Beschluss vom Oberlandesgericht München - 8 U 8302/21

Tenor

1. Das Berufungsverfahren wird im Hinblick auf den am 16.03.2022 im elektronischen Bundesanzeiger veröffentlichten Vorlagebeschluss des Landgerichts München I - 3. Zivilkammer - vom 14.03.2022, Gz. 3 OH 2767/ 22 KapMuG, gem. § 8 Abs. 1 Satz 1 KapMuG ausgesetzt.

2. Die Höhe des Anspruchs, die von den Feststellungszielen des Musterverfahrens betroffen ist, beträgt 161.217,49 € (§ 8 Abs. 4 KapMuG).

3. Die Parteien werden gem. § 8 Abs. 3 KapMuG darüber unterrichtet,

a) dass die anteiligen Kosten des Musterverfahrens zu den Kosten des Rechtsstreits gehören, und

b) dass dies nicht gilt, wenn die Klage innerhalb von einem Monat ab Zustellung dieses Aussetzungsbeschlusses zurückgenommen wird.

4. Die Rechtsbeschwerde zum Bundesgerichtshof wird zugelassen, soweit auch eine Aussetzung wegen des Erwerbs anderer Wertpapiere als Aktien erfolgt ist.

Gründe

I.

Die Klagepartei verlangt den Feststellungen des Landgerichts zufolge von der Beklagten zum einen Schadensersatz im Zusammenhang mit dem Erwerb von Aktien der W. AG. Sie trägt dazu vor, sie habe im Vertrauen auf die Richtigkeit der von der Beklagten erstellten Bestätigungsvermerke zwischen 13.02.2019 und dem 28.04.2020 1.344 Aktien der W. AG zum Gesamtpreis von 143.171,83 € erworben (Anlage rm45). Ferner habe sie am 27.05.2019 eine Anleihe auf die W. Aktie zu einem Preis von 10.000 € erworben. Am 10.03.2020 sowie am 17.03.2020 habe sie zudem Call-Optionsscheine der D. AG auf Aktien der W. AG für insgesamt 13.808,13 € erworben. Am 29.06.2020 habe sie sämtliche Aktien zu einem Gesamtpreis von 4.425,62 € sowie die Call-Optionsscheine zu einem Gesamtpreis von 34,52 € veräußert.

Die Beklagte war seit 2010 Abschlussprüferin der W. AG. Sie hat sämtliche Jahresabschlüsse bis einschließlich für das Geschäftsjahr 2018 ohne Einschränkungen testiert.

Ende 2018 meldete sich ein Wistleblower bei der F. und behauptete, dass das „Acquiring“-Geschäft von W. in Asien in wesentlichem Umfang keine realistische Grundlage habe. Nach weiteren Recherchen veröffentlichte die F. am 30.01.2019, 01.02.2019 und 02.02.2019 kritische Artikel über die W. AG, wonach es schwere Probleme in Singapur gebe, da Mitarbeiter von W. die Zahlen geschönt hätten. Die Folge waren Kursverluste der Aktien der W. AG. Am 15.10.2019 berichtete die F. erneut negativ über den W.-Konzern. Wieder kam es zu Kursverlusten. Von Februar 2019 bis April 2019 verhängte die BaFin ein Leerverkaufsverbot für die W.-Aktie. Am 31.10.2019 beauftragte die W. AG die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft K. mit der Erstellung eines forensischen Sondergutachtens betreffend die Geschäftsjahre 2016-2018. Am 27.04.2020 wurde die für den 29.04.2020 geplante Veröffentlichung des Geschäftsberichts 2019 verschoben. Am 28.04.2020 wurde der K.-Sonderbericht veröffentlicht. Im Rahmen des Ergebnisses dieser Sonderprüfung teilte die K. mit, dass keine ordnungsgemäßen Nachweise über die Guthaben auf Treuhandkonten eingeholt werden konnten und ihr keine Bankkontoauszüge, die Zahlungseingänge von rund 1 Milliarden € auf den Treuhandkonten belegen würden, übermittelt wurden. Am selben Tag erlitt die W.-Aktie einen Kursverfall von 26%. Am 18.06.2020 teilte die Beklagte der W. AG mit, dass das Testat 2019 verweigert werde, weil keine ausreichenden Prüfungsnachweise über das Treuhandkonto in Höhe von 1,9 Milliarden Euro vorlägen. Am 22.06.2020 teilte die W. AG im Rahmen einer Ad-hoc-Mitteilung mit, das Bankguthaben in Höhe von 1,9 Milliarden Euro auf Treuhandkonten mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht existierten. Dieser Betrag stellte ca. ein Viertel des Gesellschaftsvermögens dar. Am 25.06.2020 stellte die W. AG Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens. Das Amtsgericht München hat das Insolvenzverfahren am 25.8.2020 eröffnet.

Die Klagepartei behauptet unter Beweisantritt, die Jahresabschlüsse der W. AG seien unrichtig gewesen. Die Beklagte habe keine ausreichenden bzw. geeigneten Prüfungsnachweise für die Existenz der Umsatzerlöse sowie die Legitimität des von W. betriebenen Drittpartnergeschäfts erlangt. Insbesondere habe sie zu keinem Zeitpunkt Originalbestätigungen von den kontoführenden Banken angefordert, keine Zuverlässigkeitsprüfung der Treuhänder vorgenommen oder die Vertriebsbeziehungen zu den Drittpartnern und deren Kunden überprüft. Vielmehr habe die Beklagte trotz anhaltender kritischer Medienberichte ihre Bestätigungsvermerke auf unzureichende, vom Vorstand der W. AG vorgelegte Dokumente gestützt. In dieser Situation wäre aufgrund der erheblichen Unstimmigkeiten zumindest eine Einschränkung der Bestätigungsvermerke bzw. sogar eine Versagung angezeigt gewesen. Die Beklagte habe so ihre Berichtspflichten nach § 322 Abs. 1 HGB und auch ihre Pflichten aus dem Prüfungsvertrag mit der W. AG verletzt.

Das Landgericht hat die Klage mit dem angefochtenen Urteil insgesamt abgewiesen, weil ein Vorsatz der Beklagten nicht ausreichend dargelegt worden sei und ein Nachweis der konkreten haftungsbegründenden Kausalität nicht erfolgt sei. Zu dieser Begründung, mit der vom Landgericht auch in zahlreichen Parallelverfahren Klageabweisungen erfolgt sind, hat der Senat bereits in seinem Terminshinweis vom 09.12.2021 (Gz. 8 U 6063/21, BeckRS 2021, 43191; WM 2022, 174) im Einzelnen ausgeführt, dass sie eine Klageabweisung nach seiner Auffassung nicht trägt, weil sich die Anleger jedenfalls beim Kauf von Aktien grundsätzlich auf einen sich aus der allgemeinen Lebenserfahrung ergebenden Erfahrungssatz berufen können, dass sie die Aktien in Kenntnis der behaupteten Machenschaften und der sich daraus ergebenden Insolvenzgefahr nicht gekauft hätten (vgl. auch Urteil des Senats vom 11.11.2021, Gz. 8 U 5670/21, BeckRS 2021, 34699). Allenfalls bei Investments mit rein spekulativem Charakter kann die entsprechende Vermutung eingeschränkt oder aufgehoben sein (vgl. bereits Senat, Beschluss vom 16.11.2021 - 8 W 1541/21, BeckRS 2021, 34702). Da die (dortige) Klagepartei entgegen der Auffassung des Landgerichts auch Pflichtverletzungen der Beklagten hinreichend dargelegt und unter Beweis gestellt hatte, wäre in zahlreichen Einzelverfahren eine umfangreiche Beweisaufnahme notwendig geworden. Deshalb hat der Senat dort auch die Einleitung eines Musterverfahrens nach dem KapMuG angeregt und ansonsten eine Aufhebung und Zurückverweisung an das Landgericht in Aussicht gestellt.

II.

Ein solches Musterverfahren wurde inzwischen vom Landgericht eingeleitet:

1. Am 16.03.2022 wurde im elektronischen Bundesanzeiger der Vorlagebeschluss des Landgerichts München I - 3. Zivilkammer - vom 14.03.2022, Gz. 3 OH 2767/22 KapMuG, veröffentlicht.

a) Feststellungsziele des o.g. Vorlagebeschlusses sind u.a.:

Zu A.I.

(Haupttat; Unrichtigkeit der Geschäftsberichte der W. AG),

Nr. 1 bis 5, ob die Geschäftsberichte der W. AG für die Jahre 2014 bis 2018 die Verhältnisse der W. AG insoweit unrichtig wiedergeben, als sie

a. falsche Zahlungsmittel und Zahlungsmitteläquivalente enthalten,

b. falsche Umsatzerlöse enthalten,

c. die Risiken aus dem Drittpartnergeschäft (TPA-Geschäft) falsch darstellen,

d. die Segmentberichterstattung nicht den Anforderungen von IFRS 8 entspricht,

e. das Risikofrüherkennungssystem der W. AG falsch darstellen,

Nr. 6 bis 7:

6. Die W. AG und der Beklagte Dr. B. kannten die Unrichtigkeit der Geschäftsberichte für die Jahre 2014, 2015, 2016, 2017 und/ oder 2018 im Zeitpunkt ihrer jeweiligen Veröffentlichung.

7. Die Unrichtigkeit der Geschäftsberichte für die Jahre 2014, 2015, 2016, 2017 und/ oder 2018 beruhte auf Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit der W. AG und des Beklagten Dr. B..

Zu A.II.:

(Zu weiteren Anspruchsvoraussetzungen und zur Klärung der Rechtsfragen)

Die objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmale Rechtswidrigkeit und Schuld, ausgenommen Fragen der individuellen Kausalität und Schadensberechnung, als Voraussetzungen einer zivilrechtlichen Haftung des Beklagten Dr. M. B. aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 37v WpHG a.F., § 331 HGB, § 400 AktG liegen sämtlich vor.

zu B.I. und II.,

(Frage von Teilnahme; zur Schadensersatzpflicht der Beklagten nach §§ 37b, 37c WpHG a.F. i.V.m. § 830 Abs. 2 S. 1, Abs. 2 Alt. 2 BGB), ob die auch hier Beklagte die Verletzung der in § 37b WpHG a.F. (Schadenersatz wegen unterlassener unverzüglicher Veröffentlichung von Insiderinformationen),

§ 37c WpHG a.F. (Schadenersatz wegen Veröffentlichung unwahrer Insiderinformationen) und

§ 37v WpHG a.F. i.V.m. § 823 Abs. 2 BGB (Veröffentlichung von Jahresfinanzberichten), je i.V.m. § 830 Abs. 2 S. 1, Abs. 2 Alt. 2 BGB geregelten Publizitätspflichten durch die W. AG objektiv gefördert hat, indem sie über die Prüfung der Konzernabschlüsse für 2014 bis 2018 und der zugehörigen Konzernlageberichte nach IAS/IFRS der W. AG einen uneingeschränkten Bestätigungsvermerk erteilt hat, zu B.III.

(Zum Vorsatz der Beklagten),

dass die hiesige Beklagte jeweils billigend in Kauf genommen habe, dass ihre Bestätigungsvermerke über die Prüfung der in Ziff. I.1 und II.1 genannten Konzernabschlüsse und Konzernlageberichte der W. AG für die Geschäftsjahre 2014 bis 2018 nach IAS/ IFRS unrichtig waren, indem die Beklagte uneingeschränkte Bestätigungsvermerke erteilt hat, ohne

a. sich Originalkontoauszüge und Banksaldenbestätigungen zu den Treuhandkonten zeigen zu lassen und/oder

b. die Zahlungseingänge auf den Treuhandkonten zu prüfen, und zu C.

(Schaden und Kausalität),

der Kursdifferenzschaden sei ohne konkreten Kausalitätsnachweis ersatzfähig.

b) Zur Begründung hat das Landgericht u.a. ausgeführt, die dortigen Kläger nähmen die dortigen Beklagten auf Schadensersatz in Bezug auf Erwerbe von Aktien der W. AG (WKN: DE0007472060) in Anspruch; die dortigen Kläger würden Schadensersatz in Bezug auf Kaufgeschäfte zwischen dem 11.07.2017 und 19.06.2020 begehren.

Die dortigen Kläger sähen als Anspruchsgrundlage für eine Haftung der Beklagten Delikte wegen der Erstellung falscher Bestätigungsvermerke sowie wegen Beihilfe zu kapitalmarktrechtlichen Pflichtverletzungen der W. AG gemäß §§ 826, 31 BGB, § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. §§ 332 Abs. 1 HGB, 31 BGB, §§ 830 Abs. 1, Abs. 2, 840, 31 BGB, §§ 325 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 331 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 HGB, § 400 AktG, §§ 37b, 37c WpHG, § 37v WpHG, §§ 97, 98 WpHG.

Der dortige Beklagte Dr. B. sei als Vorstandsvorsitzender für betrügerische Handlungen der W. AG verantwortlich. Die - auch dortige - Beklagte habe durch unzureichende Prüfungshandlungen und falsche Bestätigungsvermerke diese Art der Unternehmungsführung aufrechterhalten. Insbesondere sei nicht einmal die Echtheit und Existenz von Kontoauszügen von Treuhandkonten bzw. Banksaldenbestätigungen geprüft worden.

Die dortigen Kläger benennen u. a. einzelne handelnde Prüfer als Zeugen. Im Übrigen verweisen sie u. a. auf den Abschlussbericht des dritten Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages vom 22.06.2021 einschließlich des von den Ermittlungsbeauftragten erstellten sogenannten „W.-Bericht“. Weiter verweisen die dortigen Kläger auf den im Auftrag der W. AG selbst erstellten sogenannten K.-Bericht.

2. Am 04.07.2022 hat der Senat die Parteien gem. § 8 Abs. 1 Satz 3 KapMuG mit ausführlicher Begründung darauf hingewiesen, dass er beabsichtige, das Berufungsverfahren im Hinblick auf den Vorlagebeschluss des Landgerichts München auszusetzen, soweit es Aktienkäufe zum Gegenstand hat. Hinsichtlich der sonstigen Wertpapiere hat der Senat auf Bedenken hinsichtlich der Schlüssigkeit hingewiesen.

Die Klagepartei hat sich mit der Aussetzung in ihrem Schriftsatz vom 20.07.2022 einverstanden erklärt und diese mit ergänzender Begründung auch hinsichtlich der sonstigen Wertpapiere beantragt.

Die Beklagte ist einer Aussetzung bereits vorab mit Schriftsatz vom 02.05.2022 umfangreich entgegengetreten. Sie meint, eine Aussetzung sei bereits deshalb ausgeschlossen, weil das vorliegende Verfahren nicht musterverfahrensfähig und somit der Anwendungsbereich des KapMuG nicht eröffnet sei, was der Senat auch zu prüfen habe. Die Durchführung des KapMuG-Verfahrens sei für das hiesige Verfahren auch nicht vorgreiflich: Die wesentlichen Tatbestandsmerkmale des geltend gemachten Anspruchs aus § 826 BGB seien schon nicht Gegenstand der Feststellungsziele. Zudem sei die Klage mangels schlüssigen Klägervortrags - ohne Aussetzung und ohne Beweisaufnahme - abzuweisen. Es fehle bereits an der haftungsbegründenden Voraussetzung der Kausalität. Die Anlageentscheidung der Klagepartei sei unabhängig von der Erteilung der Bestätigungsvermerke durch die Beklagte erfolgt. Die Klagepartei könne sich insoweit auch nicht auf eine Beweiserleichterung in Form der Rechtsfigur der Anlagestimmung oder einer allgemeinen Kausalitätsvermutung berufen. Ein Anspruch aus § 826 BGB scheitere darüber hinaus daran, dass die Beklagte weder sittenwidrig noch vorsätzlich gehandelt habe. Die Klage sei deshalb bereits jetzt abweisungsreif.

III.

Das Berufungsverfahren ist im Hinblick auf den im Tenor genannten Vorlagebeschluss des Landgerichts München I gem. § 8 Abs. 1 Satz 1 KapMuG von Amts wegen insgesamt auszusetzen.

Gem. § 8 Abs. 1 Satz 1 KapMuG setzt das Prozessgericht nach der Bekanntmachung des Vorlagebeschlusses im Klageregister von Amts wegen alle bereits anhängigen oder bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Feststellungsziele im Musterverfahren noch anhängig werdenden Verfahren aus, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits von den geltend gemachten Feststellungszielen abhängt.

1. Diese Aussetzungsvoraussetzungen liegen hier dem Grunde nach vor:

a) Das Berufungsgericht ist ebenfalls Prozessgericht i. S. d. § 8 KapMuG (vgl. dazu schon BT-Drs. 15/5091 S. 24/25; OLG München, Beschluss vom 27.8.2013 - 19 U 5140/12, BeckRS 2013, 15338, ebenso z.B. Vorwerk/Wolf, KapMuG, 2. Aufl. 2020, KapMuG § 8 Rn. 6 mwN, beckonline). Die Aussetzung des Verfahrens nach § 8 Abs. 1 KapMuG ist zwingend und auch im Berufungsverfahren möglich (BGH, Beschluss vom 16. Juni 2020 - II ZB 30/19 -, Rn. 14, juris).

b) Ob die Vorlagevoraussetzungen der §§ 1 ff. KapMuG vorliegen, ist im Aussetzungsverfahren gem. § 8 KapMuG nicht zu prüfen; im Übrigen würden sie nach Auffassung des Senats auch vorliegen:

(a) Zwar weist die Beklagte zutreffend darauf hin, dass nach der Rspr. des XI. Zivilsenats des BGH eine Aussetzung nach § 8 Abs. 1 KapMuG dann unzulässig sein soll, wenn die geltend gemachten Klageansprüche nicht nach Maßgabe des § 1 Abs. 1 KapMuG in den Anwendungsbereich des KapMuG fallen (BGH Beschluss vom 30.4.2019 - XI ZB 13/18, BeckRS 2019, 17221 Rn. 14, beck-online), was dann wohl auch eine entsprechende Prüfung im Aussetzungsverfahren erfordern würde.

Nach der Rspr. des II. Zivilsenats des BGH gebietet es der Anspruch auf wirkungsvollen Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) aber nicht, dass das Prozessgericht von der Aussetzung des Verfahrens Abstand nimmt, wenn ein Gericht das Musterverfahren für unzulässig hält. Die Entscheidung über die Aussetzung hängt ausschließlich von den in § 8 Abs. 1 Satz 1 KapMuG genannten Voraussetzungen ab und ist bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Feststellungsziele möglich (so wörtlich BGH, Beschluss vom 16. Juni 2020 - II ZB 30/19 -, Rn. 20 f, juris, mit Unterstreichung des Senats; ebenso schon OLG München Beschluss vom 27.8.2013 - 19 U 5140/12, BeckRS 2013, 15338, beck-online).

Der Senat folgt der letztgenannten Auffassung des II. Zivilsenats des BGH. Die Auffassung des XI. Zivilsenats des BGH berücksichtigt die Gesetzgebungsgeschichte und die vom Gesetzgeber mit dem Musterverfahren beabsichtigte Bündelungswirkung nicht hinreichend; sie wäre auch äußerst prozessunökonomisch:

(aa) Der Gesetzgeber hat mit der nunmehrigen Anfechtbarkeit des Aussetzungsbeschlusses in § 8 KapMuG n.F. auf die Kritik des XI. Zivilsenats des BGH an dem bisherigen Anfechtungsausschluss reagiert und den Ausschluss der Anfechtbarkeit des Aussetzungsbeschlusses bei der Neufassung des § 8 KapMuG entfallen lassen. Er hat dabei in der Gesetzesbegründung ausdrücklich auf die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 16.06.2009 (Az.: XI ZB 33/08) hingewiesen und ausgeführt, dass künftig gegen die Aussetzungsentscheidung nach § 8 KapMuG n.F. gem. § 252 ZPO die sofortige Beschwerde stattfinde. Der Anspruch auf effektiven Rechtsschutz gebiete, dass die Parteien gegen eine rechtswidrige Aussetzung des Verfahrens vorgehen könnten (vgl. BT-Drucksache 17/8799 S.21).

An der Unanfechtbarkeit und Bindungswirkung des Vorlagebeschlusses in § 6 KapMuG n.F. hat der Gesetzgeber jedoch festgehalten, obwohl der BGH diesbezüglich bereits vorher entschieden hatte, dass die Bindungswirkung des Vorlagebeschlusses für das Oberlandesgericht entfallen soll, wenn der geltend gemachte Anspruch schon nicht Gegenstand eines Musterverfahrens sein kann (z.B. BGH, Beschluss vom 26. Juli 2011 - II ZB 11/10, zu § 4 KapMuG a.F.).

Da der Gesetzgeber somit in Kenntnis der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs an der Unanfechtbarkeit und Bindungswirkung des Vorlagebeschlusses festgehalten hat, kann nicht davon ausgegangen werden, dass insoweit eine planwidrige Regelungslücke vorläge, die - gegen den klaren Wortlaut von § 6 I 2 KapMuG - durch eine erweiternde Auslegung von § 8 KapMuG zu schließen wäre.

(bb) Nach Auffassung des Senats würde es auch keinen Sinn machen, dass ggf. hunderte von „Prozessgerichten“ in hunderten von Einzelverfahren jeweils im Aussetzungsverfahren gem. § 8 KapMuG prüfen und entscheiden, ob die Vorlagevoraussetzungen der §§ 1 ff. KapMuG vorliegen mit der Folge, dass diese Vorfrage ggf. in allen divergierenden, hunderten Einzelentscheidungen durch Rechtsbeschwerde zum BGH geklärt werden müsste.

Diese Prüfung hat vielmehr - soweit man sie gegen den eindeutigen Wortlaut von § 6 I 2 KapMuG, wonach der Vorlagebeschluss unanfechtbar und für das Oberlandesgericht bindend ist, für zulässig halten sollte (vgl. dazu noch nach der Reform des KapMuG BGH, Beschluss vom 09. März 2017 - III ZB 135/15 -, Rn. 9 - 10, juris) - gebündelt ausschließlich im Musterverfahren zu erfolgen. Sollte das BayObLG den Vorlageschluss des Landgerichts München I rechtskräftig aufheben, wären die gem. § 8 KapMuG ausgesetzten Verfahren entsprechend § 22 Abs. 4 KapMuG wieder aufzunehmen und fortzusetzen. Bis dahin sind sie auszusetzen, soweit die Voraussetzungen von § 8 KapMuG vorliegen.

(cc) Diese normative Ausgestaltung des Rechtswegs ist unter Berücksichtigung dieser Auslegung von § 8 Abs. 1 KapMuG weder ungeeignet oder unangemessen noch für den Rechtssuchenden unzumutbar. Verzögerungen des Musterverfahrens sind nicht zu vermeiden, wenn z.B. das Oberlandesgericht - in Bayern also inzwischen das BayObLG - von der Unzulässigkeit des Musterverfahrens ausgeht und diese Entscheidung im Rechtsbeschwerdeverfahren überprüft werden muss. Von der ansonsten gegebenen Möglichkeit, die Einzelverfahren - dann möglicherweise nur vorübergehend - fortzusetzen, geht keine wesentliche Verbesserung der Rechtsschutzmöglichkeiten aus, sondern würde der mit der Bündelung der Verfahren im Musterverfahren angestrebte Zweck unterlaufen werden (so auch BGH, Beschluss vom 16. Juni 2020 - II ZB 30/19 -, Rn. 20 f, juris).

(b) Im Übrigen hielte der Senat das Musterverfahren hier auch für statthaft.

(aa) Bei ihren umfangreichen Ausführungen zur angeblich mangelnden KapMuG-Fähigkeit der Bestätigungsvermerke der Beklagten übersieht sie, dass diese hier - zumindest bisher - überhaupt nicht unmittelbarer Gegenstand des Musterverfahrens sind.

Festgestellt werden soll hier als Haupttat die „Unrichtigkeit der Geschäftsberichte der W. AG“. In der Praxis kapitalmarktorientierter Unternehmen wird der Lagebericht gerne mit der Bilanz (einschließlich Anhang), der Gewinn- und Verlustrechnung und weiteren Informationen in einem einheitlichen Dokument, dem sog. „Geschäftsbericht“, zusammengefasst (MüKoHGB/Reiner, 4. Aufl. 2020, HGB § 264 Rn. 8). Gegenstand des Vorlagebeschlusses ist damit auch die Unrichtigkeit der in § 1 Abs. 2 Nr. 5 KapMuG als Regelbeispiele feststellungsgeeigneter öffentlicher Kapitalmarktinformationen ausdrücklich genannten Jahresabschlüsse und Lageberichte der W. AG.

Die Beklagte soll nach der Konstruktion des Vorlagebeschlusses zu dieser Haupttat durch ihre - behauptet - unrichtigen Bestätigungsvermerke (nur) Beihilfe gem. § 830 Abs. 2 BGB geleistet haben. Bei dieser Sachlage sind die Bestätigungsvermerke der Beklagten und deren - behauptete - Unrichtigkeit nicht selbst unmittelbarer Gegenstand des Musterverfahrens, sondern die behauptete Unterstützungshandlung zur - zunächst festzustellenden - Haupttat der W. AG.

Dagegen bestehen aus Sicht des Senats keine Bedenken. Nur Feststellungen zu einem Schadensersatzanspruch, der nicht an eine falsche, irreführende oder unterlassene öffentliche Kapitalmarktinformation anknüpft, wären im Kapitalanleger-Musterverfahren unstatthaft (vgl. z.B. BGH, Beschluss vom 15. März 2022 - XI ZB 31/20, Rz. 17 mwN). Das ist hier nicht der Fall, denn die Feststellungsziele in Richtung auf die Beklagte knüpfen, wie dargelegt, an die „Unrichtigkeit der Geschäftsberichte der W. AG“ als Haupttat an, die fraglos in den Anwendungsbereich des KapMuG fallen, s.o.

Der Anwendungsbereich von § 1 Abs. 1 Nr. 1 KapMuG definiert sich ansonsten weder nach der konkreten Anspruchsgrundlage noch nach der Person des Anspruchsgegners (Vorwerk/Wolf, KapMuG/Radtke-Rieger, 2. Aufl. 2020, KapMuG § 1 Rn. 20), sodass Anspruchsgegner jeder sein kann, gegen den ein - natürlich schlüssiger - Schadensersatzanspruch wegen falscher, irreführender oder unterlassener öffentlicher Kapitalmarktinformation geltend gemacht wird, und zwar auch im Wege der Beihilfe gem. § 830 Abs. 2 BGB. Entgegen der nicht näher begründeten Auflassung von Möllers (BKR 2022, 339 [352]) kommt es dabei nicht darauf an, ob die Beihilfetat ihrerseits selbständig KapMuGfähig wäre (vgl. z.B. BGH Beschluss vom 21.7.2020 - II ZB 19/19, BeckRS 2020, 22215 Rn. 50, zum Gerichtsstand gem. § 32b Abs. 1 Nr. 1 ZPO im Falle einer Beihilfe zu einer Informationspflichtverletzung; OLG Frankfurt a.M., Musterentscheid vom 22.4.2015 - 23 Kap 1/13, BeckRS 2015, 9131 Rn. 107, zur Verwendung eines Konditionenblatts als objektive Beihilfe im Sinne von § 830 BGB, nachgehend vom BGH im Beschluss vom 19. September 2017, XI ZB 17/15, insoweit nicht beanstandet; ebenso Foerster, ZIP 2022, 1683).

(bb) Die Frage, ob die Bestätigungsvermerke der Beklagten selbst unmittelbarer Gegenstand eines Musterverfahrens sein könnten, stellt sich daher - zumindest derzeit - nicht. Im Übrigen würde der Senat auch dies weiterhin bejahen, wenn er es zu prüfen hätte (vgl. dazu bereits Senat, Hinweis vom 09.12.2021, 8 U 6063/21, BeckRS 2021, 43191; OLG München, Beschluss vom 20. Mai 2022 - 13 U 9056/21 -, Rn. 16, juris; ebenso Foerster, ZIP 2022, 1683 mit überzeugender Ablehnung der Gegenmeinung, insbes. von Knops, BKR 2022, 366, und Möllers, BKR 2022, 339).

c) Die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits hängt gegen die Beklagte insgesamt von den im Musterverfahren geltend gemachten Feststellungszielen ab und der Rechtsstreit ist dem Grunde nach auch nicht aus anderen Gründen entscheidungsreif:

(a) Prüfungsmaßstab (aa) Zwar weist die Beklagte zutreffend darauf hin, dass die Entscheidung des Rechtsstreits nicht von den geltend gemachten Feststellungszielen abhängt, wenn die Sache ohne weitere Beweiserhebungen entscheidungsreif ist (Vorwerk/Wolf, KapMuG/Fullenkamp, 2. Aufl. 2020, KapMuG § 8 Rn. 17). Die Auffassung, dass dabei lediglich eine kursorische Schlüssigkeitsprüfung zu erfolgen habe, lässt sich weder aus dem Gesetzeswortlaut noch aus den Gesetzesmaterialien herleiten. Wenn die Klage unschlüssig ist, ist die Sache entscheidungsreif (Vorwerk/Wolf, KapMuG/Fullenkamp, 2. Aufl. 2020, KapMuG § 8 Rn. 18).

(bb) Zu ergänzen ist, dass das Klagevorbringen für eine Aussetzung gem. § 8 KapMuG nicht nur schlüssig sein muss. Ist es hinreichend bestritten und somit beweisbedürftig, muss der Beweispflichtige - hier also die Klagepartei - auch hinreichenden, nach der ZPO statthaften Beweis angeboten haben; denn ansonsten ist die Klage wegen Beweisfälligkeit abzuweisen und nicht das Verfahren auszusetzen.

Zu dieser Frage hatte der Gesetzgeber bereits im ersten Entwurf zum KapMuG ausgeführt, dass Rechtsstreite, die bereits entscheidungsreif sind, entsprechend dem Rechtsgedanken zu § 1 Abs. 3 Nr. 1 KapMuG-E nicht auszusetzen seien (BT-Drs. 15/5091 S. 24/25). Zu § 1 KapMuG-E wurde dort ausgeführt, dass der Antragsteller auch die Beweismittel darzustellen habe. Wenn das bezeichnete Beweismittel zum Nachweis einer anspruchsbegründenden Voraussetzung ungeeignet erscheine, sei der Musterfeststellungsantrag abzuweisen (BT-Drs. 15/5091 S. 21). § 1 Abs. 3 Nr. 1 KapMuG-E ist nunmehr § 3 Abs. 1 Nr. 1 KapMuG geworden, wonach der Musterverfahrensantrag als unzulässig zu verwerfen ist, soweit die Entscheidung des zugrunde liegenden Rechtsstreits nicht von den geltend gemachten Feststellungszielen abhängt. Für diese Bestimmung ist allgemein anerkannt, dass der Antrag im Hinblick auf das betroffene Feststellungsziel als unzulässig anzusehen ist, falls für beweisbedürftige Umstände keine Beweismittel benannt werden. Eine Zurückweisung des Musterverfahrensantrages im Hinblick auf das konkrete Feststellungsziel kommt dabei aber nur in Betracht, wenn insoweit alle angebotenen Beweismittel zusammen ungeeignet sind, um zur begehrten Feststellung zu führen (Vorwerk/Wolf, KapMuG, 2. Aufl. 2020, KapMuG § 3 Rn. 14 mwN).

Demzufolge kommt nach dem Willen des Gesetzgebers auch eine Aussetzung gem. § 8 KapMuG nur in Betracht, wenn für alle entscheidungserheblichen, streitigen und somit beweisbedürftigen Tatsachen mindestens ein zum Nachweis geeignetes Beweismittel angeboten wird (vgl. dazu ausführlich Senat, Beschluss vom 27.01.2022 - 8 W 1818/21, BeckRS 2022, 670 Rn. 45 ff, zur Aussetzung gem. § 149 ZPO in einem Verfahren gegen den mutmaßlichen Hauptverantwortlichen der W. AG). Ansonsten ist die Klage wegen Beweisfälligkeit abzuweisen und nicht das Verfahren auszusetzen.

(cc) Dabei kann hier noch dahinstehen, ob der weitergehenden Auffassung des XI. Zivilsenats des BGH, dass der verfassungsrechtliche Grundsatz effektiven Rechtsschutzes eine Auslegung des § 8 Abs. 1 Satz 1 KapMuG erfordere, nach der dem Prozessgericht bei der Prüfung dieser Frage entgegen der Auffassung des Gesetzgebers keinerlei Beurteilungsspielraum zukomme, sondern eine Aussetzung nur dann in Betracht komme, wenn sich das Prozessgericht bereits die Überzeugung gebildet habe, dass es auf dort statthaft geltend gemachte Feststellungsziele für den Ausgang des Rechtsstreits konkret ankommen werde, und dies sogar dann gelten solle, wenn hierzu vorab eine Beweisaufnahme durchzuführen sei (dazu s.u.)

Denn auch diese Voraussetzungen lägen hier insoweit vor; der Senat ist - in einem Zwischenverfahren notwendigerweise vorläufig in seiner derzeitigen Besetzung - davon überzeugt i.S.v. § 286 ZPO, dass es auf die im Vorlagebeschluss geltend gemachte Feststellungsziele für den Ausgang des vorliegenden Rechtsstreits konkret ankommen wird:

(b) Haupttat der W. AG:

(aa) Unrichtigkeit der Geschäftsberichte der W. AG Die in dem Vorlagebeschluss unter A.I. als Feststellungsziele zur angeblichen Haupttat der W. AG angeführten angeblichen Unrichtigkeiten der Geschäftsberichte der W. AG entsprechen - wenn auch mit z.T. anderen Formulierungen - in der Sache weitestgehend denjenigen, die auch die hiesige Klagepartei unter Vorlage des K.-Berichts und des Wambach-Berichts mit zahlreichen Beweisangeboten (u.a. Zeugen und Sachverständigengutachten) geltend macht (s.o.); dem tritt die Gegenerklärung der Beklagten schon nicht konkret entgegen - sie befasst sich nicht konkret mit dem Vortrag im vorliegenden Einzelfall.

(bb) Auch die Feststellungsziele zum Vorsatz des Verantwortlichen der W. AG unter A.I. Nr. 6 bis 7 des Vorlagebeschlusses entsprechen weitestgehend dem hiesigen beweisbewehrten Klagevorbringen.

(cc) Allgemeine haftungsbegründende Kausalität der Haupttat der W. AG:

(aaa) Der Beklagten ist zuzugeben, dass die in Ziff. A.II. des Vorlagebeschlusses genannten Feststellungziele „zu weiteren Anspruchsvoraussetzungen und zur Klärung der Rechtsfragen“ ausdrücklich nur „die objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmale Rechtswidrigkeit und Schuld, ausgenommen Fragen der individuellen Kausalität und Schadensberechnung, als Voraussetzungen einer zivilrechtlichen Haftung“ von Herrn Dr. B. bezeichnen.

Nach Auffassung des Senats ist dies aber dahingehend auszulegen, dass davon auch die allgemeine haftungsbegründende Kausalität als Feststellungsziel umfasst ist (insbes. Vermutungen und Erfahrungssätze; vgl. dazu Hinweis des Senats vom 09.12.2021, 8 U 6063/21, BeckRS 2021, 43191). Ein Feststellungsziel ist vor dem Hintergrund der Norm zu beurteilen, aus der der Schadensersatzanspruch abgeleitet wird (BGH, Beschluss vom 22. Februar 2022 - XI ZB 32/20, Rz. 14). Hier möchte das Landgericht mit Ziff. A.II. festgestellt wissen, dass die „Voraussetzungen einer zivilrechtlichen Haftung des Beklagten Dr. M. B. aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 37v WpHG a.F., § 331 HGB, § 400 AktG sämtlich vorliegen“. Zu diesen Voraussetzungen gehört auch die allgemeine haftungsbegründende Kausalität. Außerdem wäre ansonsten dort der ausdrückliche Ausschluss der „individuellen Kausalität“ nicht erforderlich gewesen.

(bbb) Wie der Senat bereits in seinem Hinweis vom 09.12.2021 (8 U 6063/21, BeckRS 2021, 43191) ausführlich begründet hat, spricht jedenfalls beim Kauf von Aktien grundsätzlich ein sich aus der allgemeinen Lebenserfahrung ergebender Erfahrungssatz dafür, dass die Anleger die Aktien in Kenntnis der verschwiegenen Machenschaften nicht gekauft hätten, weil dann der Insolvenzantrag bereits entsprechend früher gestellt worden wäre (vgl. auch Beschluss des Senats vom 11.11.2021, Gz. 8 U 5670/21, BeckRS 2021, 34699). Deshalb können sich die Anleger insoweit jedenfalls beim Kauf von Aktien auf einen Erfahrungssatz berufen und müssen sie zu ihrer Kaufmotivation weder individuell vortragen noch hierfür Beweis anbieten. Dieser Erfahrungssatz reicht nach Auffassung des Senats zeitlich bis zum Insolvenzantrag der W. AG:

Soweit Lenz dazu meint, dass bei einer früheren Aufdeckung der Schaden zwar immer noch sehr hoch, jedoch geringer gewesen wäre, und dies dazu führen hätte können, dass Versuche zur Abwendung der drohenden Zahlungsunfähigkeit und einer Überschuldung eine höhere Erfolgswahrscheinlichkeit gehabt hätten (WM 2022, 1305, 1315), ist anzumerken, dass auch dann ein Insolvenzverfahren zumindest gedroht hätte und in keiner Weise absehbar gewesen wäre, ob dieses Problem behoben werden kann. Das reicht für die Annahme eines entsprechenden Erfahrungssatzes aus (vgl. BGH, Urteil vom 25. Mai 2020, Gz. VI ZR 252/19, Rz. 49 ff., zum drohenden Zulassungsentzug bei VW Dieselfahrzeugen mit Motor EA189; ebenso bereits Senat, Hinweis vom 09.12.2021, Gz. 8 U 6063/21, BeckRS 2021, 43191).

Dass manche Anleger auch zeitweilige Kursrückgange durch negative Berichterstattung für den Einstieg genutzt haben, ändert daran nichts. Denn ein durchschnittlicher Anleger hätte sich nach der Lebenserfahrung nicht - auch nicht zu reduzierten Kursen - für den Kauf von Aktien der W. AG entschieden, wenn die behaupteten verschwiegenen Machenschaften und die damit verbundene Insolvenzgefahr bereits früher in voller Tragweite bekannt gewesen wären (vgl. Senat, Beschluss vom 11.11.2021, 8 U 5670/21, BeckRS 2021, 34699). Erst mit Ad-hoc-Mitteilung vom 22.06.2020 hat die W. AG selbst eingeräumt, dass Bankguthaben auf Treuhandkonten in Höhe von insgesamt 1,9 Milliarden Euro mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht vorhanden seien Letztlich schuf aber nach Auffassung des Senats erst der Insolvenzantrag der W. AG am 25.06.2020 (als hypothetisch bereits früher gebotene Handlung) volle Klarheit (vgl. Senat, Hinweis vom 09.12.2021, Gz. 8 U 6063/21, BeckRS 2021, 43191; zum Ablauf vgl. auch BT-Drs. 19/30900 S. 82 f.).

Allenfalls bei Investments mit spekulativem Charakter kann die entsprechende Vermutung eingeschränkt oder aufgehoben sein (Senat, Beschluss vom 16.11.2021 - 8 W 1541/21, BeckRS 2021, 34702, dazu näher unten).

Soweit sich die Beklagtenseite generell gegen die Anwendung von Erfahrungssätzen und Vermutungen im Bereich der unerlaubten Handlung wendet, ist diese Auffassung jedenfalls so nicht zutreffend:

So hat z.B. der III. Zivilsenat zu einem „Schadensersatzanspruch nach § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 263 Abs. 1, § 264a Abs. 1, § 27 Abs. 1 StGB und gemäß § 826 BGB“ ausgeführt, dass die auf Tatsachenerfahrung beruhende Vermutung aufklärungsrichtigen Verhaltens für die quasi-vertragliche Prospekthaftung und für Schadensersatzansprüche wegen falscher Prospektangaben auf deliktischer Grundlage gleichermaßen gelte (BGH, Urteile vom 21. Februar 2013 - III ZR 139/12 -, Rn. 15, und vom 21. Februar 2013 - III ZR 94/12 -, Rn. 14; bestätigt im Urteil vom 3.2.2022 - III ZR 84/21, mit (wohl) zust. Anm. Zoller, BB 2022, 721).

Auch der XI. Zivilsenat scheint zumindest für Ansprüche aus § 826 BGB dieser Auffassung zu sein (BGH, Urteil vom 16. Oktober 2001 - XI ZR 25/01 -, Rn. 18; ähnlich wohl der II. Zivilsenat im Urteil vom 20.03.1986, II ZR 141/85, Rn. 11).

Mit dem VI. Zivilsenat wird man allerdings wohl unter Schutznormaspekten in manchen Fällen einschränkend verlangen müssen, dass der Anleger jedenfalls Kenntnis von der fehlerhaften Kapitalmarktinformation hatte (BGH, Urteil vom 04.06.2013 - VI ZR 288/12, Rn 25 zum Fall Kombassan; dort ging es um die Frage, ob der Anleger überhaupt bei einer der Versammlungen, bei denen die Anlage angepriesen worden war, anwesend gewesen war).

Der vorliegende Fall unterscheidet sich hiervon aber dadurch, dass die hypothetische Lage hier anders als im Falle Kombassan zu beurteilen ist. Von der Richtigkeit der Anpreisungen in den Versammlungen im Fall Kombassan hing der Fortbestand der dortigen Emittentin nicht ab; hier dagegen hing der Fortbestand der W. AG zur Überzeugung des Senats sehr wohl von den Testaten der Beklagten ab, wie nicht zuletzt deren Insolvenzantrag nach Verweigerung des Testats belegt.

Das unterscheidet den hypothetischen Kausalverlauf hier auch wesentlich von den BGH-Entscheidungen zu Ad-hoc-Mitteilungen i.S. Comroad. Auch dort ging es nicht darum, ob die Comroad bei zutreffender Berichterstattung zusammengebrochen wäre, sondern nur darum, ob sich ein Anleger gerade aufgrund der unrichtigen Berichterstattung beteiligt hat. Das kann so sein, muss es aber nicht, deshalb ist in diesen Fällen für eine Kausalitätsvermutung zumindest eine „Anlagestimmung“ erforderlich. Hier dagegen stellt sich diese Frage so nicht, weil die W. AG bei früherer Testatsverweigerung zur Überzeugung des Senats auch früher Insolvenz angemeldet hätte und sich dann ein durchschnittlicher Anleger nicht mehr beteiligt hätte (vgl. ausführlich Hinweis vom 09.12.2021, 8 U 6063/21, BeckRS 2021, 43191).

Zu einer vertiefteren schriftlichen Auseinandersetzung mit den weiteren hiergegen von Beklagtenseite - wenn auch nur im Zusammenhang mit der Kausalität der Bestätigungsvermerke, um die es hier nicht unmittelbar geht (s.u.) - erhobenen Einwänden und dem hierzu vorgelegten Gutachten von Prof. B. sähe der Senat im derzeitigen Verfahrensstadium auch sonst keinen Anlass. Zwar muss im Verfahren gem. § 8 KapMuG eine volle Schlüssigkeitsprüfung durchgeführt werden, s.o.. Das bedeutet aber nach Auffassung des Senats nicht, dass das Ergebnis dieser Schlüssigkeitsprüfung bereits in einer Zwischenentscheidung in der Form eines Endurteils begründet werden müsste oder gar zur Vorabklärung umstrittener materiell-rechtlicher Fragen die Rechtsbeschwerde zuzulassen wäre.

(c) Beihilfe zur Haupttat der W. AG durch die Beklagte:

Bei ihrer umfangreichen Gegenerklärung verkennt die Beklagte auch insoweit, dass die Beklagte nach der Konstruktion des Vorlagebeschlusses zu dieser Haupttat durch ihre - behauptet - unrichtigen Bestätigungsvermerke (nur) Beihilfe gem. § 830 Abs. 2 BGB geleistet haben soll. Deren Voraussetzungen hat die Klagepartei hier ebenfalls schlüssig vorgetragen und hinreichend unter Beweis gestellt; sie sind - zumindest in den entscheidenden Teilen - auch Gegenstand der Feststellungsziele des Vorlagebeschlusses:

(aa) Nach der Rspr. des BGH verlangt die Teilnahme an einer unerlaubten Handlung neben der Kenntnis der Tatumstände wenigstens in groben Zügen den jeweiligen Willen der einzelnen Beteiligten, die Tat gemeinschaftlich mit anderen auszuführen oder sie als fremde Tat zu fördern; objektiv muss eine Beteiligung an der Ausführung der Tat hinzukommen, die in irgendeiner Form deren Begehung fördert und für diese relevant ist. (sog. doppelter Gehilfenvorsatz). Für den einzelnen Teilnehmer muss ein Verhalten festgestellt werden, das den rechtswidrigen Eingriff in das den rechtswidrigen Eingriff in ein fremdes Rechtsgut unterstützt hat und das von der Kenntnis der Tatumstände und dem auf die Rechtsgutsverletzung gerichteten Willen getragen wird. Ein bewusstes Verschließen vor der Kenntnis von Tatumständen ist anzunehmen, wenn die Unkenntnis auf einem gewissenlosen oder grob fahrlässigen (leichtfertigen) Handeln beruht, etwa Berufspflichten in solchem Maße leichtfertig verletzt wurden, dass das Verhalten als bedenken- und gewissenlos zu bezeichnen ist (vgl. z.B. BGH, Urteil vom 11.09.2012, VI ZR 92/11).

(bb) Diesen Anforderungen genügt der beweisbewehrte Vortrag der hiesigen Klagepartei nach Auffassung des Senats ohne weiteres.

Sie hat im Einzelnen ausgeführt und unter Beweis gestellt, dass die Beklagte vorsätzlich, zumindest leichtfertig uneingeschränkte Bestätigungen der Jahresabschlüsse erteilt habe, obwohl sie Bilanzprüfungen nicht ordnungsgemäß durchgeführt habe und obligatorische Prüfvorgänge entweder nicht sachgemäß oder gar nicht durchgeführt habe, wie nicht zuletzt der K.-Sonderbericht belege, wodurch sie billigend in Kauf genommen habe, dass Anleger enorme Kapitalverluste erleiden würden. Damit wird nicht nur eine eigene Haupttat der Beklagten u.a. gem. § 826 BGB schlüssig dargelegt (vgl. dazu Hinweis des Senats vom 09.12.2021, 8 U 6063/21, BeckRS 2021, 43191), sondern auch eine - mindestens bedingt vorsätzliche - Beihilfe zu einer entsprechenden Haupttat der Verantwortlichen der W. AG.

Die Erweislichkeit dieser Behauptungen würde zur Überzeugung des Senats (§ 286 ZPO) auch die Feststellung tragen, dass die Verantwortlichen der Beklagten neben der Kenntnis der Tatumstände wenigstens in groben Zügen den jeweiligen Willen hatten, die Tat durch - unterstellt - unrichtige Bestätigungsvermerke zumindest als fremde Tat zu fördern. Dass durch diese - unterstellt - unrichtigen Bestätigungsvermerke objektiv die Begehung der - festzustellenden - Haupttaten der W. AG gefördert worden und für diese relevant gewesen wäre, liegt nach Auffassung des Senats auf der Hand, s.o.

(cc) Die Tatbestandsvoraussetzungen einer Beihilfe durch die Verantwortlichen der Beklagten sind - zumindest in den entscheidenden Teilen - auch Gegenstand der Feststellungsziele des Vorlagebeschlusses:

Ob die Beklagte die Haupttat der W. AG gem. § 830 Abs. 2 BGB objektiv gefördert hat, indem sie über die Prüfung der Konzernabschlüsse für 2014 bis 2018 und der zugehörigen Konzernlageberichte nach IAS/IFRS der W. AG einen uneingeschränkten Bestätigungsvermerk erteilt hat, ist Feststellungsziel zu B.I. und II.

Zum Vorsatz der Beklagten wird in dem Vorlagebeschluss unter B.III. als Feststellungsziel aufgeführt, dass die hiesige Beklagte es jeweils billigend in Kauf genommen habe, dass ihre Bestätigungsvermerke unrichtig waren, weil sie sich Originalkontoauszüge und Banksaldenbestätigungen zu den Treuhandkonten nicht habe zeigen lassen und/oder die Zahlungseingänge auf den Treuhandkonten nicht geprüft habe.

Dies würde zur Überzeugung des Senats (§ 286 ZPO) auch den erforderlichen „doppelten Gehilfenvorsatz“ (s.o.) zur Förderung der Haupttat der Verantwortlichen der W. AG hinreichend belegen. Somit kann die von der Beklagten aufgeworfene Frage, ob die erforderliche Feststellung, dass sie auch hinsichtlich der Schadensfolgen mindestens bedingter Vorsatz treffe, bereits Gegenstand des Musterverfahrens ist, dahinstehen. Denn das läge nach Auffassung des Senats bei Erweislichkeit der oben genannten Feststellungsziele ebenfalls auf der Hand. Den Verantwortlichen der Beklagten muss klar gewesen sein, dass im Falle der Verweigerung der Testate für die W. AG mindestens akute Insolvenzgefahr bestanden hätte und sich dann zumindest ein durchschnittlicher Anleger nicht mehr beteiligt hätte, s.o..

(dd) Eine Schadenskausalität der Beihilfehandlung der Beklagten im engeren Sinne ist nicht erforderlich. Sie muss nur objektiv eine Beteiligung an der Ausführung der Haupttat darstellen, die in irgendeiner Form deren Begehung fördert und für diese relevant ist (BGH, Urteil vom 11.09.2012, VI ZR 92/11). Das ist hier zur Überzeugung des Senats der Fall, s.o. Daher kann derzeit auch dahinstehen, dass der Senat, soweit daneben hier auch eine (selbständige) Haftung der Beklagten aus § 826 BGB im Raum steht, keinen Anlass sähe, von seinem diesbezüglichen Hinweis vom 09.12.2021 (8 U 6063/21, BeckRS 2021, 43191) Abstand zu nehmen.

d) Dass die hiesige Klagepartei (ebenso wie der Senat in seinem Hinweis vom 09.12.2021 (8 U 6063/21, BeckRS 2021, 43191) primär auf § 826 BGB als Anspruchsgrundlage abgestellt hat, der Vorlagebeschluss aber bisher in erster Linie auf §§ 37b ff. WpHG a.F. i.V.m. § 830 Abs. 2 BGB abhebt, steht der Vorgreiflichkeit ebenfalls nicht entgegen:

(a) Wie oben bereits ausführlich dargelegt, würde der Sachvortrag der hiesigen Klagepartei auch eine Haupttat der Verantwortlichen der W. AG aus § 37b WpHG a.F. (Schadenersatz wegen unterlassener unverzüglicher Veröffentlichung von Insiderinformationen), § 37c WpHG a.F. (Schadenersatz wegen Veröffentlichung unwahrer Insiderinformationen) und § 37v WpHG a.F. (Veröffentlichung von Jahresfinanzberichten) je i.V.m. § 823 Abs. 2 BGB und einer Beihilfe der Beklagten hierzu gem. § 830 Abs. 2 BGB umfassen. Nach dem Grundsatz „jura novit curia“ kommt es dabei nicht darauf an, ob die hiesige Klagepartei diese Anspruchsgrundlagen ausdrücklich genannt hat.

(b) Außerdem hielte der Senat eine (vorsätzliche) Beihilfe der Beklagten zu einem Verstoß der W. AG gegen §§ 37b WpHG a.F. ff. ohne weiteres auch für sittenwidrig i.S.v. § 826 BGB.

(c) Schließlich deckt der Vorlagebeschluss insbesondere zu B.III. in der Sache auch den Tatbestand von § 826 BGB ab.

Erforderlich ist dafür, dass der Wirtschaftsprüfer seine Aufgabe qualifiziert nachlässig erledigt, zum Beispiel durch unzureichende Ermittlungen oder durch Angaben ins Blaue hinein, und dabei eine Rücksichtslosigkeit an den Tag legt, die angesichts der Bedeutung des Bestätigungsvermerks für die Entscheidung Dritter als gewissenlos erscheint (vgl. zuletzt BGH, Urteil vom 20. Januar 2022 - III ZR 194/19, Rz. 18 mwN).

Das wäre zur Überzeugung des Senats der Fall, wenn die hiesige Beklagte es entsprechend dem Feststellungsziel unter B.III. billigend in Kauf genommen hätte, dass ihre Bestätigungsvermerke unrichtig waren, weil sie sich Originalkontoauszüge und Banksaldenbestätigungen zu den Treuhandkonten nicht habe zeigen lassen und/oder die Zahlungseingänge auf den Treuhandkonten nicht geprüft habe.

2. Auch der Höhe nach liegen die Aussetzungsvoraussetzungen nunmehr insgesamt vor:

a) Zu ihrem behaupteten Schaden wegen des Erwerbs von Aktien der W. AG zwischen dem 13.02.2019 und dem 28.04.2020 hat die Klagepartei nach den Feststellungen des Landgerichts den Erwerb von insgesamt 1.344 Aktien zu 143.171,83 € sowie die Veräußerung sämtlicher Aktien am 29.06.2020 zu 4.425,62 € vorgebracht. Von dem sich daraus schlüssig ergebenden Erwerbsschaden in Höhe von 138.746,21 € macht die Klagepartei allerdings in der Berufung nur 138.202,11 € geltend. Insoweit ist die allgemeine haftungsbegründende Kausalität Feststellungsziel des Musterverfahrens und kommt der Klagepartei im Übrigen nach Auffassung des Senats auch ein entsprechender Erfahrungssatz zugute (s.o.), sodass das Verfahren insoweit auszusetzen war. Dazu bringt die Beklagte auch keine konkreten fallbezogenen Einwände vor.

Daher kann weiterhin dahinstehen, ob der hilfsweise geltend gemachte Kursdifferenzschaden nunmehr schlüssig dargelegt wurde. Dieser wurde mit Schriftsatz vom 20.07.2022 mit 141.419,40 € beziffert, wobei die bei der Veräußerung der Aktien erhaltenen 4.425,62 € allerdings nicht berücksichtigt wurden, so dass der hilfsweise geltend gemachte Kursdifferenzschaden jedenfalls nicht über dem mit dem Hauptantrag geltend gemachten Betrag liegt.

b) Soweit die Klagepartei im vorliegenden Falle auch andere Wertpapiere als Aktien erworben hat, ist die allgemeine haftungsbegründende Kausalität weder Feststellungsziel des Musterverfahrens, noch kommt der Klagepartei insoweit nach Auffassung des Senats ein entsprechender Erfahrungssatz zugute. Allerdings hat die Klagepartei eine - gleichwohl denkbare - individuellen Kausalität dieser Wertpapiererwerbe konkret dargestellt und unter Beweis gestellt; deshalb war das Verfahren auch insoweit auszusetzen:

(1) Dass auch die allgemeine haftungsbegründende Kausalität des Erwerbs anderer Wertpapiere als Aktien derzeit bereits Feststellungsziel des Musterverfahrens wäre, kann nach Auffassung des Senats nicht angenommen werden. Denn Gegenstand der dortigen Verfahren sind laut dortigem Lebenssachverhalt nur „Aktiengeschäfte zwischen dem 11.07.2017 und 19.06.2020“. Die Abhängigkeit der Entscheidung des Rechtsstreits von den geltend gemachten Feststellungszielen kann dann auch nicht darauf gestützt werden, dass eine Erweiterung des Musterverfahrens um weitere Feststellungsziele gem. § 15 Abs. 1 KapMuG naheliegt (BGH, Beschluss vom 16. Juni 2020 - II ZB 30/19 -, Rn.25). Es steht der Klagepartei aber frei, gem. § 15 Abs. 1 KapMuG auf eine entsprechende Ergänzung der Feststellungsziele hinzuwirken.

(2) Wie oben bereits im Einzelnen ausgeführt, besteht zwar beim Kauf von Aktien grundsätzlich ein sich aus der allgemeinen Lebenserfahrung ergebender Erfahrungssatz dafür, dass die Anleger die Aktien in Kenntnis der verschwiegenen Machenschaften und der damit verbundenen Insolvenzgefahr nicht gekauft hätten. Bei Investments mit rein spekulativem Charakter kann die entsprechende Vermutung jedoch eingeschränkt oder aufgehoben sein (Senat, Beschluss vom 16.11.2021 - 8 W 1541/21, BeckRS 2021, 34702, unter Hinweis auf BGH, Urteil vom 13. 7. 2004 - XI ZR 178/03):

(a) Wie der Bundesgerichtshof in der letztgenannten Entscheidung zu - auf den (damaligen) „Neuen Markt“ bezogenen - Indexzertifikaten entschieden hat, wäre nach der dort gebotenen Aufklärung über den spekulativen Charakter des Erwerbs von Aktien des Neuen Marktes es nicht einzig vernünftig gewesen, von diesen Geschäften abzusehen. Aktien des Neuen Marktes waren seinerzeit nicht nur mit den besonderen Risiken behaftet, sondern boten - wie die über längere Zeit gestiegenen Kurse zeigten - auch entsprechende Gewinnchancen. Dies veranlasste zahlreiche Anleger, in den Neuen Markt zu investieren. Vor diesem Hintergrund hat der BGH es als offen angesehen, wie sich der dortige Kläger nach gehöriger Information verhalten hätte. Da somit mehrere Möglichkeiten der Reaktion des dortigen Klägers auf die gehörige Aufklärung denkbar waren, nämlich sowohl der Abschluss als auch das Unterlassen der verlustbringenden Geschäfte, hätte der dortige Kläger nach Auffassung des BGH den vollen Beweis dafür zu erbringen gehabt, dass er die Aktien des Neuen Marktes und die Indexzertifikate nicht erworben hätte, wenn die dortige Beklagte ihre Aufklärungspflicht ordnungsgemäß erfüllt hätte (BGH, Urteil vom 13.07.2004 - XI ZR 178/03).

(b) So liegt es nach Auffassung des Senats auch hier. Die vorliegende Verfahrensserie, in der senatsbekannt deutlich mehr als 90% der Kläger ausschließlich in Aktien der W. AG angelegt haben, belegt, dass der „durchschnittliche Anleger“ nur in Aktien der W. AG angelegt hat. Bei diesem durchschnittlichen Anleger mit demnach ebenso durchschnittlicher Risikoneigung kann deshalb nach Auffassung des Senats davon ausgegangen werden, dass er die Aktien erworben hat, um von den Geschäftschancen der W. AG - insbesondere durch Dividendenzahlung und ggf. auch durch Kurssteigerung - zu profitieren, und dass er die Aktien deshalb in Kenntnis der verschwiegenen Machenschaften und der daraus resultierenden Insolvenzgefahr nicht gekauft hätte.

Die mögliche Motivationslage von Anlegern, die andere Wertpapiere als Aktien erworben haben, hält der Senat dagegen - wie der BGH in dem von ihm entschiedenen Fall - für bestenfalls ambivalent. Dividendenzahlungen können diese Anleger in der Regel nicht erwarten, sodass sie diese Wertpapiere i.d.R. nur in der Hoffnung auf steigende - oder ggf. auch fallende - Kurse erworben haben können, mithin also zur Spekulation. Ob sie von dieser Spekulation abgesehen hätten, wenn sie die wahre Sachlage gekannt hätten, oder ob sie diese Wertpapiere trotzdem - wenn auch dann zu deutlich niedrigeren Kursen - erworben hätten, hält der Senat für offen, sodass sich hierzu kein Erfahrungssatz bilden lässt.

Anders könnte es nur sein, wenn die Risiken des anderen Wertpapiers jedenfalls nicht höher erscheinen als die von Aktien; dies muss dann allerdings klägerseits konkret dargelegt und ggf. nachgewiesen werden (vom Senat z.B. bejaht im Aussetzungsbeschluss vom 27.06.2022, Gz. 8 U 7619/21, für Zinszertifikate, die bei Unterschreiten eines bestimmten Kurses der W.-Aktie nur dazu führen, dass der Erwerber Aktien in entsprechender Zahl erhält, nv; vom Senat z.B. verneint im Aussetzungsbeschluss vom 05.09.2022, Gz. 8 U 1901/22, für Derivate mit Hebelwirkung, nv).

(c) Vorliegend hat die Klagepartei auch in ihrem weiteren Schriftsatz vom 20.07.2022 nach Hinweis des Senats vom 04.07.2022 (dort S. 6/7) weder schlüssig vorgetragen noch durch entsprechende Unterlagen belegt, dass die hier genannten sonstigen Wertpapiere (Anleihen und Call-Optionsscheine) in Funktion und Risiken im wesentlichen Aktien entsprochen hätten. Ein substantiierter Vortrag im Sinne einer Erläuterung der entsprechenden Geschäfte und deren Abhängigkeit vom Kurs der W. Aktie erfolgte auch in dem weiteren Schriftsatz nicht. Die bloße pauschale Behauptung, die Anleihe und die Call-Optionen seien vom jeweiligen Basiswert der Aktie und damit von der Kursentwicklung der W. Aktie abhängig, genügt insoweit nicht. Damit bleibt es dabei, dass eine Vermutungswirkung hier nicht angenommen werden kann.

(3) Auch zu einem etwaigen Kursdifferenzschaden bezüglich der sonstigen Wertpapiere, dessen Ersatzfähigkeit ohne konkreten Kausalitätsnachweis Feststellungsziel zu C. wäre, hat die Klagepartei trotz Hinweises des Senats nicht näher vorgetragen. Der Vortrag zum Kursdifferenzschaden im Schriftsatz vom 20.07.2022 bezieht sich ausdrücklich nur auf die erworbenen Aktien.

(4) Deshalb war hier eine konkrete Darlegung und ggf. ein konkreter Nachweis der individuellen Kausalität - die von dem Vorlagebeschluss ausdrücklich nicht erfasst wird (s.o.) - erforderlich (vgl. bereits Senat, Beschluss vom 16.11.2021 - 8 W 1541/21, NZG 2022, 239 Rn. 16, zu Optionsscheinen).

(a) Entsprechender Vortrag ist vorliegend erfolgt. Die Klagepartei hat mit Schriftsatz vom 20.07.2022 - wie auch bereits erstinstanzlich (Replik v. 06.10.21, S. 59/60; Bl. 270/271) sowie in der Berufungsbegründung (S. 32 mit Verweis auf die Replik Bl. 59) - erneut vorgetragen, dass sie auch die sonstigen Wertpapiere bei pflichtgemäßem Verhalten der Beklagten nicht erworben hätte. Sie habe insbesondere den Geschäftsbericht 2018 der W. AG intensiv gelesen und habe dabei auch den Bestätigungsvermerk im Blick gehabt. Gerade auch im Hinblick auf die uneingeschränkten Testate habe sie in Wertpapiere der W. AG sowie auf diese bezogene sonstigen Wertpapiere investiert (Schriftsatz v. 20.07.22, S. 3/4). Zum Beweis hat sie erneut - wie bereits erstinstanzlich (s.o.) - die Vernehmung der Klagepartei angeboten.

(b) Damit ist dieses Beweisangebot auch nicht gem. § 531 II ZPO verspätet. Schon im Hinblick darauf, dass z.B. der 3. Zivilsenat des OLG München einen Erfahrungssatz auch bei Derivaten annimmt (z.B. Beschluss vom 07.07.2022, Gz. 3 U 1238/22, nv), war außerdem ein vorheriger Hinweis des Senats gem. § 138 ZPO auf seine abweichende Auffassung geboten, den die hiesigen Klägervertreter bisher vom Senat nicht erhalten hatten.

(c) Dieses Beweisangebot ist nach Auffassung des Senats ausreichend. Unabhängig von der Frage, ob insoweit die Voraussetzungen des § 447 ZPO vorliegen, wäre die Klagepartei angesichts ihrer offensichtlichen Beweisnot ggf. zunächst zu dieser Frage persönlich anzuhören und sodann, wenn sich daraus die für eine Parteieinvernahme von Amts wegen erforderliche Anfangswahrscheinlichkeit ergibt, ggf. gem. § 448 ZPO als Partei zu vernehmen (vgl. dazu z.B. BGH, Urteil vom 9.5.2005 - II ZR 287/02, zu den Ad-hoc-Mitteilungen von EMTV und dazu OLG München, Urteil vom 09.10.2008 - 19 U 5176/07, BeckRS 2008, 21715, Juris). Weitere Einzelheiten oder Erläuterungen sind zur Substantiierung nicht erforderlich (vgl. BGH vom 08.05.2012, Gz. XI ZR 262/10, für entsprechende Gegenbeweisanträge).

(d) Mit diesem Beweisangebot ist die Klagepartei auch nicht ausgeschlossen, obwohl der Kläger erstinstanzlich trotz Anordnung des persönlichen Erscheinens durch das Gericht zum Termin zur mündlichen Verhandlung am 23.09.2021 nicht erschienen ist und der Klägervertreter keine Vollmacht nach § 141 Abs. 3 ZPO vorweisen konnte. Denn die Anordnung des persönlichen Erscheinens erfolgte ausweislich der Verfügung des Landgerichts vom 23.08.2021 (Bl. 207/208) lediglich allgemein zur Aufklärung des Sachverhaltes; eine vorherige Ankündigung, dass und zu welchen streitigen Tatsachen der Kläger in der mündlichen Verhandlung zur Abklärung einer etwaigen Parteieinvernahme angehört werden soll, erfolgte nicht, so dass die Folgen für den Kläger nicht absehbar waren (vgl. BGH, Beschluss vom 24. Juni 2014,Gz. XI ZR 219/13, Rz. 14, zum Nichterscheinen des Gegners).

(e) Der Höhe nach hat die Klagepartei den durch den Kauf der Call-Optionsscheine am 10.03.20 und 17.03.20 entstandenen Schaden und den durch den Kauf der Anleihe für 10.000 € am 10.03.20 entstandenen Schaden schlüssig dargelegt. Dass sie hinsichtlich der Anleihe lediglich 9.241,77 € beantragt, steht der Schlüssigkeit nicht entgegen.

(5) Daher hat die Klagepartei auch die individuelle Kausalität hinsichtlich der sonstigen Wertpapiere hinreichend dargelegt und unter Beweis gestellt. Somit konnte das Verfahren auch insoweit ausgesetzt werden. Eine vorherige Beweisaufnahme zur individuellen Kausalität war nach Auffassung des Senats nicht geboten:

(a) Hat das Gericht neben dem Feststellungsziel des Musterverfahrens das Vorliegen weiterer Tatbestandsvoraussetzungen der Anspruchsnorm im Rahmen einer Beweisaufnahme zu klären, kommt es darauf an, ob mit hinreichender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen ist, dass die Entscheidung des Rechtsstreits auch nach Klärung der Tatsachenfrage noch von dem Ausgang des Musterverfahrens abhängt. Diese Frage hat das Gericht unter Berücksichtigung des ihm eingeräumten Beurteilungsspielraums zu beantworten. Das Gericht hat zwischen den mit der Aussetzung verbundenen Rechtsnachteilen für die Parteien, wie etwa Beweisschwierigkeiten bei längerer Verfahrensdauer, mit den Gesichtspunkten der Verfahrensökonomie und der Vermeidung sich widersprechender Entscheidungen abzuwägen (Vorwerk/Wolf, KapMuG/Fullenkamp, 2. Aufl. 2020, KapMuG § 8 Rz. 19; ähnlich bereits zuvor Lechner, WuB 2019, 591).

Nach Auffassung des XI. Zivilsenats des BGH erfordert der verfassungsrechtliche Grundsatz effektiven Rechtsschutzes dagegen eine Auslegung des § 8 Abs. 1 Satz 1 KapMuG, nach der eine Aussetzung nur dann in Betracht kommt, wenn sich das Prozessgericht bereits die Überzeugung (§ 286 ZPO) gebildet hat, dass es auf dort statthaft geltend gemachte Feststellungsziele für den Ausgang des Rechtsstreits konkret ankommen wird. Das soll auch dann gelten, wenn hierzu vorab eine Beweisaufnahme durchzuführen wäre (BGH, Beschluss vom 30.04.2019 - XI ZB 13/18, mit zust. Anm. Zoller, BB 2019, 2390; Dörrscheidt/Hettenbach, EWiR 2019, 585; mit abl. Anm. Lechner, WuB 2019, 591; a.A. Vorwerk/Wolf, KapMuG/Fullenkamp, 2. Aufl. 2020, KapMuG § 8 Rn. 13).

(b) Der Senat folgt der erstgenannten Auffassung. Er hält die gegenteilige Auffassung des XI. Zivilsenats des BGH für dem Willen des Gesetzgebers widersprechend und auch sonst - zumindest in dieser Allgemeinheit - für kaum praktikabel:

(aa) Der Gesetzesbegründung zufolge ist bei der Aussetzungsentscheidung durch das Prozessgericht die Abhängigkeit abstrakt zu beurteilen; deshalb genüge es, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits von den Feststellungszielen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit abhängen könne. Es sei nicht erforderlich, dass die Entscheidung nach Klärung sämtlicher übriger Anspruchsvoraussetzungen und Rechtsfragen nur noch von den Feststellungszielen abhänge. An dieser Stelle werde dem Prozessgericht ein gewisser Beurteilungsspielraum eingeräumt (BT-Drs. 17/8799 S. 20).

Soweit der XI. Zivilsenat des BGH meint, diese Auffassung des Gesetzgebers sei verfassungswidrig, weil sie gegen das verfassungsrechtliche Gebot effektiven Rechtsschutzes verstoße, überzeugt das den Senat nicht. Abgesehen davon, dass der XI. Zivilsenat die Sache dann wohl gem. Art. 100 Abs. 1 GG dem BVerfG zur Entscheidung hätte vorlegen müssen (vgl. Lechner, WuB 2019, 591), hat das BVerfG zur Aussetzung gem. § 149 ZPO bereits entschieden, dass 149 ZPO mit den verfassungsrechtlichen Garantien eines wirkungsvollen Rechtsschutzes vereinbar sei. Allerdings seien die Zivilrichter bei der Entscheidung über die Aussetzung gem. § 149 ZPO verpflichtet, im Einzelnen sorgfältig abzuwägen, ob die Aufklärungsmöglichkeiten eines Ermittlungs- oder Strafverfahrens den Verzögerungseffekt im anhängigen Zivilrechtsstreit rechtfertigen können (BVerfG, Beschluss vom 30.06.2003 - 1 BvR 2022/02). Dass die Einräumung eines Beurteilungsspielraums durch den Gesetzgeber in § 8 Abs. 1 Satz 1 KapMuG per se verfassungswidrig ist, wird deshalb wohl kaum angenommen werden können. Es handelt sich vielmehr, wie vom Gesetzgeber gewollt, um eine Abwägungsfrage.

Der Gesetzgeber hat das Spannungsverhältnis zwischen Prozessökonomie einerseits und Anspruch auf effektiven Rechtsschutz andererseits auch durchaus selbst gesehen. Den Parteien des Ausgangsverfahrens solle im Hinblick darauf nicht zugemutet werden, aufgrund eines fehlerhaften Aussetzungsbeschlusses möglicherweise jahrelang auf den Abschluss des Musterverfahrens warten zu müssen, bevor ihr Ausgangsverfahren fortgesetzt werden kann. Deshalb findet künftig gegen die Aussetzungsentscheidung gemäß § 252 ZPO die sofortige Beschwerde statt (BT-Drs. 17/8799 S. 20/21).

(bb) Zur Verzögerungsgefahr weist der XI. Zivilsenat zwar zutreffend darauf hin, dass Musterverfahren bis zu ihrem rechtskräftigen Abschluss i.d.R. mehrere Jahre dauern.

Die von ihm verlangte Vorklärung sämtlicher Vorfragen in ggf. umfangreichen individuellen Beweisaufnahmen würde allerdings wohl ihrerseits nochmals zu einer ganz erheblichen weiteren Verlängerung der Musterverfahren führen. Nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 KapMuG ist der Musterverfahrensantrag nämlich als unzulässig zu verwerfen, „soweit die Entscheidung des zugrunde liegenden Rechtsstreits nicht von den geltend gemachten Feststellungszielen abhängt“ (s.o.). Somit müssten die entsprechenden Vorfragen - ggf. auch durch Beweisaufnahme - vom Landgericht bereits vor der Einleitung eines Musterverfahrens abschließend geklärt werden - und dann mangels Bindungswirkung in den gem. § 8 KapMuG auszusetzenden Einzelverfahren ggf. jeweils nochmals. Das hält der Senat nicht für sinnvoll.

Es ist auch keineswegs so, dass rechtskräftige Entscheidungen im Individualrechtstreit immer so viel schneller zu erlangen wären - das zeigt sich in der vorliegenden Verfahrensserie besonders deutlich:

Wie bereits im Terminshinweis vom 09.12.2021 (Gz. 8 U 6063/21, BeckRS 2021, 43191; WM 2022, 174) im Einzelnen ausgeführt, wären die zahlreichen klageabweisenden Urteile des Landgerichts München I wohl allesamt aufzuheben und zur umfangreichen Beweisaufnahme an das Landgericht zurückzuverweisen gewesen (entsprechende vorsorgliche Zurückverweisungsanträge wurden in den ursprünglich vom Senat terminierten Verfahren gestellt - im Hinblick auf die zwischenzeitliche Einleitung des Musterverfahrens wurden die Termine dann aber vom Senat abgesetzt), wenn kein Musterverfahren zustande gekommen wäre.

Gegen diese Zurückverweisungsurteile hätte die Beklagte, die weiterhin der Auffassung ist, dass die Klagen ohne Beweisaufnahme abzuweisen seien, wohl schon zur Vermeidung der Bindungswirkung entsprechend § 563 Abs. 2 ZPO (vgl. MüKoZPO/Musielak, 6. Aufl. 2020, ZPO § 318 Rn. 6) den BGH angerufen, sodass mit einem Beginn der Beweisaufnahme vor dem Landgericht in den Einzelverfahren wohl frühestens in weiteren 2 Jahren zu rechnen gewesen wäre.

Mit einem Abschluss dieser Verfahren erster Instanz mit umfangreicher Beweisaufnahme wäre wohl kaum vor Ablauf von weiteren 2 Jahren zu rechnen gewesen. Gefolgt von einem zweiten Berufungsverfahren und einer zweiten Anrufung des BGH wären daher abschließende Entscheidungen auch in den Individualrechtstreiten hier kaum vor Ablauf von mindestens weiteren 6 Jahren zu erlangen gewesen. In dieser Zeit sollte auch das KapMuG-Verfahren mindestens bis zu einer ersten Entscheidung des BGH gebracht werden können.

(cc) Welche prozessualen Maßnahmen zur Verfahrensförderung das Prozessgericht in welcher Reihenfolge für sinnvoll und geboten hält, gehört zu seinen verfahrensleitenden Befugnissen, die nur sehr beschränkt einer Überprüfung durch Rechtsmittel zugänglich sind (vgl. dazu jüngst, BGH, Beschluss vom 4. Mai 2022 - VII ZB 46/21, zur Anfechtung eines Beweisbeschlusses). Dies muss dann aber auch für den Fall gelten, dass Feststellungen zum Anspruchsgrund in einem Musterverfahren getroffen werden sollen. In solchen Fällen zu verlangen, dass sämtliche Anspruchsvoraussetzungen und Rechtsfragen in jedem einzelnen Verfahren und in jedem Falle vorabgeklärt werden, würde die verfahrensleitenden Befugnisse der Prozessgerichte unnötig beschneiden und zu erheblichem und - je nach Ausgang des KapMuG-Verfahrens - möglicherweise überflüssigem Aufwand führen und damit auch der Zielsetzung des KapMuG entgegenstehen.

Auch die Frage, ob vorab eine Beweisaufnahme durchgeführt werden soll, hat das Prozessgericht deshalb nach Auffassung des Senats unter Berücksichtigung des ihm vom Gesetzgeber eingeräumten Beurteilungsspielraums abzuwägen. Das Prozessgericht wird dabei insbesondere zwischen den mit der Aussetzung verbundenen Rechtsnachteilen für die Parteien, wie etwa Beweisschwierigkeiten bei längerer Verfahrensdauer, und mit den Gesichtspunkten der Verfahrensökonomie abzuwägen haben. Auch die Wahrscheinlichkeit, mit der ein Beweisergebnis zu erwarten ist, das eine Aussetzung gem. § 8 KapMuG vermeiden würde, wird dabei zu berücksichtigen sein.

(c) Unter Abwägung aller Gesichtspunkte hält der Senat hier eine vorherige Beweisaufnahme zur individuellen Kausalität nicht für geboten:

(aa) Dagegen spricht schon, dass die Beweisaufnahme zur Kausalität bei den Derivaten hier nur einen geringen Teil des Gesamtstreits beträfe und wegen des weit größeren Teils, der Aktienerwerbe betrifft (ca. 140.000.- € Aktien ggü. nur ca. 23.000.- € Derivate), unabhängig davon eine Aussetzung erfolgen müsste, s.o. Es geht hier also nicht um die insgesamte anderweitige Entscheidungsreife des Rechtsstreits, sondern nur eines kleineren Teils davon. Dafür erschiene eine vorherige Terminierung zur Beweisaufnahme unverhältnismäßig.

(bb) So würde ein Prozessgericht auch in einem gewöhnlichen Streitverfahren nicht vorgehen. In der Regel würde es in einem nach Grund und Höhe streitigen Fall zunächst die Beweisaufnahme zum Anspruchsgrund durchführen und nicht vorab für einen Teil des Schadens die Klärung der individuellen Kausalität durch Beweisaufnahme vorziehen. Warum das grundlegend anders gesehen werde sollte, wenn der Anspruchsgrund in einem Musterverfahren geklärt werden soll, erschließt sich dem Senat nicht.

(cc) Der Senat geht außerdem davon aus, dass das Musterverfahren zur gegebenen Zeit gem. § 15 Abs. 1 KapMuG um Feststellungsziele auch zur Kausalität bei Derivaten erweitert werden dürfte. Zwar kann eine Aussetzung des Verfahrens erst erfolgen, wenn das Musterverfahren tatsächlich gemäß § 15 Abs. 1 KapMuG um weitere Feststellungsziele erweitert wurde, von denen die Entscheidung des Rechtstreits abhängt (BGH, Beschluss vom 16. Juni 2020 - II ZB 30/19). Gleichwohl kann dies aber bei der Abwägung berücksichtigt werden, ob vorab eine - im Falle der Erweiterung ggf. überflüssige - Beweisaufnahme durchgeführt werden soll.

(dd) Schließlich geht der Senat nach seinen Erfahrungen als Kapitalanlagesenat davon aus, dass die Beweisaufnahme zumindest mit Wahrscheinlichkeit das klägerseits behauptete Ergebnis zur individuellen Kausalität hätte und das Verfahren dann doch auch insoweit auszusetzen wäre.

IV.

1. Die Rechtsbeschwerde zum Bundesgerichtshof war zuzulassen, soweit auch eine Aussetzung wegen des Erwerbs anderer Wertpapiere als Aktien erfolgt ist.

Der Senat weicht insoweit von der Auffassung des XI. Zivilsenats des BGH ab, dass der verfassungsrechtliche Grundsatz effektiven Rechtsschutzes eine Auslegung des § 8 Abs. 1 Satz 1 KapMuG erfordere, nach der eine Aussetzung nur dann in Betracht komme, wenn sich das Prozessgericht bereits die Überzeugung gebildet hat, dass es auf dort statthaft geltend gemachte Feststellungsziele für den Ausgang des Rechtsstreits konkret ankommen werde, und hierzu vorab eine Beweisaufnahme durchzuführen sei (vgl. o.). Dies ist auch entscheidungserheblich, da nach der o.g. Rechtsprechung hier vorab eine Anhörung und ggf. Beweisaufnahme (Parteieinvernahme) zur Frage der individuellen Kausalität hinsichtlich des Kaufs der sonstigen Wertpapiere (Anleihe, Call-Optionen) erfolgen müsste.

2. Im Übrigen war die Rechtsbeschwerde nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 574 Abs. 2 ZPO nicht vorliegen:

a) Zwar weicht der Senat auch von der Rspr. des XI. Zivilsenats des BGH ab, wonach im Rahmen der Aussetzung nach § 8 Abs. 1 KapMuG auch zu prüfen sein soll, ob die geltend gemachten Klageansprüche nach Maßgabe des § 1 Abs. 1 KapMuG in den Anwendungsbereich des KapMuG fallen, und folgt insoweit der gegenteiligen Rspr. des II. Zivilsenats des BGH, wonach die Aussetzungsentscheidung ausschließlich von den in § 8 Abs. 1 Satz 1 KapMuG genannten Voraussetzungen abhängt. Abgesehen davon, dass diese Divergenz primär innerhalb des BGH - ggf. durch Vorlage an den Großen Senat für Zivilsachen - zu klären wäre, ist sie für die Entscheidung des Senats aber nicht entscheidungserheblich, weil er das Musterverfahren im vorliegenden Falle für statthaft hielte, falls er das zu prüfen hätte. Jedenfalls hinsichtlich der Unrichtigkeit der Geschäftsberichte der W. AG als Haupttat bestehen insoweit auch keine ernsthaften Zweifel.

b) Die übrigen vom Senat in dem Beschluss geäußerten Überzeugungen wären als (in einem Zwischenverfahren notwendigerweise vorläufige) tatrichterliche Würdigungen gem. § 286 ZPO selbst in einer Endentscheidung nicht divergenz- oder vorlagefähig (vgl. z.B. BGH, Beschluss vom 16.09.2003 - XI ZR 238/02). Dies betrifft etwa auch die abweichend vom 3. Zivilsenat des OLG München (Gz. 3 U 1238/22, s.o.) erfolgte Verneinung eines Erfahrungssatzes bei den vorliegenden Derivaten. Auch sonst wäre in einer Zwischenentscheidung nicht die Rechtsbeschwerde zur Vorabklärung umstrittener materiell-rechtlicher Fragen zuzulassen; deren ggf. höchstrichterliche Klärung ist vorrangig dem Musterverfahren vorbehalten und subsidiär einer Endentscheidung im vorliegenden Verfahren.

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