG Stuttgart, Urt. v. 18.11.2015 - 5 K 1265/14 -, juris Rn. 43; s.a. BVerfG, Beschl. v. 07.03.2011 - 1 BvR 388/05 -, juris Rn. 35: „konkrete[n], vor Ort durchsetzbare[n] Forderung“).
51 
bb) Gemessen an diesem Maßstab handelte es sich bei der Personengruppe auf der Kreuzung Flughafenstraße im maßgeblichen Zeitpunkt des polizeilichen Einschreitens um 07.02 Uhr um keine Versammlung im Sinne des Versammlungsgesetzes.Bei der gebotenen Würdigung der objektiven Gesamtumstände lässt sich nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme, insbesondere des Inhaltes der polizeilichen Videoaufzeichnungen und der Angaben des Zeugen ...-... nicht feststellen, dass die Ansammlung im Vordergrund unter Einsatz kommunikativer Mittel auf eine öffentliche Meinungsbekundung gerichtet war. Vielmehr war es primärer Zweck der Zusammenkunft, die Durchführung des AfD-Parteitages mit unfriedlichen Mitteln tatsächlich zu verhindern oder zumindest erheblich zu stören.
52 
Dass hierin das erklärte Ziel der Personengruppe lag, belegt das Transparent „AfD-Parteitag verhindern - Nationalismus ist keine Alternative“ (Video, 19:40 min). Hiermit brachte die Ansammlung ihre fehlende Bereitschaft zum Ausdruck, die Veranstaltung des AfD-Parteitages als solche hinzunehmen, um sich mit dieser auf kommunikativem Wege auseinanderzusetzen.
53 
Diese Haltung hat in dem weiteren Verhalten der Personengruppe eine tatsächliche Bestätigung erfahren. Von Beginn an zeigten die Personen ein nicht auf ein martialisches Auftreten zu reduzierendes, nicht nur vereinzeltes gewalttätiges Verhalten, welches der Zusammenkunft ihr maßgebliches objektives Gepräge gab. Schon unmittelbar nach Verlassen der Reisebusse auf dem Kreisverkehr an der Abfahrt von der A 8 um 06.35 Uhr wurde ein erster pyrotechnischer Gegenstand gezündet (Video, 1:35 min); weitere folgten fortlaufend während nahezu des gesamten weiteren Geschehens. Kurze Zeit später begannen Teile der Gruppe damit, an den Ausfahrten des Kreisverkehrs mit Baustellenbarken und sonstigem Baustellenmaterial Barrikaden zu errichten.Die Personengruppe stellte sich für den Betrachter aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes als eine homogene Gruppe dar. Die ganz überwiegende Zahl trug schwarze Bekleidung oder weiße Einmalanzüge; die meisten Personen waren mit Kapuzen, Mützen, Schals und Sonnenbrillen vermummt. Das unfriedliche Verhalten erfolgte koordiniert und zielgerichtet und wurde ersichtlich von der Solidarität der Mehrheit der Personengruppe getragen; die Videoaufzeichnungen belegen keine Absetzbewegungen.
54 
Der Einsatz physischer Gewalt richtete sich gegen den AfD-Parteitag. Einen Hinweis darauf, dass es sich hierbei um die tragende Intention der Personengruppe handelte, liefert der Umstand, dass diese zu keinem Zeitpunkt einen der angemeldeten Versammlungsorte aufsuchte. Die polizeilichen Aufklärungsergebnisse im Vorfeld des AfD-Parteitages bestätigen diese Einschätzung. Nach der glaubhaften Aussage des Zeugen ... in der mündlichen Verhandlung rechnete die Polizei mit der Anreise von 850 bis 1.000 gewaltbereiten Personen aus dem linksautonomen Spektrum, deren Ziel es sein würde, die Durchführung des AfD-Parteitages zu verhindern (S. 1 SN-Anlage). Der Polizei lagen aufgrund entsprechender Einladungsplakate und Flyer konkrete Erkenntnisse vor, wonach diese Personen die Absicht hatten, ähnliche Zustände herbeizuführen, wie im Jahr 2015 anlässlich der Eröffnung der Europäischen Zentralbank in Frankfurt am Main. Kraftfahrzeuge und Ladengeschäfte sollten in Brand gesteckt und die Infrastruktur an der Landesmesse Stuttgart so zerstört werden, dass der AfD-Parteitag nicht stattfinden könne. Diese polizeiliche Gefahreneinschätzung wurde durch das konkrete Auftreten der umschlossenen Personengruppe am Kreisverkehr bestätigt. Es erweckte den Eindruck einer planmäßigen und vorbereiteten Vorgehensweise. Der Kreisverkehr wurde gezielt und zügig angesteuert. Zeitgleich erreichten ihn Busse von unterschiedlichsten Abfahrtsorten im gesamten Bundesgebiet; der Zeuge ... hat insoweit von einer bemerkenswerten Koordinationsleistung gesprochen (S. 1 SN-Anlage). Das Verhalten der Gruppe zeigte schließlich ein taktisches Muster, welches nach der Erläuterung des Zeugen ... darauf gerichtet war, frühzeitig vor der angemeldeten Zeit der ersten Versammlungen ab 07.00 Uhr die Raumherrschaft zu gewinnen, um es den Polizeikräften zu erschweren, den besetzten Raum wieder zurückzugewinnen (S. 1 SN-Anlage).
55 
Die von der umschlossenen Personengruppe eingesetzten unfriedlichen Mittel erschöpften sich danach nicht in einer symbolischen Wirkung. Sie waren nicht nur untergeordnetes Gestaltungsmittel, um öffentliche Aufmerksamkeit für ein eigenes Kommunikationsanliegen zu gewinnen. Vielmehr waren sie nach ihrem Gewicht tatsächlich darauf gerichtet und konkret geeignet, die Durchführung des AfD-Parteitages zu stören.
56 
Die Blockade des Kreisverkehrs war von einigem Gewicht. Der Kreisverkehr ist aufgrund seiner Lage an der Ab- und Zufahrt der A 8 von besonderer verkehrlicher Bedeutung. Seine Blockade war daher geeignet, die Anreise zu dem Parteitag zumindest zu erschweren. Die polizeilichen Videoaufzeichnungen belegen, wie Kraftfahrzeugfahrer sich wiederholt gezwungen sahen, ab- oder umzudrehen. Zwar war die Blockade von vergleichsweise kurzer Dauer. Auch ließen sich die errichteten Barrikaden von den Polizeikräften zügig wieder entfernen. Indes ist zu berücksichtigen, dass die Aufgabe der Blockade durch die Personengruppe ersichtlich erst durch das massive Auftreten von Polizeikräften veranlasst war (Video, 23:00 min). Schließlich mag die Blockade des Kreisverkehrs angesichts weiterer Zufahrtswege zu dem Messegelände für sich genommen nicht geeignet gewesen sein, die Anreise zu dem Parteitag mittelfristig zu verhindern. Das Verhalten der Personengruppe ist jedoch in der Zusammenschau mit den weiteren erheblichen Störungen im Umfeld des Messegeländes durch andere Störergruppen zu würdigen, die es in ihrem - nicht notwendigerweise koordinierten, aber jedenfalls faktischen - Zusammenwirken durchaus möglich erscheinen ließen, dass eine Anfahrt der Parteitagsteilnehmer zumindest erheblich erschwert wird.
57 
Das gewalttätige Verhalten der Personengruppe war auch geeignet, ihr Ziel - die Durchführung des AfD-Parteitages zu verhindern - vor Ort tatsächlich zu erreichen. Insoweit unterscheidet sich der Sachverhalt maßgeblich von der Blockade einer ständigen Einrichtung wie etwa der von dem Kläger angeführten Beispiele eines Kernkraftwerkes oder der Baustelle eines großen Infrastrukturprojektes.
58 
Die Blockade von Verkehrswegen zur Verhinderung des AfD-Parteitages war danach primärer Selbstzweck. Ein kommunikatives Anliegen stand angesichts des nicht nur vereinzelten Einsatzes physischer Gewalt nicht im Vordergrund. Die von mehreren Personen gehaltenen Transparente (u.a. „Den nationalistischen Konsens brechen“, „Let’s tear down the walls of fortress Europe“, „Nazistorten überall“) und Plakattafeln (u.a. „Antifeminismus ist keine Alternative“) sowie die skandierten Sprechchöre („AfD-Faschistenpack, wir haben Euch zum Kotzen satt“), die als solche unzweifelhaft öffentliche Meinungsbekundungen darstellen, gaben der Ansammlung nicht ihr übergeordnetes objektives Gepräge. Sie erfolgten lediglich bei Gelegenheit des Versuches, den AfD-Parteitag mit physischen Mitteln zu stören.
59 
In den Ereignissen von der Ankunft der Busse am Kreisverkehr um 06.35 Uhr bis zu der Einschließung der Personengruppe auf der Flughafenstraße um 07.02 Uhr ist dabei ein einheitliches Geschehen zu sehen, welches sich ununterbrochen innerhalb eines sehr kurzen Zeitraumes auf eng begrenztem Raum ereignete, keine erheblichen qualitativen Veränderungen aufwies und ersichtlich von derselben Zielrichtung getragen wurde. Die (nahezu) personenidentische Gruppe suchte nach Verlassen des Kreisverkehrs gegen 06.56 Uhr (vgl. Video, 28:08 min) erkennbar weiterhin keinen der angemeldeten Versammlungsorte auf. Vielmehr blockierte sie die Kreuzung auf der Flughafenstraße in unmittelbarer Nähe des Terminalgebäudes, welches von der Polizei im Vorfeld des Parteitages u.a. als schützenswerte Einrichtung eingestuft worden war, weil es sich um einen möglichen Anreiseweg der Parteitagsteilnehmer handelte. Die große Zahl der Personen war weiterhin vermummt. Noch auf der Flughafenstraße wurde um 06:59 Uhr ein pyrotechnischer Gegenstand gezündet und in die Richtung der herannahenden Polizeikräfte geworfen (Video, 28:50 min).
60 
b) Die Ingewahrsamnahme des Klägers erfolgte rechtmäßig.
61 
aa) Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 28 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 3 PolG a.F. waren im Zeitpunkt der Umschließung der Personengruppe erfüllt.
62 
Danach kann die Polizei eine Person in Gewahrsam nehmen, wenn auf andere Weise eine unmittelbar bevorstehende erhebliche Störung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung nicht verhindert oder eine bereits eingetretene erhebliche Störung nicht beseitigt werden kann (Nr. 1) oder wenn die Identität einer Person auf andere Weise nicht festgestellt werden kann (Nr. 3).
63 
Unter den Begriff der öffentlichen Sicherheit fallen die Unverletzlichkeit der Normen der geschriebenen Rechtsordnung, weiter die privaten Rechte und Rechtsgüter des Einzelnen, schließlich Bestand und Funktionsfähigkeit des Staates und seiner Einrichtungen sowie sonstiger Hoheitsträger (st. Rspr.; vgl. BVerwG, Urt. v. 28.02.2012 - 6 C 12.11 -, juris Rn. 23; BeckOK PolR BW/Enders, 22. Ed. 17.01.2021, BWPolG § 30 Rn. 15 m.w.N.; Graulich, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 7. Aufl. 2021, E Rn. 89). Maßgeblich für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Anordnung des Gewahrsams ist, ob aus der ex ante-Perspektive des handelnden Polizeibeamten eine konkrete Gefahrenlage bestand (vgl. Senat, Urt. v. 17.03.2011 - 1 S 2513/10 -, juris Rn. 24). Die hierzu vorzunehmende Prognose muss sich auf konkrete Tatsachen stützen (vgl. NdsOVG, Urt. v. 10.10.2019 - 11 LB 1108/18 -, juris Rn. 34).
64 
Gemessen an diesem Maßstab hält die Einkesselung der Personengruppe auf der Flughafenstraße einer rechtlichen Überprüfung stand. Im Zeitpunkt des polizeilichen Einschreitens war mit den Blockaden des Verkehrs auf dem Kreisverkehr und der Flughafenstraße, den Sachbeschädigungen an Baustelleneinrichtungen und dem Abbrennen von Pyrotechnik bereits eine erhebliche Störung der öffentlichen Sicherheit eingetreten. Jedenfalls aber ist die von der Polizei in fehlerfreier Wahrnehmung ihrer Einschätzungsprärogative getroffene Annahme nicht zu beanstanden, dass nach der gewalttätigen Blockade des Kreisverkehrs, den sich zeitgleich ereignenden schwerwiegenden Störungen in der näheren Umgebung des Messegeländes, bei denen u.a. die A 8 und die B 27 mit brennenden Barrikaden blockiert wurden, sowie den im Vorfeld gewonnenen polizeilichen Aufklärungsergebnissen, wonach mehrere hundert gewaltbereite Störer beabsichtigten, die Infrastruktur der Landesmesse zu zerstören, um eine Durchführung des AfD-Parteitages unmöglich zu machen, weitere Störungen des Parteitages und seiner Teilnehmer sowie des in unmittelbarer Nähe gelegenen und als Anreiseweg dienenden Flughafen-Terminals durch die Personengruppe unmittelbar bevorstanden. Die Personengruppe befand sich im Zeitpunkt der Ingewahrsamnahme nur noch 150 m von dem Eingang zu den Flughafen-Terminals entfernt; einzelne Personen aus der Gruppe hatten sich bereits vor der Umschließung durch Polizeikräfte in Richtung des Flughafens abgesetzt (Video, 29:36 min). Zu Recht ging die Polizei davon aus, dass die Personengruppe sich bei weiterer freier Bewegung auf dem Messe- und Flughafengelände mit den parallel angereisten Störergruppen vereinigen könnte.
65 
Die Vornahme von Gewalttätigkeiten und die Verursachung von groben Störungen in der Absicht, den AfD-Parteitag als nichtverbotene Versammlung zu verhindern oder sonst seine Durchführung zu verhindern, hätte den Straftatbestand des § 21 VersG erfüllt. In Abhängigkeit von der konkreten Ausführung hätte die weitere Blockade von Verkehrswegen eine Nötigung gemäß § 240 Abs. 1 StGB verwirklichen können (vgl. BVerfG, Beschl. v. 07.03.2011 - 1 BvR 388/05 -, juris Rn. 23 ff.). Tätlichkeiten gegenüber den Polizeieinsatzkräften, wie etwa ein Bewurf mit Pyrotechnik, wären gefährliche Körperverletzungen im Sinne des § 224 StGB gewesen. Schließlich erfüllt nach § 125 Abs. 1 StGB den Straftatbestand des Landfriedensbruchs, wer sich an Gewalttätigkeiten gegen Menschen oder Sachen (Nr. 1) oder Bedrohungen von Menschen mit einer Gewalttätigkeit (Nr. 2), die aus einer Menschenmenge in einer die öffentliche Sicherheit gefährdenden Weise mit vereinten Kräften begangen werden, als Täter oder Teilnehmer beteiligt oder wer auf die Menschenmenge einwirkt, um ihre Bereitschaft zu solchen Handlungen zu fördern.
66 
Des Weiteren lagen im Zeitpunkt der Einkesselung auch die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 28 Abs. 1 Nr. 3 PolG a.F. vor, da die Identität des Klägers noch nicht festgestellt war und auch nicht auf andere Weise festgestellt werden konnte. Angesichts der unübersichtlichen Situation und der Gewaltbereitschaft der Personengruppe waren Maßnahmen der Identitätsfeststellung nur in der Weise möglich, dass die anwesenden Personen einzeln aus der Umschließung herausgeführt wurden.
67 
bb)Die handelnden Polizeibeamten haben den Kläger zu Recht als einen Verhaltensstörer im Sinne des § 6 PolG angesehen, der durch sein Verhalten die öffentliche Sicherheit störte oder bedrohte.
68 
Denn Verhaltensstörer ist auch der Anscheinsstörer. Anscheinsstörer ist, wer ex post betrachtet keine Gefahr verursacht, aber aus der ex ante-Perspektive bei einem fähigen, besonnenen und sachkundigen Polizeibeamten den Eindruck der Gefahrverursachung erweckt (vgl. Senat, Urt. v. 14.12.2010 - 1 S 338/10 -, juris Rn. 26). Hierfür genügt es, dass ein Verhalten objektiv geeignet ist, bei Dritten den Eindruck zu erwecken, es drohe ein Schaden für ein polizeilich geschütztes Rechtsgut (vgl. Senat, Urt. v. 17.03.2011 - 1 S 2513/10 -, juris Rn. 25).
69 
Dies ist hier der Fall. Der Kläger hat durch seine Anwesenheit in der Personengruppe und durch sein Auftreten, welches ihn jedenfalls nicht offensichtlich von den übrigen in Gewahrsam genommenen Personen unterschied und den Schluss aufdrängte, er sei versehentlich als Unbeteiligter in die Gruppe der Störer geraten, zumindest in zurechenbarer Weise den Anschein erweckt, selbst Störer zu sein. Seine Störereigenschaft wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass er im Nachhinein behauptet hat, erst unmittelbar vor der Einkesselung durch die Polizeikräfte auf der Flughafenstraße zu der Personengruppe gestoßen, an dem vorangegangenen Geschehen auf dem Kreisverkehr nicht beteiligt, nicht vermummt und immer friedlich gewesen zu sein. Denn die Polizeikräfte vor Ort durften nach dem Geschehensablauf zu Recht davon ausgehen, dass die Personengruppe auf der Flughafenstraße in ihrer Zusammensetzung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit identisch mit derjenigen war, die von dem Kreisverkehr weitergezogen war. Ob die Angaben des Klägers tatsächlich zutreffen, ist danach bei der gebotenen ex ante-Betrachtung unerheblich.
70 
cc)Die zur Gefahrenabwehr geeignete Ingewahrsamnahme des Klägers war im Zeitpunkt der Einkesselung auch bei Anlegung des für eine Freiheitsentziehung nach Art. 104 Abs. 2 GG geltenden strengen Maßstabes (vgl. Senat, Urt. v. 17.03.2011 - 1 S 2513/10 -, juris Rn. 24; NdsOVG, Urt. v. 10.10.2019 - 11 LB 1108/18 -, juris Rn. 35; jeweils m.w.N.) erforderlich, weil mildere Mittel zur Gefahrenabwehr nicht existierten. Nachvollziehbar hat der Zeuge ... erläutert, das die Einrichtung der von dem Kläger als Alternative angeführten polizeilichen Sperre vor dem Flughafen-Terminal nicht erfolgversprechend gewesen wäre, da die fortgesetzte Gefahr bestanden hätte, umlaufen zu werden (S. 3 SN-Anlage), und es den Polizeikräften schwergefallen wäre, eine Personengruppe mit mehreren 100 Personen, die erst einmal in die Flughafengebäude eingedrungen gewesen wäre, wieder unter Kontrolle zu bekommen (S. 2 SN-Anlage). Auch ein Platzverweis war nicht gleichermaßen geeignet, die eingetretene und weiter befürchtete Störung der öffentlichen Sicherheit endgültig zu beseitigen. Denn den Polizeikräften war es in jenem Zeitpunkt angesichts der Vielzahl der Personen, die den Parteitag gleichzeitig und an verschiedenen Orten gewaltsam zu stören suchten, und der unübersichtlichen Weitläufigkeit des Messe- und angrenzenden Flughafengeländes ersichtlich nicht möglich, derartige Platzverweise tatsächlich durchzusetzen. Der Zeuge ... hat in der mündlichen Verhandlung anschaulich geschildert, dass der knappe Kräfteansatz dazu führte, dass die Polizeiführung gezwungen war, die Einsätze zu priorisieren, um die Polizeikräfte an dem Veranstaltungsort des Parteitages nicht zu sehr auszudünnen; so schritt die Polizei gegen die erheblichen Störungen auf den Feldern vor der Messe erst zeitverzögert ein (S. 3 SN-Anlage). Angesichts des Ausmaßes der bereits eingetretenen Störung und der zu erwartenden Gefährdungen für gewichtige Rechtsgüter erwies sich die Ingewahrsamnahme auch als verhältnismäßig im engeren Sinne.
71 
2. Der fortgesetzte, auf § 28 Abs. 1 Nr. 1 PolG a.F. gestützte Gewahrsam des Klägers von seiner Vereinzelung aus der eingeschlossenen Personengruppe um 08.10 Uhr (S. 2 der Klagebegründung, Bl. 48 VG-Streitakte) bis zu der Beendigung seines Einzelgewahrsams in der Halle 9 um 17.54 Uhr (Bl. 42 VV) (Klageantrag zu 2) stellt sich als rechtmäßig dar.
72 
a) Da es sich bei dem Gewahrsam um einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung handelt, müssen seine gesetzlichen Voraussetzungen nicht nur bei seiner Anordnung, sondern während seiner gesamten Dauer vorliegen. Ist sein Zweck erreicht, ist der Gewahrsam gemäß § 28 Abs. 3 Satz 1 PolG a.F. aufzuheben. Die Aufrechterhaltung des Gewahrsams steht daher unter dem Vorbehalt, dass auf andere Weise der Störung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung nicht zu begegnen ist.
73 
Daran gemessen begegnet die Aufrechterhaltung des Gewahrsams bis zu der polizeilich festgestellten Beruhigung der Lage am späten Nachmittag des 30.04.2016 keinen rechtlichen Bedenken, weil aus den bereits unter III. 1. b) dargelegten Gründen über die gesamte Zeitdauer die Gefahr für die öffentliche Sicherheit fortbestand und ein milderes Mittel nicht ernsthaft in Betracht kam. Nachvollziehbar stützte die Polizei ihre entsprechende Einschätzung auf den andauernden Parteitag, die Dynamik des Geschehens und die große Zahl gewaltbereiter Personen. Die Voraussetzungen für die Fortdauer des Gewahrsams jedenfalls auf der Grundlage des § 28 Abs. 1 Nr. 1 PolG a.F. waren damit nicht schon mit der Identitätsfeststellung des Klägers zur Mittagszeit entfallen.
74 
b) Die Ingewahrsamnahme des Klägers war auch nicht wegen eines Verstoßes gegen die Verpflichtung zur unverzüglichen Herbeiführung einer richterlichen Entscheidung über den Gewahrsam rechtswidrig.
75 
aa) Nimmt die Polizei eine Person nach § 28 Abs. 1 PolG a.F. in Gewahrsam, hat sie nach § 28 Abs. 3 Satz 3 PolG a.F. unverzüglich eine richterliche Entscheidung über den Gewahrsam herbeizuführen. Die Ingewahrsamnahme nach § 28 PolG a.F. ist eine Freiheitsentziehung im Sinne der Art. 2 Abs. 2 Satz 2, 104 Abs. 2 GG, so dass nach Art. 104 Abs. 2 Satz 1 und 2 GG der Richter über die Zulässigkeit und Fortdauer der polizeilichen Freiheitsentziehung zu entscheiden hat (vgl. Senat, Urt. v. 17.03.2011 - 1 S 2513/10 -, juris Rn. 31). Der Herbeiführung einer richterlichen Entscheidung bedarf es nach § 28 Abs. 3 Satz 3 PolG a.F. ausnahmsweise nicht, wenn anzunehmen ist, dass die Entscheidung erst nach Wegfall des Grundes des Gewahrsams ergehen würde (vgl. Senat, Urt. v. 17.03.2011 - 1 S 2513/10 -, juris Rn. 31; Urt. v. 27.09.2004 - 1 S 2206/03 -, juris Rn. 47). Hierzu hat die Polizei einen auf konkrete Tatsachen gestützten prognostischen Vergleich der zu erwartenden Dauer des Gewahrsams und der voraussichtlichen Zeit für die Herbeiführung einer richterlichen Entscheidung vorzunehmen. Die polizeiliche Prognose und die ihr zugrunde gelegten tatsächlichen Feststellungen unterliegen der vollständigen gerichtlichen Kontrolle (vgl. BVerfG, Beschl. v. 15.12.2020 - 1 BvR 2824/18 -, juris Rn. 13).
76 
bb) Danach lässt sich ein Verstoß gegen die Verpflichtung zur unverzüglichen Herbeiführung einer richterlichen Entscheidung nicht feststellen.
77 
aaa) Zwar geht der Senat nach den Darlegungen des Beklagten, zuletzt im Schriftsatz vom 12.11.2021, davon aus, dass die Polizei für den Kläger eine gerichtliche Entscheidung über den Gewahrsam nicht herbeigeführt hat. Die Anordnung des Polizeiführers, jede in Gewahrsam genommene Person einem Richter vorzuführen, erbringt hierfür als Polizeiinternum keinen Nachweis. Herbeigeführt ist die richterliche Entscheidung erst in dem Zeitpunkt, in dem das zuständige Amtsgericht tatsächliche Kenntnis von dem entscheidungserheblichen Sachverhalt im konkreten Einzelfall erlangt. Hier ist davon auszugehen, dass die vor Ort anwesenden Richter des Amtsgerichts Nürtingen von der Polizei erst anlässlich der polizeilichen Vorführung der einzelnen Personen konkret informiert wurden. Vorgeführt wurden dem Amtsgericht nach Mitteilung des Beklagten jedoch nur 50 Personen, unter denen sich der Kläger nicht befand. Der Umstand, dass die Vorführungen verzögert erfolgten, weil es zeitweise an polizeilichen Begleitkräften fehlte, lässt den Verstoß gegen die polizeiliche Verpflichtung zur unverzüglichen Herbeiführung einer richterlichen Entscheidung nach § 28 Abs. 3 Satz 3 PolG a.F. nicht entfallen.
78 
bbb) Die Herbeiführung einer richterlichen Entscheidung war für den Kläger jedoch ausnahmsweise nach § 28 Abs. 3 Satz 4 PolG a.F. entbehrlich.
79 
Die polizeiliche Prognose, dass für den Kläger eine richterliche Entscheidung über den Gewahrsam nicht vor dem für die Entlassung vorgesehenen Zeitpunkt ergehen würde, ist nicht zu beanstanden. Zutreffend stützte die Polizei ihre Annahme auf die um 13.26 Uhr gewonnene Kenntnis, dass sich die Anhörungen durch die Richter des Amtsgerichts, die nach der Schilderung des Zeugen ... im Laufe des Vormittags begonnen hatten (S. 4 SN-Anlage), erheblich verzögerten (vgl. S. 18 Berufungsbegründung), und ging davon aus, dass für den Kläger, dessen Identität erst um 13.30 Uhr festgestellt worden war, eine richterliche Entscheidung, die zur Gewährung rechtlichen Gehörs grundsätzlich die Anhörung (vgl. § 28 Abs. 4 Satz 1 PolG a.F. i.V.m. § 420 Abs. 1 Satz 1 FamFG) der in Gewahrsam genommenen Person voraussetzt, bei insgesamt 589 in Gewahrsam genommenen Personen durch die anwesenden vier Richter des Amtsgerichts Nürtingen, deren Personalstärke auf die im Vorfeld von der Polizei erwarteten höchstens 250 bis 300 Ingewahrsamnahmen ausgelegt war, nicht getroffen werden konnte, bevor ab 16.40 Uhr mit den ersten Entlassungen aus dem Gewahrsam begonnen wurde und der Kläger um 17.54 Uhr die Gefangenensammelstelle in der Halle 9 verließ.
80 
Der Gewahrsam des Klägers erweist sich schließlich auch nicht deshalb als rechtswidrig, weil das Amtsgericht Nürtingen in Erfüllung seiner verfassungsrechtlichen Verpflichtung keine hinreichenden personellen Vorkehrungen getroffen hatte, um eine unverzügliche richterliche Entscheidung über den Gewahrsam zu gewährleisten. Es liegen keine Anhaltspunkte vor, dass der Ansatz von vier Richtern offensichtlich zu gering bemessen gewesen wäre, um bei den polizeilich prognostizierten 250 bis 300 Ingewahrsamnahmen eine unverzügliche richterliche Entscheidung sicherzustellen. Überdies erscheint auch bei einer - gegebenenfalls nachträglich - deutlich erhöhten Personalstärke eine Entscheidung über den Gewahrsam von 589 Personen noch vor dem späten Nachmittag des 30.04.2016 fernliegend.
81 
3. Die Fixierung der Arme und Hände am Rücken des Klägers mittels Einweghandschließen (Klageantrag zu 3) in der Zeit von seiner Herauslösung aus der Gruppe bis zu seiner erkennungsdienstlichen Behandlung, bei der es sich um die Anwendung unmittelbaren Zwangs im Sinne des § 52 Abs. 1 PolG a.F. handelt, stellt sich als rechtmäßig dar.
82 
Gemäß § 52 Abs. 1 PolG a.F. darf unmittelbarer Zwang nur angewandt werden, wenn der polizeiliche Zweck auf andere Weise nicht erreichbar erscheint (Satz 1). Das angewandte Mittel muss nach Art und Maß dem Verhalten, dem Alter und dem Zustand des Betroffenen angemessen sein (Satz 3). Nach § 1 Abs. 3 DVO PolG dürfen der in Gewahrsam genommenen Person nur Beschränkungen auferlegt werden, die zur Sicherung des Zwecks des Gewahrsams oder zur Aufrechterhaltung der Ordnung im Gewahrsam erforderlich sind. Danach kann im Einzelfall zur Sicherung des Zwecks des Gewahrsams oder zur Aufrechterhaltung der Ordnung im Gewahrsam auch eine Fesselung mittels Schließen gerechtfertigt sein; hierzu bedarf es allerdings konkreter Anhaltspunkte, dass die in Gewahrsam genommene Person Widerstand leisten oder sich gewalttätig verhalten wird (vgl. VG Karlsruhe, Urt. v. 10.12.2018 - 1 K 6428/16 -, juris Rn. 87).
83 
Dies ist hier der Fall. Die Polizeibeamten sind nach dem gezeigten - teilweise erheblich - aggressiven Vorverhalten der Personengruppe nachvollziehbar davon ausgegangen, dass mit Störungen während des Bustransportes bei einer zahlenmäßigen Unterlegenheit der Einsatzkräfte gerechnet werden musste, denen nur durch eine Fesselung der in Gewahrsam genommenen Personen begegnet werden konnte. Die Linienbusse wurden nach der Schilderung des Zeugen ... von lediglich fünf Polizeibeamten begleitet (S. 6 SN-Anlage), die angesichts der räumlichen Enge in dem Bus nur eingeschränkt handlungsfähig waren und etwa eine Entglasung der Fenster nicht wirksam hätten verhindern können. Der Umstand, dass der Kläger eigenen Angaben zufolge bei der Ingewahrsamnahme keinen Widerstand geleistet hatte, ließ die Begründetheit dieser Gefahrenprognose, die maßgeblich an seine schon zuvor begründete Eigenschaft als Anscheinsstörer anknüpfte, nicht entfallen. Es gibt keine Hinweise darauf, dass es den Polizeibeamten vor Ort ins Auge hätte springen müssen, dass ein aggressives Verhalten des Klägers sicher auszuschließen war.
84 
4. Die Verbringung des Klägers in gefesseltem Zustand in einem Linienbus ohne die Möglichkeit, sich zu setzen oder festzuhalten (Klageantrag zu 4), war nicht rechtswidrig.
85 
Die von dem Kläger angestrebte Feststellung setzt voraus, dass die konkrete Ausgestaltung des Bustransportes eine über den Gewahrsam und die Fesselung hinausreichende Beschränkung des Klägers begründete (vgl. BayVGH, Urt. v. 27.01.2012 - 10 B 08.2849 -, juris Rn. 32), die in die von ihm geltend gemachten Rechte auf körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG oder die Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG eingriff.
86 
Dies lässt sich nach dem von dem Kläger geltend gemachten Sachverhalt nicht feststellen. Der Kläger legt eine weitergehende Beschränkung seiner Person nicht konkret und substantiiert dar. Er trägt nicht vor, dass er selbst während der Fahrt mit dem Bus gestürzt sei; vielmehr sei es ihm gelungen, das Gleichgewicht zu halten. Dem Vortrag des Beklagten, dass der Bus besonders vorsichtig und den Umständen angepasst gefahren sei, ist der Kläger nicht entgegengetreten. Bei einer solchen Fahrweise kann in einem Bustransport ohne Sitzplatz auch bei einer Person, deren Hände auf dem Rücken gefesselt sind, jedenfalls über eine kurze Wegstrecke - wie hier von der Flughafenstraße in die Halle 9 über eine Strecke von durch den Zeugen ... geschätzten 600 m (vgl. S. 6 SN-Anlage) - eine gesonderte, unverhältnismäßig in die körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) oder die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) eingreifende Behandlung nicht gesehen werden.
87 
5. Die Versagung eines von dem Kläger gewünschten Toilettengangs (Klageantrag zu 5) war rechtswidrig.
88 
a) Die materiell-rechtlichen Anforderungen an den Vollzug des Gewahrsams, der von der Ingewahrsamnahme als solches zu unterscheiden ist (vgl. BVerfG, Beschl. v. 13.12.2005 - 2 BvR 447/05 -, juris Rn. 61), ergeben sich aus dem einfachen Recht, dem Verfassungsrecht und den Garantien der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). § 1 Abs. 3 DVO PolG regelt die Zulässigkeit von weitergehenden Einschränkungen in die Bewegungsfreiheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) und die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG), bildet jedoch keine Grundlage für weitere selbständige Grundrechtseingriffe, die ihrerseits einer besonderen gesetzlichen Befugnis bedürfen. Die Garantie der Menschenwürde in Art. 1 Abs. 1 GG begründet Schutzpflichten des Staates, die Person in Polizeigewahrsam menschenwürdig zu behandeln (vgl. BVerfG, Beschl. v. 13.11.2007 - 2 BvR 939/07 -, juris Rn. 12 ff. zur Verpflichtung des Staates, einem Gefangenen in der Haft ein menschenwürdiges Dasein zu gewähren; s.a. Antoni, in: Hömig/Wolff/GG, 12. Aufl. 2018, Art. 1 Rn. 8).Zu den Mindeststandards gehören hygienische Haft- oder Gewahrsamsbedingungen einschließlich des Zugangs zu sanitären Einrichtungen und der Möglichkeit, körperliche Bedürfnisse unter Wahrung der eigenen Intimsphäre zu verrichten (vgl. BVerfG, Beschl. v. 13.11.2007 - 2 BvR 939/07 -, juris Rn. 19; s.a. Antoni, in: Hömig/Wolff/GG, 12. Aufl. 2018, Art. 1 Rn. 7). Diese verfassungsrechtlichen Vorgaben stimmen im Wesentlichen mit den aus Art. 3 EMRK folgenden besonderen Schutzpflichten des Staates gegenüber Personen in Polizeigewahrsam überein (vgl. EGMR, Urt. v. 06.10.2015 - 80442/12, Lecomte ./. Deutschland -, juris; Grabenwarter/Pabel, EMRK, 7. Aufl. 2021, § 20 Rn. 62; HK-EMRK/Jens Meyer-Ladewig/Matthias Lehnert, 4. Aufl. 2017, EMRK Art. 3 Rn. 26).
89 
b) Danach verletzte der dem Kläger in der Gefangenensammelstelle in Halle 9 im Zeitraum von 13.33 Uhr bis 17.54 Uhr trotz Bekundung eines entsprechenden Bedürfnisses nicht ermöglichte Besuch einer Toilette die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG). Der Kläger hat glaubhaft vorgetragen, dass er im Einzelgewahrsam im Gefangentransportbus keine Toilette besuchen konnte, da trotz mehrfachen Klopfens und Rufens niemand nach ihm gesehen habe. Die ausführliche und auf zahlreiche Bildaufnahmen gestützte Erläuterung des Beklagten, dass in der Halle 9 im Allgemeinen in jeder Großzelle eine, außerhalb der Großzellen weitere zwei und vor der Halle fünf mobile Toilettenkabinen aufgestellt waren, die aufzusuchen den im Gewahrsam befindlichen Personen ermöglicht worden sei, vermag die abweichende Behauptung des Klägers im konkreten Einzelfall nicht zu erschüttern. Die dem Kläger vorenthaltene Möglichkeit eines Toilettengangs kommt dessen ausdrücklicher Versagung gleich. Hierbei ist es unerheblich, ob der Kläger von den Polizeikräften möglicherweise nur versehentlich nicht berücksichtigt wurde. Jedenfalls dann, wenn - wie hier - bei geäußertem Notdurftbedürfnis ein Toilettenbesuch über einen vielstündigen Zeitraum nicht ermöglicht wird, liegt hierin eine über den Gewahrsam hinausreichende selbständige Verletzung der Rechte aus Art. 1 Abs. 1 GG.
90 
6. Das Vorenthalten von Trinkwasser gegenüber dem Kläger (Klageantrag zu 6) über einen Zeitraum von knapp elf Stunden war rechtswidrig. Hierin liegt eine über den Gewahrsam hinausgehende weitere Beeinträchtigung der Rechte des Klägers aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, jedenfalls aber aus Art. 1 Abs. 1 GG. Die staatliche Schutzpflicht für Personen in polizeilichem Gewahrsam verlangt grundsätzlich eine Versorgung mit Trinkwasser. Der Kläger hat glaubhaft geschildert, dass er über die gesamte Dauer des Gewahrsams zu keinem Zeitpunkt etwas zu trinken erhalten habe. Die pauschalen Darlegungen des Beklagten, wonach ausreichend Trinkwasser vorhanden gewesen sei und die in Gewahrsam befindlichen Personen mit denselben Getränken wie die Einsatzkräfte versorgt worden seien, vermögen den abweichenden Vortrag des Klägers im konkreten Einzelfall nicht zu entkräften.
91 
7. Die Feststellung der Identität (a) und die Fertigung von Lichtbild- und Videoaufnahmen (b) des Klägers (Klageantrag zu 7) waren rechtmäßig.
92 
a) Die Feststellung der Identität des Klägers konnte auf § 26 Abs. 1 Nr. 1 PolG a.F. und auf § 163b Abs. 1 StPO gestützt werden.
93 
aa) Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 26 Abs. 1 Nr. 1 PolG a.F., wonach die Polizei die Identität einer Person feststellen kann, um im einzelnen Falle eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung abzuwehren oder eine Störung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung zu beseitigen, waren aus den bereits zur Rechtmäßigkeit der Ingewahrsamnahme unter III. 1. b) angeführten Gründen erfüllt.
94 
bb) Die Voraussetzungen für die Feststellung der Identität des Klägers lagen aber auch nach der - nach § 17 Abs. 2 Satz 1 GVG zu prüfenden - Vorschrift des § 163b Abs. 1 StPO vor.
95 
Ist jemand einer Straftat verdächtig, so können die Staatsanwaltschaft und die Beamten des Polizeidienstes gemäß § 163b Abs. 1 Satz 1 1. Hs. StPO die zur Feststellung seiner Identität erforderlichen Maßnahmen treffen. Bei der Vernehmung des Beschuldigten durch Beamte des Polizeidienstes ist dem Beschuldigten nach § 163b Abs. 1 Satz 1 2. Hs. StPO i.V.m. § 163a Abs. 4 Satz 1 StPO zu eröffnen, welche Tat ihm zur Last gelegt wird. Der erforderliche Anfangsverdacht ist gegeben, wenn zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen, die eine Täterschaft oder Teilnahme des Betroffenen an einer Straftat möglich erscheinen lassen (BeckOK StPO/von Häfen, 40. Ed. 1.7.2021, StPO § 163b Rn. 5; MüKoStPO/Kölbel, 1. Aufl. 2016, StPO § 163b Rn. 6). Danach ist einer Straftat jeder verdächtig, der von dem Verdacht der Beteiligung an einer Straftat nicht frei ist; es genügen schon geringe und ungewisse Anhaltspunkte (KK-StPO/Griesbaum, 8. Aufl. 2019, StPO § 163b Rn. 9).
96 
Gemessen an diesen Anforderungen war hier im maßgeblichen Zeitpunkt der Identitätsfeststellung gegen 13.30 Uhr ein Anfangsverdacht gegen den Kläger wegen des ihm in der Beschuldigtenvernehmung eröffneten Tatvorwurfs eines Landfriedensbruchs (vgl. Bl. 48 VV) zu bejahen.
97 
Die Begehung eines Landfriedensbruchs setzt gemäß § 125 StGB tatbestandlich voraus, dass der Tatverdächtige sich an Gewalttätigkeiten gegen Menschen oder Sachen (Nr. 1) oder Bedrohungen von Menschen mit einer Gewalttätigkeit (Nr. 2), die aus einer Menschenmenge in einer die öffentliche Sicherheit gefährdenden Weise mit vereinten Kräften begangen werden, als Täter oder Teilnehmer beteiligt oder auf die Menschenmenge einwirkt, um ihre Bereitschaft zu solchen Handlungen zu fördern. Für eine Beteiligung an einem Landfriedensbruch genügt es nicht, bloßer Teil der Menschenmenge gewesen zu sein, aus der heraus die Gewalttätigkeiten begangen wurden (vgl. BGH, Beschl. v. 09.09.2008 - 4 StR 368/08 -, juris Rn. 10). Das bloß inaktive Dabeisein oder Mitmarschieren stellt weder eine psychische Beihilfe noch ein bestimmte Gewalttätigkeiten auf andere Weise unterstützendes Verhalten dar (vgl. BGH, Urt. v. 24.01.1984 - VI ZR 37/82 -, juris, Rn. 33).
98 
Danach lagen im maßgeblichen Zeitpunkt des polizeilichen Einschreitens jedenfalls geringe und weiter aufklärungsbedürftige tatsächliche Anhaltspunkte vor, dass der Kläger über seine bloße Anwesenheit hinaus aktiv an den Ausschreitungen beteiligt war, Unterstützung leistete oder sich zumindest äußerlich erkennbar mit den Gewalttätern solidarisierte. Unerheblich ist, dass das gegen den Kläger geführte Ermittlungsverfahren letztlich gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt wurde. Auch der Umstand, dass der Kläger bei der Ingewahrsamnahme keinen Widerstand leistete und weder Vermummungsmaterialien noch gefährliche Gegenstände mit sich führte, ließ einen Anfangsverdacht nicht entfallen. Schließlich hatte der Kläger zu jenem Zeitpunkt auch noch nicht geäußert, erst auf der Flughafenstraße zu der Personengruppe gestoßen zu sein. Zwar hatte die Polizei zum Zeitpunkt der Identitätsfeststellung keine konkreten Beweise, dass der Kläger sich tatsächlich nach § 125 Abs. 1 StGB strafbar gemacht hatte. Der Verdacht strafbewehrter Handlungen des Klägers fußte gleichwohl auf einer hinreichenden objektiven Grundlage, da das vorangegangene Geschehen durch wiederholte und erhebliche Gewalttätigkeiten geprägt war, die ersichtlich von einem großen Teil der Personengruppe mitgetragen wurden. Die polizeilichen Ermittlungen konnten in jenem Zeitpunkt schon wegen der Größe der Personengruppe noch nicht abgeschlossen sein. Zunächst waren die zahlreichen Videoaufnahmen auszuwerten und weitere Tatverdächtige durch die Vernehmung der eindeutig zu identifizierenden Täter oder durch Zeugenaussagen zu ermitteln.
99 
b) Danach erweist sich auch die Fertigung der Lichtbilder, die der Beklagte als repressive Maßnahme zum Zwecke der Durchführung des Strafverfahrens allein auf § 81b 1. Alt. StPO stützt, als rechtmäßig. Soweit es für die Zwecke der Durchführung des Strafverfahrens notwendig ist, dürfen nach § 81b 1. Alt. StPO Lichtbilder des Beschuldigten auch gegen seinen Willen aufgenommen. Die Voraussetzungen waren vorliegend gegeben. Der Kläger war Beschuldigter in einem gegen ihn geführten Ermittlungsverfahren (vgl. Bl. 48 VV); gegen ihn bestand - aus den unter III. 7. a) dargelegten Gründen - ein Anfangsverdacht wegen Landfriedensbruchs gemäß § 125 StGB.
100 
8. Der dem Kläger erteilte Platzverweis für das Gelände der Landesmesse Stuttgart bis Sonntag, den 01.05.2016, 20.00 Uhr (Klageantrag zu 8), war rechtmäßig.
101 
a) Rechtsgrundlage für den Platzverweis, der in Abgrenzung zu dem Aufenthaltsverbot funktional durch den polizeilichen Zweck der Bewältigung einer räumlich-zeitlich konkret bestimmten Gefahrsituation begrenzt ist (vgl.BeckOK PolR BW/Enders, 21. Ed. 1.1.2021, BWPolG § 27a Rn. 23 ff.), ist § 27a Abs. 1 PolG a.F. Danach kann die Polizei zur Abwehr einer Gefahr oder einer Störung eine Person vorübergehend von einem Ort verweisen oder ihr vorübergehend das Betreten eines Ortes verbieten (Platzverweis). Voraussetzung ist eine konkrete Gefahr für die öffentliche Sicherheit, die bei ungehindertem, nach der Prognose der Polizei zu erwartendem Geschehensablauf in absehbarer Zeit mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einem Schaden für ein Schutzgut der öffentlichen Sicherheit führen kann.
102 
b) Gemessen an diesen Anforderungen erweist sich der am 30.04.2016, 17.54 Uhr, gegenüber dem Kläger verfügte Platzverweis für die Landesmesse Stuttgart ab dem Zeitpunkt seiner Gewahrsamsentlassung als rechtmäßig.
103 
aa) Die Einschätzung der handelnden Polizeibeamten, dass in jenem Zeitpunkt eine konkrete Gefahr für die öffentliche Sicherheit fortbestand, ist bei der gebotenen Prognose aus der maßgeblichen ex ante-Sicht auf der Grundlage der im Entscheidungszeitpunkt vorliegenden Erkenntnisse nicht zu beanstanden. Eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit war durch die gewaltsamen Störungen am Vormittag des 30.04.2016 bereits eingetreten. Zu Recht durfte die Polizei aufgrund der großen Zahl der aus dem gesamten Bundesgebiet angereisten erheblich gewaltbereiten Störer, deren offensichtlich abgestimmter und vorbereiteter Vorgehensweise, der polizeilichen Aufklärungsergebnisse im Vorfeld und der Schwere der Dritten drohenden Rechtsgutverletzungen von weiteren Störungen am Veranstaltungsort auf dem Messegelände für die gesamte Dauer des AfD-Parteitages bis einschließlich des 01.05.2016 ausgehen. Anders als der Kläger meint, kam es nicht darauf an, dass die angemeldeten Gegendemonstrationen zu jenem Zeitpunkt bereits beendet gewesen seien; denn die Ausschreitungen waren gerade nicht unter dem Deckmantel einer angemeldeten Versammlung erfolgt. Die zwischenzeitlich eingetretene Beruhigung der Lage führte der Beklagte nachvollziehbar auf die zahlreichen Ingewahrsamnahmen zurück. Die polizeiliche Einschätzung wurde durch die - von dem Zeugen ... in der mündlichen Verhandlung noch einmal wiederholte (S. 5 SN-Anlage) - Tatsache bestätigt, dass sich mehrere aus dem Gewahrsam entlassene Personen, die zuvor zum S-Bahnhof Leinfelden-Echterdingen verbracht worden waren, zu Fuß zurückgekehrt waren und sich vor der Umzäunung des Messegeländes sammelten (S. 16 Klageerwiderung).
104 
bb) Die Beamten vor Ort durften in jenem Zeitpunkt polizeiliche Maßnahmen auch weiterhin gegenüber dem Kläger als Anscheinsstörer und damit Verhaltensstörer im Sinne des § 6 Abs. 1 PolG treffen. Zwar ist die Polizei grundsätzlich gehalten, zeitnah aufzuklären, wer tatsächlich Verhaltensstörer war und wer nicht (vgl. VG Karlsruhe, Urt. v. 10.12.2018 - 1 K 6428/16 -, juris Rn. 108; VG Freiburg, Urt. v. 22.04.2021 - 10 K 2592/19 -, juris Rn. 34; s.a. VG Frankfurt a.M., Urt. v. 24.09.2014 - 5 K 659/14.F -, juris Rn. 119). Jedoch war hier angesichts der Zahl von 419 in Gewahrsam genommenen Personen, ihres überwiegend vermummten Auftretens und des vergleichsweise dynamischen Geschehens eine Identifizierung der konkreten Gewalttäter durch eine Auswertung der Videoaufnahmen, einen Abgleich mit den gefertigten Lichtbildern und eine Vernehmung der Verdächtigen und Zeugen jedenfalls bis zu dem Zeitpunkt der Entlassung des Klägers aus dem Gewahrsam um 17.54 Uhr praktisch unmöglich. Dies gilt umso mehr, als der Kläger selbst an einer Aufklärung des Sachverhaltes nicht mitwirkte und bis dahin auch noch nicht geäußert hatte, zufällig in die Personengruppe geraten zu sein. Aufgrund der Schwere der drohenden Rechtsgutverletzungen durfte die Polizei den Kläger daher weiter als Anscheinsstörer behandeln.
105 
cc) Der Platzverweis stellte sich danach schließlich auch als verhältnismäßig dar. Insbesondere hatte der Kläger zu dem für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Platzverweises maßgeblichen Zeitpunkt seines Erlasses nicht die Absicht geäußert, an einer angemeldeten Versammlung gegen den AfD-Parteitag auf der Landesmesse Stuttgart am 01.05.2016 teilnehmen zu wollen.
106 
9. Schließlich erfolgte auch die Verbringung des Klägers mit einem Bus nach Esslingen (Klageantrag zu 9) rechtmäßig.
107 
a) Die Entziehung der Bewegungsfreiheit während des Bustransportes von der Gefangenensammelstelle zu dem Bahnhof in Esslingen findet als Fortsetzung des bereits um 7.02 Uhr und nicht erst zum Zwecke der Verbringung begründeten Gewahrsams, aus dem der Kläger nach der Schilderung des Zeugen ... (S. 5 SN-Anlage) nicht schon an der Messehalle 9, sondern erst am Zielort entlassen wurde, weiterhin ihre Rechtsgrundlage in § 28 Abs. 1 Nr. 1 PolG a.F., dessen Voraussetzungen aus den unter III. 1. b), 2 a) und 8. b) aa) dargelegten Gründen im maßgeblichen Zeitpunkt weiterhin vorlagen.
108 
b) Die Entlassung des Klägers aus dem Gewahrsam in Esslingen und nicht am Ort der Gewahrsamsbegründung auf dem Messe- und Flughafengelände konnte die Polizei auf § 3 i.V.m. § 1 Abs. 1 Satz 1 PolG stützen.
109 
aa) Die polizeiliche Verbringung einer rechtmäßig in Gewahrsam genommenen Person stellt einen eigenständigen Eingriff dar, der einer gesonderten gesetzlichen Grundlage bedarf, wenn eine Würdigung der maßgeblichen Gesamtumstände des Einzelfalls ergibt, dass die Maßnahme nicht schon umfassend durch den Zweck des Gewahrsams selbst - wie etwa bei der Verbringung in eine Gefangenensammelstelle - gerechtfertigt ist und die konkrete räumliche Distanzierung zu dem Ort der Ingewahrsamnahme oder die Entlassungsörtlichkeit mit Beeinträchtigungen einhergehen, die ihrerseits Eingriffsqualität erreichen.
110 
Danach war die Gewahrsamsentlassung des Klägers in Esslingen auf seine gezielte Distanzierung von dem Messegelände gerichtet und verfolgte damit einen eigenständigen, über die Aufrechterhaltung des Gewahrsams hinausreichenden Zweck. Die Entfernung des Klägers über eine Strecke von etwa 16 km und eine Fahrtzeit von etwa 15 bis 20 min überschreitet die Schwelle zu einer erheblichen Beeinträchtigung, die angesichts der verkehrlichen Anbindung des Bahnhofs einer Stadt mit knapp 100.000 Einwohner allerdings nur von sehr geringer Eingriffsintensität ist.
111 
bb) Die Entlassung einer rechtmäßig in Gewahrsam genommenen Person an einem abweichenden Ort, die aufgrund ihrer eigenständigen Zielsetzung kein bloßes Minus gegenüber einer Fortsetzung des Gewahrsams, sondern ein über diesen hinausreichendes Aliud darstellt (vgl. Graulich, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 7. Aufl. 2021, E Rn. 551; Schenke/Graulich/Ruthig/Wolf-Rüdiger Schenke, 2. Aufl. 2018, BPolG § 39 Rn. 9), und sich aufgrund der weitergehenden räumlichen Distanzierung auch nicht in der Durchsetzung eines Platzverweises erschöpft (vgl. BeckOK PolR BW/Hauser, 22. Ed. 17.1.2021, BWPolG § 33 Rn. 18), findet ihre Rechtsgrundlage in der polizeirechtlichen Generalklausel des § 3 i.V.m. § 1 Abs. 1 Satz 1 PolG (vgl. Graulich, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 7. Aufl. 2021, E Rn. 551 f.; Schenke, Polizei- und OrdnungsR, 9. Aufl. 2016, Rn. 132b, 142; Schenke/Graulich/Ruthig/Wolf-Rüdiger Schenke, 2. Aufl. 2018, BPolG § 39 Rn. 9). Die Maßnahme bleibt hinter der originären Begründung eines Gewahrsams zum alleinigen Zwecke der Verbringung an einen anderen Ort zurück, für die im Schrifttum unter dem Begriff des sogenannten „Verbringungsgewahrsams“ streitig erörtert wird, ob hierin eine Freiheitsentziehung liegt und es einer besonderen gesetzlichen Regelung - etwa nach dem Vorbild des § 39 Abs. 1 Nr. 2 BPolG - bedarf (so Siegel, NJW 2013, 1035 <1038>; Finger, NordÖR 2006, 423 <428>; Gusy, NWVBl 2004, 1 <8>; Ruder, PolR BW, 8. Aufl. 2015, Rn. 676; Schucht, DÖV 2011, 553 <559 f.>; für Anwendbarkeit der Generalklausel dagegen Schenke, Polizei- und OrdnungsR, 9. Aufl. 2016, Rn. 132b, 142; Würtenberger/Heckmann, Polizeirecht in Baden-Württemberg, 6. Aufl., Rn. 358; vgl. hierzu auch VG Karlsruhe, Urt. v. 10.12.2018 - 1 K 6428/16 -, juris Rn. 60; BeckOK PolR BW/Hauser, 22. Ed. 17.1.2021, BWPolG § 33 Rn. 18; Pieroth/Schlink/Kniesel, Polizei- und OrdnungsR, 7. Aufl. 2012, § 17 Rn. 5; jeweils m.w.N.).
112 
cc) Die Voraussetzungen des § 3 i.V.m. § 1 Abs. 1 Satz 1 PolG waren hier im maßgeblichen Zeitpunkt erfüllt. Danach hat die Polizei diejenigen Maßnahmen zu treffen, die ihr nach pflichtmäßigem Ermessen erforderlich erscheinen, um eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung abzuwehren. Die Entlassung des Klägers aus dem Gewahrsam in Esslingen diente der Abwehr einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit (aaa) und stellte sich nicht als ermessensfehlerhaft dar (bbb).
113 
aaa) Die Entscheidung, die Personen Zug um Zug in kleineren Gruppen an unterschiedlichen Orten aus dem Gewahrsam in der Halle 9 zu entlassen, um eine zeitnahe Rückkehr größerer Personengruppen auf das Messe- und Flughafengelände zu verhindern, gegenüber denen der ausgesprochene Platzverweis erheblich schwieriger durchzusetzen gewesen wäre, ist aus der maßgeblichen ex ante-Perspektive unter Beachtung der polizeilichen Einschätzungsprärogative mit Blick auf die drohenden erheblichen Gefahren für gewichtige Rechtsgüter nicht zu beanstanden.Die geplante und gezielte Vorgehensweise der aus dem gesamten Bundesgebiet angereisten Personen und die gezeigte erhebliche Gewaltbereitschaft ließen eine derartige Rückkehr wahrscheinlich erscheinen. Die von dem Zeugen ... geschilderte Rückkehr der an dem S-Bahnhof Leinfelden-Echterdingen ausgesetzten Personengruppe zu dem Messegelände (vgl. S. 5 SN-Anlage) belegt diese polizeiliche Einschätzung anschaulich.
114 
bbb) Die Entlassung der Personen an unterschiedlichen Orten an der Messe und in der Umgebung erweist sich nicht als ermessensfehlerhaft, insbesondere nicht als gleichheitswidrig oder unverhältnismäßig. Sie verfolgte das sachliche Ziel, eine kurzfristige ortsnahe Vereinigung der Personen in größerer Gruppe zu verhindern; die Maßnahme war hierzu geeignet, erforderlich und angemessen. Die Verteilung der Personen auf die verschiedenen Entlassungsorte stellte sich auch nicht als willkürlich dar. So hat der Zeuge ... in der mündlichen Verhandlung geschildert, dass Personengruppen, die etwa aufgrund eines gemeinsamen Herkunftsortes zusammengehörten, nicht getrennt, sondern an demselben Ort entlassen wurden (S. 5 SN-Anlage). Schließlich waren den handelnden Polizeibeamten jedenfalls in der Person des Klägers keine besonderen individuellen Anhaltspunkte erkennbar, die einer Gewahrsamsentlassung in Esslingen zwingend entgegengestanden hätten.
115 
IV. Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
116 
V. Soweit die Klage abgewiesen wurde, ist die Revision nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO wegen grundsätzlicher Bedeutung des Anwendungsbereichs des Versammlungsgesetzes zuzulassen.
117 
Beschluss
vom 18. November 2021
118 
Der Streitwert wird unter Änderung der Streitwertfestsetzung des Verwaltungsgerichts für den ersten Rechtszug und das Berufungsverfahren jeweils auf 30.000,00 Euro festgesetzt.
119 
Gründe
120 
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. § 39 Abs. 1, § 47 Abs. 1 Satz 1, § 52 Abs. 2 GKG und Ziffer 35.1 des Streitwertkataloges für die Verwaltungsgerichtsbarkeit in seiner aktuellen Fassung und berücksichtigt die mit den Klageanträgen zu 1, 2 und 9 angegriffene Ingewahrsamnahme, die mit den Klageanträgen zu 3 und 4 angegriffene Fixierung mit Einweghandschließen und das mit den Klageanträgen zu 5 und 6 angegriffene Vorenthalten eines Toilettenbesuchs und von Trinkwasser jeweils als einheitliche Vorgänge sowie die Identitätsfeststellung (Klageantrag zu 7), das Fertigen von Lichtbildern (Klageantrag zu 7) und den Platzverweis (Klageantrag zu 8) gesondert jeweils mit dem Auffangstreitwert von 5.000,00 Euro.
121 
Der Beschluss ist unanfechtbar.

Gründe

 
23 
Die nach Zulassung durch das Verwaltungsgericht statthafte und auch im Übrigen zulässige, insbesondere fristgerecht erhobene und begründete Berufung ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Das Verwaltungsgericht hat der Klage zu Unrecht vollumfänglich stattgegeben. Der Verwaltungsrechtsweg ist eröffnet (I.). Die Klage ist zulässig (II.), aber überwiegend unbegründet (III.).
24 
I. Der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten (§ 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO) ist gegeben. Gemäß § 17a Abs. 5 GVG prüft das Gericht, das über ein Rechtsmittel gegen eine Entscheidung in der Hauptsache entscheidet, nicht, ob der beschrittene Rechtsweg zulässig ist. Danach ist der Senat an die Entscheidung des Verwaltungsgerichts gebunden, welches den Verwaltungsrechtsweg mit der zutreffenden Begründung bejaht hat, dass die angegriffenen Maßnahmen, soweit es sich bei der Identitätsfeststellung und der erkennungsdienstlichen Behandlung um sogenannte doppelfunktionale Maßnahmen der Gefahrenabwehr und der Strafverfolgung handelt, nach dem maßgeblichen Eindruck des betroffenen Klägers zumindest auch auf polizeirechtlicher Grundlage erfolgten (vgl. Senat, Urt. v. 27.09.2004 - 1 S 2206/03 -, juris Rn. 28) und eine verwaltungsgerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit des Gewahrsams nicht ausgeschlossen ist, weil eine Entscheidung des Amtsgerichts nach § 28 Abs. 4 Satz 8 PolG in der zum maßgeblichen Zeitpunkt am 30.04.2016 geltenden Fassung (a.F.) nicht ergangen ist.
25 
II. Die Klage ist zulässig.
26 
1. Die Klage ist ungeachtet der Frage, ob es sich bei den angegriffenen polizeilichen Maßnahmen im Einzelnen um eigenständige Verwaltungsakte mit entsprechendem Regelungsgehalt (wie die Ingewahrsamnahme und den Platzverweis) oder bloße Realakte bei Vollzug des polizeilichen Gewahrsams (wie die Ermöglichung eines Toilettengangs und die Versorgung mit Trinkwasser) handelt, jedenfalls als Fortsetzungsfeststellungsklage entsprechend § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO (st. Rspr.;vgl. Senat, Urt. v. 27.01.2015 - 1 S 257/13 -, juris Rn. 23; BVerwG, Urt. v. 24.11.2010 - 6 C 16.09 -, juris Rn. 26) oder als allgemeine Feststellungsklage gemäß § 43 Abs. 1 VwGO statthaft, nachdem sich diese vor Klageerhebung erledigt haben.
27 
2. Eine Klage, die - wie hier - auf die Feststellung der Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsakts gerichtet ist, der sich vorprozessual vor Eintritt der Bestandskraft erledigt hat, unterliegt keiner Frist (vgl. Senat, Urt. v. 14.04.2005 - 1 S 2362/04 -, juris Rn. 21; BVerwG, Urt. v. 14.07.1999 - 6 C 7.98 -, juris Rn. 19).
28 
Das Klagerecht war im Zeitpunkt der Klageerhebung am 02.05.2017 ein Jahr nach Erledigung der polizeilichen Maßnahmen am 30.04.2016 nicht verwirkt.Die Verwirkung des Klagerechts setzt voraus, dass die Klageerhebung gegen Treu und Glauben verstößt, weil der Kläger trotz Kenntnis von der Möglichkeit der Klageerhebung über einen längeren Zeitraum erst zu einem derart späten Zeitpunkt Klage erhebt, dass der Beklagte nicht mehr mit einer Klagerhebung rechnen musste und sich hierauf auch tatsächlich eingerichtet hat (vgl. BVerwG, Urt. v. 10.08.2000 - 4 A 11.99 -, juris Rn. 16). Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor. Ein schutzwürdiges Vertrauen wird entsprechend der gesetzlichen Wertung in § 58 Abs. 2 VwGO regelmäßig erst nach Ablauf eines Jahres entstehen können (vgl. VG Leipzig, Urt. v. 05.12.2018 - 1 K 2069/17 -, juris Rn. 19; s.a. Senat, Urt. v. 14.04.2005 - 1 S 2362/04 -, juris Rn. 21). Angesichts des anwaltlichen Akteneinsichtsgesuchs vom 11.05.2016 musste der Beklagte im Zeitpunkt der Klageerhebung von einem fortbestehenden rechtlichen Klärungsinteresse des Klägers ausgehen.
29 
3. Der Kläger hat ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit der polizeilichen Maßnahmen.
30 
Die (Fortsetzungs-)Feststellungsklage ist nur zulässig, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit des erledigten Verwaltungsakts (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO) oder des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses (vgl. § 43 Abs. 1 VwGO) hat. Ein solches Interesse kann rechtlicher, wirtschaftlicher oder auch ideeller Natur sein (st. Rspr; vgl. nur BVerwG, Urt. v. 29.03.2017 - 6 C 1.16 -, juris Rn. 29; Beschl. v. 04.12.2018 - 6 B 56.18 -, juris Rn. 9). Es muss im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung vorliegen.
31 
Hier kann der Kläger ein berechtigtes Feststellungsinteresse zwar nicht auf ein Rehabilitierungsinteresse (a), aber auf die grundgesetzliche Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) stützen (b).
32 
a)Auf ein Rehabilitierungsinteresse kann der Kläger sich im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht (mehr) berufen.Ein Rehabilitationsinteresse ist zu bejahen, wenn sich aus der angegriffenen Maßnahme eine Stigmatisierung des Betroffenen ergibt, die geeignet ist, sein Ansehen in der Öffentlichkeit oder im sozialen Umfeld herabzusetzen, diese Stigmatisierung Außenwirkung erlangt hat und noch in der Gegenwart andauert (BVerwG, Urt. v. 16.05.2013 - 8 C 14.12 -, juris Rn. 25; Beschl. v. 04.12.2018 - 6 B 56.18 -, juris Rn. 11; Beschl. v. 25.06.2019 - 6 B 154.18 u.a. -, juris Rn. 5). Letzteres lässt sich hier nicht feststellen. Denn es erscheint zweifelhaft, dass von den polizeilichen Maßnahmen gegenüber dem Kläger am 30.04.2016, die ursprünglich unzweifelhaft eine diskriminierende Wirkung entfalteten, nach Ablauf von fünfeinhalb Jahren weiterhin nachteilige Wirkungen ausgehen, die im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung andauern.Der Kläger hat ungünstige Nachwirkungen im beruflichen oder gesellschaftlichen Bereich nicht dargetan. Die zahlreichen, bis heute im Internet abrufbaren Zeitungsartikel, die von der Ingewahrsamnahme am 30.04.2016 berichten, erwähnen den Kläger nicht namentlich.
33 
b) Das Gebot effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) verlangt, ein berechtigtes Feststellungsinteresse über die einfach-rechtlichen Konkretisierungen hinaus auch dann anzuerkennen, wenn ein tiefgreifender Eingriff in die Grundrechte sich typischerweise so kurzfristig erledigt, dass gerichtlicher Rechtsschutz in einem Hauptsachverfahren regelmäßig nicht erlangt werden kann (st. Rspr.; vgl. nur Senat, Urt. v. 14.04.2005 - 1 S 2362/04 -, juris Rn. 25; BVerwG, Beschluss vom 20.12.2017 - 6 B 14.17 -, juris Rn. 13; Beschl. v. 25.06.2019 - 6 B 154.18 u.a. -, juris Rn. 5; Urt. v. 12.11.2020 - 2 C 5.19 -, juris Rn. 15). Verfassungsrecht gebietet nur dann, eine drohende Rechtsschutzlücke zu schließen, wenn es sich bei der angegriffenen Maßnahme um einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff handelt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 07.12.1998 - 1 BvR 831/89 -, juris Rn. 25 f.; Beschl. v. 03.03.2004 - 1 BvR 461/03 -, juris Rn. 28, 36; Beschl. v. 04.02.2005 - 2 BvR 308/04 -, juris Rn. 19; BVerwG, Beschl. v. 30.04.1999 - 1 B 36.99 -, juris Rn. 9; Beschl. v. 20.12.2017 - 6 B 14.17, juris Rn. 13; Urt. v. 12.11.2020 - 2 C 5.19 -, juris Rn. 15; s.a. SächsOVG, Beschl. v. 17.11.2015 - 3 A 440/15 -, juris Rn. 8; OVG RP, Urt. v. 27.03.2014 - 7 A 11202/13 -, juris, Rn. 26).
34 
Dies trifft hier auf die polizeiliche Ingewahrsamnahme und deren Vollstreckung mittels Fesselung (Klageanträge zu 1 bis 3 und 9), die von dem Kläger gerügte Durchführung des Bustransportes, Verweigerung eines Toilettengangs und Versagung von Trinkwasser (Klageanträge zu 4 bis 6), die Identitätsfeststellung und erkennungsdienstliche Behandlung (Klageantrag zu 7) sowie den Platzverweis (Klageantrag zu 8), welche in die Freiheit der Person nach Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG, das allgemeine Persönlichkeitsrecht nach Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG, die Menschenwürdegarantie nach Art. 1 Abs. 1 GG und - mit der nach dem klägerischen Vortrag zumindest möglich erscheinenden tatsächlichen Unterbindung einer Versammlung auch schwerwiegend (vgl. BVerfG, Beschl. v. 03.03.2004 - 1 BvR 461/03 -, juris Rn. 37) - in die Versammlungsfreiheit nach Art. 8 Abs. 1 GG eingreifen und typischerweise nur von kurzer Dauer sind, zu.
35 
III. Die Klage ist überwiegend unbegründet. Die Einkesselung der Personengruppe (Klageantrag zu 1), die Ingewahrsamnahme des Klägers (Klageantrag zu 2) und seine Fesselung (Klageantrag zu 3), die Durchführung des Bustransports (Klageantrag zu 4), die Identitätsfeststellung und die Fertigung von Lichtbildern (Klageantrag zu 7), der Platzverweis (Klageantrag zu 8) und die Verbringung nach Esslingen (Klageantrag zu 9) waren rechtmäßig; nur die Versagung eines Toilettenganges (Klageantrag zu 5) und das Vorenthalten von Trinkwasser (Klageantrag zu 6) waren rechtswidrig und verletzten den Kläger in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
36 
1. Die Einkesselung der Personengruppe auf der Kreuzung Flughafenstraße um 7.02 Uhr (Klageantrag zu 1) war rechtmäßig.
37 
a) Als Rechtsgrundlage für die Einschließung des Klägers als Teilnehmer der Ansammlung auf der Kreuzung Flughafenstraße, die mit der Aufhebung der körperlichen Bewegungsfreiheit in jede Richtung und über einen längeren Zeitraum eine Freiheitsentziehung darstellt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 08.03.2011 - 1 BvR 47/05 -, juris Rn. 20) und damit polizeirechtlich als eine Ingewahrsamnahme zu qualifizieren ist (vgl. VG Karlsruhe, Urt. v. 12.01.2017 - 3 K 141/16 -, juris Rn. 28; Urt. v. 10.12.2018 - 1 K 6428/16 -, juris Rn. 59; jeweils m.w.N.; BeckOK PolR BW/Hauser, 22. Ed. 17.1.2021, BWPolG § 33 Rn. 18; Groscurth, in: Peters/Janz, Handbuch Versammlungsrecht, 2. Aufl. 2021, G Rn. 178), die als solche auch nicht als eine sogenannte „Minusmaßnahme“ gegenüber einer Auflösung der Versammlung auf § 15 Abs. 3 VersG gestützt werden könnte, kommt allein § 28 Abs. 1 Nr. 1 PolG a.F. in Betracht.
38 
Die Vorschrift war in jenem Zeitpunkt anwendbar. Der Anwendbarkeit stand die abschließende spezialgesetzliche Regelung der Befugnisse zur Abwehr versammlungsspezifischer Gefahren durch das Versammlungsgesetz, die einen Rückgriff auf polizeirechtliche Befugnisse grundsätzlich erst nach der Auflösung einer Versammlung erlaubt, nicht entgegen.
39 
Polizeiliche Maßnahmen können nach Beginn einer Versammlung zur Abwehr von versammlungsspezifischen Gefahren, die ihre Ursache in der Versammlung und ihrem Ablauf haben, grundsätzlich nur auf die im Versammlungsgesetz besonders und abschließend geregelten Befugnisse gestützt werden, die insoweit als Spezialgesetz den allgemeinen polizeirechtlichen Vorschriften vorgehen (sog. „Polizei[rechts]festigkeit“ der Versammlung; vgl. Senat, Urt. v. 26.01.1998 - 1 S 3280/96 -, juris Rn. 34; BVerwG, Urt. v. 25.07.2007 - 6 C 39.06 -, juris Rn. 30; Beschl. v. 03.05.2019 - 6 B 149.18 -, juris Rn. 8; BVerfG, Beschl. v. 30.04.2007 - 1 BvR 1090/96 -, juris Rn. 43; Dürig-Friedl/Enders/Dürig-Friedl, VersammlG § 15 Rn. 6; Groscurth, in: Peters/Janz, Handbuch Versammlungsrecht, 2. Aufl. 2021, G Rn. 24 ff.;Kniesel/Poscher, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 7. Aufl. 2021, J Rn. 28). Die im Vergleich zum allgemeinen Polizeirecht besonderen Voraussetzungen für beschränkende Maßnahmen nach dem Versammlungsgesetz sind Ausprägungen des Grundrechts der Versammlungsfreiheit. Soweit das Versammlungsgesetz - wie etwa hinsichtlich der Störerauswahl oder der Vollstreckung von auf versammlungsrechtlicher Grundlage erlassenen Verfügungen - Regelungslücken aufweist, ist ein ergänzender Rückgriff auf polizeirechtliche Bestimmungen nicht ausgeschlossen (vgl.BVerwG, Urt. v. 25.07.2007 - 6 C 39.06 -, juris Rn. 30; Beschl. v. 03.05.2019 - 6 B 149.18 -, juris Rn. 8; Groscurth, in: Peters/Janz, Handbuch Versammlungsrecht, 2. Aufl. 2021, G Rn. 10). Findet danach das Versammlungsgesetz Anwendung, darf auf andere Rechtsgrundlagen, die zu einem polizeilichen Einschreiten ermächtigen, erst dann zurückgegriffen werden, wenn die Versammlung zuvor rechtmäßig aufgelöst worden ist (vgl. Senat, Urt. v. 25.04.2007 - 1 S 2828/06 -, juris Rn. 25; BVerfG, Beschl. v. 30.04.2007 - 1 BvR 1090/96 -, juris Rn. 40; Dürig-Friedl/Enders/Dürig-Friedl, VersammlG § 15 Rn. 6; Groscurth, in: Peters/Janz, Handbuch Versammlungsrecht, 2. Aufl. 2021, G Rn. 9; Kniesel/Poscher, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 7. Aufl. 2021, J Rn. 30).
40 
Danach konnte die Polizei die Ingewahrsamnahme des Klägers auf polizeirechtliche Befugnisse stützen. Denn bei der Ansammlung auf der Kreuzung Flughafenstraße handelte es sich im maßgeblichen Zeitpunkt des polizeilichen Einschreitens nicht um eine Versammlung im Sinne des Versammlungsgesetzes.
41 
aa) Die Anwendbarkeit und Sperrwirkung des Versammlungsgesetzes setzt eine Versammlung voraus.
42 
aaa) Der Versammlungsbegriff ist im Versammlungsgesetz nicht definiert. Nach ständiger Rechtsprechung ist unter einer Versammlung in Übereinstimmung mit dem verfassungsrechtlichen Begriff der Versammlung im Sinne des Art. 8 GG (vgl. BVerfG, Beschl. v. 30.08.2020 - 1 BvQ 94/20 -, juris Rn. 14), der nicht gleichbedeutend mit dem Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG ist, die örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zum Zwecke der gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung zu verstehen (vgl. Senat, Urt. v. 26.01.1998 - 1 S 3280/96 -, juris Rn. 35; Urt. v. 25.04.2007 - 1 S 2828/06 -, juris Rn. 25; BVerwG, Urt. v. 16.05.2007 - 6 C 23.06 -, juris Rn. 15; Beschl. v. 05.03.2020 - 6 B 1.20 -, juris Rn. 7; Dürig-Friedl/Enders/Enders, 1. Aufl. 2016, VersammlG § 1 Rn. 6; Lux, in: Peters/Janz, Handbuch Versammlungsrecht, 2. Aufl. 2021, D Rn. 39).
43 
Für die Bejahung der Versammlungseigenschaft genügt danach nicht schon jeder beliebige von einer Personengruppe verfolgte Zweck. Einen abweichenden Schluss rechtfertigt auch die Bestimmung des § 17 VersG nicht, wonach die §§ 14 bis 16 VersG nicht für Gottesdienste unter freiem Himmel, kirchliche Prozessionen, Bittgänge und Wallfahrten, gewöhnliche Leichenbegräbnisse, Züge von Hochzeitsgesellschaften und hergebrachte Volksfeste gelten. Bei der Vorschrift handelt es sich um eine entbehrliche Klarstellung, da die genannten Veranstaltungen ohnehin regelmäßig nicht auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichtet sind. Die Ansicht, wonach sich hieraus im Umkehrschluss ein weiter Versammlungsbegriff des Versammlungsgesetzes ableiten lasse (Kniesel/Poscher, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 7. Aufl. 2021, J Rn. 54; Rusteberg, NJW 2011, 2999 <3003>), übersieht, dass es sich bei § 17 VersG um die nur historisch zu erklärende unreflektierte Übernahme früherer, insbesondere staatskirchenrechtlich begründeter Regelungen handelt, die nicht geeignet ist, den Begriff der Versammlung im Sinne des Versammlungsgesetzes verallgemeinerungsfähig zu erhellen (Dürig-Friedl/Enders/Enders, 1. Aufl. 2016, VersammlG § 1 Rn. 8; Lux, in: Peters/Janz, Handbuch Versammlungsrecht, 2. Aufl. 2021, D Rn. 39 jeweils m.w.N.). Hinzukommt, dass sich ein derart weitreichendes Begriffsverständnis verfassungsrechtlichen Bedenken ausgesetzt sähe, da der Bund nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 3 GG a.F. die Gesetzgebungskompetenz für das Versammlungsrecht nur im Umfang des grundgesetzlichen Versammlungsbegriffes im Sinne des Art. 8 GG hatte (vgl. BeckOK GG/Seiler, 48. Ed. 15.8.2021, GG Art. 74 Rn. 17).
44 
bbb) Der Anwendungsbereich des Versammlungsgesetzes umfasst auch die unfriedliche Versammlung; denn auch eine unfriedliche Versammlung, die nicht den grundrechtlichen Schutz des Art. 8 Abs. 1 GG genießt, ist eine Versammlung im Sinne des Versammlungsgesetzes (vgl. Senat, Urt. v. 21.04.1986 - 1 S 650/86 -, VBlBW 1986, 305; BVerwG, Beschl. v. 14.01.1987 - 1 B 219/86 -, juris Rn. 10; SaarlOVG, Urt. v. 27.10.1988 - 1 R 169/86 -, juris Rn. 29; OVG Bremen, Urt. v. 04.11.1986 - 1 BA 15/86 -, NVwZ 1987, 235 <236>; Dürig-Friedl/Enders/Dürig-Friedl, VersammlG § 15 Rn. 7; Lux, in: Peters/Janz, Handbuch Versammlungsrecht, 2. Aufl. 2021, D Rn. 23). Dies ergibt sich aus der Systematik des Versammlungsgesetzes, welches Eingriffsbefugnisse auch gegenüber unfriedlichen Versammlungen regelt. So bestimmt § 5 Nr. 3 VersG, dass die Abhaltung einer Versammlung nur im Einzelfall und nur dann verboten werden kann, wenn Tatsachen festgestellt sind, aus denen sich ergibt, dass der Veranstalter oder sein Anhang einen gewalttätigen oder aufrührerischen Verlauf der Versammlung anstreben. § 13 Abs. 1 Nr. 2 VersG legt fest, dass die Polizei die Versammlung nur dann und unter Angabe des Grundes auflösen kann, wenn die Versammlung einen gewalttätigen oder aufrührerischen Verlauf nimmt oder unmittelbare Gefahr für Leben und Gesundheit der Teilnehmer besteht. Handelte es sich bei derartigen Veranstaltungen schon tatbestandlich nicht um Versammlungen, wäre eine Regelung im Versammlungsgesetz entbehrlich. Für ein umfassendes Verständnis des Versammlungsbegriffs des Versammlungsgesetzes unter Einschluss unfriedlicher Versammlungen spricht auch die gesetzgeberische Intention, bis zu einer Auflösung der Versammlung selbst die Verantwortung für die Einhaltung der gesetzlichen Regelungen und behördlichen Auflagen zu übertragen (vgl. Kniesel/Poscher, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 7. Aufl. 2021, J Rn. 30).
45 
ccc) Danach können auch sogenannte Blockadeaktionen in den Anwendungsbereich und damit unter den Auflösungsvorbehalt des Versammlungsgesetzes fallen, wenn und soweit diese von dem - tatbestandlich für die Annahme einer Versammlung vorausgesetzten - gemeinschaftlichen Zweck der Meinungskundgabe getragen sind (vgl. BVerwG, Beschl. v. 14.01.1987 - 1 B 219.86 -, juris Rn. 10 für eine unfriedliche Sitzblockade).
46 
(1) Unter den Begriff der Versammlung fallen auch solche Zusammenkünfte, bei denen die Versammlungsfreiheit zum Zwecke plakativer oder aufsehenerregender Meinungskundgabe in Anspruch genommen wird (vgl. BVerfG, Beschl. v. 07.03.2011 - 1 BvR 388/05 -, juris Rn. 32 m.w.N.).
47 
Dies erfasst Veranstaltungen, bei denen die Teilnehmer ihre Meinungen zusätzlich oder ausschließlich auf andere Weise als in verbaler Form, etwa durch ihre bloße Anwesenheit z.B. in der Gestalt einer Blockade, zum Ausdruck bringen (sog. „demonstrative Blockade“; vgl. BVerfG, Beschl. v. 24.10.2001 - 1 BvR 1190/90 u.a. -, juris Rn. 39). Die Blockade darf dabei jedoch nicht Selbstzweck, sondern muss ein dem Kommunikationsanliegen untergeordnetes Mittel zur symbolischen Unterstützung des Protests und damit zur Verstärkung der kommunikativen Wirkung in der Öffentlichkeit sein (BVerfG, Beschl. v. 24.10.2001 - 1 BvR 1190/90 u.a. -, juris Rn. 42; HessVGH, Beschl. v. 02.10.2020 - 2 B 2369/20 - juris, Rn. 18; OVG Bln-Bbg, Beschl. v. 18.01.2016 - OVG 1 N 86.14 -, juris Rn. 14; Dürig-Friedl/Enders/Enders, 1. Aufl. 2016, VersammlG § 1 Rn. 10; Hong, in: Peters/Janz, Handbuch Versammlungsrecht, 2. Aufl. 2021, D Rn. 29).
48 
Demgegenüber handelt es sich bei strategischen Blockaden, die nicht nur kurzfristig symbolischen Protest ausdrücken wollen, bei dem die Behinderung Dritter bloße Nebenfolge ist, sondern deren primärer Zweck es ist, eigene Forderungen zwangsweise durchzusetzen, die Rechte Dritter gezielt zu beeinträchtigen oder das, was - wie etwa eine andere Versammlung - politisch missbilligt wird, tatsächlich zu stören oder zu verhindern, nicht um eine geschützte Versammlung (sogenannte „Verhinderungsblockade“; vgl. Senat, Urt. v. 06.11.2013 - 1 S 1640/12 -, juris Rn. 51; BVerfG, Beschl. v. 24.10.2001 - 1 BvR 1190/90 u.a. -, juris Rn. 44; HambOVG, Beschl. v. 03.07.2017 - 4 Bs 142/17 -, juris Rn. 70; HessVGH, Beschl. v. 02.10.2020 - 2 B 2369/20 - juris, Rn. 18; OVG Nds., Urt. v. 29.5.2008 - 11 LC 138/06 -, juris, Rn. 53). Derartige Veranstaltungen erfüllen nicht die tatbestandlichen Voraussetzungen einer Versammlung im Sinne des Art. 8 GG und des Versammlungsgesetzes, weil sie nicht auf eine Meinungskundgabe gerichtet sind. Sie verlassen das Feld der geistig-inhaltlichen Auseinandersetzung; denn ihnen fehlt die Bereitschaft, die abweichende Meinung und Versammlung in ihrem Bestand hinzunehmen und abweichende Ziele allein mit kommunikativen Mitteln zu verfolgen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 11.06.1991 - 1 BvR 772/90 -, juris Rn. 17).
49 
(2) Die im Schrifttum vertretene - unterschiedlich begründete und weit verstandene - abweichende Ansicht, wonach auch sogenannte „Verhinderungsblockaden“ in den Anwendungsbereich des Versammlungsgesetzes fallen sollen (vgl. Rusteberg, NJW 2011, 2999 <3003>; ohne nähere Begründung jeweils Dürig-Friedl/Enders/Enders, 1. Aufl. 2016 VersammlG § 1 Rn. 10; Kniesel/Poscher, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 7. Aufl. 2021, J, Rn. 440 ff.; s.a. Hong, in: Peters/Janz, Handbuch Versammlungsrecht, 2. Aufl. 2021, D Rn. 31), überzeugt nicht. Sie entbehrt eines normativen Anknüpfungspunktes, ist erkennbar von der einseitigen Vorstellung einer friedlichen Sitzblockade getragen und lässt hierbei andere Formen der Störung oder Verhinderung einer Veranstaltung außer Betracht. Vor allem aber übergeht sie, dass eine Zusammenkunft, die nicht in erster Linie auf eine Meinungskundgabe zielt, bereits tatbestandlich nicht die Voraussetzungen einer Versammlung erfüllt. Der Versammlungsbegriff im Sinne des Versammlungsgesetzes verlangt, wie unter III. 1. a) aa) aaa) dargelegt, dass die Veranstaltung im Vordergrund auf eine Meinungskundgabe gerichtet ist (a.A. Rusteberg, NJW 2011, 2999 <3003>). Hierzu genügt es nicht, dass sie nur mittelbar der Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung dient (so aber Rusteberg, a.a.O.). Der final auf die öffentliche Meinungskundgabe zielende Charakter der Zusammenkunft muss vielmehr erkennbar im objektiven Gesamtgepräge der Ansammlung Ausdruck finden. Bei diesem zutreffenden Verständnis verlangt auch der Sinn und Zweck des Versammlungsgesetzes nicht, seinen Anwendungsbereich auf Veranstaltungen auszudehnen, die nicht die Anforderungen einer Versammlung im Sinne des Art. 8 Abs. 1 GG erfüllen, weil Teilnehmer und Beamte vor Ort reine „Verhinderungsblockaden“ aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes nicht sicher von Blockaden unterscheiden könnten, die auch der öffentlichen Meinungsbildung dienen (so Rusteberg, NJW 2011, 2999 <3003>). Dies gilt jedenfalls dann, wenn die Zusammenkunft von Beginn an nicht die Voraussetzungen einer Versammlung erfüllt. Dem Vorschlag, eine sogenannte „Verhinderungsblockade“ zunächst für einen Zeitraum von bis zu 20 min als eine Versammlung im Sinne des Art. 8 Abs. 1 GG zu behandeln, um sich Gewissheit über deren tatsächliche Absicht zu verschaffen, und diese sodann gegebenenfalls aufzulösen (Kniesel/Poscher, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 7. Aufl. 2021, J, Rn. 441 ff.), mangelt es an einer gesetzlichen Begründung. Schließlich wird der Begriff der „Verhinderungsblockade“ überdehnt, wenn eine solche auch in einer Demonstration gesehen wird, die sich gegen eine andere Versammlung richtet, dabei aber nicht die Verhinderung der anderen Versammlung, sondern die Erzielung der öffentlichen Aufmerksamkeit für den eigenen, positiv bestimmbaren Standpunkt im Vordergrund steht (vgl. Hong, in: Peters/Janz, Handbuch Versammlungsrecht, 2. Aufl. 2021, D Rn. 31); denn richtigerweise handelt es sich hierbei um nicht um eine „Verhinderungsblockade“, sondern eine „demonstrative Blockade“.
50 
(3) Für die Abgrenzung einer „demonstrativen Blockade“ von einer bloßen „Verhinderungsblockade“ kommt es maßgeblich darauf an, ob die Ansammlung sich nach ihrem anhand der objektiven Umstände zu ermittelnden Gesamtgepräge im Kern kommunikativer Mittel bedient und nicht ausschließlich bezweckt, die Veranstaltung, gegen die sie sich richtet, mit physischen Mitteln zu verhindern (vgl. BVerfG, Beschl. v. 11.06.1991 - 1 BvR 772/90 -, juris Rn. 15; OVG Bln-Bbg, Beschl. v. 18.01.2016 - OVG 1 N 86.14 -, juris Rn. 15). Hierzu bedarf es substantiierter Anhaltspunkte dafür, dass der Kommunikationszweck im Vordergrund steht (vgl. BVerfG, Beschl. v. 24.10.2001 - 1 BvR 1190/90 u.a. -, juris Rn. 44 f.); nicht ausreichend ist es dagegen, wenn die Teilnehmer lediglich bei bloßer Gelegenheit einer Blockade ihre Meinung kundtun. Ob dies der Fall ist, ist im Einzelfall anhand Art, Umfang und Dauer der Blockade sowie ihres sachlichen Zusammenhangs mit dem inhaltlichen Gegenstand der Versammlung zu beurteilen (vgl. HessVGH, Beschl. v. 02.10.2020 - 2 B 2369/20 - juris, Rn. 19 ff.; Dürig-Friedl/Enders/Dürig-Friedl, VersammlG § 15 Rn. 46 m.w.N.; Trurnit, NVwZ 2016, 873 <875>). Die Intensität der Blockademaßnahmen kann Aufschluss über den Zweck der Zusammenkunft geben.Denn entgegen einer im Schrifttum vertretenen Auffassung verhält es sich keineswegs zwangsläufig so, dass Demonstrationen, die in Blockadeform erfolgen, regelmäßig nichts Anderes wollen, als auch auf die öffentliche Meinungsbildung Einfluss zu nehmen, und hierbei nicht nur das Recht des Anderen negativ bestreiten, sondern zugleich ihre eigene Meinung positiv zum Ausdruck bringen (so aber Rusteberg, NJW 2011, 2999 <3001 f.>). Eine Blockade, die rein symbolischer Natur und nach kürzester Zeit beendet ist, wird im Zweifel nicht von einer Verhinderungsabsicht getragen sein. Umgekehrt wird eine Ansammlung, die von Beginn nicht maßgeblich durch Elemente einer öffentlichen Meinungsbekundung geprägt ist, regelmäßig nicht die Voraussetzungen einer Versammlung erfüllen. Für die Beurteilung des symbolhaften Charakters einer Blockade kann zu berücksichtigen sein, ob sie objektiv überhaupt geeignet ist, das erklärte Ziel vor Ort tatsächlich mit physischen Mitteln zu erreichen (vgl. HessVGH, Beschl. v. 02.10.2020 - 2 B 2369/20 - juris, Rn. 20; VG Stuttgart, Urt. v. 18.11.2015 - 5 K 1265/14 -, juris Rn. 43; s.a. BVerfG, Beschl. v. 07.03.2011 - 1 BvR 388/05 -, juris Rn. 35: „konkrete[n], vor Ort durchsetzbare[n] Forderung“).
51 
bb) Gemessen an diesem Maßstab handelte es sich bei der Personengruppe auf der Kreuzung Flughafenstraße im maßgeblichen Zeitpunkt des polizeilichen Einschreitens um 07.02 Uhr um keine Versammlung im Sinne des Versammlungsgesetzes.Bei der gebotenen Würdigung der objektiven Gesamtumstände lässt sich nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme, insbesondere des Inhaltes der polizeilichen Videoaufzeichnungen und der Angaben des Zeugen ...-... nicht feststellen, dass die Ansammlung im Vordergrund unter Einsatz kommunikativer Mittel auf eine öffentliche Meinungsbekundung gerichtet war. Vielmehr war es primärer Zweck der Zusammenkunft, die Durchführung des AfD-Parteitages mit unfriedlichen Mitteln tatsächlich zu verhindern oder zumindest erheblich zu stören.
52 
Dass hierin das erklärte Ziel der Personengruppe lag, belegt das Transparent „AfD-Parteitag verhindern - Nationalismus ist keine Alternative“ (Video, 19:40 min). Hiermit brachte die Ansammlung ihre fehlende Bereitschaft zum Ausdruck, die Veranstaltung des AfD-Parteitages als solche hinzunehmen, um sich mit dieser auf kommunikativem Wege auseinanderzusetzen.
53 
Diese Haltung hat in dem weiteren Verhalten der Personengruppe eine tatsächliche Bestätigung erfahren. Von Beginn an zeigten die Personen ein nicht auf ein martialisches Auftreten zu reduzierendes, nicht nur vereinzeltes gewalttätiges Verhalten, welches der Zusammenkunft ihr maßgebliches objektives Gepräge gab. Schon unmittelbar nach Verlassen der Reisebusse auf dem Kreisverkehr an der Abfahrt von der A 8 um 06.35 Uhr wurde ein erster pyrotechnischer Gegenstand gezündet (Video, 1:35 min); weitere folgten fortlaufend während nahezu des gesamten weiteren Geschehens. Kurze Zeit später begannen Teile der Gruppe damit, an den Ausfahrten des Kreisverkehrs mit Baustellenbarken und sonstigem Baustellenmaterial Barrikaden zu errichten.Die Personengruppe stellte sich für den Betrachter aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes als eine homogene Gruppe dar. Die ganz überwiegende Zahl trug schwarze Bekleidung oder weiße Einmalanzüge; die meisten Personen waren mit Kapuzen, Mützen, Schals und Sonnenbrillen vermummt. Das unfriedliche Verhalten erfolgte koordiniert und zielgerichtet und wurde ersichtlich von der Solidarität der Mehrheit der Personengruppe getragen; die Videoaufzeichnungen belegen keine Absetzbewegungen.
54 
Der Einsatz physischer Gewalt richtete sich gegen den AfD-Parteitag. Einen Hinweis darauf, dass es sich hierbei um die tragende Intention der Personengruppe handelte, liefert der Umstand, dass diese zu keinem Zeitpunkt einen der angemeldeten Versammlungsorte aufsuchte. Die polizeilichen Aufklärungsergebnisse im Vorfeld des AfD-Parteitages bestätigen diese Einschätzung. Nach der glaubhaften Aussage des Zeugen ... in der mündlichen Verhandlung rechnete die Polizei mit der Anreise von 850 bis 1.000 gewaltbereiten Personen aus dem linksautonomen Spektrum, deren Ziel es sein würde, die Durchführung des AfD-Parteitages zu verhindern (S. 1 SN-Anlage). Der Polizei lagen aufgrund entsprechender Einladungsplakate und Flyer konkrete Erkenntnisse vor, wonach diese Personen die Absicht hatten, ähnliche Zustände herbeizuführen, wie im Jahr 2015 anlässlich der Eröffnung der Europäischen Zentralbank in Frankfurt am Main. Kraftfahrzeuge und Ladengeschäfte sollten in Brand gesteckt und die Infrastruktur an der Landesmesse Stuttgart so zerstört werden, dass der AfD-Parteitag nicht stattfinden könne. Diese polizeiliche Gefahreneinschätzung wurde durch das konkrete Auftreten der umschlossenen Personengruppe am Kreisverkehr bestätigt. Es erweckte den Eindruck einer planmäßigen und vorbereiteten Vorgehensweise. Der Kreisverkehr wurde gezielt und zügig angesteuert. Zeitgleich erreichten ihn Busse von unterschiedlichsten Abfahrtsorten im gesamten Bundesgebiet; der Zeuge ... hat insoweit von einer bemerkenswerten Koordinationsleistung gesprochen (S. 1 SN-Anlage). Das Verhalten der Gruppe zeigte schließlich ein taktisches Muster, welches nach der Erläuterung des Zeugen ... darauf gerichtet war, frühzeitig vor der angemeldeten Zeit der ersten Versammlungen ab 07.00 Uhr die Raumherrschaft zu gewinnen, um es den Polizeikräften zu erschweren, den besetzten Raum wieder zurückzugewinnen (S. 1 SN-Anlage).
55 
Die von der umschlossenen Personengruppe eingesetzten unfriedlichen Mittel erschöpften sich danach nicht in einer symbolischen Wirkung. Sie waren nicht nur untergeordnetes Gestaltungsmittel, um öffentliche Aufmerksamkeit für ein eigenes Kommunikationsanliegen zu gewinnen. Vielmehr waren sie nach ihrem Gewicht tatsächlich darauf gerichtet und konkret geeignet, die Durchführung des AfD-Parteitages zu stören.
56 
Die Blockade des Kreisverkehrs war von einigem Gewicht. Der Kreisverkehr ist aufgrund seiner Lage an der Ab- und Zufahrt der A 8 von besonderer verkehrlicher Bedeutung. Seine Blockade war daher geeignet, die Anreise zu dem Parteitag zumindest zu erschweren. Die polizeilichen Videoaufzeichnungen belegen, wie Kraftfahrzeugfahrer sich wiederholt gezwungen sahen, ab- oder umzudrehen. Zwar war die Blockade von vergleichsweise kurzer Dauer. Auch ließen sich die errichteten Barrikaden von den Polizeikräften zügig wieder entfernen. Indes ist zu berücksichtigen, dass die Aufgabe der Blockade durch die Personengruppe ersichtlich erst durch das massive Auftreten von Polizeikräften veranlasst war (Video, 23:00 min). Schließlich mag die Blockade des Kreisverkehrs angesichts weiterer Zufahrtswege zu dem Messegelände für sich genommen nicht geeignet gewesen sein, die Anreise zu dem Parteitag mittelfristig zu verhindern. Das Verhalten der Personengruppe ist jedoch in der Zusammenschau mit den weiteren erheblichen Störungen im Umfeld des Messegeländes durch andere Störergruppen zu würdigen, die es in ihrem - nicht notwendigerweise koordinierten, aber jedenfalls faktischen - Zusammenwirken durchaus möglich erscheinen ließen, dass eine Anfahrt der Parteitagsteilnehmer zumindest erheblich erschwert wird.
57 
Das gewalttätige Verhalten der Personengruppe war auch geeignet, ihr Ziel - die Durchführung des AfD-Parteitages zu verhindern - vor Ort tatsächlich zu erreichen. Insoweit unterscheidet sich der Sachverhalt maßgeblich von der Blockade einer ständigen Einrichtung wie etwa der von dem Kläger angeführten Beispiele eines Kernkraftwerkes oder der Baustelle eines großen Infrastrukturprojektes.
58 
Die Blockade von Verkehrswegen zur Verhinderung des AfD-Parteitages war danach primärer Selbstzweck. Ein kommunikatives Anliegen stand angesichts des nicht nur vereinzelten Einsatzes physischer Gewalt nicht im Vordergrund. Die von mehreren Personen gehaltenen Transparente (u.a. „Den nationalistischen Konsens brechen“, „Let’s tear down the walls of fortress Europe“, „Nazistorten überall“) und Plakattafeln (u.a. „Antifeminismus ist keine Alternative“) sowie die skandierten Sprechchöre („AfD-Faschistenpack, wir haben Euch zum Kotzen satt“), die als solche unzweifelhaft öffentliche Meinungsbekundungen darstellen, gaben der Ansammlung nicht ihr übergeordnetes objektives Gepräge. Sie erfolgten lediglich bei Gelegenheit des Versuches, den AfD-Parteitag mit physischen Mitteln zu stören.
59 
In den Ereignissen von der Ankunft der Busse am Kreisverkehr um 06.35 Uhr bis zu der Einschließung der Personengruppe auf der Flughafenstraße um 07.02 Uhr ist dabei ein einheitliches Geschehen zu sehen, welches sich ununterbrochen innerhalb eines sehr kurzen Zeitraumes auf eng begrenztem Raum ereignete, keine erheblichen qualitativen Veränderungen aufwies und ersichtlich von derselben Zielrichtung getragen wurde. Die (nahezu) personenidentische Gruppe suchte nach Verlassen des Kreisverkehrs gegen 06.56 Uhr (vgl. Video, 28:08 min) erkennbar weiterhin keinen der angemeldeten Versammlungsorte auf. Vielmehr blockierte sie die Kreuzung auf der Flughafenstraße in unmittelbarer Nähe des Terminalgebäudes, welches von der Polizei im Vorfeld des Parteitages u.a. als schützenswerte Einrichtung eingestuft worden war, weil es sich um einen möglichen Anreiseweg der Parteitagsteilnehmer handelte. Die große Zahl der Personen war weiterhin vermummt. Noch auf der Flughafenstraße wurde um 06:59 Uhr ein pyrotechnischer Gegenstand gezündet und in die Richtung der herannahenden Polizeikräfte geworfen (Video, 28:50 min).
60 
b) Die Ingewahrsamnahme des Klägers erfolgte rechtmäßig.
61 
aa) Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 28 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 3 PolG a.F. waren im Zeitpunkt der Umschließung der Personengruppe erfüllt.
62 
Danach kann die Polizei eine Person in Gewahrsam nehmen, wenn auf andere Weise eine unmittelbar bevorstehende erhebliche Störung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung nicht verhindert oder eine bereits eingetretene erhebliche Störung nicht beseitigt werden kann (Nr. 1) oder wenn die Identität einer Person auf andere Weise nicht festgestellt werden kann (Nr. 3).
63 
Unter den Begriff der öffentlichen Sicherheit fallen die Unverletzlichkeit der Normen der geschriebenen Rechtsordnung, weiter die privaten Rechte und Rechtsgüter des Einzelnen, schließlich Bestand und Funktionsfähigkeit des Staates und seiner Einrichtungen sowie sonstiger Hoheitsträger (st. Rspr.; vgl. BVerwG, Urt. v. 28.02.2012 - 6 C 12.11 -, juris Rn. 23; BeckOK PolR BW/Enders, 22. Ed. 17.01.2021, BWPolG § 30 Rn. 15 m.w.N.; Graulich, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 7. Aufl. 2021, E Rn. 89). Maßgeblich für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Anordnung des Gewahrsams ist, ob aus der ex ante-Perspektive des handelnden Polizeibeamten eine konkrete Gefahrenlage bestand (vgl. Senat, Urt. v. 17.03.2011 - 1 S 2513/10 -, juris Rn. 24). Die hierzu vorzunehmende Prognose muss sich auf konkrete Tatsachen stützen (vgl. NdsOVG, Urt. v. 10.10.2019 - 11 LB 1108/18 -, juris Rn. 34).
64 
Gemessen an diesem Maßstab hält die Einkesselung der Personengruppe auf der Flughafenstraße einer rechtlichen Überprüfung stand. Im Zeitpunkt des polizeilichen Einschreitens war mit den Blockaden des Verkehrs auf dem Kreisverkehr und der Flughafenstraße, den Sachbeschädigungen an Baustelleneinrichtungen und dem Abbrennen von Pyrotechnik bereits eine erhebliche Störung der öffentlichen Sicherheit eingetreten. Jedenfalls aber ist die von der Polizei in fehlerfreier Wahrnehmung ihrer Einschätzungsprärogative getroffene Annahme nicht zu beanstanden, dass nach der gewalttätigen Blockade des Kreisverkehrs, den sich zeitgleich ereignenden schwerwiegenden Störungen in der näheren Umgebung des Messegeländes, bei denen u.a. die A 8 und die B 27 mit brennenden Barrikaden blockiert wurden, sowie den im Vorfeld gewonnenen polizeilichen Aufklärungsergebnissen, wonach mehrere hundert gewaltbereite Störer beabsichtigten, die Infrastruktur der Landesmesse zu zerstören, um eine Durchführung des AfD-Parteitages unmöglich zu machen, weitere Störungen des Parteitages und seiner Teilnehmer sowie des in unmittelbarer Nähe gelegenen und als Anreiseweg dienenden Flughafen-Terminals durch die Personengruppe unmittelbar bevorstanden. Die Personengruppe befand sich im Zeitpunkt der Ingewahrsamnahme nur noch 150 m von dem Eingang zu den Flughafen-Terminals entfernt; einzelne Personen aus der Gruppe hatten sich bereits vor der Umschließung durch Polizeikräfte in Richtung des Flughafens abgesetzt (Video, 29:36 min). Zu Recht ging die Polizei davon aus, dass die Personengruppe sich bei weiterer freier Bewegung auf dem Messe- und Flughafengelände mit den parallel angereisten Störergruppen vereinigen könnte.
65 
Die Vornahme von Gewalttätigkeiten und die Verursachung von groben Störungen in der Absicht, den AfD-Parteitag als nichtverbotene Versammlung zu verhindern oder sonst seine Durchführung zu verhindern, hätte den Straftatbestand des § 21 VersG erfüllt. In Abhängigkeit von der konkreten Ausführung hätte die weitere Blockade von Verkehrswegen eine Nötigung gemäß § 240 Abs. 1 StGB verwirklichen können (vgl. BVerfG, Beschl. v. 07.03.2011 - 1 BvR 388/05 -, juris Rn. 23 ff.). Tätlichkeiten gegenüber den Polizeieinsatzkräften, wie etwa ein Bewurf mit Pyrotechnik, wären gefährliche Körperverletzungen im Sinne des § 224 StGB gewesen. Schließlich erfüllt nach § 125 Abs. 1 StGB den Straftatbestand des Landfriedensbruchs, wer sich an Gewalttätigkeiten gegen Menschen oder Sachen (Nr. 1) oder Bedrohungen von Menschen mit einer Gewalttätigkeit (Nr. 2), die aus einer Menschenmenge in einer die öffentliche Sicherheit gefährdenden Weise mit vereinten Kräften begangen werden, als Täter oder Teilnehmer beteiligt oder wer auf die Menschenmenge einwirkt, um ihre Bereitschaft zu solchen Handlungen zu fördern.
66 
Des Weiteren lagen im Zeitpunkt der Einkesselung auch die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 28 Abs. 1 Nr. 3 PolG a.F. vor, da die Identität des Klägers noch nicht festgestellt war und auch nicht auf andere Weise festgestellt werden konnte. Angesichts der unübersichtlichen Situation und der Gewaltbereitschaft der Personengruppe waren Maßnahmen der Identitätsfeststellung nur in der Weise möglich, dass die anwesenden Personen einzeln aus der Umschließung herausgeführt wurden.
67 
bb)Die handelnden Polizeibeamten haben den Kläger zu Recht als einen Verhaltensstörer im Sinne des § 6 PolG angesehen, der durch sein Verhalten die öffentliche Sicherheit störte oder bedrohte.
68 
Denn Verhaltensstörer ist auch der Anscheinsstörer. Anscheinsstörer ist, wer ex post betrachtet keine Gefahr verursacht, aber aus der ex ante-Perspektive bei einem fähigen, besonnenen und sachkundigen Polizeibeamten den Eindruck der Gefahrverursachung erweckt (vgl. Senat, Urt. v. 14.12.2010 - 1 S 338/10 -, juris Rn. 26). Hierfür genügt es, dass ein Verhalten objektiv geeignet ist, bei Dritten den Eindruck zu erwecken, es drohe ein Schaden für ein polizeilich geschütztes Rechtsgut (vgl. Senat, Urt. v. 17.03.2011 - 1 S 2513/10 -, juris Rn. 25).
69 
Dies ist hier der Fall. Der Kläger hat durch seine Anwesenheit in der Personengruppe und durch sein Auftreten, welches ihn jedenfalls nicht offensichtlich von den übrigen in Gewahrsam genommenen Personen unterschied und den Schluss aufdrängte, er sei versehentlich als Unbeteiligter in die Gruppe der Störer geraten, zumindest in zurechenbarer Weise den Anschein erweckt, selbst Störer zu sein. Seine Störereigenschaft wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass er im Nachhinein behauptet hat, erst unmittelbar vor der Einkesselung durch die Polizeikräfte auf der Flughafenstraße zu der Personengruppe gestoßen, an dem vorangegangenen Geschehen auf dem Kreisverkehr nicht beteiligt, nicht vermummt und immer friedlich gewesen zu sein. Denn die Polizeikräfte vor Ort durften nach dem Geschehensablauf zu Recht davon ausgehen, dass die Personengruppe auf der Flughafenstraße in ihrer Zusammensetzung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit identisch mit derjenigen war, die von dem Kreisverkehr weitergezogen war. Ob die Angaben des Klägers tatsächlich zutreffen, ist danach bei der gebotenen ex ante-Betrachtung unerheblich.
70 
cc)Die zur Gefahrenabwehr geeignete Ingewahrsamnahme des Klägers war im Zeitpunkt der Einkesselung auch bei Anlegung des für eine Freiheitsentziehung nach Art. 104 Abs. 2 GG geltenden strengen Maßstabes (vgl. Senat, Urt. v. 17.03.2011 - 1 S 2513/10 -, juris Rn. 24; NdsOVG, Urt. v. 10.10.2019 - 11 LB 1108/18 -, juris Rn. 35; jeweils m.w.N.) erforderlich, weil mildere Mittel zur Gefahrenabwehr nicht existierten. Nachvollziehbar hat der Zeuge ... erläutert, das die Einrichtung der von dem Kläger als Alternative angeführten polizeilichen Sperre vor dem Flughafen-Terminal nicht erfolgversprechend gewesen wäre, da die fortgesetzte Gefahr bestanden hätte, umlaufen zu werden (S. 3 SN-Anlage), und es den Polizeikräften schwergefallen wäre, eine Personengruppe mit mehreren 100 Personen, die erst einmal in die Flughafengebäude eingedrungen gewesen wäre, wieder unter Kontrolle zu bekommen (S. 2 SN-Anlage). Auch ein Platzverweis war nicht gleichermaßen geeignet, die eingetretene und weiter befürchtete Störung der öffentlichen Sicherheit endgültig zu beseitigen. Denn den Polizeikräften war es in jenem Zeitpunkt angesichts der Vielzahl der Personen, die den Parteitag gleichzeitig und an verschiedenen Orten gewaltsam zu stören suchten, und der unübersichtlichen Weitläufigkeit des Messe- und angrenzenden Flughafengeländes ersichtlich nicht möglich, derartige Platzverweise tatsächlich durchzusetzen. Der Zeuge ... hat in der mündlichen Verhandlung anschaulich geschildert, dass der knappe Kräfteansatz dazu führte, dass die Polizeiführung gezwungen war, die Einsätze zu priorisieren, um die Polizeikräfte an dem Veranstaltungsort des Parteitages nicht zu sehr auszudünnen; so schritt die Polizei gegen die erheblichen Störungen auf den Feldern vor der Messe erst zeitverzögert ein (S. 3 SN-Anlage). Angesichts des Ausmaßes der bereits eingetretenen Störung und der zu erwartenden Gefährdungen für gewichtige Rechtsgüter erwies sich die Ingewahrsamnahme auch als verhältnismäßig im engeren Sinne.
71 
2. Der fortgesetzte, auf § 28 Abs. 1 Nr. 1 PolG a.F. gestützte Gewahrsam des Klägers von seiner Vereinzelung aus der eingeschlossenen Personengruppe um 08.10 Uhr (S. 2 der Klagebegründung, Bl. 48 VG-Streitakte) bis zu der Beendigung seines Einzelgewahrsams in der Halle 9 um 17.54 Uhr (Bl. 42 VV) (Klageantrag zu 2) stellt sich als rechtmäßig dar.
72 
a) Da es sich bei dem Gewahrsam um einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung handelt, müssen seine gesetzlichen Voraussetzungen nicht nur bei seiner Anordnung, sondern während seiner gesamten Dauer vorliegen. Ist sein Zweck erreicht, ist der Gewahrsam gemäß § 28 Abs. 3 Satz 1 PolG a.F. aufzuheben. Die Aufrechterhaltung des Gewahrsams steht daher unter dem Vorbehalt, dass auf andere Weise der Störung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung nicht zu begegnen ist.
73 
Daran gemessen begegnet die Aufrechterhaltung des Gewahrsams bis zu der polizeilich festgestellten Beruhigung der Lage am späten Nachmittag des 30.04.2016 keinen rechtlichen Bedenken, weil aus den bereits unter III. 1. b) dargelegten Gründen über die gesamte Zeitdauer die Gefahr für die öffentliche Sicherheit fortbestand und ein milderes Mittel nicht ernsthaft in Betracht kam. Nachvollziehbar stützte die Polizei ihre entsprechende Einschätzung auf den andauernden Parteitag, die Dynamik des Geschehens und die große Zahl gewaltbereiter Personen. Die Voraussetzungen für die Fortdauer des Gewahrsams jedenfalls auf der Grundlage des § 28 Abs. 1 Nr. 1 PolG a.F. waren damit nicht schon mit der Identitätsfeststellung des Klägers zur Mittagszeit entfallen.
74 
b) Die Ingewahrsamnahme des Klägers war auch nicht wegen eines Verstoßes gegen die Verpflichtung zur unverzüglichen Herbeiführung einer richterlichen Entscheidung über den Gewahrsam rechtswidrig.
75 
aa) Nimmt die Polizei eine Person nach § 28 Abs. 1 PolG a.F. in Gewahrsam, hat sie nach § 28 Abs. 3 Satz 3 PolG a.F. unverzüglich eine richterliche Entscheidung über den Gewahrsam herbeizuführen. Die Ingewahrsamnahme nach § 28 PolG a.F. ist eine Freiheitsentziehung im Sinne der Art. 2 Abs. 2 Satz 2, 104 Abs. 2 GG, so dass nach Art. 104 Abs. 2 Satz 1 und 2 GG der Richter über die Zulässigkeit und Fortdauer der polizeilichen Freiheitsentziehung zu entscheiden hat (vgl. Senat, Urt. v. 17.03.2011 - 1 S 2513/10 -, juris Rn. 31). Der Herbeiführung einer richterlichen Entscheidung bedarf es nach § 28 Abs. 3 Satz 3 PolG a.F. ausnahmsweise nicht, wenn anzunehmen ist, dass die Entscheidung erst nach Wegfall des Grundes des Gewahrsams ergehen würde (vgl. Senat, Urt. v. 17.03.2011 - 1 S 2513/10 -, juris Rn. 31; Urt. v. 27.09.2004 - 1 S 2206/03 -, juris Rn. 47). Hierzu hat die Polizei einen auf konkrete Tatsachen gestützten prognostischen Vergleich der zu erwartenden Dauer des Gewahrsams und der voraussichtlichen Zeit für die Herbeiführung einer richterlichen Entscheidung vorzunehmen. Die polizeiliche Prognose und die ihr zugrunde gelegten tatsächlichen Feststellungen unterliegen der vollständigen gerichtlichen Kontrolle (vgl. BVerfG, Beschl. v. 15.12.2020 - 1 BvR 2824/18 -, juris Rn. 13).
76 
bb) Danach lässt sich ein Verstoß gegen die Verpflichtung zur unverzüglichen Herbeiführung einer richterlichen Entscheidung nicht feststellen.
77 
aaa) Zwar geht der Senat nach den Darlegungen des Beklagten, zuletzt im Schriftsatz vom 12.11.2021, davon aus, dass die Polizei für den Kläger eine gerichtliche Entscheidung über den Gewahrsam nicht herbeigeführt hat. Die Anordnung des Polizeiführers, jede in Gewahrsam genommene Person einem Richter vorzuführen, erbringt hierfür als Polizeiinternum keinen Nachweis. Herbeigeführt ist die richterliche Entscheidung erst in dem Zeitpunkt, in dem das zuständige Amtsgericht tatsächliche Kenntnis von dem entscheidungserheblichen Sachverhalt im konkreten Einzelfall erlangt. Hier ist davon auszugehen, dass die vor Ort anwesenden Richter des Amtsgerichts Nürtingen von der Polizei erst anlässlich der polizeilichen Vorführung der einzelnen Personen konkret informiert wurden. Vorgeführt wurden dem Amtsgericht nach Mitteilung des Beklagten jedoch nur 50 Personen, unter denen sich der Kläger nicht befand. Der Umstand, dass die Vorführungen verzögert erfolgten, weil es zeitweise an polizeilichen Begleitkräften fehlte, lässt den Verstoß gegen die polizeiliche Verpflichtung zur unverzüglichen Herbeiführung einer richterlichen Entscheidung nach § 28 Abs. 3 Satz 3 PolG a.F. nicht entfallen.
78 
bbb) Die Herbeiführung einer richterlichen Entscheidung war für den Kläger jedoch ausnahmsweise nach § 28 Abs. 3 Satz 4 PolG a.F. entbehrlich.
79 
Die polizeiliche Prognose, dass für den Kläger eine richterliche Entscheidung über den Gewahrsam nicht vor dem für die Entlassung vorgesehenen Zeitpunkt ergehen würde, ist nicht zu beanstanden. Zutreffend stützte die Polizei ihre Annahme auf die um 13.26 Uhr gewonnene Kenntnis, dass sich die Anhörungen durch die Richter des Amtsgerichts, die nach der Schilderung des Zeugen ... im Laufe des Vormittags begonnen hatten (S. 4 SN-Anlage), erheblich verzögerten (vgl. S. 18 Berufungsbegründung), und ging davon aus, dass für den Kläger, dessen Identität erst um 13.30 Uhr festgestellt worden war, eine richterliche Entscheidung, die zur Gewährung rechtlichen Gehörs grundsätzlich die Anhörung (vgl. § 28 Abs. 4 Satz 1 PolG a.F. i.V.m. § 420 Abs. 1 Satz 1 FamFG) der in Gewahrsam genommenen Person voraussetzt, bei insgesamt 589 in Gewahrsam genommenen Personen durch die anwesenden vier Richter des Amtsgerichts Nürtingen, deren Personalstärke auf die im Vorfeld von der Polizei erwarteten höchstens 250 bis 300 Ingewahrsamnahmen ausgelegt war, nicht getroffen werden konnte, bevor ab 16.40 Uhr mit den ersten Entlassungen aus dem Gewahrsam begonnen wurde und der Kläger um 17.54 Uhr die Gefangenensammelstelle in der Halle 9 verließ.
80 
Der Gewahrsam des Klägers erweist sich schließlich auch nicht deshalb als rechtswidrig, weil das Amtsgericht Nürtingen in Erfüllung seiner verfassungsrechtlichen Verpflichtung keine hinreichenden personellen Vorkehrungen getroffen hatte, um eine unverzügliche richterliche Entscheidung über den Gewahrsam zu gewährleisten. Es liegen keine Anhaltspunkte vor, dass der Ansatz von vier Richtern offensichtlich zu gering bemessen gewesen wäre, um bei den polizeilich prognostizierten 250 bis 300 Ingewahrsamnahmen eine unverzügliche richterliche Entscheidung sicherzustellen. Überdies erscheint auch bei einer - gegebenenfalls nachträglich - deutlich erhöhten Personalstärke eine Entscheidung über den Gewahrsam von 589 Personen noch vor dem späten Nachmittag des 30.04.2016 fernliegend.
81 
3. Die Fixierung der Arme und Hände am Rücken des Klägers mittels Einweghandschließen (Klageantrag zu 3) in der Zeit von seiner Herauslösung aus der Gruppe bis zu seiner erkennungsdienstlichen Behandlung, bei der es sich um die Anwendung unmittelbaren Zwangs im Sinne des § 52 Abs. 1 PolG a.F. handelt, stellt sich als rechtmäßig dar.
82 
Gemäß § 52 Abs. 1 PolG a.F. darf unmittelbarer Zwang nur angewandt werden, wenn der polizeiliche Zweck auf andere Weise nicht erreichbar erscheint (Satz 1). Das angewandte Mittel muss nach Art und Maß dem Verhalten, dem Alter und dem Zustand des Betroffenen angemessen sein (Satz 3). Nach § 1 Abs. 3 DVO PolG dürfen der in Gewahrsam genommenen Person nur Beschränkungen auferlegt werden, die zur Sicherung des Zwecks des Gewahrsams oder zur Aufrechterhaltung der Ordnung im Gewahrsam erforderlich sind. Danach kann im Einzelfall zur Sicherung des Zwecks des Gewahrsams oder zur Aufrechterhaltung der Ordnung im Gewahrsam auch eine Fesselung mittels Schließen gerechtfertigt sein; hierzu bedarf es allerdings konkreter Anhaltspunkte, dass die in Gewahrsam genommene Person Widerstand leisten oder sich gewalttätig verhalten wird (vgl. VG Karlsruhe, Urt. v. 10.12.2018 - 1 K 6428/16 -, juris Rn. 87).
83 
Dies ist hier der Fall. Die Polizeibeamten sind nach dem gezeigten - teilweise erheblich - aggressiven Vorverhalten der Personengruppe nachvollziehbar davon ausgegangen, dass mit Störungen während des Bustransportes bei einer zahlenmäßigen Unterlegenheit der Einsatzkräfte gerechnet werden musste, denen nur durch eine Fesselung der in Gewahrsam genommenen Personen begegnet werden konnte. Die Linienbusse wurden nach der Schilderung des Zeugen ... von lediglich fünf Polizeibeamten begleitet (S. 6 SN-Anlage), die angesichts der räumlichen Enge in dem Bus nur eingeschränkt handlungsfähig waren und etwa eine Entglasung der Fenster nicht wirksam hätten verhindern können. Der Umstand, dass der Kläger eigenen Angaben zufolge bei der Ingewahrsamnahme keinen Widerstand geleistet hatte, ließ die Begründetheit dieser Gefahrenprognose, die maßgeblich an seine schon zuvor begründete Eigenschaft als Anscheinsstörer anknüpfte, nicht entfallen. Es gibt keine Hinweise darauf, dass es den Polizeibeamten vor Ort ins Auge hätte springen müssen, dass ein aggressives Verhalten des Klägers sicher auszuschließen war.
84 
4. Die Verbringung des Klägers in gefesseltem Zustand in einem Linienbus ohne die Möglichkeit, sich zu setzen oder festzuhalten (Klageantrag zu 4), war nicht rechtswidrig.
85 
Die von dem Kläger angestrebte Feststellung setzt voraus, dass die konkrete Ausgestaltung des Bustransportes eine über den Gewahrsam und die Fesselung hinausreichende Beschränkung des Klägers begründete (vgl. BayVGH, Urt. v. 27.01.2012 - 10 B 08.2849 -, juris Rn. 32), die in die von ihm geltend gemachten Rechte auf körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG oder die Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG eingriff.
86 
Dies lässt sich nach dem von dem Kläger geltend gemachten Sachverhalt nicht feststellen. Der Kläger legt eine weitergehende Beschränkung seiner Person nicht konkret und substantiiert dar. Er trägt nicht vor, dass er selbst während der Fahrt mit dem Bus gestürzt sei; vielmehr sei es ihm gelungen, das Gleichgewicht zu halten. Dem Vortrag des Beklagten, dass der Bus besonders vorsichtig und den Umständen angepasst gefahren sei, ist der Kläger nicht entgegengetreten. Bei einer solchen Fahrweise kann in einem Bustransport ohne Sitzplatz auch bei einer Person, deren Hände auf dem Rücken gefesselt sind, jedenfalls über eine kurze Wegstrecke - wie hier von der Flughafenstraße in die Halle 9 über eine Strecke von durch den Zeugen ... geschätzten 600 m (vgl. S. 6 SN-Anlage) - eine gesonderte, unverhältnismäßig in die körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) oder die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) eingreifende Behandlung nicht gesehen werden.
87 
5. Die Versagung eines von dem Kläger gewünschten Toilettengangs (Klageantrag zu 5) war rechtswidrig.
88 
a) Die materiell-rechtlichen Anforderungen an den Vollzug des Gewahrsams, der von der Ingewahrsamnahme als solches zu unterscheiden ist (vgl. BVerfG, Beschl. v. 13.12.2005 - 2 BvR 447/05 -, juris Rn. 61), ergeben sich aus dem einfachen Recht, dem Verfassungsrecht und den Garantien der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). § 1 Abs. 3 DVO PolG regelt die Zulässigkeit von weitergehenden Einschränkungen in die Bewegungsfreiheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) und die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG), bildet jedoch keine Grundlage für weitere selbständige Grundrechtseingriffe, die ihrerseits einer besonderen gesetzlichen Befugnis bedürfen. Die Garantie der Menschenwürde in Art. 1 Abs. 1 GG begründet Schutzpflichten des Staates, die Person in Polizeigewahrsam menschenwürdig zu behandeln (vgl. BVerfG, Beschl. v. 13.11.2007 - 2 BvR 939/07 -, juris Rn. 12 ff. zur Verpflichtung des Staates, einem Gefangenen in der Haft ein menschenwürdiges Dasein zu gewähren; s.a. Antoni, in: Hömig/Wolff/GG, 12. Aufl. 2018, Art. 1 Rn. 8).Zu den Mindeststandards gehören hygienische Haft- oder Gewahrsamsbedingungen einschließlich des Zugangs zu sanitären Einrichtungen und der Möglichkeit, körperliche Bedürfnisse unter Wahrung der eigenen Intimsphäre zu verrichten (vgl. BVerfG, Beschl. v. 13.11.2007 - 2 BvR 939/07 -, juris Rn. 19; s.a. Antoni, in: Hömig/Wolff/GG, 12. Aufl. 2018, Art. 1 Rn. 7). Diese verfassungsrechtlichen Vorgaben stimmen im Wesentlichen mit den aus Art. 3 EMRK folgenden besonderen Schutzpflichten des Staates gegenüber Personen in Polizeigewahrsam überein (vgl. EGMR, Urt. v. 06.10.2015 - 80442/12, Lecomte ./. Deutschland -, juris; Grabenwarter/Pabel, EMRK, 7. Aufl. 2021, § 20 Rn. 62; HK-EMRK/Jens Meyer-Ladewig/Matthias Lehnert, 4. Aufl. 2017, EMRK Art. 3 Rn. 26).
89 
b) Danach verletzte der dem Kläger in der Gefangenensammelstelle in Halle 9 im Zeitraum von 13.33 Uhr bis 17.54 Uhr trotz Bekundung eines entsprechenden Bedürfnisses nicht ermöglichte Besuch einer Toilette die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG). Der Kläger hat glaubhaft vorgetragen, dass er im Einzelgewahrsam im Gefangentransportbus keine Toilette besuchen konnte, da trotz mehrfachen Klopfens und Rufens niemand nach ihm gesehen habe. Die ausführliche und auf zahlreiche Bildaufnahmen gestützte Erläuterung des Beklagten, dass in der Halle 9 im Allgemeinen in jeder Großzelle eine, außerhalb der Großzellen weitere zwei und vor der Halle fünf mobile Toilettenkabinen aufgestellt waren, die aufzusuchen den im Gewahrsam befindlichen Personen ermöglicht worden sei, vermag die abweichende Behauptung des Klägers im konkreten Einzelfall nicht zu erschüttern. Die dem Kläger vorenthaltene Möglichkeit eines Toilettengangs kommt dessen ausdrücklicher Versagung gleich. Hierbei ist es unerheblich, ob der Kläger von den Polizeikräften möglicherweise nur versehentlich nicht berücksichtigt wurde. Jedenfalls dann, wenn - wie hier - bei geäußertem Notdurftbedürfnis ein Toilettenbesuch über einen vielstündigen Zeitraum nicht ermöglicht wird, liegt hierin eine über den Gewahrsam hinausreichende selbständige Verletzung der Rechte aus Art. 1 Abs. 1 GG.
90 
6. Das Vorenthalten von Trinkwasser gegenüber dem Kläger (Klageantrag zu 6) über einen Zeitraum von knapp elf Stunden war rechtswidrig. Hierin liegt eine über den Gewahrsam hinausgehende weitere Beeinträchtigung der Rechte des Klägers aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, jedenfalls aber aus Art. 1 Abs. 1 GG. Die staatliche Schutzpflicht für Personen in polizeilichem Gewahrsam verlangt grundsätzlich eine Versorgung mit Trinkwasser. Der Kläger hat glaubhaft geschildert, dass er über die gesamte Dauer des Gewahrsams zu keinem Zeitpunkt etwas zu trinken erhalten habe. Die pauschalen Darlegungen des Beklagten, wonach ausreichend Trinkwasser vorhanden gewesen sei und die in Gewahrsam befindlichen Personen mit denselben Getränken wie die Einsatzkräfte versorgt worden seien, vermögen den abweichenden Vortrag des Klägers im konkreten Einzelfall nicht zu entkräften.
91 
7. Die Feststellung der Identität (a) und die Fertigung von Lichtbild- und Videoaufnahmen (b) des Klägers (Klageantrag zu 7) waren rechtmäßig.
92 
a) Die Feststellung der Identität des Klägers konnte auf § 26 Abs. 1 Nr. 1 PolG a.F. und auf § 163b Abs. 1 StPO gestützt werden.
93 
aa) Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 26 Abs. 1 Nr. 1 PolG a.F., wonach die Polizei die Identität einer Person feststellen kann, um im einzelnen Falle eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung abzuwehren oder eine Störung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung zu beseitigen, waren aus den bereits zur Rechtmäßigkeit der Ingewahrsamnahme unter III. 1. b) angeführten Gründen erfüllt.
94 
bb) Die Voraussetzungen für die Feststellung der Identität des Klägers lagen aber auch nach der - nach § 17 Abs. 2 Satz 1 GVG zu prüfenden - Vorschrift des § 163b Abs. 1 StPO vor.
95 
Ist jemand einer Straftat verdächtig, so können die Staatsanwaltschaft und die Beamten des Polizeidienstes gemäß § 163b Abs. 1 Satz 1 1. Hs. StPO die zur Feststellung seiner Identität erforderlichen Maßnahmen treffen. Bei der Vernehmung des Beschuldigten durch Beamte des Polizeidienstes ist dem Beschuldigten nach § 163b Abs. 1 Satz 1 2. Hs. StPO i.V.m. § 163a Abs. 4 Satz 1 StPO zu eröffnen, welche Tat ihm zur Last gelegt wird. Der erforderliche Anfangsverdacht ist gegeben, wenn zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen, die eine Täterschaft oder Teilnahme des Betroffenen an einer Straftat möglich erscheinen lassen (BeckOK StPO/von Häfen, 40. Ed. 1.7.2021, StPO § 163b Rn. 5; MüKoStPO/Kölbel, 1. Aufl. 2016, StPO § 163b Rn. 6). Danach ist einer Straftat jeder verdächtig, der von dem Verdacht der Beteiligung an einer Straftat nicht frei ist; es genügen schon geringe und ungewisse Anhaltspunkte (KK-StPO/Griesbaum, 8. Aufl. 2019, StPO § 163b Rn. 9).
96 
Gemessen an diesen Anforderungen war hier im maßgeblichen Zeitpunkt der Identitätsfeststellung gegen 13.30 Uhr ein Anfangsverdacht gegen den Kläger wegen des ihm in der Beschuldigtenvernehmung eröffneten Tatvorwurfs eines Landfriedensbruchs (vgl. Bl. 48 VV) zu bejahen.
97 
Die Begehung eines Landfriedensbruchs setzt gemäß § 125 StGB tatbestandlich voraus, dass der Tatverdächtige sich an Gewalttätigkeiten gegen Menschen oder Sachen (Nr. 1) oder Bedrohungen von Menschen mit einer Gewalttätigkeit (Nr. 2), die aus einer Menschenmenge in einer die öffentliche Sicherheit gefährdenden Weise mit vereinten Kräften begangen werden, als Täter oder Teilnehmer beteiligt oder auf die Menschenmenge einwirkt, um ihre Bereitschaft zu solchen Handlungen zu fördern. Für eine Beteiligung an einem Landfriedensbruch genügt es nicht, bloßer Teil der Menschenmenge gewesen zu sein, aus der heraus die Gewalttätigkeiten begangen wurden (vgl. BGH, Beschl. v. 09.09.2008 - 4 StR 368/08 -, juris Rn. 10). Das bloß inaktive Dabeisein oder Mitmarschieren stellt weder eine psychische Beihilfe noch ein bestimmte Gewalttätigkeiten auf andere Weise unterstützendes Verhalten dar (vgl. BGH, Urt. v. 24.01.1984 - VI ZR 37/82 -, juris, Rn. 33).
98 
Danach lagen im maßgeblichen Zeitpunkt des polizeilichen Einschreitens jedenfalls geringe und weiter aufklärungsbedürftige tatsächliche Anhaltspunkte vor, dass der Kläger über seine bloße Anwesenheit hinaus aktiv an den Ausschreitungen beteiligt war, Unterstützung leistete oder sich zumindest äußerlich erkennbar mit den Gewalttätern solidarisierte. Unerheblich ist, dass das gegen den Kläger geführte Ermittlungsverfahren letztlich gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt wurde. Auch der Umstand, dass der Kläger bei der Ingewahrsamnahme keinen Widerstand leistete und weder Vermummungsmaterialien noch gefährliche Gegenstände mit sich führte, ließ einen Anfangsverdacht nicht entfallen. Schließlich hatte der Kläger zu jenem Zeitpunkt auch noch nicht geäußert, erst auf der Flughafenstraße zu der Personengruppe gestoßen zu sein. Zwar hatte die Polizei zum Zeitpunkt der Identitätsfeststellung keine konkreten Beweise, dass der Kläger sich tatsächlich nach § 125 Abs. 1 StGB strafbar gemacht hatte. Der Verdacht strafbewehrter Handlungen des Klägers fußte gleichwohl auf einer hinreichenden objektiven Grundlage, da das vorangegangene Geschehen durch wiederholte und erhebliche Gewalttätigkeiten geprägt war, die ersichtlich von einem großen Teil der Personengruppe mitgetragen wurden. Die polizeilichen Ermittlungen konnten in jenem Zeitpunkt schon wegen der Größe der Personengruppe noch nicht abgeschlossen sein. Zunächst waren die zahlreichen Videoaufnahmen auszuwerten und weitere Tatverdächtige durch die Vernehmung der eindeutig zu identifizierenden Täter oder durch Zeugenaussagen zu ermitteln.
99 
b) Danach erweist sich auch die Fertigung der Lichtbilder, die der Beklagte als repressive Maßnahme zum Zwecke der Durchführung des Strafverfahrens allein auf § 81b 1. Alt. StPO stützt, als rechtmäßig. Soweit es für die Zwecke der Durchführung des Strafverfahrens notwendig ist, dürfen nach § 81b 1. Alt. StPO Lichtbilder des Beschuldigten auch gegen seinen Willen aufgenommen. Die Voraussetzungen waren vorliegend gegeben. Der Kläger war Beschuldigter in einem gegen ihn geführten Ermittlungsverfahren (vgl. Bl. 48 VV); gegen ihn bestand - aus den unter III. 7. a) dargelegten Gründen - ein Anfangsverdacht wegen Landfriedensbruchs gemäß § 125 StGB.
100 
8. Der dem Kläger erteilte Platzverweis für das Gelände der Landesmesse Stuttgart bis Sonntag, den 01.05.2016, 20.00 Uhr (Klageantrag zu 8), war rechtmäßig.
101 
a) Rechtsgrundlage für den Platzverweis, der in Abgrenzung zu dem Aufenthaltsverbot funktional durch den polizeilichen Zweck der Bewältigung einer räumlich-zeitlich konkret bestimmten Gefahrsituation begrenzt ist (vgl.BeckOK PolR BW/Enders, 21. Ed. 1.1.2021, BWPolG § 27a Rn. 23 ff.), ist § 27a Abs. 1 PolG a.F. Danach kann die Polizei zur Abwehr einer Gefahr oder einer Störung eine Person vorübergehend von einem Ort verweisen oder ihr vorübergehend das Betreten eines Ortes verbieten (Platzverweis). Voraussetzung ist eine konkrete Gefahr für die öffentliche Sicherheit, die bei ungehindertem, nach der Prognose der Polizei zu erwartendem Geschehensablauf in absehbarer Zeit mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einem Schaden für ein Schutzgut der öffentlichen Sicherheit führen kann.
102 
b) Gemessen an diesen Anforderungen erweist sich der am 30.04.2016, 17.54 Uhr, gegenüber dem Kläger verfügte Platzverweis für die Landesmesse Stuttgart ab dem Zeitpunkt seiner Gewahrsamsentlassung als rechtmäßig.
103 
aa) Die Einschätzung der handelnden Polizeibeamten, dass in jenem Zeitpunkt eine konkrete Gefahr für die öffentliche Sicherheit fortbestand, ist bei der gebotenen Prognose aus der maßgeblichen ex ante-Sicht auf der Grundlage der im Entscheidungszeitpunkt vorliegenden Erkenntnisse nicht zu beanstanden. Eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit war durch die gewaltsamen Störungen am Vormittag des 30.04.2016 bereits eingetreten. Zu Recht durfte die Polizei aufgrund der großen Zahl der aus dem gesamten Bundesgebiet angereisten erheblich gewaltbereiten Störer, deren offensichtlich abgestimmter und vorbereiteter Vorgehensweise, der polizeilichen Aufklärungsergebnisse im Vorfeld und der Schwere der Dritten drohenden Rechtsgutverletzungen von weiteren Störungen am Veranstaltungsort auf dem Messegelände für die gesamte Dauer des AfD-Parteitages bis einschließlich des 01.05.2016 ausgehen. Anders als der Kläger meint, kam es nicht darauf an, dass die angemeldeten Gegendemonstrationen zu jenem Zeitpunkt bereits beendet gewesen seien; denn die Ausschreitungen waren gerade nicht unter dem Deckmantel einer angemeldeten Versammlung erfolgt. Die zwischenzeitlich eingetretene Beruhigung der Lage führte der Beklagte nachvollziehbar auf die zahlreichen Ingewahrsamnahmen zurück. Die polizeiliche Einschätzung wurde durch die - von dem Zeugen ... in der mündlichen Verhandlung noch einmal wiederholte (S. 5 SN-Anlage) - Tatsache bestätigt, dass sich mehrere aus dem Gewahrsam entlassene Personen, die zuvor zum S-Bahnhof Leinfelden-Echterdingen verbracht worden waren, zu Fuß zurückgekehrt waren und sich vor der Umzäunung des Messegeländes sammelten (S. 16 Klageerwiderung).
104 
bb) Die Beamten vor Ort durften in jenem Zeitpunkt polizeiliche Maßnahmen auch weiterhin gegenüber dem Kläger als Anscheinsstörer und damit Verhaltensstörer im Sinne des § 6 Abs. 1 PolG treffen. Zwar ist die Polizei grundsätzlich gehalten, zeitnah aufzuklären, wer tatsächlich Verhaltensstörer war und wer nicht (vgl. VG Karlsruhe, Urt. v. 10.12.2018 - 1 K 6428/16 -, juris Rn. 108; VG Freiburg, Urt. v. 22.04.2021 - 10 K 2592/19 -, juris Rn. 34; s.a. VG Frankfurt a.M., Urt. v. 24.09.2014 - 5 K 659/14.F -, juris Rn. 119). Jedoch war hier angesichts der Zahl von 419 in Gewahrsam genommenen Personen, ihres überwiegend vermummten Auftretens und des vergleichsweise dynamischen Geschehens eine Identifizierung der konkreten Gewalttäter durch eine Auswertung der Videoaufnahmen, einen Abgleich mit den gefertigten Lichtbildern und eine Vernehmung der Verdächtigen und Zeugen jedenfalls bis zu dem Zeitpunkt der Entlassung des Klägers aus dem Gewahrsam um 17.54 Uhr praktisch unmöglich. Dies gilt umso mehr, als der Kläger selbst an einer Aufklärung des Sachverhaltes nicht mitwirkte und bis dahin auch noch nicht geäußert hatte, zufällig in die Personengruppe geraten zu sein. Aufgrund der Schwere der drohenden Rechtsgutverletzungen durfte die Polizei den Kläger daher weiter als Anscheinsstörer behandeln.
105 
cc) Der Platzverweis stellte sich danach schließlich auch als verhältnismäßig dar. Insbesondere hatte der Kläger zu dem für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Platzverweises maßgeblichen Zeitpunkt seines Erlasses nicht die Absicht geäußert, an einer angemeldeten Versammlung gegen den AfD-Parteitag auf der Landesmesse Stuttgart am 01.05.2016 teilnehmen zu wollen.
106 
9. Schließlich erfolgte auch die Verbringung des Klägers mit einem Bus nach Esslingen (Klageantrag zu 9) rechtmäßig.
107 
a) Die Entziehung der Bewegungsfreiheit während des Bustransportes von der Gefangenensammelstelle zu dem Bahnhof in Esslingen findet als Fortsetzung des bereits um 7.02 Uhr und nicht erst zum Zwecke der Verbringung begründeten Gewahrsams, aus dem der Kläger nach der Schilderung des Zeugen ... (S. 5 SN-Anlage) nicht schon an der Messehalle 9, sondern erst am Zielort entlassen wurde, weiterhin ihre Rechtsgrundlage in § 28 Abs. 1 Nr. 1 PolG a.F., dessen Voraussetzungen aus den unter III. 1. b), 2 a) und 8. b) aa) dargelegten Gründen im maßgeblichen Zeitpunkt weiterhin vorlagen.
108 
b) Die Entlassung des Klägers aus dem Gewahrsam in Esslingen und nicht am Ort der Gewahrsamsbegründung auf dem Messe- und Flughafengelände konnte die Polizei auf § 3 i.V.m. § 1 Abs. 1 Satz 1 PolG stützen.
109 
aa) Die polizeiliche Verbringung einer rechtmäßig in Gewahrsam genommenen Person stellt einen eigenständigen Eingriff dar, der einer gesonderten gesetzlichen Grundlage bedarf, wenn eine Würdigung der maßgeblichen Gesamtumstände des Einzelfalls ergibt, dass die Maßnahme nicht schon umfassend durch den Zweck des Gewahrsams selbst - wie etwa bei der Verbringung in eine Gefangenensammelstelle - gerechtfertigt ist und die konkrete räumliche Distanzierung zu dem Ort der Ingewahrsamnahme oder die Entlassungsörtlichkeit mit Beeinträchtigungen einhergehen, die ihrerseits Eingriffsqualität erreichen.
110 
Danach war die Gewahrsamsentlassung des Klägers in Esslingen auf seine gezielte Distanzierung von dem Messegelände gerichtet und verfolgte damit einen eigenständigen, über die Aufrechterhaltung des Gewahrsams hinausreichenden Zweck. Die Entfernung des Klägers über eine Strecke von etwa 16 km und eine Fahrtzeit von etwa 15 bis 20 min überschreitet die Schwelle zu einer erheblichen Beeinträchtigung, die angesichts der verkehrlichen Anbindung des Bahnhofs einer Stadt mit knapp 100.000 Einwohner allerdings nur von sehr geringer Eingriffsintensität ist.
111 
bb) Die Entlassung einer rechtmäßig in Gewahrsam genommenen Person an einem abweichenden Ort, die aufgrund ihrer eigenständigen Zielsetzung kein bloßes Minus gegenüber einer Fortsetzung des Gewahrsams, sondern ein über diesen hinausreichendes Aliud darstellt (vgl. Graulich, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 7. Aufl. 2021, E Rn. 551; Schenke/Graulich/Ruthig/Wolf-Rüdiger Schenke, 2. Aufl. 2018, BPolG § 39 Rn. 9), und sich aufgrund der weitergehenden räumlichen Distanzierung auch nicht in der Durchsetzung eines Platzverweises erschöpft (vgl. BeckOK PolR BW/Hauser, 22. Ed. 17.1.2021, BWPolG § 33 Rn. 18), findet ihre Rechtsgrundlage in der polizeirechtlichen Generalklausel des § 3 i.V.m. § 1 Abs. 1 Satz 1 PolG (vgl. Graulich, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 7. Aufl. 2021, E Rn. 551 f.; Schenke, Polizei- und OrdnungsR, 9. Aufl. 2016, Rn. 132b, 142; Schenke/Graulich/Ruthig/Wolf-Rüdiger Schenke, 2. Aufl. 2018, BPolG § 39 Rn. 9). Die Maßnahme bleibt hinter der originären Begründung eines Gewahrsams zum alleinigen Zwecke der Verbringung an einen anderen Ort zurück, für die im Schrifttum unter dem Begriff des sogenannten „Verbringungsgewahrsams“ streitig erörtert wird, ob hierin eine Freiheitsentziehung liegt und es einer besonderen gesetzlichen Regelung - etwa nach dem Vorbild des § 39 Abs. 1 Nr. 2 BPolG - bedarf (so Siegel, NJW 2013, 1035 <1038>; Finger, NordÖR 2006, 423 <428>; Gusy, NWVBl 2004, 1 <8>; Ruder, PolR BW, 8. Aufl. 2015, Rn. 676; Schucht, DÖV 2011, 553 <559 f.>; für Anwendbarkeit der Generalklausel dagegen Schenke, Polizei- und OrdnungsR, 9. Aufl. 2016, Rn. 132b, 142; Würtenberger/Heckmann, Polizeirecht in Baden-Württemberg, 6. Aufl., Rn. 358; vgl. hierzu auch VG Karlsruhe, Urt. v. 10.12.2018 - 1 K 6428/16 -, juris Rn. 60; BeckOK PolR BW/Hauser, 22. Ed. 17.1.2021, BWPolG § 33 Rn. 18; Pieroth/Schlink/Kniesel, Polizei- und OrdnungsR, 7. Aufl. 2012, § 17 Rn. 5; jeweils m.w.N.).
112 
cc) Die Voraussetzungen des § 3 i.V.m. § 1 Abs. 1 Satz 1 PolG waren hier im maßgeblichen Zeitpunkt erfüllt. Danach hat die Polizei diejenigen Maßnahmen zu treffen, die ihr nach pflichtmäßigem Ermessen erforderlich erscheinen, um eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung abzuwehren. Die Entlassung des Klägers aus dem Gewahrsam in Esslingen diente der Abwehr einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit (aaa) und stellte sich nicht als ermessensfehlerhaft dar (bbb).
113 
aaa) Die Entscheidung, die Personen Zug um Zug in kleineren Gruppen an unterschiedlichen Orten aus dem Gewahrsam in der Halle 9 zu entlassen, um eine zeitnahe Rückkehr größerer Personengruppen auf das Messe- und Flughafengelände zu verhindern, gegenüber denen der ausgesprochene Platzverweis erheblich schwieriger durchzusetzen gewesen wäre, ist aus der maßgeblichen ex ante-Perspektive unter Beachtung der polizeilichen Einschätzungsprärogative mit Blick auf die drohenden erheblichen Gefahren für gewichtige Rechtsgüter nicht zu beanstanden.Die geplante und gezielte Vorgehensweise der aus dem gesamten Bundesgebiet angereisten Personen und die gezeigte erhebliche Gewaltbereitschaft ließen eine derartige Rückkehr wahrscheinlich erscheinen. Die von dem Zeugen ... geschilderte Rückkehr der an dem S-Bahnhof Leinfelden-Echterdingen ausgesetzten Personengruppe zu dem Messegelände (vgl. S. 5 SN-Anlage) belegt diese polizeiliche Einschätzung anschaulich.
114 
bbb) Die Entlassung der Personen an unterschiedlichen Orten an der Messe und in der Umgebung erweist sich nicht als ermessensfehlerhaft, insbesondere nicht als gleichheitswidrig oder unverhältnismäßig. Sie verfolgte das sachliche Ziel, eine kurzfristige ortsnahe Vereinigung der Personen in größerer Gruppe zu verhindern; die Maßnahme war hierzu geeignet, erforderlich und angemessen. Die Verteilung der Personen auf die verschiedenen Entlassungsorte stellte sich auch nicht als willkürlich dar. So hat der Zeuge ... in der mündlichen Verhandlung geschildert, dass Personengruppen, die etwa aufgrund eines gemeinsamen Herkunftsortes zusammengehörten, nicht getrennt, sondern an demselben Ort entlassen wurden (S. 5 SN-Anlage). Schließlich waren den handelnden Polizeibeamten jedenfalls in der Person des Klägers keine besonderen individuellen Anhaltspunkte erkennbar, die einer Gewahrsamsentlassung in Esslingen zwingend entgegengestanden hätten.
115 
IV. Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
116 
V. Soweit die Klage abgewiesen wurde, ist die Revision nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO wegen grundsätzlicher Bedeutung des Anwendungsbereichs des Versammlungsgesetzes zuzulassen.
117 
Beschluss
vom 18. November 2021
118 
Der Streitwert wird unter Änderung der Streitwertfestsetzung des Verwaltungsgerichts für den ersten Rechtszug und das Berufungsverfahren jeweils auf 30.000,00 Euro festgesetzt.
119 
Gründe
120 
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. § 39 Abs. 1, § 47 Abs. 1 Satz 1, § 52 Abs. 2 GKG und Ziffer 35.1 des Streitwertkataloges für die Verwaltungsgerichtsbarkeit in seiner aktuellen Fassung und berücksichtigt die mit den Klageanträgen zu 1, 2 und 9 angegriffene Ingewahrsamnahme, die mit den Klageanträgen zu 3 und 4 angegriffene Fixierung mit Einweghandschließen und das mit den Klageanträgen zu 5 und 6 angegriffene Vorenthalten eines Toilettenbesuchs und von Trinkwasser jeweils als einheitliche Vorgänge sowie die Identitätsfeststellung (Klageantrag zu 7), das Fertigen von Lichtbildern (Klageantrag zu 7) und den Platzverweis (Klageantrag zu 8) gesondert jeweils mit dem Auffangstreitwert von 5.000,00 Euro.
121 
Der Beschluss ist unanfechtbar.

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